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ОглавлениеSkandal!
Zur legendären Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage im Jahr 1959 Gertraud Cerha, Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik im Gespräch mit Gundula Wilscher
„Wenn das der Mozart hätt’ erleben müssen …“1 – so lautete eine der zahlreichen Schlagzeilen nach der österreichischen Erstaufführung des Klavierkonzerts des amerikanischen Komponisten John Cage im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses im Jahr 1959. Das im doppelten Sinne „unerhörte“ Konzert, bei dem sich die Musiker und Musikerinnen des Ensembles die reihe mit ihren Musik- und Geräuschinstrumenten auch unter die Zuschauer gemischt hatten und neben ungewohnten Klängen auch minutenlange Stille zum Besten gaben, löste bei Teilen des Wiener Konzertpublikums heftige Protestbekundungen aus.
Der österreichische Komponist und Hornist Kurt Schwertsik dirigierte damals das Ensemble die reihe, das er gemeinsam mit Friedrich Cerha ein Jahr zuvor gegründet hatte und in dem Gertraud Cerha als Cembalistin mitwirkte. 58 Jahre später berichteten die Akteure, wie sie selbst das „Skandal-Konzert“ erlebt haben. Begleitet wurde die Veranstaltung von Bild- und Tonmaterial aus dem Archiv der Zeitgenossen, das unter anderem die umfangreichen Vorlässe von Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik sowie das Archiv des Ensembles die reihe beherbergt.
GUNDULA WILSCHER
Ich begrüße Sie sehr herzlich im Archiv der Zeitgenossen zu unserem ZeitzeugInnen-Gespräch mit Kurt Schwertsik, Gertraud Cerha und Friedrich Cerha. Ich werde jetzt am Anfang ein paar Hintergrundinformationen geben, um dann den PodiumsteilnehmerInnen das Wort zu überlassen.
Gundula Wilscher, Friedrich Cerha, Gertraud Cerha und Kurt Schwertsik (v. l. n. r.), 24. 5. 2017
Archiv der Zeitgenossen. Quelle: Archiv der Zeitgenossen
Als Assoziationshilfe oder auch Projektionsfläche für das heutige Gespräch habe ich den Scan eines Zeitungsartikels ausgewählt. Wir werden heute erfahren, was wir auf diesem Bild sehen können – vor allem aber auch, was wir nicht sehen können. Dies ist ein Gespräch mit Zeitzeugen und einer Zeitzeugin, und das sind Menschen, die sich an etwas Vergangenes erinnern. Dieses Sich-Erinnern ist ein komplexes Themenfeld und das Gedächtnis an sich ist in den letzten Jahrzehnten auch in den Fokus der Wissenschaft gerückt, sowohl in der Psychologie als auch in den Kulturwissenschaften, mit all den Funktionen und Mechanismen, die mit dem Erinnern verbunden sind. Anstatt einer Einführung in diesen Wissenschaftsbereich mache ich es mir aber leicht und möchte Ihnen ein hervorragendes Zitat aus einem Text von Kurt Schwertsik vorlesen. Er sollte sich im Rahmen eines Symposiums im Jahr 2004 an die Anfänge des von ihm und Friedrich Cerha gegründeten Ensembles die reihe erinnern:
„Sehr geehrte Damen und Herren, das erste Gedächtnis, das einen verläßt, ist das Namensgedächtnis. Immer öfter blicke ich ins Leere, hab’ keine Ahnung wo und wie ich nachsehen könnte in meinem imaginären Zettelkasten bzw. Karteiprogramm, irgendeine Taste im Kopf ist falsch gedrückt worden und jetzt streikt der Computer. Das Gedächtnis für Ereignisse ist heimtückischer: die Begebnisse stehen klar vor Augen und was nicht vor Augen steht, ist eben nicht da, steht nicht zur Verfügung, kann daher nicht erinnert werden, ist also eigentlich nie geschehen.
Aha!
Die Bilder sind ausgesucht, vorgeordnet, bewertet, gesiebt, retuschiert, durchs Erzählen zu Geschichten geworden, denen man schließlich selber glaubt. Das bringt ein wenig Farbe in die eigene Vergangenheit.
Gewiß vollzieht sich meine Bildverarbeitung nach streng objektiven Kriterien, mit Hilfe derer ich meine Wirklichkeit herstelle und über die jeder andere sich vor Lachen rollen würde. Ich hingegen würde nicht begreifen, was daran komisch sein soll!
Naja, ich werde also lügen wie ein Augenzeuge!“2
Es geht auch uns hier nicht darum, das Unmögliche möglich zu machen und zu versuchen, etwas Vergangenes lückenlos zu rekonstruieren, sondern wir wollen eben das erfahren, was uns unsere sehr wertvollen, aber stummen Archiv-Quellen nicht verraten können, was wir nur von den beteiligten Personen erfahren können und das hat auch oft mit Emotionen zu tun. Wir wünschen uns genau diesen subjektiven Eindruck und diese Geschichten, aus denen Geschichte gemacht ist. – Ich habe noch zwei Dinge vor, bevor ich das Wort übergebe: Erstens möchte ich gerne skizzieren, an welchem Punkt ihres Lebens unsere drei Podiumsgäste zum Zeitpunkt des Konzerts 1959 jeweils standen. Danach möchte ich ein kurzes Video und etwas Archivmaterial zeigen. Ich fange bei Gertraud Cerha an.
1959 war Gertraud Cerha 31 Jahre alt. Sie hat damals schon das neunte Jahr Musikerziehung am Gymnasium unterrichtet, die Staatsprüfung für Klavier war 8 Jahre her und sie war mit Friedrich Cerha schon 7 Jahre verheiratet.
FRIEDRICH CERHA
Und sie hat auch die Reifeprüfung im Cembalo gemacht!
GERTRAUD CERHA
Stimmt nicht! In Klavier hab’ ich sie gemacht, aber nicht in Cembalo!
FRIEDRICH CERHA
[amüsiert] Meine ersten Worte – und sie stimmen schon nicht.
GUNDULA WILSCHER
Gertraud, du hast dich eigentlich erst im Studium ab 1946 so richtig mit der Musik des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt?
GERTRAUD CERHA
Auch das nicht. Weil ich aus der Provinz gekommen bin und von Neuer Musik überhaupt keine Ahnung gehabt habe und zunächst einmal genossen habe, die das Konzertprogramm dominierenden symphonischen Konzerte mit klassischer und romantischer Literatur live direkt zu hören. Und zu Neuer Musik bin ich eigentlich erst langsam und hauptsächlich durch Friedrich Cerha gekommen.
