Читать книгу Die Aussteigerin. Autobiografie einer ehemaligen Rechtsextremistin - Christine Hewicker - Страница 7

1. KAPITEL
KINDHEIT UND JUGEND

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Geborgenheit in der Familie

Nachdem bereits fünf Jungs unsere Familie bevölkerten, war die Freude meiner Eltern riesig, als nun als sechstes ein Mädchen geboren wurde. Ich war in dieser Familie heißersehnt und wurde von jedem einzelnen Familienmitglied verwöhnt und vergöttert.

Meine Eltern waren sehr fleißige, ehrliche Leute, die uns Kinder liebevoll, aber mit strengen Regeln erzogen.

Von Politik wollten meine Eltern eigentlich nie viel wissen. Mein Vater schwieg über die politischen Ereignisse der Gegenwart genauso wie über die der Vergangenheit. Ich wusste nicht viel über meinen Vater und seine Kindheit, bis ich eines Tages – dank der von mir betriebenen Ahnen- und Familienforschung – Verwandte ausfindig machen konnte, die mein Vater, als er im jugendlichen Alter aus ostpreußischem Gebiet, nahe der russischen Grenze, in den Westen floh, völlig aus den Augen verlor. Mein Vater dachte, seine übrigen Verwandten seien in den Kriegswirren ums Leben gekommen; umgekehrt waren die Verwandten der Ansicht, meinen Vater habe dieses Schicksal ereilt. Als ich mit den Verwandten Kontakt aufnahm, konnten sie mir von dem Leben meines Vaters in Ostpreußen und aus der ersten Zeit der gemeinsamen Flucht berichten. Diesen Lebensabschnitt meines Vaters zu kennen, war mir unendlich wichtig, und ich konnte das stets introvertierte Verhalten meines Vaters von nun an verstehen.

Meine Mutter hingegen konnte immer viel aus ihrer Kinder- und Jugendzeit erzählen und ließ auch Fragen über meine Großeltern und Onkel und Tanten nicht offen. Erlebnisse während der Kriegszeit erzählte sie stets sachlich oder mit einem Hauch von Trauer, wenn es um den Verlust von Freunden und Schulkameraden ging.

Dass mein Großvater, der ein sehr gebildeter Mann mit vielen wichtigen Funktionen im Berufsleben war, sich – gepeinigt durch die Folgen der Gefangenschaft – eines Tages, schon vor meiner Geburt, erhängt hatte, bewegte mich sehr. Mein Großvater hatte schon als junger Mann den Hang zu Abenteuern gehabt und ließ sich – ähnlich wie ich es später tat – von nichts und niemandem abschrecken, wenn er etwas Neues erleben wollte. So wanderte er beispielsweise für einige Jahre nach Argentinien aus, um dort als Cowboy zu leben und zu arbeiten. Mein Großvater muss mir die Fähigkeit vererbt haben, stets die Herausforderung zu suchen, nach Niederlagen immer wieder mit noch mehr Stolz aufzustehen und von vorn zu beginnen. Von ihm habe ich wohl auch mein vielseitiges Interesse für alle Dinge der Welt und meine Liebe zur Natur. Da er sehr gebildet war und große menschliche Qualitäten besaß, hatte er es stets dazu gebracht, sich gewisse hochgestellte Positionen auch in Notzeiten zu sichern (vielleicht ähnlich, wie ich es im Gefängnis auch immer schaffte). Nach dem Krieg war er derjenige, der den Dorfbewohnern half, sich wieder Existenzen aufzubauen, und der zwischen ihnen und den englischen und russischen Besatzern vermitteln konnte. Mein Großvater sprach fünf Sprachen perfekt und hatte dadurch keine Mühe, sich bei ausländischen Behörden durchzusetzen, was den niedersächsischen Dorfbewohnern damals zugute kam.

Die Seidenraupenzucht, die mein Großvater betrieb, wurde schon vor und während des Krieges von Behörden und Schulen aufs äußerste begrüßt, genauso wie seine Leidenschaft, Schmetterlinge und Käfer zu sammeln, die er später – fein säuberlich geordnet – Lüneburger Museen vererbte.

