Читать книгу Der Landdoktor Staffel 4 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 6

Оглавление

Dr. Matthias Brunner saß am Schreibtisch und schaute zum Fenster hinaus.

Was für ein Wetter, dachte er mit einem tiefen Seufzer. Wie ein Wasserfall lief der Regen an den Scheiben herunter, und die Schwarzwaldhügel versteckten sich schon seit Tagen hinter dunklen Wolken. Auch heute würde der Spaziergang mit seinem Lockenköpfle und Lump nur wieder kurz ausfallen. Nun gut. Die dadurch gewonnene Zeit würde er nutzen, um endlich den Papierstapel vor sich abzuarbeiten.

Da klopfte es an der Sprechzimmertür. Den Bruchteil einer Sekunde später schob Schwester Gertrud ihren grauen Kopf ins Zimmer.

»Herr Bürle möchte Sie sprechen, obwohl ich ihm gesagt habe, dass die Sprechstunde zu Ende ist.«

»Schicken Sie ihn herein.«

»Aber Ihr Mittagessen …«

Seine altgediente Helferin achtete mit Argusaugen darauf, dass er pünktlich zu seinen Mahlzeiten kam, was ihr jedoch nur an wenigen Tagen gelang.

Er runzelte die Stirn. »Wollen Sie ihn etwa wieder nach Hause schicken, wenn er schon hier ist?«

»Ihre Frau wartet bestimmt schon mit dem Essen. Außerdem ist Herr Bürle kein Notfall.«

»Schwester Gertrud …« Er hatte nur leicht die Stimme gehoben. Das reichte, um seinen Praxisdrachen in die Schranken zu weisen.

»Ich meine es ja nur gut«, murmelte Gertrud mit missmutiger Miene. »Gestern Mittag schon mussten Sie wegen des Hausbesuchs beim Schober-Bauern aufs Mittagessen verzichten.«

Er legte die Hand auf die Wölbung, die sich unter seinem weißen Mantel deutlich abmalte, zwinkerte ihr versöhnlich zu und sagte: »Was mir nicht geschadet hat. Heute Morgen hatte ich ein Pfund weniger auf der Waage. Also? Wo bleibt Herr Bürle?«

*

»Dich habe ich ja lange nicht mehr in meiner Praxis gesehen«, begrüßte der Landarzt den reichsten Bauern aus dem Ruhweiler Tal.

Anton Bürle war ein guter Freund seines Vaters gewesen. Er kannte den korpulenten Mann mit dem vollen Gesicht und dem dichten weißen Haarschopf schon von Kindheit an.

»Grüß dich, Matthias«, sagte Anton mit seiner Bassstimme. Dabei leuchteten seine steingrauen Augen erfreut auf.

»Was führt dich denn wieder einmal nach so langer Zeit zu mir? Du bist doch nicht etwa krank?«

»Na ja …« Der Großbauer lächelte sichtlich verlegen. »Seit einiger Zeit habe ich Probleme mit meinem Knie. Und bei dem miesen Wetter …«

Matthias nickte und zeigte auf den Patientensessel vor seinem Schreibtisch. »Dann setz dich mal und schildere mir deine Beschwerden.«

Der Sessel stöhnte unter dem Gewicht seines Patienten leise auf. Gleich darauf ließ Anton ein Seufzen hören.

»Da gibt es nicht viel zu schildern. Die Knie schmerzen. Das rechte mehr als das linke.«

Der Landdoktor schob die Lesebrille ins Haar und lehnte sich zurück.

»Es könnte sich um eine degenerative Gelenkerkrankung handeln. Im Knie befindet sich der Meniskus. Das ist eine knorpelartige Halbmondschale. Jedes Knie hat zwei davon, den Innen- und den Außenmeniskus. An diesem knorpelartigen Gewebe können sich im Laufe der Zeit Verschleißerscheinungen zeigen, die bei der Bewegung Schmerzen erzeugen.«

»Was kann man dagegen tun?«

»Ein kleiner Eingriff könnte in diesem Fall Linderung verschaffen. Es gibt eine Operationsmethode, bei der ein kleiner Schnitt gemacht und mit dünnen Instrumenten der Meniskus wieder angeheftet wird.«

»Und andererseits? Was könnte es sonst sein?«

»Eine Kniearthrose wäre genauso denkbar. Davon sind naturgemäß mehr alte als junge Menschen betroffen, weil deren Knochen schon einiges haben aushalten müssen.«

»Und was kann man dagegen tun?«

Matthias fing einen zutiefst verunsicherten Blick auf.

»Je nach Ausmaß der Arthrose kann man es erst einmal mit Salben versuchen«, fuhr er fort. »Mit Akupunktur erzielt man ebenfalls Linderung. Falls der Verschleiß jedoch schon zu weit fortgeschritten ist, hilft nur ein künstliches Knie. Knieoperationen werden heute zigtausend Mal in Deutschland im Jahr gemacht.«

»Ein künstliches Knie?« Mit großen Augen sah der Bauer ihn an.

Er hob beschwichtigend die Hand.

»Das sind nur zwei mögliche Diagnosen«, stellte er klar. »Ich brauche erst einmal ein Röntgen- und ein Ultraschallbild, um Genaueres sagen zu können. Und dafür rufe ich jetzt Schwester Gertrud. Sie wird dich in den Röntgenraum bringen. Dort sehen wir weiter.«

*

Ein paar Minuten später erklärte Matthias seinem Patienten, anhand der beiden Untersuchungsbilder, dass es sich tatsächlich um den Beginn einer Arthrose handelte.

»Die verflixten alten Knochen«, schimpfte Anton Bürle mit schmerzverzerrter Miene vor sich hin. »Und jetzt? Muss ich jetzt unters Messer?«

»Wir werden es erst einmal ohne Operation versuchen. Es gibt ganz gute Salben, die die Schmerzen lindern. Außerdem ist gezielte Bewegung wichtig, damit die Knie nicht einrosten.« Als er die bedrückte Miene des Großbauern sah, fuhr er in aufmunterndem Ton fort: »Du bist nicht der einzige in deinem Alter, bei dem sich solche Beschwerden melden. Aber vergiss nicht, Altwerden ist die einzige Möglichkeit, um ein langes Leben zu haben.«

Während er das Rezept ausstellte, zog er Anton in ein unverfängliches Gespräch, um ihn ein wenig abzulenken.