Zeitungsausschnitt, Neues Österreich, 21. 11. 1959
Quelle: AdZ-FC (KRIT008/11)
GUNDULA WILSCHER
Und du warst auch ganz intensiv in alle Aktivitäten rund um das Ensemble die reihe involviert.
GERTRAUD CERHA
Ja, das ab ovo.
GUNDULA WILSCHER
Als Cembalistin natürlich selbst spielend, als Organisatorin Proben organisierend, Konzertreisen organisierend – man kann sich kaum vorstellen, wie schwierig das sein musste bei einem Ensemble, in dem fast alle Musiker in einem anderen Orchester spielen.
GERTRAUD CERHA
Sie sind aus fünf verschiedenen Orchestern gekommen.
GUNDULA WILSCHER
1959 im März war das erste Konzert des Ensembles. Ab 1960 hat Gertraud Cerha an der Musikhochschule auch Generalbass unterrichtet, das ist aber von unserer Warte aus ein Blick in die Zukunft und damit gehe ich weiter zu Friedrich Cerha. Er war zum Zeitpunkt des Konzerts 33 Jahre alt, hatte bis dahin schon sehr viel erlebt, ist zweimal aus der Wehrmacht desertiert. Er hat dann nach dem Krieg sein Studium zahlreicher Fächer wiederaufgenommen und seinen Doktor in Germanistik gemacht. Er war als Geiger sehr gefragt, hat viel konzertiert, war Musiklehrer an verschiedenen Wiener Gymnasien, wo er unter anderen auch unseren ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer unterrichtet hat, der das immer sehr gern erwähnt. Auch er war bereits mit Gertraud Cerha verheiratet. Die beiden sind viel gereist in dieser ersten Zeit – und es gab auch schon die erste Tochter, Irina, sie war damals drei Jahre alt. Friedrich Cerha hat in diesem Jahr, 1959, auch begonnen an der Musikakademie zu unterrichten.
GERTRAUD CERHA
Nebenfach Geige in der Schulmusik.
GUNDULA WILSCHER
Last but not least Kurt Schwertsik, zu diesem Zeitpunkt, 1959, 24 Jahre alt. Also war er damals fast zehn Jahre jünger als Friedrich Cerha – und ist es heute auch noch. Schwertsik hat den zweiten Weltkrieg als Kind erlebt und die prägenden Jahre als Jugendlicher und junger Erwachsener in der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit. Zum Zeitpunkt des Konzerts war er schon vier Jahre lang Hornist bei den Niederösterreichischen Tonkünstlern gewesen, hat aber in diesem Jahr dort aufgehört, um sich verstärkt dem Komponieren zu widmen und auch zu reisen … nach Rom, London und Köln, wo er bei Stockhausen studiert hat. Er hat dann 1966 in Kalifornien an der Universität Komposition unterrichtet. Aber auch das ist jetzt ein Blick in die Zukunft. Wir versetzen uns nun wieder zurück ins Jahr 1959 und um dieses Bild abzurunden, wollen wir uns kurz ein Video ansehen. Nicht das Cage-Konzert, sondern eine Aufführung von Friedrich Cerhas Relazioni fragili aus dem Jahr 1960, also zeitlich sehr nahe am Konzert. Und das Besondere daran ist, man sieht alle drei in Aktion, man sieht Gertraud Cerha als Solistin am Cembalo, man sieht Kurt Schwertsik an der Celesta und Friedrich Cerha dirigiert.
Gertraud Cerha (Cembalo) und Kurt Schwertsik (Celesta) bei einer Aufführung von Friedrich Cerhas Relazioni fragili mit dem Ensemble die reihe im Wiener Konzerthaus 1960, Screenshot
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=kSldQzUVtok (Abruf: 8. 7. 2020)
Bevor wir jetzt ins Gespräch einsteigen, sehen wir noch ein paar Bilder aus dem Archiv an. Versetzen wir uns hinein in die Ereignisse an diesem Donnerstag, 19. November 1959.
[liest aus dem Zeitungsbericht] „Im Mozart-Saal des Konzerthauses kam es am Donnerstagabend zu allerlei Tumultszenen als in dem ‚Klavierkonzert‘ von John Cage die im Publikum verstreut herumsitzenden Musiker nicht nur Töne produzierten, sondern eine ganze Menge in solchen Räumen noch nie gehörter Geräusche. Man war einigermaßen irritiert und erst recht schockiert, als in langwährenden Pausen nichts als Stille geboten wurde, obzwar ein Dirigent unentwegt weiterruderte. Auf dem Podium befand sich fast niemand. Man suchte dort vergeblich nach Musikern. Diese saßen teils auf der Galerie, teils im Parkett, weit über den ganzen Saal verstreut; um sie herum das Publikum, das nun nicht mehr wußte, in welche Richtung es seine Ohren richten sollte. […]“
Konzertsituation mit Musikern im Publikum
Quelle: AdZ-FC (FOTO0009/5)
Schwertsik beim Dirigieren, Zeitungsausschnitt
Quelle: AdZ-FC (FOTO0009/4)
Wiener Konzerthaus: Abendprogramm zum Konzert am 19.11.1959
Quelle: AdZ-FC (KRIT008/6)
Sie haben eine Kopie des damaligen Konzertprogramms auf Ihren Sitzen liegen. Es ist erstens grafisch sehr ansprechend, wie ich finde, und man sieht auch, dass hier die Komponisten im Vordergrund stehen und eigentlich nicht die Interpreten. Ansonsten ist es ein traditionelles Konzertprogramm, so wie es auch in jedem anderen Konzert zu finden ist.
Ein Beispiel aus dem Bestand an Korrespondenzen zeigt einen Brief von John Cage, geschrieben am 15. Oktober 1959, also zirka ein Monat vor dem Konzert. Er steuert hier noch ein paar Titel bei und beschreibt, wie das Konzert zu „performen“ ist.
Man sieht an diesen Fotos auch, wie viel Raum dieses Konzert in der Berichterstattung eingenommen hat.
Brief John Cage an Friedrich Cerha, Stony Point, N.Y., 15. 10. 1959
Quelle: AdZ-FC (BRIEF004/32 und 33)
Schlagzeilen-Collage aus den Presseberichten zum Konzert am 19. 11. 1959
Quelle: AdZ-FC (KRIT0008)
Musiker beim Konzert, Zeitungsausschnitte
Quelle: AdZ-FC (KRIT0008/11, 13 und 14)
Ensemble die reihe im Garten des Museums des 20. Jahrhunderts 1963.
