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Das Archiv als Labor

Eine Einleitung

Das Archiv der Zeitgenossen wurde im Jahr 2010 als Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe des Landes Niederösterreich an der Donau-Universität Krems gegründet. Den Grundstock bildeten zwei besonders umfangreiche Privatsammlungen, nämlich die Vorlässe von Friedrich Cerha und Peter Turrini. Mittlerweile hat sich das Sammlungsprofil auf vier Kunstsparten erweitert und der Bestand ist beträchtlich gewachsen. Derzeit werden im Archiv der Zeitgenossen Vorlassbestände in den Sparten Musik (Kurt Schwertsik, Friedrich Cerha, HK Gruber), Literatur (Julian Schutting, Peter Turrini), Film (Peter Patzak) und Architektur (Wolf D. Prix) betreut. Im August 2019 wurde mit der Sammlung des Musikverlegers Alfred Schlee der erste Nachlass übernommen. Allesamt sind es herausragende Persönlichkeiten, die österreichische Kulturgeschichte seit 1945 mitgestaltet und geprägt haben. Mit Ausnahme von Alfred Schlee, der 1999 im 98. Lebensjahr verstarb, sind sie alle immer noch künstlerisch produktiv.

Es ist unter diesen Voraussetzungen naheliegend, dass es zu einem regelmäßigen Austausch zwischen den Bestandsbildnern und den Archivarinnen und Archivaren gekommen ist. Unklarheiten und Fragen sind mit Hilfe der betreffenden Personen oft schnell zu klären. Als Archiv, das nicht nur Materialien bewahrt und erschließt, sondern auch einen Forschungsauftrag erfüllt und mit gelegentlichen Veranstaltungen auch die allgemeine Öffentlichkeit ansprechen möchte, war uns dieser Austausch, der direkte Kontakt zu den Künstlern aber nicht nur aus pragmatischen Gründen ein besonderes Anliegen. Sie begegneten uns als faszinierende Gesprächspartner, von deren Erfahrung und Wissen wir, ergänzend zu den im Archiv bereits gesicherten Unterlagen, etwas bewahren wollen. Diese Vorgangsweise hat auch eine empirische Komponente: Das Archiv und seine Bestandsbildner beeinflussen einander gegenseitig, und es kommt unweigerlich zu einer Reflexion der Praxis der archivarischen Vorlassbetreuung, die ebenso unweigerlich zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf die Bestandsart „Vorlass“ führt. Nicht zuletzt wirkt sich die Beschäftigung mit dem eigenen Vorlass häufig auch auf die künstlerische Arbeit der betreffenden Person aus und kann neu entstehende Werke beeinflussen. Das Beispiel der mehrfachen Zusammenarbeit von Kurt Schwertsik und Julian Schutting zeigt, dass über den Umweg des gemeinsamen Archivs auch „Arbeitsbeziehungen“ gestiftet werden können.