»Wie geht es dir denn im Auszugshaus?«, erkundigte er sich.

»Bestens. Viel besser als im Bauernhaus«, erzählte ihm nun sein Patient wieder etwas munterer. »Jetzt muss ich wenigstens nicht mehr den ganzen Tag meine Schwiegertochter ertragen. Versteh mich nicht falsch. Petra hat auch ihre guten Seiten. Aber seit ich den Hof an die Jungen abgegeben habe, ist ihr das Geld noch mehr zu Kopf gestiegen. Mein Wolfgang ist leider zu schwach, um sich gegen seine Frau durchzusetzen. Nur Franziska weiß, mit ihrer Mutter richtig umzugehen«, fügte der alte Bürle mit triumphierend blitzenden Augen hinzu.

»Ich habe schon gehört, dass Franziska seit Kurzem zurück ist und nun bei euch die Buchführung macht.«

»Meine Enkelin hat was drauf«, sagte Anton voller Stolz. »Sie hat ihre Ausbildung mit der besten Note von allen abgeschlossen. Und dass ich Michael Salm noch kurz vor der Hofübergabe als Verwalter eingestellt habe, war auch eine gute Entscheidung«, erzählte er weiter. »Michael macht sich so gut, dass mein Sohn immer fauler wird.«

»Michael war schon als Kind ein fleißiger Junge«, antwortete der Landarzt. »Ich weiß noch, wie er mit seinem Vater immer in den Wald gegangen ist und ihm bei der Arbeit geholfen hat.«

»Und ehrgeizig ist er. Der sollte irgendwann einmal einen eigenen Hof haben.« Mit pfiffiger Miene wiegte Anton den Kopf hin und her, bevor er hinzufügte: »Vielleicht einen wie den unsrigen. Denn Franziska braucht einen Mann, der sich auf die Landwirtschaft versteht.«

»Ob das deiner Schwiegertochter gefallen würde?« Matthias sah seinen Patienten voller Zweifel an.

»Bestimmt nicht. Aber sollte sich meine Enkelin ihren Mann nicht selbst aussuchen dürfen? Wir leben schließlich in der Neuzeit.«

»Glaubst du denn, dass Franziska und Michael Salm …?«

»Gemerkt habe ich diesbezüglich noch nichts. Aber Franziska ist ja noch nicht lange zurück. Warten wir einfach mal ab …« Der Altbauer zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

»Ob Michael Interesse daran ­hätte, in den kommenden Tagen mal bei uns vorbeizuschauen?«, wechselte Matthias das Thema. »Der gestrige Sturm hat in meinem Revier einen ordentlichen Bruch zurückgelassen. Unser Revierförster ist zurzeit krank. Vielleicht hätte Michael Zeit …«

»Bestimmt. Der Junge ist sich für keine Arbeit zu schade. Selbst jetzt nicht, als Verwalter. Der verdient sich gern noch ein bisschen Geld dazu.«

Matthias streckte dem Bauern die Rechte entgegen. »Also dann … Abgemacht.«

Anton schlug mit seiner Pranke ein. »Ich werde ihm heute noch sagen, dass er bei dir vorbeischauen soll. Ihr werdet euch bestimmt einig werden.«

*

»Der alte Bürle war noch da«, erklärte der Landdoktor seiner Frau, die vor der Mirkowelle stand, in der das Schäufele wieder auf Temperatur gebracht wurde.

In den vielen Jahren an der Seite ihres Mannes kannte die Landarztgattin solche Situationen. Sie wusste ja, wie sehr ihr Mann seinen Beruf liebte. Die Patienten gingen stets vor. Und genau diese Einstellung mochte sie an ihm, neben den vielen, vielen anderen Eigenschaften, mit denen er einst, vor mehr als dreißig Jahren, ihr Herz auf den ersten Streich erobert hatte.

»Was hat er denn?«, erkundigte sie sich.

»Seine Knie beschweren sich, was kein Wunder ist. Er hat sein Leben lang immer schwer gearbeitet.«

»Ich mag ihn.« Ulrike nahm das nun wieder dampfende Fleisch aus der Mikrowelle und verteilte es auf den beiden Tellern. »Anton ist immer natürlich geblieben, trotz seines Geldes«, fuhr sie fort. »Was man von seiner Schwiegertochter nicht gerade behaupten kann.«

»Du darfst nicht vergessen, dass Petra aus ärmlichsten Verhältnissen stammt«, sagte Matthias.

»Na und?« Ulrikes blaue Augen blitzten kurz auf. »Das ist kein Grund, um so überheblich zu werden. Ihr Schwiegervater stammt ebenfalls aus armen Verhältnissen. Dein Vater hat immer erzählt, dass Antons Vater rund um die Uhr gearbeitet hat, um die kinderreiche Familie durchzubringen, und Anton hat ihm schon damals dabei geholfen. Erinnerst du dich noch an den alten Baron von Haltersleben? Anton Bürle hat schon mit fünfzehn Jahren bei der Baronfamilie in Schwenningen im Dienst gestanden, so lange, bis er sich mit der Landwirtschaft selbstständig gemacht hat. Und selbst danach hat er noch anderen Leuten beim Hausbau geholfen.«

»Stimmt, das hat mein Vater immer erzählt.« Matthias nickte. »In jungen Jahren war Anton sogar Mitglied im Gemeinderat. Zu dieser Zeit hat er auch nach und nach die Liegenschaften der Baronfamilie aufgekauft.«

»Was ist eigentlich aus der geworden?«, erkundigte sich Ulrike.

Während der Landarzt dem Deutschen Drahthaar, der mit bettelndem Hundeblick neben ihm saß, ein Stückchen Schäufele zusteckte, hob er die Schultern.