(v. l. n. r.) HK Gruber, Viktor Redtenbacher, Kurt Prihoda, Käthe Wittlich, Friedrich Cerha, Rolf Eichler, Eugenie Altmann, hinter ihr Roland Altmann, Helmut Rießberger, Josef Plichta.
Foto: Unbekannt, Quelle: AdZ-FC (F0T00009/10)
GUNDULA WILSCHER
Nun möchte ich noch zwei Fotos vom Ensemble außerhalb des Konzerts zeigen. Eine Aufnahme des Ensembles [siehe oben] und eine Probensituation [siehe Seite 47].
GERTRAUD CERHA
… bei der Eugenie Altmann Zeitung liest – so langweilig war ihr.
KURT SCHWERTSIK
Josef Spindler hat da Trompete gespielt – und der Schwertsik hinten am Schlagzeug.
GUNDULA WILSCHER
Ich war mir nicht sicher. Das sind Sie hinten!
KURT SCHWERTSIK
Jaja, mit leichter Glatze schon.
GUNDULA WILSCHER
Jetzt haben wir uns ein bisschen eingestimmt auf diesen Abend. Nun frage ich euch: ihr wart ja während des Konzerts in verschiedenen Rollen. Wie habt ihr euch gefühlt bei diesem Konzert, was könnt ihr uns berichten?
FRIEDRICH CERHA
Ich glaube, ich sollte vorausschicken: bis in die 50er-Jahre war die Gruppe um John Cage eigentlich in Europa überhaupt unbekannt. Es gab nur so nebulose Nachrichten von Zufallskompositionen und dergleichen. Um 1958 ist John Cage nach Darmstadt zu den Ferienkursen gekommen und sein Erscheinen hat dort wie eine Bombe eingeschlagen. Ich habe ja erwartet, dass die minutiösen seriellen Musikkonstrukteure Cage völlig ablehnen werden. Aber das Gegenteil ist eingetreten, die Leute waren vom Zufall fasziniert und es begannen die aleatorischen Akzente, nicht nur mit betont grafischer Musik, wie Haubenstock oder Logothetis, sondern der Gedanke der Aleatorik ist auch bei Komponisten wie Stockhausen und Boulez und ganz besonders Lutosławski eingedrungen. Die eigentliche Initiative zu diesem Konzert ist übrigens von Kurt Schwertsik ausgegangen. Wir haben uns ja bei der Gründung der reihe vorgenommen, das Wiener Publikum mit allem Neuen aus dem 20. Jahrhundert, was es bis dahin gab, bekannt zu machen und da war die Gruppe um John Cage natürlich ein wichtiger Punkt.
Ensemble die reihe bei einer Probe.
Fotograf unbekannt, Quelle: AdZ-FC (FOTO0009/17)
GERTRAUD CERHA
Darf ich etwas dazu sagen? Also wir wollten wirklich mit allem bekannt machen, was man in Wien nicht kannte oder kaum kannte. Und dazu hat auch Schönberg, auch Webern, auch Varèse gehört, also viel klassische Literatur …
FRIEDRICH CERHA
Ives …
GERTRAUD CERHA
… Ives, Satie. Wir haben immer versucht, in den Programmen einen gewissen Zusammenhang zwischen den Stücken herzustellen, auch zwischen älteren und neueren. Im ersten Konzert zum Beispiel gab es Webern, Pousseur, Boulez, im zweiten Konzert waren es nur Italiener, Maderna, Nono und Berio, und das dritte war eben diese Gruppe – man sagt fälschlicherweise immer „die Schule um John Cage“, das ist ein Unsinn – also die Gruppe von Musikern um John Cage oder jene, die ähnlich orientiert gewesen sind. Und so sehr wir uns bemüht haben, dem Publikum etwas vernünftig zu vermitteln, so wenig „pädagogisch“ ist es natürlich gewesen, als drittes Konzert das Cage-Konzert zu machen.
GUNDULA WILSCHER
Das würdest du jetzt anders machen?
GERTRAUD CERHA
Nein! Aber es ist uns überhaupt nicht eingefallen darüber nachzudenken, wie das Publikum darauf vorbereitet ist, oder was es bewirken könnte. Wir wollten das einfach präsentieren. Dessen ungeachtet hat man danach gesagt, wir haben dieses Konzert veranstaltet, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Es war ein Riesenwirbel und natürlich hat man nachher die reihe besser gekannt als vorher, aber unsere Intentionen waren sehr, sehr weit davon entfernt.
KURT SCHWERTSIK
Was mich eigentlich interessiert bei dem Ganzen und was verloren ist: Die reihe-Konzerte waren Insiderinformationen, also da sind Leute hingegangen, die sich prinzipiell dafür interessiert haben. Wieso an diesem Abend plötzlich so merkwürdige Randerscheinungen aufgetaucht sind – wie die nachfolgenden Berichte dann gezeigt haben: großseitige Bilder in Illustrierten. Ich weiß noch, wie Tudor zu mir gekommen ist und gesagt hat, es ist furchtbar, dauernd diese Fotografen, die ununterbrochen herumrennen und Blitzlichter machen. Mir ist diese Idee auch erst heute gekommen: Eigentlich hätte man die Medienverbreitung genauer untersuchen müssen. Wer hat diesen Zeitungen gesagt: da gibt’s was, da geht’s hin – weil normalerweise haben sich die ja überhaupt nicht dafür interessiert. Und das Publikum, das dort war, das hätte sich wahrscheinlich eher amüsiert als skandalisiert.
GERTRAUD CERHA
Wobei offensichtlich nicht nur an die Presse Informationen gegangen sein müssen, sondern auch an bestimmte Publikumskreise, sonst wäre nicht Frau Badura schon mit einem Trillerpfeiferl ins Konzert gekommen.
GUNDULA WILSCHER
Der bekannte Musikjournalist Lothar Knessl hat eine Theorie dazu: Möglicherweise sei schon über die Musiker ein bisschen etwas durchgesickert, sie könnten, weil es auch für sie etwas Ungewöhnliches war, erzählt haben: da sitze ich im Publikum mit einem Häferl … sodass es ohne negative Absicht bekannt geworden ist. 3
KURT SCHWERTSIK
Ja, freilich. Also es ist jedenfalls durchgesickert und die waren dort. Und das war das eigentlich Unangenehme dran.