Von interessierten Besuchern werden wir oft gefragt, was denn ein Vorlass überhaupt genau sei. Auch wenn die Analogie zum Begriff „Nachlass“ rasch erkannt wird, ist das Vorstellungsvermögen in Bezug auf die genaue Zusammensetzung dieser personenbezogenen Art von Sammlung begrenzt. Fachspezifische Definitionen sind für Laien auch nicht unbedingt aufschlussreich: Ein Vorlass ist die Summe aller Materialien, die sich zu Lebzeiten einer Person bei ihr zusammengefunden haben und noch zu Lebzeiten übergeben werden.1 Tatsächlich ist ein Vorlass dem, was sich die meisten Menschen unter einem Nachlass vorstellen, ziemlich ähnlich. Der wesentliche Unterschied, dass Vorlässe im Gegensatz zu Nachlässen direkt von den Besitzern – also zu Lebzeiten – an eine Einrichtung übergeben werden, ist allerdings folgenreicher als die meisten Menschen vermuten würden. Die übergebende Person beeinflusst durch die Zusammenstellung und Kommentierung der Materialien nämlich unvermeidbar die Überlieferung. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, mit diesen Selbstinszenierungen, die ein Bestandsbildner auf seine Materialien überträgt, bewusst umzugehen und sie transparent zu machen. Privatarchive sind so individuell wie die Personen, von denen sie stammen, sie sind einzigartig im Hinblick auf die vorliegenden Materialien und die dahinter wirkende Sammlungslogik. Für das Verständnis von Kunst und künstlerischen Prozessen liegt der Wert der Vor- und Nachlässe aber vor allem in der hohen Dichte an Primärquellen, also jener Unterlagen, die unmittelbar auf den Urheber oder die Urheberin der Werke zurückzuführen sind. Wir bewahren nicht nur die abgeschlossenen Werke in Form von Manuskripten, Partituren oder wie sie sich auch immer manifestieren wollen, sondern wir bewahren auch Materialien, die den Schaffensprozess dokumentieren und diesen nachvollziehbar machen. Wir sehen nicht nur das Endprodukt, sondern ebenso den Weg dorthin, mit seinen Verwerfungen, Korrekturen, inneren und äußeren Entwicklungsfaktoren. Diese „Urquellen“ in Form von Skizzen, Notizen, Entwürfen, Korrespondenzen und anderen Aufzeichnungen sind der direkteste Zugang zum Kopf eines Künstlers, wenn dieser irgendwann nicht mehr verfügbar ist. Vor- und Nachlässe zählen außerdem zu den persönlichsten Bestandsarten, die man sich vorstellen kann. Das ist nicht etwa deshalb so, weil es sich in der Mehrzahl der Fälle um Dokumente des privaten Lebens handeln würde, sondern weil auch das Werk eines künstlerisch tätigen Menschen schwerlich als etwas vollkommen „Unpersönliches“ zu betrachten ist. Wenn sich also ein Schriftsteller, Filmemacher oder Komponist dazu entschließt, seine gesammelten Unterlagen einem Archiv zu übergeben, sichert er zwar das Fortbestehen dieser Unterlagen für die Nachwelt, exponiert sich aber zugleich als Forschungsgegenstand, der mitunter detailreich analysiert wird. Sammlungen, die Belege von Entscheidungsprozessen und Erfahrungen einzelner Menschen dokumentieren, werden uns immer auch an etwas Elementares erinnern: nämlich, dass Menschen in erster Linie von anderen Menschen lernen. Nicht nur im Privaten, sondern auch als Kollektiv.

Um auch der allgemeinen Öffentlichkeit Einblicke in die Archivarbeit, in die Forschung, in die Schatzkammer unserer Bestände zu eröffnen und Begegnungen mit außerordentlichen Künstlerpersönlichkeiten zu ermöglichen, haben wir über die Jahre verschiedene Typen von Gesprächs-Veranstaltungen entwickelt und ausprobiert. Die Grundidee war immer dieselbe, nämlich Hintergrundinformation aus erster Hand für das Archiv zu sichern und einen – meist kleinen – Kreis von Interessierten daran teilhaben zu lassen. Werkstattgespräche dienen der zeitnahen Auseinandersetzung mit neuen Werken und deren Eintritt in die öffentliche Sphäre. Die Initialzündung war eine Uraufführung des Theaterstücks Aus Liebe von Peter Turrini am 16. Mai 2013 am Theater in der Josefstadt. Es war der Beginn einer großzügigen Kooperation mit dem von Herbert Föttinger geleiteten Wiener Theater, die uns noch weitere wunderbare Veranstaltungen bescheren sollte. Am Abend vor der Premiere – in einer Phase höchster Anspannung für alle an der Produktion beteiligten also – war im Archiv des Zeitgenossen ein Theatergespräch anberaumt. Es reisten an: Autor Peter Turrini, Regisseur Herbert Föttinger sowie die Schauspielerin Sandra Cervik und der Schauspieler Ulrich Reinthaller. Im Gepäck hatten sie eine eigens angefertigte, verkleinerte Version des gemalten Original-Bühnenbildes, das die Kulisse für das Gespräch bildete.


Herbert Föttinger, Peter Turrini, Sandra Cervik, Ulrich Reinthaller (v. l. n. r.)