»Keine Ahnung. Ich habe mich früher nie für sie interessiert, zumal sie ja in Schwenningen lebte und nur ab und zu hier ins Tal kam, um zu jagen oder ein paar Tage frische Luft zu atmen.« Er putzte sich an der Serviette die Finger ab und fuhr fort: »Es hatte damals geheißen, der alte Baron wäre mit seiner Straußenfarm, die er in Afrika aufgebaut haben soll, gescheitert. Ich weiß nur von einem Patienten, dass das alte verfallene Jagdhaus der Familie, zwischen Ruhweiler und Friedenweiler, heute angeblich seinem Enkel gehören soll.«

Mit verständnisloser Miene schüttelte Ulrike den blonden Lockenkopf. »Eine Schande ist es, dass ein ehemals so schönes Haus derart verkommt, aber manche Leute können sich tatsächlich erlauben, ein Gebäude einfach leer stehen und vergammeln zu lassen, während es anderen am Geld mangelt.«

*

Franziska saß am Schreibtisch, auf dem sich immer noch Stöße ungeordneter Papiere stapelten. Ihr Vater hatte ihr, als sie die Stelle der Buchhalterin auf dem elterlichen Hof angetreten hatte, ein wahres Chaos hinterlassen: Futtermittellisten, Lohnlisten, Steuererklärungen, ein Durcheinander von Korrespondenzen, Geschäftspapieren und Rechnungen.

Die junge Frau pustete sich eine blonde Strähne aus der Stirn und sah eine Weile zum Fenster hinaus in den strömenden Regen. Da kam ein Jeep mit Anhänger auf den Hof gefahren. Er hielt vor dem Pferdestall, den ihr Großvater noch vor zwei Jahren hatte bauen lassen. Ein dunkelhaariger Mann sprang heraus. Groß war er, schlank und sportlich. Sein muskulöser Rücken malte sich unter dem karierten Hemd ab, als er die Tür des Anhängers entriegelte. Der Regen schien ihm nichts auszumachen. Binnen weniger Sekunden klebte ihm das Hemd klitschnass am Körper, einem äußerst sehenswerten Oberkörper, wie sie feststellen musste.

Sie wusste, wer dieser attraktive Bursche war: Michael Salm aus dem Nachbarort. Er war vier Jahre älter als sie. Früher hatten sie sich ein paar Mal auf Tanzabenden gesehen oder in Freiburg in der Diskothek. Michael hatte ihr immer schon gefallen. Es waren seine männliche Ausstrahlung und sein Naturburschencharme, die sie angezogen hatten. Besonders faszinierend an ihm waren die dunkelbraunen Augen. Offen, klug und intensiv schauten sie sich die Welt an. Leider hatten diese Augen bei ihren früheren Begegnungen nur allzu selten zu ihr hinüber gesehen. Dass ihr Großvater gerade ihn als Verwalter eingestellt hatte, war eine große Überraschung für sie gewesen. Und seit sie wieder zu Hause war, beobachtete sie sich dabei, dass sie in Michaels Nähe stets unruhig wurde. Wie auch jetzt, während sie ihm zusah, wie er sicher und ruhig das sich sträubende neue Pferd aus dem Anhänger in den Stall führte.

Franziska biss sich auf die Lippen, starrte in die schwarzen Wolken, welche die Schwarzwaldhügel, die blühenden Wiesen und die grünen Wälder verdunkelten. Nicht, dass ihr das schlechte Wetter aufs Gemüt gedrückt hätte. Sie gehörte zu den Menschen, die die Sonne im Herzen hatten. Dennoch sehnte sie sich an diesem grauen Tag nach ein bisschen Aufheiterung, zumal sie in ihrer Arbeit nur schwer voran kam.

Kurz entschlossen stand sie auf, schaltete den Computer aus und verließ das Büro.

*

Die dunklen Brauen Michaels zogen sich zusammen. Ein leicht gereizter Ausdruck glitt über sein sonnengebräuntes Gesicht, als Franziska den Pferdestall betrat.

Auf dem kurzen Weg vom Bauernhaus dorthin war sie nass geworden. Der Regen kringelte ihre üppigen Locken, was sie noch bezaubernder erscheinen ließ, als sie sowieso schon aussah.

Michael blieb neben dem Braunen in der Box stehen und sprach beruhigend auf ihn ein. Er tat so, als würde er die Bauerntochter gar nicht bemerken. Dessen ungeachtet fragte diese ihn freundlich: »Ist das der Neue?«

Er nickte nur und gab sich nach außen hin gelassen, obwohl er zu seinem Unmut feststellen musste, dass Franziska Bürle sein Blut schneller durch die Adern fließen ließ.

»Was passiert jetzt mit ihm?«

Da er gerade alle Hände voll zu tun hatte, das scheue Pferd zu beruhigen, ließ er sie lange auf eine Antwort warten. Schließlich sagte er, ohne sie anzusehen: »Wenn es morgen schöner sein sollte, kommt er mit den anderen auf die Koppel.« Als Franziska näher an die Box herantrat, warnte er sie hastig: »Komm nicht zu nah. Er muss sich erst an seine neue Umgebung gewöhnen. Hier in der Enge könnte er hoch gehen und sich verletzen. Dein Großvater hat ein kleines Vermögen für ihn bezahlt.«

Da traf ihn ein empörter Blick aus diesen grauen Märchenaugen. »Falls du es noch nicht wissen solltest: Ich bin mit Pferden aufgewachsen und weiß durchaus, wie ich mich zu verhalten habe.«

Bisher hatte er nur wenige Worte mit Franziska Bürle gewechselt. Ein »Guten Tag« oder ein »Ade«, und das auch nur über Entfernung hinweg. Dabei hatte ihre Stimme immer weich und melodisch geklungen. Sie konnte jedoch auch anders klingen, wie er jetzt hörte. Diese junge Dame schien durchaus Eigensinn und Temperament zu besitzen. Sie trat jetzt an die Box heran und wider seinen Erwartungen, ja, sogar ein wenig zu seiner Enttäuschung verhielt sich der Hengst ganz ruhig. Selbst als sie die Hand ausstreckte, um seine Nüstern zu berühren, zeigte er keine abwehrende Haltung. Ihr Lächeln, ein sonniges Lächeln, das in einer entspannteren Situation als diese sein Herz hätte höher schlagen lassen, galt dem Braunen.