FRIEDRICH CERHA
Ja, aber da muss ich korrigieren: die ersten zwei Konzerte haben auch fast in allen Zeitungen lange Rezensionen gehabt.
KURT SCHWERTSIK
Durchaus gemischt.
GERTRAUD CERHA
Ja, im Urteil durchaus gemischt. Aber dass es jetzt die reihe gibt, dass es ein Ensemble gibt, das diese Musik spielt, wurde beim ersten und zweiten Konzert auch schon berichtet. Es war jedoch unendlich viel mehr beim dritten.
KURT SCHWERTSIK
Das stimmt. Was ich noch sagen möchte: Mir ist natürlich eine pädagogische Absicht ferngelegen.
GERTRAUD CERHA
Absolut! Dir ja, mir nicht ganz so fern!
KURT SCHWERTSIK
Als ich im 1958er-Jahr bei Cage in Darmstadt diesen Kurs besucht habe, habe ich zum ersten Mal jemanden gesehen, der dort gelacht hat. Er hat zum Beispiel dann, wenn er alles ausgewürfelt gehabt hat und die Unebenheiten im Papier verstärkt hat, gesagt, jetzt zieht er die Notenlinien. Und dann hat er gesagt, bei dieser Phase der Komposition kann er besonders gut Fragen beantworten, worauf ein Sturm der Entrüstung unter den Zuhörern war, die gesagt haben, das ist doch eher ein privater Vorgang des Komponierens und so weiter … also das war recht eine lustige Atmosphäre. Ich habe mich auf einmal endlich daheim, angekommen gefühlt, wie man sagt. Mein Ideal waren die Zürcher Dadaisten und auf einmal war ich wieder dabei. Da ist schon damals mein Hang zur Nostalgie offenbar geworden.
GUNDULA WILSCHER
Kurt Schwertsik hat das Konzert dirigiert, Fritz, du hast Geige gespielt …
FRIEDRICH CERHA
Ja, nachdem die Musiker überall im Saal verteilt waren, hat der Dirigent zum Publikum hin dirigiert und das Bild von Schwertsik ist mir noch sehr geläufig. Er hat im Frack dirigiert und die Zeitvorgänge werden im Klavierkonzert so angezeigt, dass sie wie eine Uhr ablaufen [steht auf, hebt und bewegt die Arme wie die beiden Zeiger einer Uhr]. Das geht so – und dann wieder hinauf. Und: das muss nicht gleich schnell sein …
KURT SCHWERTSIK
Nein, da hat es eine zufallsgenerierte Tabelle gegeben, wo manche Minuten eine halbe Minute gedauert haben, manche Minuten haben zwei Minuten gedauert …
FRIEDRICH CERHA
Ja, aber das Schöne war: wenn er beide Hände oben hatte, sind die Frackschöße so auseinandergegangen und er hat ausgesehen wie ein Drache, der zum Fliegen abhebt.
GUNDULA WILSCHER
Darf ich dazu kurz ein paar Sätze aus den Medienberichten vorlesen, denn dieses Bild ist tatsächlich ganz stark angekommen. Zum Beispiel steht in der Presse:
„Es erschien ein befrackter Herr, dessen Gesichtszüge die leidende Miene des der Zisterne entstiegenen Jochanaan aufweisen und der beschwörend beide Arme erhebt. Diese gymnastische Geste löste einen Hexensabbat an Geräuschen aus, […]“
Oder Rudolf Weishappel im Kurier: „Kurt Schwertsik und Friedrich Cerha mimten Dirigenten und benahmen sich dabei wie Spiritisten in Trance. Schwertsik hatte sich zu diesem Zweck einen rötlichen Vollbart wachsen lassen. Er war das Beste an diesem Abend.“
Oder in Neues Österreich: „Einsam und verlassen – wie ein Apostel einer fremden Religion – stand ein junger Mann an der Podiumrampe und betätigte sich – als Dirigent.“
Und die letzte, Marcel Rubin: „Am Dirigentenpult stand ein Jüngling mit schütterem Backenbart, ein Buddha im Frack, die Hände feierlich zum Gebet gefaltet, die Arme von Zeit zu Zeit in Trance bewegend.“ 4
GERTRAUD CERHA
Ein privater Kommentar: dieses Bild ist am Tag nach dem Konzert in der Zeitung erschienen und bei uns am Salzgries hat es an der Tür geläutet und Schwertsik ist vor der Tür gestanden und hat gesagt: Lasst’s mich herein, ich komm’ mir vor wie ein österreichisches Monument. Alle Leute auf der Straße schauen mich an!
FRIEDRICH CERHA
„I hoit des net aus – alle schau’n mi an“.
KURT SCHWERTSIK
Das war natürlich ein Beziehungswahn – es hat mich gewiss niemand angeschaut.
GUNDULA WILSCHER
Es ist natürlich amüsant, sich heute diese Kritiken anzuschauen, aber ich stelle mir vor, dass es in der Situation vielleicht gar nicht so lustig war. Können Sie sich erinnern, wie das in ihren jeweiligen Rollen war, ob im Publikum oder spielend – wie das losgegangen ist mit dem Lärm und so weiter?
FRIEDRICH CERHA
Ja, ich habe schon damit gerechnet, dass es einen Widerstand gegen diese Musik gibt – dass es einen solchen Umfang annimmt, habe ich nicht abgesehen. Vielleicht noch etwas zur Situation des Musikers, die ja auch neu war. Und zwar: nach den Spielregeln hat jeder Musiker seine Stimme selbst hergestellt und ungefähr zwanzig oder fünfundzwanzig Leute waren im Saal überall verteilt. Der Musiker fühlt sich am Podium ja geborgen und geschützt vor dem Publikum. Da war es aber so, dass links und rechts vom Musiker und vorn und hinten Leute gesessen sind, die dann auch zwischengerufen haben, getrampelt haben, applaudiert haben, wenn ein Fortissimo kam, gelacht haben oder auch geschrien haben: „Aufhören!“. Und ich war ein bisschen besorgt, dass unsere Musiker, angesprochen durch das Echo im Publikum, auch zu einem Klamauk neigen würden – aber das war absolut nicht der Fall und hat mich überrascht: Sie haben alle wirklich inmitten des Tohuwabohus ganz ernst, fast zeremoniell, ihren Part absolviert. Wo sie natürlich verschiedenste Instrumente, Kochgeschirr et cetera, verwendet haben.
GERTRAUD CERHA
Da waren sie wirklich wunderbar.
