Читать книгу Lesekompetenz fördern - Christine Garbe - Страница 7

[18]1.2 Das Sozialisationsmodell der Lesekompetenz

Оглавление

Dass ein für Testzwecke entwickeltes Modell von Lesekompetenz nicht unbedingt geeignet ist, um den Erwerb von Lesekompetenz im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen wirksam zu unterstützen, haben Leseforscher und Lesedidaktiker in Deutschland vielfach unterstrichen. Die Lesesozialisationsforschung hat darum ein anderes Modell von Lesekompetenz entwickelt, das sich einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet weiß und weitere Dimensionen umfasst. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Konzeption von Lesekompetenz in PISA 2000 forderte Bettina Hurrelmann bereits kurz nach Erscheinen der ersten PISA-Studie, einen weiter gefassten Lesebegriff einzuführen, der die Beweggründe für das Lesen, die Gefühle beim Lesen und die Gespräche über Gelesenes selbst als Bestandteile von Lesekompetenz begreift und nicht nur als »Hintergrundvariablen« wie bei PISA (vgl. Hurrelmann 2002). Auch andere Leseforscher und Deutschdidaktiker haben sich in diese Diskussion eingeschaltet, und so entstand im Rahmen einer Forschungsgruppe zum Thema »Lesesozialisation in der Mediengesellschaft« ein alternatives Modell von Lesekompetenz, das das Verstehen von Texten in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung verortet. Dieses Modell erweitert die kognitiven und reflexiven Aspekte der Lesekompetenz im PISA-Modell um drei weitere wichtige Aspekte, nämlich Motivationen, Emotionen und schließlich alle lesebezogenen Interaktionen, heute meist Anschlusskommunikation genannt (vgl. Hurrelmann 2007).


Abb. 3: Lesekompetenz im Sozialisationskontext (nach Hurrelmann 2002, S. 16)

Leitend ist hier die Idee eines allseits gebildeten »gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts«, dem das Lesen nicht nur zu instrumentellen Zwecken wichtig ist, also im Zusammenhang mit Ausbildung oder Arbeitsplatz oder anderen zweckorientierten Aufgaben, sondern darüber hinaus als Medium der [19]Persönlichkeitsbildung und Weltorientierung. »Es ist leicht zu erkennen, dass in diesem Ideal Annahmen über die Wirkungen speziell des literarischen Lesens eine erhebliche Rolle spielen, die uns aus Literaturtheorie und Literaturdidaktik vertraut sind – während sich das Literacy-Konzept eher auf die Folgefunktionen von Informationslektüre konzentriert.« (Hurrelmann 2007, S. 22 f.)

Über die kognitiven Anforderungen des Textverstehens hinaus betont das Modell der Lesesozialisation die Bedeutung von positiven Emotionen und Motivationen für eine gelingende Leseentwicklung bei Heranwachsenden. Die Lesemotivation ist elementar für die Bereitschaft zu lesen und den Leseprozess entsprechend den jeweiligen Textanforderungen zu gestalten. Dazu gehören auch die Fähigkeit, Lesen für unterschiedliche [20]subjektive Ziele einzusetzen, sowie die Fähigkeit, Lesebedürfnisse und -angebote aufeinander abzustimmen, oder die Entscheidung, einen aktuellen Leseprozess weiterzuführen oder abzubrechen. Die emotionale Dimension beschreibt die Fähigkeit zum Erleben positiver oder negativer Gefühle während der Lektüre sowie die Fähigkeit, mit diesen Gefühlen angemessen umzugehen und die Lesemotivation aufrechtzuerhalten. Es geht hier sowohl um Emotionen, die den Inhalt des Gelesenen betreffen, als auch um Emotionen, die mit der Wahrnehmung des eigenen Lesens und der eigenen Lesekompetenz zu tun haben.

Die Anschlusskommunikation zielt auf die soziale Dimension von Lesekompetenz: Das Aushandeln von Textbedeutungen in sozialer Interaktion ist von den frühen Vorlesedialogen zwischen Eltern und Kind beim gemeinsamen Bilderbuchlesen bis zum Literaturunterricht in der Schule ein zentrales Element der Lesekompetenz (vgl. Garbe 2010a). Einerseits geht es im Gespräch mit Freunden oder Eltern, aber auch im Deutsch- oder Fachunterricht um das Bewusstwerden und Überprüfen der eigenen Bedeutungskonstruktionen und Deutungen eines Textes, andererseits geht es auch um eine kritisch-wertende Auseinandersetzung mit Textinhalten und schließlich um Selbstreflexion durch Rückbezug des Gelesenen auf die eigene Lebenssituation.

Lesekompetenz fördern

Подняться наверх