»Hallo, du Schöner«, sagte sie leise mit einer Stimme wie Samt. Dabei berührte sie ganz sanft das glänzende Fell des Tieres.

Er hielt den Atem an, fasste den Braunen genau ins Auge, sprungbereit, um sofort einzugreifen, falls dieser Abwehr zeigen sollte.

»Könnte es sein, dass du mich nicht leiden kannst?«, hörte er da Franziska fragen.

Im ersten Moment wusste er nicht, ob sie das Pferd oder ihn meinte, denn sie sah immer noch das Tier an.

»Schon früher, wenn wir uns beim Tanzen irgendwo begegnet sind, hast du geflissentlich über mich hinweg gesehen.« Nun glitt ein kühles Lächeln über ihr Engelsgesicht, und sie fügte schulterzuckend hinzu: »Ich kann es nicht ändern. Ich bin wieder zu Hause, und du bist Verwalter auf unserem Hof. Irgendwie müssen wir zwei schauen, dass wir miteinander auskommen.«

Jetzt galt ihr Blick ihm, ein herausfordernder Blick, dem er standhielt, obwohl sie ihm mit ihren Worten gerade die Sprache verschlagen hatte. Drei, vier Herzschläge lang standen sie sich gegenüber, sahen sich in die Augen. Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Der Braune, der bis jetzt mit den Hufen gescharrt hatte, war plötzlich ganz ruhig geworden.

Immer noch berührten sich ihre Blicke. Er konnte nichts dagegen tun, spürte nur die warme schwüle Luft, die über der engen Pferdebox hing, nahm wie durch einen Schleier die Sonnenstrahlen wahr, die durch die Bretter herein fielen und auf denen Abertausende winziger Staubkörnchen tanzten. Kein Lüftchen bewegte sich. Es war still, so still wie einem Dom. Ihm kam es so vor, als würde in diesen Augenblicken die Welt den Atem anhalten, aus Neugier darauf, was als nächstes geschehen würde.

Schließlich entspannten sich Franziskas Züge. Sie begann zu lächeln, dieses Mal wärmer und herzlicher. Dann endlich wandte sie ihren Blick ab, trat zurück und sagte: »Ich will keinen Krach mit dir haben. Entschuldige, dass ich gerade so grantig war.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Frieden? Ich verspreche dir, dass ich mich nie in deine Angelegenheiten einmischen werde. Wenn ich ab und zu den neuen Braunen reiten darf, bin ich schon zufrieden«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das einen Stein hätte erweichen können.

Michael schluckte und schlug ein in ihre Hand, die sie ihm entgegen hielt. Sie verschwand gänzlich in seiner, fühlte sich zart und zupackend zugleich an.

»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er, wobei ihm seine eigene Stimme fremd vorkam.

Da traf ihn noch einmal ihr warmherziger Blick wie ein Sonnenstrahl ins Herz, und vielleicht war es genau in diesem Moment, als sich Michael Salm in die schöne Franziska verliebte.

*

Als Franziska wieder hinter ihrem Schreibtisch saß, konnte sie sich noch weniger auf ihre Arbeit konzentrieren als vorher.

Was sollte sie von Michaels Verhalten halten? Lehnte er sie tatsächlich ab? Gefiel sie ihm nicht? Bangte er um seine Stellung, wenn er etwas freundlicher zu ihr sein würde?

Mutter würde bestimmt nur ungern sehen, wenn ich engeren Kontakt zu ihm hätte, sinnierte sie.

Unwillig warf sie den Kopf in den Nacken und schüttelte die Locken.

Nein, da würde sie sich nicht reinreden lassen. Sie wollte sich ihren Freund und späteren Ehemann selbst aussuchen. Michael würde auf den Hof passen, zu ihr passen, wie schon ihr Großvater augenzwinkernd bemerkt hatte.

Franziska lächelte versonnen.

Sie ging davon aus, dass Michael nicht in festen Händen war. Dafür arbeitete er zu viel. Er wohnte im Nebengebäude, wo ihr Vater ihm eine Verwalterwohnung eingerichtet hatte. Bis heute war dort noch nie eine Frau zu Besuch gewesen. Das hätte sich herum gesprochen. Und sein Jeep stand an den meisten Abenden vor dem Haus. Wenn sie ihn für sich gewinnen wollte, würde sie den ersten Schritt tun müssen, das war ihr klar. Aber vorher musste sie sich noch ein bisschen sicherer werden, von ihm keine Abfuhr erteilt zu bekommen.

Gedankenverloren blickte sie zum Bürofenster hinaus. Da bemerkte sie, dass die Wolkendecke, die seit Tagen über dem Ruhweiler Tal lag, an einer Stelle aufriss. Wie gebannt schaute sie hoch zum Himmel, beobachtete, wie der Spalt größer und größer wurde, wie sich ein Streifen aus zartem Blau zeigte, wie der Regen nunmehr nur noch tröpfelte. Und plötzlich fiel nach langer Zeit wieder einmal der erste Sonnenstrahl auf die Erde nieder. Er ließ die Regentropfen auf den Blättern wie Diamanten funkeln und den goldenen Wetterhahn auf der Kirchturmspitze aufblitzen.

Ihr Lächeln vertiefte sich.

Sollte dies vielleicht ein gutes Omen sein? Für sie und Michael?

*

Drei Tage später hatte Franziska im Dorf Erledigungen zu machen. In dem zartgelben Sommerkleid, das ihre weibliche Figur und ihr blondes Haar wunderbar zur Geltung brachte, sah sie wie der Sommer höchstpersönlich aus. Leichtfüßig ging sie über den Bürgersteig, wechselte mit dem Einem oder Anderen ein herzliches Wort und winkte den Bekannten ihres Großvaters, die im Biergarten des Gasthauses saßen, fröhlich zu.