FRIEDRICH CERHA
Oder ich erinnere mich, wie der Basstubist an einer kurzen Fortissimo-Stelle mit einer Pistole …
KURT SCHWERTSIK
… hineingeschossen hat in die Tuba! Im elektronischen Studio in Köln haben sie eine Aufnahme gehabt von der Kölner Aufführung, und da flippen die Musiker gelegentlich aus – einer spielt plötzlich einen Schlager hinein – und solche Sachen. Darunter hat Cage sehr gelitten. Er hat dann gesagt: vielleicht ist meine Aufgabe eher eine soziologische, denn er hat immer erwartet, dass jemand professionell seinen Part spielt. Und dass er das macht, was ein Musiker macht. Er hat dann auch bei einem französischen Orchester, wo auch ein Tohuwabohu ausgebrochen ist unter den Musikern, dem Orchester gegenüber einen Vortrag gehalten und hat einen Zweig des Buddhismus erwähnt, der glaubt, dass auch Sachen belebt sind. Und er meinte, Töne haben auch ihr Eigenleben und er möchte gerne, dass diese Töne freigelassen werden. Das heißt: Er hat die Musiker gebeten, so zu spielen, wie sie nicht gelernt haben zu spielen, sondern entweder so laut zu spielen, dass sie keine Kontrolle mehr über den Ton haben, oder so leise, dass sie auch die Kontrolle über den Ton verlieren. Sodass der Ton macht, was er will. Und das hat ungefähr zehn Minuten lang gewirkt, aber dann ist wieder das Übliche passiert, dass die irgendwas gespielt haben.
FRIEDRICH CERHA
Ich war damals nachher auf unsere Musiker sehr stolz. Vielleicht sollte man aber noch eine Person erwähnen: David Tudor. Das war der Pianist aus der Gruppe Cage, der die Klavierwerke oder die Klavierparts von Werken dieser Gruppe gespielt hat. Ich habe ihn 1958 in Darmstadt kennengelernt und er hat mich dort als Geiger gehört und ist nach Wien gekommen und hat mir die Extensions von Morton Feldman mitgebracht, die wir im letzten Augenblick noch in das Programm hineingenommen haben. Er war ein Musiker, den ich sehr bewundert habe, von einer großen Sensibilität und einem Spürsinn für das Ästhetische. Und er konnte so gelassen spielen – diese Stücke von Feldman waren ganz einfach und ganz still, fast an der Grenze zum Schweigen. Es waren die ersten Stücke, die ich von Feldman kennengelernt habe. Und meine Vorliebe für ihn ist mir das ganze Leben geblieben. Ich finde ja, dass Coptic Light, das Orchesterstück, eines der schönsten Stücke dieses Jahrhunderts ist. Ich habe es leider erst einmal dirigiert, beim steirischen herbst. Von Feldman zu David Tudor zurück: als er zum Konzert nach Wien kam, hat er bei mir gewohnt, am Salzgries. Er war noch nie in Wien und hat nachmittags einen ersten Spaziergang in Wien gemacht. Zurückgekommen ist er mit kandierten Veilchen vom Demel.
GERTRAUD CERHA
Wenn man ihn gekannt hat: das war so typisch für ihn.
KURT SCHWERTSIK
Aber er war schon vorher einmal in Wien. Er hat in der IGNM [Internationale Gesellschaft für Neue Musik] einen Klavierabend oben in der Akademie gegeben – ich habe das Programm. Und da habe ich erstmals gesehen, dass jemand mit einem Trommelstock ins Klavier reinstößt – und eine Frau hat einen spitzen Schrei ausgestoßen. Das war sehr schön! Aber damals haben wir zum ersten Mal diese Musik kennengelernt in Wien. Ich weiß noch, wir waren dann mit ihm im Kaffeehaus – da, wo heut’ schon lang kein Kaffeehaus mehr ist – und der Anestis Logothetis war auch dabei. Und David Tudor hat uns versucht zu erklären – ich habe das überhaupt nicht begriffen – dass dieses I-Ging-Orakel mit Münzenwurf entschieden wird. Und er hat uns versucht, diese Cage-Komposition zu erklären, wir haben aber alle nicht Englisch gekonnt damals. Er hat dann erzählt, „Pennies“ werden da geworfen und der Anestis war ganz hochinteressiert, er hat nämlich „Penis“ verstanden. Und da haben seine Augen aufgeleuchtet.
GUNDULA WILSCHER
Über David Tudor steht in der Presse vor dem Konzert, er esse am Tag Kräuter und schlafe in der Nacht unter dem Klavier …5
GERTRAUD CERHA
Also ich kann bezeugen, er hat im Bett geschlafen. Nach dem Konzert bin ich einmal ins Musikzimmer gekommen und unsere damals drei Jahre alte Tochter war am offenen Klavier und hat herummanipuliert …
FRIEDRICH CERHA
… mit einem Staubwedel auf den Saiten gefahren, den Klavierdeckel zugeschlagen …
GERTRAUD CERHA
… und wir haben gesagt: „Was machst du denn da?“ – „Na, Klavier spielen!“.
FRIEDRICH CERHA
„Ich übe Klavier!“ hat sie gesagt. Völlig entwaffnend!
GUNDULA WILSCHER
Weil sie das gesehen hat bei David Tudor.
GERTRAUD CERHA
Ja, David Tudor hat allerhand zuhause ausprobiert.
FRIEDRICH CERHA
[zu Kurt Schwertsik] Vielleicht zu dem, was du über Cage gesagt hast: ich habe mit ihm einmal die Variations gespielt. Das ist ein Werk, notiert auf Transparentpapier mit Linienpunkten, die man übereinanderlegt, wodurch ganz variable Messungen oder Schätzungen entstehen. Und jeweils der Abstand der Punkte von den Linien gibt die Tonhöhen und auch die Dauern an. Und ich habe mir auch meine Stimme hergestellt. Also ich habe die Entfernungen geschätzt und dann meine Stimme gemacht. Dann habe ich erlebt, wie Cage das gemacht hat: er hat ganz langsam, aber auf den Millimeter genau gemessen und hat so eigentlich sehr lang gebraucht. Dann hat er gesagt: „Den Zufall muss man genau nehmen“.