Wenn ich heute meine Verwandten über meinen Großvater sprechen höre, denke ich, er war ein großartiger, gutherziger und genauso verrückter Mann, mit großen Plänen für sein Leben und dem ständigen Willen, Gutes zu tun, was aber auch ihm nicht immer gelang. Vieles davon hatte er an mich weitergegeben. Schon als Kind ließ ich nicht locker, immer wieder Geschichten über diesen Menschen zu erfahren. Bedingt durch meine Familienforschung, hatte ich irgendwie eine richtig feste Beziehung zu meinem Großvater – der zu dem Zeitpunkt bereits über 40 Jahre tot war – aufgebaut. Ich fand mich in vielen Schilderungen über ihn wieder, und ich wünschte mir immer, ich hätte diesen Menschen kennenlernen dürfen, vielleicht hätte ich auch mich selbst dann besser verstehen können.

Meine arbeitsamen Eltern waren wohl hauptsächlich dahingehend orientiert, uns Kindern eine vernünftige Erziehung und eine gute Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Sie bauten ein Haus, um sich und ihren Kindern ein sicheres Heim zu bieten, und versuchten alles, um uns eine gewisse finanzielle Sicherheit zu schaffen.

Wenn einer Großfamilie in der damaligen Zeit nicht allzu viel finanzielle Unterstützung seitens des Staates geboten wurde, so kann ich doch sagen, dass ich eine glückliche Kindheit ohne viele Entbehrungen hatte, und dass ich von meiner gesamten Familie sehr geliebt wurde.

Meine Mutter achtete stets darauf, dass wir Kinder regelmäßig in den sonntäglichen Kindergottesdienst gingen, der in dem Schulgebäude unseres kleinen Dorfes abgehalten wurde, und sie legte großen Wert darauf, dass wir ein ausgeprägtes christliches Denken bekommen würden. Und so hatte die Konfirmation für mich nicht nur den Hintergrund, Geschenke zu bekommen und ein hübsches Kleid zu tragen, sondern mir erschien dieser Schritt in Gottes Richtung durchaus sehr wichtig. Die Lehren des Jesus hatten mich schon damals sehr beeindruckt, und ich glaubte an die Bibel, die ich mit meinem kindlichen Verstand zu begreifen versuchte.

Ich hatte gleichermaßen viele Jungen und Mädchen als Freunde. Ich kletterte genauso gerne auf Bäume oder über Zäune, spielte Räuber und Gendarm oder Krieg, wie ich auch liebend gerne mit meinen Freundinnen den Puppenwagen durch den Ort schob oder auf dem Heuboden „Familie“ mit Puppen und Teddys spielte.

Dass meine beste Freundin Pia aus einem etwas wohlbegüterten Hause stammte als ich, störte uns und unsere Familien keineswegs. Wir waren unzertrennlich vom Tage der Einschulung an bis in die heutige Zeit. Ich glaube, wir teilten alles miteinander: Freude, Leid und viele Dinge, die unser Leben beeinflussten.

Hatte ich vorwiegend Schmalz- oder Marmeladenbrote mit in die Schule genommen, so war es völlig normal, wenn Pia mir ihre Schinkenbrote gab und sie dafür meine Schulbrote aß. Mein erstes Fahrrad bekam ich von Pia geschenkt, als sie ein neues bekommen hatte. Alle Geheimnisse teilten wir miteinander, und große Klasse waren wir im Lästern. Unsere chaotischste Zeit hatten wir, als wir im Alter von etwa 13 oder 14 Jahren wegen unseres auffälligen, albernen Benehmens sogar aus den Einkaufsläden geworfen wurden.

Pia und ich beaufsichtigten schon als neunjährige Mädchen gerne die Babys aus der Nachbarschaft oder Verwandtschaft, die wir in ihren Kinderwagen stolz durch die Gegend schoben, oder wir beschäftigten uns stundenlang mit den Kleintieren meiner Freundin.

Oft gingen wir in die Reitställe von Hermann Schridde, einem Turnierreiter, der in der damaligen Zeit Goldmedaillen für die Bundesrepublik errang und in unserem Dorf wohnte, und fütterten die Pferde oder halfen beim Stallausmisten. Bestimmte Pferde, Ponys oder den störrischen Esel Fridolin durften wir sogar reiten.

Bei Annette oder Helga sprang ich mit großer Vorliebe auf den Bauernhöfen umher, kletterte auf Heuballen herum oder half auch mal im Sommer auf den Feldern.