Wie schön war es doch, wieder zu Hause zu sein. Gab es einen friedlicheren Platz auf der Welt? Hier im Ruhweiler Tal gingen die Uhren noch langsamer als in der Stadt. Hier war alles noch so wie vor vielen Jahren. Keine modernen Hotelburgen und schon gar keine Hochhäuser. Noch nicht, dachte Franziska. Hoffentlich würde es immer so bleiben. Und vielleicht sogar würde sie auch hier in ihrer Heimat ihr großes Glück finden. Für sie hatte es schon einen Namen.

In Gedanken an den attraktiven Verwalter fuhr sie zum Hof zurück, wo sich ihre sonnige Stimmung abrupt ändern sollte. Denn in der Wohnstube traf sie auf ihre Eltern. Ihre Mutter, die ihre Körperfülle in ein viel zu eng sitzendes Trachtenkostüm gezwängt hatte, stand neben ihrem Vater, der sich seit der Hofübergabe nur noch in einem hechtgrauen Trachtenanzug zeigte, und sah ihm über die Schulter.

Franziska spürte sofort, dass etwas in der Luft lag. Regungslos blieb sie im Türrahmen stehen. Ihre Eltern schienen sie noch gar nicht bemerkt zu haben.

»Jetzt sag schon, was schreibt er denn?«, drängte ihre Mutter.

Ein triumphierendes Lächeln glitt über das runde gerötete Gesicht ihres Vaters. »Er kündigt uns seinen Besuch an. Übermorgen.«

Über wen reden sie?, fragte Franziska sich neugierig, aber bereits mit einem unguten Gefühl im Bauch.

»Das gibt es nicht.« Ihre Mutter schnappte nach Luft. Die eng sitzende Jacke ließ sie ohnehin stets etwas kurzatmig wirken. »Der Baron von Haltersleben will uns besuchen?«, hauchte Petra nunmehr mit fassungsloser Miene, die ihre braunen Kuhaugen noch größer werden ließ.

»Ja, ja, so kann es gehen«, antwortete ihr Mann in selbstgefälligem Ton. »Früher habe ich mit Vater zusammen für seine Familie gearbeitet, und heute besitzen wir ihr Land.«

»Was mag denn der bei uns wollen?«

Wolfgang Bürle streckte seinen Bauch vor, hakte die Daumen in die Hosenträger und spitzte die vollen Lippen. »Er will das Jagdhaus bei Friedenweiler verkaufen.«

Wieder Geschäfte, sagte sich Franziska und wollte schon erleichtert aufatmen, als ihre Mutter endlich auf sie aufmerksam wurde.

»Franzi, mein Schatz, stell dir vor, übermorgen kommt der Baron von Haltersleben zu uns zu Besuch«, teilte sie ihr nun strahlend mit. Dann wandte sie sich wieder an ihren Mann. »Wie alt ist er denn?«

Ihr Vater schürzte die Lippen, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. »Vielleicht ein paar Jahre älter als Franziska.«

»Das ist ja …« Ihre Mutter jappte auf und sah sie dann an, wobei ihre Miene einen strengen Ausdruck bekam. »Franziska, ich erwarte, dass du übermorgen hier sein wirst, wenn der Baron kommt.«

Unmut machte sich in ihr breit. Dieser gebieterische Ton missfiel ihr genauso wie die Ahnung, die sie mit der Erwartung ihrer Mutter an sie verband.

»Was hat dieser Besuch denn mit mir zu tun?«, fragte sie spitz.

Auf dem stets etwas zu stark geschminkten Gesicht Petras zeigte sich nun ein diplomatisches Lächeln. »Als unsere einzige Erbin solltest du bei den Kaufverhandlungen anwesend sein.«

*

Franziska hatte die Klinke der Stubentür schon in der Hand, als es einmal kurz und hart klopfte. Als sie öffnete, stand ihr Großvater vor ihr.

»Opa!«, rief sie gleichermaßen erstaunt wie erfreut aus und gab dem Altbauern einen Kuss auf die unrasierte Wange.

Es kam nur noch selten vor, dass Anton Bürle sich im Bauernhaus sehen ließ, wenn er nicht offiziell eingeladen war. Die Hausmagd versorgte ihn, auf eigenen Wunsch, im Auszugshaus.

»Grüß dich, Franzi«, antwortete der alte Mann, dessen Augen beim Anblick seiner Enkelin aufleuch­teten. »Hübsch schaust du heute wieder aus«, fügte er dann voll großväterlichem Stolz hinzu. Dann erst wandte er sich an seinen Sohn und seine Schwiegertochter. »Ich wollte die Rechnung für das neue Pferd abholen. Gleich fahre ich zur Bank …«

»Der junge Baron von Haltersleben kommt übermorgen zu uns zu Besuch«, kam es nun Petra über die orangefarben geschminkten Lippen.

Sie sah so erhitzt aus, als wäre sie gerade aus der Sauna gekommen.

»So?« Der alte Bürle hob die weißen Brauen. Er sah seinen Sohn an.

»Er will das Jagdhaus verkaufen«, erzählte dieser nun mit wichtigtuerischer Miene. »Da wir inzwischen all die Liegenschaften der Baronfamilie hier im Tal besitzen, wendet er sich selbstverständlich zuerst an mich«,

»Und?« Anton stützte sich auf seinen selbst geschnitzten Stock.

»Natürlich werden wir das Haus kaufen«, kam Petra ihrem Mann zuvor.

Der Blick des Alten verdunkelte sich.

»Natürlich werden wir das Haus kaufen«, echote Wolfgang.

»So natürlich finde ich das nicht«, unterbrach ihn da sein Vater barsch. »Was willst denn mit diesem alten Kasten? Sanieren müsst ihr ihn zuerst einmal. Und dann? Haben wir nicht genügend Platz hier auf dem Hof? Denk daran, dass uns im Ort noch drei Häuser gehören. Ganz zu schweigen von dem Getränkehandel und der Pension, die meine Schwester verwaltet. Man kann es auch in seiner Habsucht übertreiben.«

Da stand Petra auf, strich den Rock glatt und setzte eine hochmütige Miene auf.