KURT SCHWERTSIK
Das war lange ein Missverständnis, dass man geglaubt hat, das ist improvisiert und das wird so irgendwie gemacht. Es war immer die Strategie von John Cage, sich selbst als Komponist von der Erzeugung der Töne auszuschließen. Das sind alles Strategien: Um als Komponist nicht aktiv zu werden, hat er eben diese Zufallsoperationen erfunden, wie eben ein Blatt, in den Variations, mit Punkten verschiedener Größe und dann mehrere Blätter mit Koordinaten so quasi, kreuz und quer, die man irgendwie drüberlegen kann – aber dann muss man genau messen! Und dann muss man sich selbst eine Stimme machen – man entscheidet sich für die Länge eines Stücks und dann teilt man das innerhalb dieser Länge genauestens ein und spielt mit einer Stoppuhr. Und ich weiß auch noch, in Venedig ist er dann mit seinen Noten, die er vorbereitet gehabt hat für das Konzert im La Fenice, zu Tudor gegangen und hat gesagt: „Was glaubst Du? Ist das ausreichend? Sollen wir mehr Events haben? Soll mehr drinnen stehen?“ Und natürlich hat Tudor gesagt: „Das ist schon ok.“
GERTRAUD CERHA
Ihr habt ja auch Atlas eclipticalis mit ihm zusammen gespielt.
KURT SCHWERTSIK
Im Museum des 20. Jahrhunderts. Es gibt dort kurze Noten und etwas längere – auch lange. Aber die kurzen Noten waren ihm sehr wichtig. Das erste, was er von jedem Musiker wissen wollte war: Spielen Sie einen kurzen Ton! Ich hab’ schon gewusst, was er wollte und hab’ den Ton im Moment des Erklingens beendet – und er hat gesagt „good musician!“.
GERTRAUD CERHA
Fritz betont immer, mit welcher Sorgfalt Cage selbst die Töne produziert hat. Es war wirklich erstaunlich – nachdem es ja Zufallsprodukte gewesen sind.
FRIEDRICH CERHA
Vielleicht noch etwas: in dem Konzert war Kurt Ohnsorg, der Keramiker, der jetzt eine schöne Ausstellung in St. Pölten gehabt hat. Er ist allerdings freiwillig aus dem Leben geschieden. Im Saal waren ein paar Leute, die im Gang gestanden sind, gestikuliert haben, geschrien haben, dergleichen. Und er ist aufgesprungen und hat etliche Leute beim Kragen gepackt und bei der Tür hinausbefördert.
GERTRAUD CERHA
Also etwas, das man von Josef Polnauer erzählt, bei dem Skandalkonzert 1913. Da hat sich angeblich Polnauer als „Kurvenal“ der Bewegung betätigt.
GUNDULA WILSCHER
Stimmt. Das Konzert steht ja in einer Tradition von Skandal-Konzerten! 1913 hat es dieses von Schönberg geleitete Konzert gegeben, das auch als „Watschenkonzert“ in die österreichische Musikgeschichte eingegangen ist. Also Watschen hat es, glaube ich, keine gegeben bei euch …
KURT SCHWERTSIK
Nein, da ist mir nichts aufgefallen. Aber ich wollte nur sagen zu der Frage, wie ich mich gefühlt habe: Mir hat das immer sehr gut gefallen, wenn was los war. Und noch etwas anderes: Ich habe ja gesagt, ich habe eine Aufnahme des Konzerts im elektronischen Studio in Köln gehört – und da haben sie mir erzählt, der Adorno ist gekommen und wollte auch das Cage-Konzert hören. Sie haben ihm also dieses Band vorgespielt und dann hat er gesagt: „Dass ein so liebenswürdiger Mensch so hässliche Musik schreibt, das ist doch sehr ermutigend“. So wurde mir jedenfalls erzählt, ich war nicht dabei. Aber für mich war dieser Eindruck von dem Konzert, diese ganz merkwürdige Art von chaotischem Klang … Ich habe ja mit jedem Musiker einzeln seinen Part einstudieren und diskutieren müssen: Was machen wir da für ein Geräusch, was könnten wir alles machen. Und dann beim Konzert – natürlich haben wir eingeteilt, wer wo sitzt und alles das. Aber dann, wie ich den Auftakt gegeben habe und angefangen wurde zu spielen, kommt genau dieser Klang, der mir immer so merkwürdig vorgekommen ist! Und da kommt er aus dem Saal auf mich zu! Das war ein ganz großartiger Eindruck. Und etwas muss ich noch sagen: Sie haben vorhin gesagt, dass die Komponisten im Vordergrund stehen. Und ich bin auf dem Programm als zweiter angeführt – „Schwertsik“ steht da, weil er als zweiter drankommt – und das ist mir damals schon sehr unangenehm gewesen, weil an sich haben wir gesagt, wir führen unsere Sachen nicht auf. Ich habe aber im Sommer vor dem Konzert den Kurs bei Stockhausen gemacht, und er hat eine besondere Art, eine Komposition zu planen vorgestellt, die ich sofort verwendet habe. Und das hat ihm so gefallen, dass er meinen Plan als beispielgebend bezeichnet hat. Und dann habe ich das Stück komponiert, habe es fertiggeschrieben, und der David Tudor hat es in Darmstadt bei einem Konzert gespielt. Da war es dann irgendwie naheliegend, dass er das hier in Wien auch spielt. Ich habe aber damals schon das Gefühl gehabt, naja, das reicht aber nicht aus, das passt eigentlich überhaupt nicht in das Konzert hinein. Und das Stück ist Gott sei Dank – ich weiß nicht, ich finde es nicht mehr – es ist verschwunden. Es war mir damals auch sehr unangenehm, das Stück anzuhören. Es hat überhaupt nicht reingepasst.
Sehr große Schwierigkeiten haben wir übrigens mit dem Material von Christian Wolff gehabt, weil das war eigentlich auch eine Transkription von dem, wie Wolff seine Sachen schreibt, wo viele Töne in Frage kommen. An einem Hals waren dann immer unendlich viele Töne, und von diesen unendlich vielen Tönen hat man sich in jedem Moment etwas aussuchen können. Das war absoluter Horror. Und David Tudor hat noch mit Cardew diese Two books of study for pianists gespielt – und da kann ich mich erinnern, war ich bei euch und der Cardew war auch bei euch, hat auch dort gewohnt.
GERTRAUD CERHA
Gewohnt hat nur der David bei uns.
KURT SCHWERTSIK
Aber er hat auf jeden Fall geübt.
GERTRAUD CERHA
Das kann sein!