Schon in der Schule konnte ich es nicht ertragen, wenn andere Kinder über schwächere oder ärmere Kinder lästerten, und ich prügelte mich regelmäßig für die Unterdrückten. Da mein jüngster Bruder, der immerhin ein Jahr älter war als ich, als Leukämie-Erkrankter immer ziemlich schwach und bleich war und deshalb oft gehänselt wurde, sah ich es als meine vorrangige Aufgabe an, mich mit den Jungs auch aus den höheren Klassen zu prügeln, um so die Ehre meines Bruders wiederherzustellen. Ich hatte es immer geschafft, mir Respekt zu verschaffen, auch wenn einige Lehrer und meine Eltern mein Verhalten nicht immer gutheißen konnten. Bei den Schülern war ich sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen gleichermaßen anerkannt. Hatte ich tatsächlich einmal größere Probleme, so hatte ich noch einige ältere Brüder und einen Nachbarsjungen, die gerne für mich eintraten.

Meine Eltern standen meinen Eskapaden, denen ich mich schon als Kind gerne auslieferte, stets hilflos gegenüber, und sie hofften wohl immer, dass ich eines Tages vernünftig werden würde.

Ich war zwar eine ruhige Schülerin, die sich in den ersten Jahren der Schulzeit kaum zu melden traute, aber andererseits hatte ich auch mit großer Regelmäßigkeit die Repressalien der Lehrer ertragen müssen. Oft genug saß ich auf dem „Podium“, einer erhöhten Sitzgruppe, auf der auffällig gewordene Kinder während des Unterrichts sitzen mussten, oder stand hinter meinem Stuhl oder in der Ecke des Klassenraumes. Einmal schlug mich eine Lehrerin, weil ich mich nicht ihren Anweisungen fügen wollte.

Meine Kindheit war aber eigentlich nur sehr selten mit Schatten versehen. Dass ich nach Schulschluss hin und wieder die schwer an Kinderlähmung erkrankte Giesela zu Hause besuchte, war für mich selbstverständlich. Giesela war schon über 20 Jahre alt und an den Rollstuhl gefesselt. Sie konnte kaum sprechen und auch kaum etwas mit den Händen ergreifen. Aber ich mochte sie und ihre Mutter sehr. Manchmal nahm ich meinen Bruder Lars mit zu ihr, und wir verbrachten so manche Zeit bei Giesela in ihrem Zimmer, während ihre Mutter uns mit Saft und Keksen versorgte. Manchmal las ich ihr aus Büchern oder Zeitungen vor oder erzählte ihr einfach nur aus der Schule oder von Freunden. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob sich Giesela vielleicht einsam und unglücklich fühlen könnte. Und für mich war sie keine Last, sondern eine Freundin.

Ich war wohl gerade 14 Jahre alt, als ein ehemaliger Mitschüler meines ältesten Bruders aus Berlin in unser 2000-Seelen-Dorf in Niedersachsen zurückkehrte und dort die NPD publik machte. Eckhart war nach der Schulzeit für einige Jahre nach Berlin gegangen und kam mit seinen 21 Jahren als überzeugter NPD-Mann in unser kleines Dorf zurück. Meine Brüder ließen sich auch gleich in seinen Bann ziehen wie noch etliche weitere Jugendliche und auch ein paar ältere Leute aus unserem Ort. Von nun an beteiligten sich meine Brüder regelmäßig an den politischen Aktivitäten, und über dem ganzen Dorf lag ein gewisser Hauch rechtspolitischer Ideologie.

Die Besatzer

Es war ein ganz normales Bild, wenn sich englische Soldaten in unserem Dorf aufhielten und während der Manöver auch die Grundstücke der Anwohner bevölkerten. Dann mussten die „Belagerten“ den Besatzern Strom und Wasser abtreten, und wir Kinder sahen dem Treiben fasziniert zu.

Außerhalb der Ortschaft war ein größerer Hügel aufgeschüttet: der „Goldberg“. Auf der Spitze des Goldberges war ein Fahnenmast aufgestellt, auf den wir immer blickten, bevor wir im Wald „Soldat“ oder „Verstecken“ spielten.

War die rote Fahne gehisst, durften wir den Wald nicht betreten, weil sich das Militär dort austobte und mit scharfer Munition schoss. Meine Brüder und ihre Freunde sammelten gerne bereits abgeschossene Munition im Wald, wenn die Fahne nicht gehisst war.

In Manöverzeiten schossen die britischen Militärs direkt über unser Dorf, weshalb nicht selten aufgrund der Detonationen die Fensterscheiben in den Häusern barsten.