»Hast du schon vergessen, Vater, dass du uns alles überschrieben hast?«, fragte sie in spitzem Ton. »Heute hat Wolfgang hier das Sagen und wenn er das Jagdhaus kaufen will, ist das seine Entscheidung.«

»Red nicht so dumm daher, Petra«, fertigte der alte Bürle sie ab. »Ich weiß nur zu gut, dass mein Sohn nach deiner Pfeife tanzt.«

Wolfgang, immer schon rund und gemütlich, schlug die Augen zur Decke, während seine Frau ihren Schwiegervater in gestelztem Ton belehrte: »Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.«

»Blödsinn«, knurrte Anton. Dann sah er seinen Sohn an und sagte in ruppigem Ton: »Ich habe dir mein Lebenswerk nicht frühzeitig dafür übergeben, dass du es verschleuderst, um dich hier als Großgrundbesitzer aufzuspielen. Es grenzt für mich an Größenwahn, das alte Jagdhaus zu kaufen. Die Kosten für die Sanierung und Aufrechterhaltung werden den Gewinn bei Weitem übersteigen. Vergiss nie, woher du kommst. Ich habe mir alles selbst erarbeitet. Und der Wald sowie die Häuser, die ich gebaut habe, bringen genug ein. Aber das verfallene Jagdhaus ist ein schlechtes Geschäft. Lass dir das von mir sagen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte aus der Stube.

*

Es kam nicht oft vor, dass sich Michael eine Auszeit gönnte. Er kannte keine Arbeitszeiten. Aber an diesem frühen Abend war ihm danach, hinauszugehen in die Natur, wo er am besten seine Gedanken ordnen konnte.

Strammen Schrittes wanderte er durch die Wiesen hinauf zum Waldrand, ließ die duftenden Tannennadeln durch die Finger gleiten, trank ein paar Schlucke aus der Steinache, die hier noch in quirligen Sprüngen ins Tal hüpfte, und atmete die reine Luft tief ein, die nach Moos und Harz duftete. Hin und wieder unterbrachen Vogelstimmen das Schweigen der Natur.

Michael blieb stehen, um die frühabendliche Idylle auf sich wirken zu lassen, um aus ihr Ruhe und Kraft zu schöpfen.

Er hatte sein seelisches Gleichgewicht verloren. Seine sonst so geordneten Gedanken überschlugen sich, in seinem Herzen stritten widersprüchliche Gefühle miteinander.

Er hatte sich auf dem Bürle-Hof wohl gefühlt. Sauwohl sogar. Er konnte völlig selbstständig arbeiten. Sein Geschick im Umgang mit den Tieren, sein Fleiß sowie sein umsichtiges Wirtschaften brachten ihm das Vertrauen und das Lob des Altbauern sowie auch das von dessen Sohn Wolfgang ein. Kurzum, die Arbeit hatte ihn glücklich gemacht. Bis vor drei Tagen, oder genauer gesagt, bis vor einer Woche, bis vor Franziskas Rückkehr.

Vor sieben Tagen war der Schock groß gewesen. Es hatte immer geheißen, die Tochter der Bürles wollte in der Stadt bleiben. Und dann plötzlich hatte der Altbauer ihm seine Enkelin vorgestellt mit den Worten:

»Die Franziska übernimmt jetzt die Buchführung. Ihr werdet bestimmt gut miteinander auskommen.«

Seither lief ihm das schöne Mädchen über den Weg. Auch wenn sie ihm noch so gut gefiel, wollte er so wenig Kontakt wie möglich zu ihr haben. Er wusste darum, dass sie aus zwei völlig verschiedenen Welten kamen. Eine Frau wie Franziska war für keinen armen Schlucker wie ihn bestimmt. Dafür würde schon ihre Mutter sorgen. Dennoch rief er sich immer wieder ihren Blick in der Pferdebox in Erinnerung. Ein Blick, in dem mehr als nur kollegiale Sympathie gestanden hatte. Oder bildete er sich das nur ein? Wie auch immer. Das würde niemals gut gehen können. Franziska würde die schlimmsten Schwierigkeiten mit ihren Eltern bekommen, wenn sie sich auf ihn einlassen würde. Und daran wollte er nicht schuld sein.

In diese Gedanken versunken ging Michael weiter, um nach ein paar Schritten jedoch wieder stehen zu bleiben. Er hatte ein Geräusch gehört, das sich nicht in die ihm so vertrauten Laute einordnen ließ. Ein dumpfes Trommeln. Es kam von oberhalb der Forststraße, die sich durch den Wald hinauf bis auf den Hügelkamm zog. Er horchte. Das Trommeln wurde lauter. Endlich konnte er das Geräusch bestimmen. Pferdehufe. Es mussten wenigstens zwei Tiere sein. Pferde vom Bürle-Hof? Hatte der Stallbursche sie etwa, ohne ihm Bescheid zu geben, an Touristen vermietet?

Das Hufgetrappel wurde lauter. Die Tiere kamen die Forststraße herunter, auf der er sich jetzt befand. Und zwar in einem Tempo, das ihm Angst machte. Merkwürdig. Kein vernünftiger Reiter würde in dieser Geschwindigkeit eine solch steile Straße hinunter galoppieren. Da hörte er auch schon eine Stimme voller Panik schreien:

»Emir! Brrrr! Emir!«

Den Bruchteil einer Sekunde später kamen zwei Pferde so schnell um die Kurve, dass die kleine offene Kutsche hinter ihnen gefährlich ins Schleudern geriet. Dadurch fühlten sich ein paar Eichelhäher hoch oben in den Tannen gestört und flogen krächzend davon. Ihr lautes Schimpfen erschreckte die ohnehin schon sichtlich aufgeregten Tiere noch mehr. Der Rappe blieb abrupt stehen, versuchte hochzusteigen und wieherte schrill, als er durch sein Geschirr daran gehindert wurde. Die Stute neben ihm warf den Kopf in die Luft. Dann machten die beiden gleichzeitig einen riesigen Satz nach vorn, verbissen sich in ihr Mundstück und preschten weiter. Ihre panisch aufgerissenen Augen rollten, ihre kräftigen Leiber waren bereit, sich in zwei tödliche Geschosse zu verwandeln. Und die junge blonde Frau auf dem Kutschbock schaukelte nur noch wie eine Marionette hilflos hin und her.