KURT SCHWERTSIK
Er hat dort geübt und da habe ich mir diese Akkorde angehört und die sind mir sehr ungewöhnlich vorgekommen. Und ich habe das später in England noch einmal gehört und es war ein sehr merkwürdiger Eindruck. Dieses Konzert in London, wo ich es gehört habe, war für mich besonders bedeutend, denn nach diesem Konzert habe ich nach langer Zeit wieder einmal Mozart gehört, nämlich die Duos für Violine und Bratsche. Und damals habe ich mir gedacht, warum verzichten wir auf diese Klänge?
GUNDULA WILSCHER
Ich würde gern eine Frage an alle stellen. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie das kulturelle Umfeld in Wien, oder in Österreich, zu dieser Zeit war. Welche Konzerte hat es gegeben, was gab es für Aktivitäten. Ich habe herausgesucht, welche Veranstaltungen parallel zu eurem Konzert am 19. November in den zwei großen Konzerthäusern stattgefunden haben. Im Großen Saal des Wiener Konzerthauses gab es zum Beispiel eine Kundgebung der monarchistischen Bewegung Österreichs.
GERTRAUD CERHA
Das könnte man nicht besser erfinden!
FRIEDRICH CERHA
Das könnte vom Herzmanovsky sein.
GUNDULA WILSCHER
Am Tag vor dem Konzert, am 18. November, fand ein sogenannter „Hausfrauennachmittag“ statt. Das gab es anscheinend circa alle drei Wochen. Fritz Muliar war der Conférencier, es gab Can-Can-Tanz, Schlagerdarbietungen, eine „Original African Show“ eines „Prince Neckozolo“ und Cocktail Akrobatik auf einem Fahrrad. Das war am Tag vor dem Cage-Konzert im Konzerthaus. Im Konzerthaus in diesem Jahr gab es aber auch Jazz-Darbietungen: Oscar Peterson Trio mit Ella Fitzgerald im Großen Saal und parallel dazu eine Versammlung der Österreichischen Fischereigesellschaft im Schubertsaal; es gab die Modenschau der SPÖ Landstraße, einen Festakt der Gesellschaft für Holzforschung, ein Konzert der Tamburizzafreunde, die Versammlung der Zeugen Jehovas und eine Akademie zugunsten herrenloser Tiere. Im Burgtheater war damals gerade noch der Brecht-Boykott aufrecht. Im goldenen Saal des Musikvereins gab es parallel zu eurem Konzert am 19. 11. übrigens die 5. Symphonie von Beethoven mit den Wiener Symphonikern.6
KURT SCHWERTSIK
Bei dem Fitzgerald-Konzert war ich!
GUNDULA WILSCHER
Ja, ich habe unlängst in Ihren Programmheften gesehen, dass Sie dort waren. Welche Veranstaltungen haben Sie noch besucht?
KURT SCHWERTSIK
Ich kann mich nicht so genau erinnern, aber eben viele Jazz-Konzerte. Auch Thelonius Monk war in Wien, die Jazz-Messengers waren in Wien mit Art Blakey. Aber so genau weiß ich es nicht mehr. Später sehr viele Pop-Konzerte, also es war wirklich fast alles in Wien. Auch Mothers of Invention waren zwei Mal in Wien. Das erste Konzert hat mit Frescobaldi begonnen. Als Vorprogramm gab es Frescobaldi. Und dann sind Mothers of Invention gekommen.
GERTRAUD CERHA
Wirklich?
KURT SCHWERTSIK
Jaja.
GERTRAUD CERHA
Das Konzerthaus war ab ovo das Haus in dem – und zwar seit der Gründung 1913 – viel Verschiedenes passiert ist. Und nach dem Krieg hat es ein unglaubliches Ungleichgewicht in den Subventionen für den Musikverein und für das Konzerthaus gegeben. Das Konzerthaus musste, eine kurze Zeit, aber immerhin, alle ernsten Konzerte, also zum Beispiel einen Klavierabend von Alfred Cortot, im Musikverein machen.
KURT SCHWERTSIK
Wirklich wahr?
GERTRAUD CERHA
Wirklich wahr! Da ist auf dem Programm gestanden: „Wiener Konzerthausgesellschaft“, es war ein Konzert der Konzerthausgesellschaft, durfte aber nur im Musikverein stattfinden. Und es war Egon Seefehlner und Manfred Mautner Markhof zu verdanken, dass die sich überhaupt irgendwie erholt haben, aber sie mussten dann natürlich auch, um Geld hereinzubringen, die kuriosesten Dinge veranstalten.
KURT SCHWERTSIK
Aber zweifellos ist es so: Im Konzerthaus habe ich meine Moderne gehört.
GERTRAUD CERHA
Natürlich.
KURT SCHWERTSIK
Da ist Strawinsky gekommen …
GERTRAUD CERHA
Seefehlner ist 1946 Generalsekretär geworden und hat am ersten Tag seines Amtes 20 Telegramme an lebende Komponisten verschickt – und das waren natürlich alles Leute aus dem neoklassischen Lager. Der Neoklassizismus ist 1933 die Moderne gewesen, die Hitler abgewürgt hat. Und Seefehlner hat diese Sachen noch als die neue Moderne kennengelernt gehabt als ganz junger Mensch und hat das dann natürlich sofort nach Wien bringen wollen.
KURT SCHWERTSIK
Da gab es sehr viel, also Hindemith war im Musikverein …
FRIEDRICH CERHA
… auch im Konzerthaus.
KURT SCHWERTSIK
Ja.
GERTRAUD CERHA
Ich habe mir einmal die Konzerthausprogramme der Gesellschaft von 1946 bis 1954 angeschaut. Da waren 72 Aufführungen von Hindemith, 53 herum Strawinsky, um 10 weniger Bartók und Groupe des Six und Johann Nepomuk David. Das war der einzige Österreicher, der in dieser Kategorie mitspielen konnte.
KURT SCHWERTSIK
Der Herbert Häfner damals hat Krenek gemacht, Karl V., konzertant.
GERTRAUD CERHA
Im Konzerthaus?
KURT SCHWERTSIK
Ja.
FRIEDRICH CERHA
Die Lulu – furchtbar!
KURT SCHWERTSIK
Ja, an alles Mögliche kann ich mich erinnern. Zum Beispiel Blaubart.
FRIEDRICH CERHA
Und es gab von der IGNM diese kleinen Konzerte im dritten Stock in der Lothringer Straße, die oft sehr gut besetzt waren. Erwin Ratz und Josef Polnauer haben unerklärlicherweise ein unendliches Vertrauen in mich gesetzt und ich habe dann die Konzerte programmiert und auch mit Eduard Steuermann dort gespielt, es wurde Eisler gemacht und Webern natürlich.