Außerhalb der Ortschaft – und zu Manöverzeiten auch innerhalb des Dorfes – zerstörten britische Panzer, an denen mein Schulweg vorbeiführte, fast die gesamte Natur. Ganze Flächen wurden umgepflügt und als Kraterlandschaft hinterlassen. Dass heute noch eine sehr schöne Heidelandschaft die Gegend prägt, hat man nur dem unermüdlichen Einsatz der Anwohner zu verdanken, die immer wieder versuchten, das ursprüngliche Erscheinungsbild zu erhalten oder wiederherzustellen.

Wenn ich mit meinen Brüdern zu Fuß die sechs Kilometer zur Schule ging, führte der Weg immer direkt durch das von Militärs besiedelte Gebiet. Die Soldaten kannten uns bereits und winkten uns nicht selten heran, um uns Schokolade und Kekse zu schenken. Die Männer verstanden kein Deutsch, und wir Kinder verstanden kein Englisch, aber wir nahmen freudig die Geschenke an.

Unser kleines, sehr idyllisch mitten in der Heide gelegenes Dorf hatte für die Jugend der „wilden Siebziger“ nicht viel zu bieten. So waren die neuen Geschehnisse, die die NPD mit sich brachte, bald zum Lebensinhalt mancher Teenager geworden. Die älteren Einwohner des Dorfes hatten an dem neuen Treiben auch nichts auszusetzen.

Erste Gedanken über Politik

Ich verstand überhaupt noch nichts von Politik und fand, dass die Politiker ausnahmslos Egoisten seien, die sich auf Kosten der Bevölkerung Geld und Macht ergaunerten. Ich interessierte mich allerdings schon damals für die Belange der Menschheit.

Aber ich glaube, meine eigentliche Meinung bildete sich eher aus dem Inhalt des Neuen Testaments als aus irgendwelchen politisch angehauchten Büchern. Meine wohl ziemlich vagen „politischen“ Vorstellungen liefen darauf hinaus, dass jeder einzelne Mensch das Recht auf absolut freie Entfaltung hat, dass Männer und Frauen absolut gleichberechtigt sind, dass der Abstand zwischen armen und reichen Menschen möglichst klein ist, dass Menschen in den Dritten Ländern nicht verhungern müssen, während hier Überschüsse vernichtet werden, dass etwas gegen die Umweltverschmutzung getan werden muss, und vor allem, dass die Menschlichkeit nicht zu kurz kommen darf bei all dem Profitdenken in der sogenannten zivilisierten Welt.

Gegen Ausländer hatte ich im Grunde gar nichts einzuwenden. Ich fand es lediglich amüsant, wie diese Menschen angezogen waren, als die ersten türkischen Gastarbeiter meine Heimatstadt besiedelten. Völlig fremd waren uns Deutschen die grellbunten Farb- oder extremen Musterzusammenstellungen. Dass Mädchen über einer langen Trainingshose einen karierten knielangen Rock und dazu ein geblümtes Oberteil trugen, belustigte meine Schulkameraden und mich zusehends. Diese fremden Mädchen sahen doch zu komisch aus in ihrem Aufzug, trug man doch in den Siebzigern superkurze Miniröcke oder knapp sitzende Hot Pants mit Stiefeln, die bis unters Knie gingen. Unsere mindestens schulterlangen Haare versteckten wir auch nicht unter einem Kopftuch.

Ich lerne die NPD kennen

Aber dass Ausländer daran schuld sein sollten, dass Arbeitsplätze und Wohnungen für uns Deutsche knapp wurden, hörte ich erst bei der NPD.

Belastet hat mich schon vor dem Kennenlernen der NPD das Verhältnis zwischen der DDR und BRD. Es machte mich oft zutiefst traurig, dass ein Land geteilt wurde und dadurch ganze Familien zerstört waren. Ich wollte immer, dass diese Familien wieder zusammenkommen dürfen, und fand hierin meine Meinung durch die NPD gestärkt.

Anfangs verstand ich den Inhalt der Zeitungen und Werbeplakate überhaupt nicht, fühlte mich aber im Kreise der NPD-Kameraden sehr wohl. Schon bald gab es eine NPD-Ortsgruppe, in der auch meine Brüder sehr aktiv mitwirkten.

Schule und Freunde

Nach der Schule traf ich mich mit anderen Teenagern im Schlosspark. Wir gammelten dort herum und tranken Wein – den billigsten Fuselwein, den auch die Stadtstreicher zu trinken pflegten. Für mehr reichte unser weniges Geld nicht. Wir waren oft acht bis zehn Leute, und da reichte die Zweiliterflasche nicht aus, um angetrunken zu sein. Es wurde auch das eine oder andere Zeug geraucht, aber das interessierte mich nie. Ich nahm nicht einmal normale Zigaretten an, wenn mir welche angeboten wurden.