Franziska.

Ohne Nachzudenken sprang Michael in die Mitte der Forststraße und hob gebieterisch den rechten Arm, wie ein Magier, der mit bloßer Willenskraft eine heranrasende Dampflok aufhalten wollte. Nicht anders als eine solche raste der Zweispänner auf ihn zu. Er wusste zwar, dass Pferde grundsätzlich keine Menschen zertrampelten. Als Fluchttiere versuchten sie, jedem Hindernis auszuweichen. Doch je näher sie nun auf ihn zu kamen, desto unsicherer wurde er sich diesbezüglich. Dennoch blieb er wie ein Fels in der Brandung stehen, mit weit ausgebreiteten Armen.

*

Franziskas Herzschlag setzte aus, als sie Michael plötzlich wie aus dem Nichts kommend mitten auf die Forststraße springen sah. Sie wollte ihn warnen, ihm zurufen, zur Seite zu treten. Doch vor lauter Panik blieb ihr der Warnschrei im Hals stecken. Die Pferde galoppierten völlig außer Kontrolle auf ihn zu. In den nächsten Sekunden würde er von ihren Hufen zermalmt, von den Kutschrädern zerquetscht werden können.

Diese schreckliche Vorstellung gab ihr dann doch noch die Kraft zu schreien. Was, hätte sie im Nachhinein nicht mehr sagen können. Jetzt fürchtete sie nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das des Hofverwalters. Gar nicht auszumalen, was passieren würde, wenn sie an dem Tod eines Menschen schuldig sein würde. Vorausgesetzt, sie würde diese Höllenfahrt überhaupt überleben.

Mit letzter Kraft schlang sie die Fahrleine so fest um die Hände, dass ihr die Lederriemen wie ein Messer ins Fleisch schnitten. Doch diesen Schmerz spürte sie gar nicht, während sie an ihr zerrte, um den Tieren Einhalt zu gebieten.

Vergeblich. Sie waren nicht mehr zu lenken. Nur noch ein paar Meter lagen jetzt noch zwischen ihr und Michael.

»Weg da!«, schrie sie ihm zu, während sie versuchte, auf der wackelnden Kutsche Halt zu finden.

Doch Michael blieb stehen.

*

Ein scharfer stechender Geruch drang ihm in die Nase. Der Geruch von Pferdeschweiß. Angstschweiß. Über die dampfenden Pferdeleiber hinweg fand Michaels Blick den von Franziska, nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Doch lange genug, um in ihren Augen das blanke Entsetzen lesen zu können. Jetzt. Die Pferde nahmen das Hindernis wahr, das er für sie darstellte. Sie zögerten merklich, verlangsamten ihren Galopp, schienen zu überlegen. Dann zog die Stute nach rechts, der Hengst folgte ihr. Die Tiere konnten nicht wissen, dass die Kutsche zu breit war, um zwischen ihm und dem Wegrand, der zu einer tiefen Schlucht abfiel, durchzupassen. Das ganze Gespann würde unweigerlich in die Tiefe fallen.

Ohne länger nachzudenken, sprang er mit einem Satz nach vorn, warf sich zwischen die beiden Tiere und hielt sich an deren Geschirren fest. Einen schrecklichen Augenblick lang schien es so, als würden die panischen Tiere nicht reagieren. Dann jedoch, wie durch ein Wunder, blieben sie schnaubend und zitternd stehen. Als er wieder Boden unter den Füßen fühlte, begann er, beruhigend auf sie einzureden. Sanft streichelte er ihre schweißnassen Hälse. Dabei warf er Franziska voller Sorge einen Blick zu.

»Alles klar?«, fragte er heiser.

»Du hast mir das Leben gerettet«, antwortete sie mit bebender Stimme.

Trotz allem musste er lächeln. »Sagen wir einmal so: Wir haben beide richtig reagiert. Wenn du die Fahrleine nicht so fest gehalten hättest, dann weiß ich nicht, ob ich allein etwas hätte ausrichten können.«

Franziska sah ihn immer noch an, mit zitternden Lippen. Ihre Augen schimmerten feucht.

Da trat er an die Kutsche heran und streckte die Arme aus.

»Komm runter«, sagte er zu ihr.

*

Franziska hatte weiche Knie. Sie bebte wie Espenlaub, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie fiel Michael mehr in die Arme, als dass sie die beiden Stufen der Kutsche hinunter gestiegen wäre. Als sie vor ihm stand, lehnte sie sich an ihn. Seine Arme schlossen sich um sie und hielten sie fest. Sie spürte, wie seine Hand ihr beruhigend übers Haar strich.

»Ist ja gut«, murmelte er. »Es ist ja nichts passiert.«

Sie schluckte die Tränen, die ihr in der Kehle brannten, tapfer hinunter und nickte nur stumm, das Gesicht an sein Hemd gedrückt, das angenehm nach einem Aftershave roch.

»Wie ist das denn passiert?«, fragte er. Dabei hielt er sie immer noch in den Armen.

»Ein Rudel Rehe hat ganz plötzlich die Straße überquert«, erzählte sie ihm nun stockend mit belegt klingender Stimme.

Dann löste sie sich aus seiner Umarmung, was ihr schwer fiel, da sie ihr so viel Geborgenheit gab. Energisch strich sie sich mit beiden Händen die wirren Locken aus dem Gesicht.

»Zeig mal.« Michael nahm ihre rechte Hand, deren Handfläche blutverschmiert war, wie sie nun bemerkte. Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass sie verwundet war.

»Tut’s weh?«, fragte er besorgt.

Sie hob den Kopf.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie völlig durcheinander, wobei der Blick aus seinen dunklen Augen noch zu ihrer Verwirrung beitrug.