GERTRAUD CERHA
In den 40er-Jahren war aber die IGNM die einzige Institution, die wirklich Wiener Schule aufgeführt hat.
KURT SCHWERTSIK
Ja, Wiener Schule gab es relativ wenig.
GERTRAUD CERHA
In den offiziellen Konzerten ganz wenig.
KURT SCHWERTSIK
Ich kann mich erinnern, das Doppelkonzert von Berg ist einmal im Konzerthaus gewesen. Ich weiß noch, es hat mir überhaupt nicht gefallen, aber anderen hat es sehr gut gefallen – da sind furchtbare Diskussionen entstanden …
FRIEDRICH CERHA
Mir fällt jetzt wieder ein Satz ein, in einer Zeitung, am Tag nach dem Konzert: „Wir“ – der Rezensent sprach im Plural – „wir haben bisher geglaubt, dass man solche Ereignisse nur mit der Linie 47 erreichen kann“. Das ist die inzwischen lange eingestellte Straßenbahnlinie nach Steinhof hinauf. Und vielleicht noch etwas zu der damals, vielleicht auch heute noch, weit verbreiteten Meinung, in diesen Kompositionen, die Zufallsoperationen einbeziehen kann alles möglich sein und alles klingen. Das Interessante ist, was mir lange unerklärlich war, dass sich bei wiederholten Aufführungen der gleichen Werke, zum Teil auch mit anderen Musikern unter anderen Voraussetzungen, so etwas wie ein Charakter der Werke herausgeschält hat.
GERTRAUD CERHA
Naja …
FRIEDRICH CERHA
Natürlich entsteht das dadurch, dass die Spielregeln eben bei den verschiedenen Kompositionen unterschiedlich sind. Es ist aber ein interessantes Phänomen.
GERTRAUD CERHA
Im Ensemble ist es klar: wenn man so eine grafische Notation mehrfach spielt, dann schleift sich einfach eine Lesart ein. Kulmination II von Logothetis haben wir gespielt wie ein ausnotiertes Stück, im Wesentlichen sind es die gleichen Vorgänge gewesen. Was nicht im Sinn des Erfinders war! Ganz bestimmt nicht bei Cage.
KURT SCHWERTSIK
Cage ist ja ganz anders.
GERTRAUD CERHA
Ganz anders, das kann man nicht vergleichen.
FRIEDRICH CERHA
Die Informationen über Musik sind ja oft nicht leicht zu kriegen, wir erfahren vom Tod irgendeines Filmhelden ausführlich im Fernsehen, aber es gibt viele Komponisten, die einfach verschwinden, man hört nichts mehr. Christian Wolff – das Nonett, das wir da gespielt haben ist ein interessantes Stück. Aber was ist aus ihm geworden? Lebt er noch?
KURT SCHWERTSIK
Er lebt noch, ja, er lebt ganz im Norden der Vereinigten Staaten und schaufelt Schnee im Winter – dort fällt viel Schnee. Er ist ein paar Mal in Wien gewesen.
FRIEDRICH CERHA
Und Earle Brown war auch zweimal in Wien bei uns.
KURT SCHWERTSIK
Aber Earle Brown ist schon lange tot.
FRIEDRICH CERHA
Er war ganz erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit wir seine Pentatis gespielt haben. Ein Stück, das mit der Zahl 5 operiert.
Ich habe schon gesagt, dass ich sehr vertraut war mit den Leuten, die aus dem Schönbergkreis noch in Wien waren, Erwin Ratz, Apostel, Polnauer, mit dem ich ja viel analysiert hab’ und die waren – Apostel nicht, aber Ratz und Polnauer – im Konzert. Und ich habe befürchtet, dass ich es mir mit ihnen verscherze, was mich sehr getroffen hätte. Und erstaunlicherweise waren sie tolerant – sie konnten „damit nichts anfangen“, das war der Ausdruck, der da immer fiel, aber sie haben mir das nicht übelgenommen. Das war eigentlich eine Toleranz, die ich nicht erwartet habe.
KURT SCHWERTSIK
Polnauer war ja immer tolerant, aber der Ratz, von dem hat man eher erwarten können, dass er einen Anfall kriegt, dass er einen Herzinfarkt kriegt …
GERTRAUD CERHA
… die Zornesader schwillt und er zu randalieren anfangt …
FRIEDRICH CERHA
Wenn er zornig wurde, dann sind die roten Adern da am Kopf herausgequollen.
GUNDULA WILSCHER
Es war wohl auch überraschend, wie das Publikum dann reagiert hat, eben nicht vorhersehbar. Aber ich möchte mich jetzt bei meinen Gästen dafür bedanken, dass sie ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. Ich habe einen Aphorismus gefunden, den ich am Ende vorlesen möchte: „Ein handfester Skandal ist ein Ärgernis, welches unendlich viele Menschen überglücklich macht“ 7.
Das Gespräch wurde am 24.5.2017 im Archiv der Zeitgenossen geführt.
Schriftfassung: Gundula Wilscher. Die Gesprächsbeiträge wurden für diese Publikation überarbeitet und autorisiert.
Die Videoaufzeichnung des Gesprächs (Vollversion) ist unter folgendem Link im Internet abrufbar: https://www.archivderzeitgenossen.at/ueber-das-archiv/zeitgenossenimgespraech/
Anmerkungen
1 Zeitungsausschnitt, Quelle: AdZ-FC (KRIT0008/14).
2 Kurt Schwertsik „die Anfänge der reihe“. In: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen – Essays – Reflexionen. Freiburg i. Br. [u. a.]: Rombach 2006, S. 237–243.
3 Vgl. „Interview mit Lothar Knessl“. In: Martin Sierek: Die Geschichte des Ensembles „die reihe“. Dissertation Universität Wien 1995, S. 309–332, hier 325.
4 Sämtliche Zitate aus der Sammlung an Rezeptionsdokumenten: AdZ-FC (KRIT0008).
5 Marcel Rubin: „Versuchte Jugendverdummung“, [ohne Datum], Zeitungsausschnitt, Quelle: AdZ-FC (KRIT0008/8)
6 Vgl. Archivdatenbank Wiener Konzerthaus: https://konzerthaus.at/datenbanksuche
7 Gerd W. Heyse, https://www.aphorismen.de/zitat/129314 (Abruf 9. 7. 2020)