Aber wir hatten einen riesigen Spaß und vertrieben so unseren Nachmittag, bis wir abends mit dem Linienbus wieder nach Hause fuhren. Dort lernte ich dann meistens bis Mitternacht für die Schule, bis meine Mutter mir die Bücher wegnahm und mich ins Bett schickte.

Ich war immer von dem starken Ehrgeiz gepackt, eine vernünftige Ausbildung haben zu müssen, war aber auch nicht bereit, für die Schule meine Freizeit und Freunde aufzugeben. Ich wollte alles – und möglichst alles auf einmal. So konnte ich mein Leben ganz gut so einteilen, dass ich sowohl Platz für die „normalen“ Freunde hatte als auch gleichzeitig aktiv in der NPD mitwirkte und immer noch soviel Zeit und Kraft in die Schule steckte, dass ich einen guten Abschluss der Mittleren Reife erreichte. Das änderte sich erst, als ich mit meiner Lehre begonnen hatte und so nachmittags keine Zeit mehr hatte.

Ich traf mich immer seltener mit meinen Freundinnen, die sich nach wie vor unserem Hobby Reiten widmeten oder sich an unserem Lieblingstreffpunkt an der Bushaltestelle im Ort oder im Schlosspark in der Stadt trafen und dort die Zeit totschlugen. Stattdessen wurde ich immer aktiver in der NPD.

Aber der Kontakt zu meinen ehemaligen Schulfreundinnen riss nie vollständig ab.

Schule und das Dritte Reich

In der Schule interessierte mich das Unterrichtsfach Geschichte sehr. Aber das Thema „Drittes Reich“ wurde nur kurz berührt. Ich erinnere mich eigentlich nur daran, dass von dem Autobahnbau, der Verbesserung der bisher katastrophalen Arbeitslage und von Konzentrationslagern die Rede war. Dann sahen wir uns noch den Film „Die Brücke“ an, und ich glaube, das war’s dann auch schon. Jedenfalls wurde das Thema „Adolf Hitler“ nicht so intensiv behandelt, dass man sich eine politische Meinung hätte bilden können, um die Politik des Dritten Reiches bewusst ablehnen zu können.

Also machte ich mir meine eigene „politische“ Meinung: Arme Menschen sollten den Reichen gleichgestellt sein; die Ausländer, die den Deutschen die Arbeit und Wohnung wegnehmen, sollten das Land verlassen; die geldgierigen Juden sollten raus aus Deutschland, und die 6-Millionen-Lüge (sechs Millionen tote Juden in den Gaskammern und KZs des Dritten Reiches) sollte richtiggestellt werden.

Meine Geschwister

Wenn ich mit meinen Brüdern zu Singabenden bei der Wiking-Jugend fuhr, hatten meine Eltern eigentlich nichts dagegen einzuwenden. Ich glaube, meinen Eltern war gar nicht wirklich bewusst, wie gefährlich diese Seite der Freizeitgestaltung ihrer Kinder werden konnte und würde. Sie fingen erst an zu reagieren, als bereits ein Teil meiner Geschwister sich von der NPD wieder abgewandt hatte und ich immer radikaler wurde. Meine Eltern begannen, in ihrer Hilflosigkeit zu schimpfen und Verbote auszusprechen, und merkten nicht, dass sie damit genau das Gegenteil erreichten.

Zwei meiner Brüder, die Zwillinge, blieben aktive Mitglieder in der JN (Junge Nationaldemokraten) und NPD. So fand ich in meinem Verhalten auch Unterstützung bei ihnen.

Kai war, ähnlich wie ich, ein immer stärker werdender Gegner der linken Szene. Irgendwann schaffte er sich eine Gaspistole an, die ich eine Zeit lang für ihn versteckte, nachdem meine Mutter die Pistole in seinem Zimmer gefunden hatte. Nach einiger Zeit gab ich sie ihm zurück und kümmerte mich nicht weiter darum. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war ich schon ein gewisses Stück abgestumpft, denn die Tatsache, eine Pistole zu verstecken, schreckte mich überhaupt nicht.