Archiv der Zeitgenossen, 15. 5. 2013

Foto: Archiv der Zeitgenossen/Andrea Reischer

Ein weiteres Werkstattgespräch widmete sich der Oper Onkel Präsident von Friedrich Cerha. Die Oper war als Koproduktion der Wiener Volksoper mit dem Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz im Juni 2013 zur Uraufführung gekommen. Anlässlich der österreichischen Erstaufführung im Oktober 2014 in Wien diskutierten der Komponist Friedrich Cerha, der Librettist Peter Wolf und der verantwortliche Dramaturg der Wiener Volksoper, Christoph Wagner-Trenkwitz über das Werk und seine Entstehung. Leider war eine Aufzeichnung der Gesprächsinhalte nicht möglich, zumindest aber existieren fotografische Belege.

Während die Werkstattgespräche sich dem aktuellen Geschehen widmen, richten wir mit ZeitzeugInnen-Gesprächen oder Rückblenden den Blick in die Vergangenheit und versuchen Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen. Ausgehend von Dokumenten, die wir im Archiv vorfinden, versuchen wir mit den Protagonisten von damals, bestimmte ausgewählte Vorgänge oder Begebenheiten zu rekonstruieren. Diese Ereignisse können spektakulär sein wie das „Skandalkonzert“ des Ensembles die reihe im Jahr 1959. Sie können aber auch im Hintergrund abgelaufen sein, wie etwa die Zusammenarbeit der Alpensaga-Autoren Turrini und Pevny mit dem Historiker Ernst Bruckmüller, die öffentlich kaum bekannt war. In allen Fällen erschien es lohnenswert, genauer hinzusehen und nachzufragen. Nach Möglichkeit wurden die Gespräche zu Dokumentationszwecken aufgezeichnet oder gefilmt. Einige Aufzeichnungen sind auch auf der Website des Archivs der Zeitgenossen verfügbar.


Peter Wolf, Friedrich Cerha und Christoph Wagner-Trenkwitz (v. l. n. r.)

Archiv der Zeitgenossen, 11. 9. 2014

Foto: Archiv der Zeitgenossen/Andrea Reischer

Für die Publikation wurde eine Auswahl der Gespräche, die seit 2013 geführt werden, niedergeschrieben und den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern noch einmal zur Durchsicht vorgelegt. Die Inhalte wurden also noch einmal überprüft, wenn nötig korrigiert und stellenweise etwas präzisiert, sodass mit diesem Buch überarbeitete Versionen der Gespräche vorliegen. Dass die Schriftfassungen von den Originalgesprächen nun stellenweise abweichen, nehmen wir im Interesse der Informationsgewinnung, der wir uns als forschendes Archiv verpflichtet fühlen, bewusst in Kauf. „Authentisch“ sind beide Fassungen, sowohl die mündliche als auch die schriftliche. Bildmaterialien waren in einigen Fällen bereits Teil der Veranstaltungsdramaturgie und wurden in das vorliegende Buch integriert. Weitere Abbildungen sind zu illustrativen Zwecken eingestreut und – sofern vorhanden – veranschaulichen Fotos oder Videostills die Gesprächssituation.

An der Entstehung und Gestaltung dieses Buchs war nahezu das gesamte Team des Archivs der Zeitgenossen beteiligt: Gundula Wilscher, Reinhard Widerin, Hanna Prandstätter und Brigitta Potz haben in vielen Arbeitsstunden Gespräche niedergeschrieben, mit den Beteiligten für die Überarbeitungen gesorgt und geeignetes Bildmaterial ausgehoben. Für das Zustandekommen der Gespräche bedanke ich mich bei all unseren Kooperationspartnern, bei den äußerst sachkundigen Moderatorinnen und Moderatoren und bei allen Gästen, die aus Interesse an den Themen ihre Beiträge geleistet haben. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht, mit dem wir anlässlich unseres zehnjährigen Bestehens nun zeigen können: Wir archivieren nicht nur „Zeitgenossen“, sondern wir versuchen auch, ein zeitgenössisches Konzept von Archiv zu leben.

Christine Rigler

Dezember 2020

Anmerkung

1 Diese Definition aus den RNA (Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen, Stand 2010) wurde in der mittlerweile zu RNAB überarbeiteten Fassung dieses Regelwerks wie folgt geändert: Ein Vorlass ist demnach ein „Komplex von Ressourcen (Bestandsart) aus der Provenienz einer Person, die zu ihren Lebzeiten an eine bestandserhaltende Institution gelangt“. Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Richtlinie und Regeln. Berlin, Bern, Wien 2019, S. 115, https://d-nb.info/1186104252/34 (Abruf 2. 3. 2021)



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