Er prügelte sich auch ungemein gern, und ich unterstützte ihn stets, indem ich Schmiere stand, ihn deckte, oder sonst irgendwie schützte. Ab und zu – aber nicht allzu oft – traf auch mich bei diesen Schlägeraktionen ein Schlagstock oder eine Faust. Dies schreckte mich aber nicht sonderlich ab.

Uwe dagegen war ein Theoretiker. Er beschränkte sich darauf, bei Plakataktionen und Demos unauffällig mitzuwirken (er schlug sich eigentlich nie), war aber ansonsten bei allen „amtlichen“ Tätigkeiten stets in erster Reihe.

Uwes schlimmste Tat bestand darin, dass er dabei war, als wir nach einer Demo von einem Kriegsgräberdenkmal eine Deutschlandfahne stahlen. Irgendein Passant hatte meinen Bruder inmitten unserer Gruppe erkannt und bei der Polizei verpfiffen. Uwe nannte die Mittäter nicht, sondern nahm die gesamte Schuld auf sich und wurde auch dafür bestraft.

Als er einige Jahre später bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, den ein englischer „Besatzungssoldat“ unter Alkoholeinfluss verursacht hatte, steigerte dies meine Abneigung gegen die „Besatzer“ nur noch stärker.

Zur Beerdigung erschienen neben unserer sehr großen Verwandtschaft und der Belegschaft des Betriebes, in dem er zuletzt gearbeitet hatte, so viele Kameraden aus dem gesamten niedersächsischen Umkreis, dass die kleine Friedhofskapelle schon bald überfüllt war. Auf dem gesamten Friedhofsgelände befanden sich die Trauernden, und eine Musikkapelle spielte auf dem Gang von der Friedhofskapelle zur ausgehobenen Grube „Ich hatt’ einen Kameraden …“

Lars, mein ein Jahr älterer Bruder, war wohl von uns Geschwistern am wenigsten an Politik interessiert. Er begleitete uns aber überall hin, weil er die Kameradschaft genoss und genauso gerne bei den Kameradschaftsabenden mit soff.

Meine ältesten Brüder Heiko und Gero betätigten sich überhaupt nicht politisch.

Zu Anfang meiner „politischen Karriere“ gab es fast ständig diese Kameradschaftsabende. Es wurde gewandert und bei Lagerfeuer und Gitarrenmusik wurden Volkslieder gesungen.

In der Schule hatte ich wegen meiner neuen Aktivitäten und meiner neuen Freunde keine nennenswerten Probleme. Meine Leistungen wurden eher besser. Besonders in den Sachkundefächern wurde ich immer stärker.

Erste Freunde

Gemeinsam mit meinen älteren Brüdern besuchte ich ab meinem 15. Lebensjahr Discos und Veranstaltungen der NPD oder der Wiking-Jugend im regelmäßigen Wechsel – bis mir eines Tages die Kameradschaft in der Partei wichtiger wurde als das Herumtreiben in irgendwelchen Diskotheken. Immer öfter ging ich auch ohne Begleitung meiner Brüder auf politische Veranstaltungen.

Gerade 15 Jahre alt geworden, lernte ich Gerald auf einer NPD-Kundgebung in Hamburg kennen. Gerald war schon 19 und überzeugter NPD-Mann. Wir verknallten uns ineinander und verbrachten in den kommenden eineinhalb Jahren fast jedes Wochenende miteinander. Wir schliefen sogar bald miteinander, und ich dachte, das sei der Mann meines Lebens. Bei Ulf, seinem älteren Bruder, nahm ich Englischnachhilfe. Das war eine Gelegenheit, Gerald noch öfter zu sehen und gleichzeitig meine Englischkenntnisse aufzubessern, schließlich stand ich in Englisch gerade zwischen vier und fünf. Nach den Nachhilfestunden ging ich also zu Gerald auf das Zimmer, um mit ihm zu schmusen oder anstehende politische Tätigkeiten zu besprechen.

Von Demos hielt Gerald nicht viel. Er scheute die Gewalt, die Schlägereien mit den „Linken“ und die Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ich fühlte mich dagegen in meiner Abneigung gegen staatliche Einrichtungen und „politisch Andersgeartete“ nur um so mehr bestätigt, je stärker die Auseinandersetzungen wurden.

Aber die Streitereien, die ich unter anderem deswegen mit Gerald hatte, nahmen zu. Irgendwann hatten wir uns so zerstritten, dass wir uns trennten. Ich nannte ihn Spießer und spielte die Überlegene, obwohl ich todtraurig war.

Die Aussteigerin. Autobiografie einer ehemaligen Rechtsextremistin

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