Sie sahen sich an und plötzlich machte der Verwalter gar nicht mehr den Eindruck, als würde er sie nicht mögen. Im Gegenteil. Er strahlte eine menschliche Wärme aus, die bis tief in ihr Herz drang. Obwohl sie noch ein paar Sekunden vorher die größte Todesangst gespürt hatte, begann die laue Abendluft nun zwischen ihnen zu prickeln. Es war, als würden leichte elektrische Ströme zwischen ihnen hin und her gehen. Michael hielt immer noch ihre verletzte Hand in seiner. Jetzt senkte er den Kopf, betrachtete die Schnittwunde und dann … Sie hielt den Atem an. Dann hob er ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf die Stelle, wo die Lederleine tief in ihr Fleisch geschnitten hatte. Sofort danach ließ er sie los.

»Ich fahre dich zu Dr. Brunner«, sagte er mit rau klingender Stimme. »Das muss verarztet werden. Und die beiden wilden Bestien hier werden bestimmt durstig sein.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, half er ihr zurück in die Kutsche und setzte sich neben sie auf den Bock. Sie schluckte aufgeregt. Ihr Herz hämmerte an die Rippen.

Hatte sie das gerade alles nur geträumt? Hatte Michael tatsächlich ihre Hand geküsst, ihre schmerzende Wunde?

Mit fahriger Bewegung strich sie sich mit der gesunden Hand die Haare aus der Stirn, steckte das Shirt in die Jeans und presste die Lippen aufeinander. Ihr war, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgewacht. Es fiel ihr schwer, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Derweil ordnete Michael die Leinen und sprach sanft auf die Pferde ein. In ruhigem Gang ging es dann bergab ins Tal. Sie schwieg. Michael ebenfalls. Was gab es da zu sagen? Sie hatte sich blamiert. Das stand nun einmal fest. Als Jugendliche wäre ihr so etwas nicht passiert. Da hätte sie die Tiere im Griff gehabt. Sie hatte sich überschätzt, hatte nicht mehr gewusst, wie steil die Forststraße an manchen Stellen war. Neben diesem unangenehmen Gefühl klopfte jedoch auch noch ein anderes in ihr an. Ein sehr viel angenehmeres. Michaels zarte, ja geradezu intime Geste, ihre Wunde zu küssen, öffnete ihr das Herz. So etwas tat man nicht bei Menschen, die einem gleichgültig waren, oder die man nicht mochte. Auf diese Weise hatte er ihr ein Zeichen gegeben, dass er ihr innerlich näher stand, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Sie lehnte sich zurück, hörte auf das rhythmische Geräusch der Hufe, auf die Vogelstimmen, genoss die Abendluft auf ihrem Gesicht und die ihr bereits vertraute Nähe zu Michael.

*

Der Landarzt staunte nicht schlecht, als die Pferdekutsche auf den Praxisparkplatz fuhr. Pferdekutschen waren im Schwarzwald keine Seltenheit. Fast jeder Bauer besaß eine. Die Besatzung dieser Kutsche jedoch ließ ihn große Augen machen.

Michael Salm erkannte er auf den ersten Blick. Der junge Mann war einen Tag zuvor mit ihm noch im Revier gewesen und hatte zwei Bäume weggeräumt. Die blonde Schönheit neben ihm erkannte er jedoch erst auf den zweiten Blick. Die wirren Locken, die das liebliche Gesicht umspielten, gaben ihr etwas Wildes. In den grauen Augen, denen der Kranz schwarzer dichter Wimpern eine geheimnisvolle Tiefe verlieh, stand Verwirrung und die vollen, leicht geöffneten Lippen gaben ihr gleichermaßen etwas Hilfloses wie auch Lockendes.

»Franziska?«, fragte er verdutzt.

»Sie hat sich die Hand verletzt«, sagte Michael, während die junge Frau nur nickte. »Die Pferde sind außer Kontrolle geraten. Dabei hat die Fahrleine ihr in die Hand geschnitten.«

Matthias räusperte sich und zwang sich, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Die Tochter der Bürles war immer schon ein hübsches Mädchen gewesen, aber zu ihrer natürlichen Schönheit war nun noch die Anziehungskraft einer erotischen Frau gekommen. Was ihn überdies noch durcheinander brachte, war das Umgehen der beiden jungen Leute miteinander.

Michael half Franziska aus der Kutsche. Dabei wechselten die beiden einen Blick, in dem er eine starke Anziehungskraft entdeckte.

Siehe da, ging ihm durch den Kopf. Anton Bürle schien bereits seinen Wunsch ausgesät zu haben. Dieser Samen musste jetzt nur noch aufgehen und gedeihen.

All diese Gedanken und Eindrücke gingen dem Landarzt in Bruchteilen einer Sekunde durch den Kopf.

»Lasst uns in die Praxis gehen«, sagte er rasch zu Franziska. »Ich schaue mir deine Verletzung an.«

Der Schnitt war tief und musste wehtun. Doch die junge Frau hielt sich tapfer. Als er die Wunde mit einem Tupfer desinfizierte, verzog sie nur einmal das Gesicht und stöhnte leise auf. Um sie von der unangenehmen Behandlung abzulenken, zog er sie ins Gespräch. So erfuhr er, wie es ihr in den vergangenen Jahren in der Fremde ergangen war.

»Und jetzt bin ich wieder hier«, schloss sie ihren Bericht ab.

Inzwischen hatte sie wieder Farbe im Gesicht und wirkte lebendiger. »Wie gut, dass es nur die linke Hand ist.« Unbekümmert lachte sie ihn an.

»Du solltest sie in den kommenden Tagen nicht spreizen, sonst könnte die Wunde wieder aufreißen«, warnte er sie. »Ich habe sie an zwei Stellen geklammert, damit sie besser zuheilt. Was ist mit deiner Tetanusimpfung? Wann hattest du die letzte?«

»Das ist lange her.«

»Damit du durch den, mit Sicherheit verschmutzten, Lederriemen keinen Wundstarrkrampf bekommst, frische ich die Impfung auf. Ist das in Ordnung?«

»In Ordnung.«

Nachdem er Franziska die Spritze gesetzt hatte, sagte er: »In fünf Tagen möchte ich dich wieder sehen.«

»Kein Problem.« Sie schaute aus dem Sprechzimmerfenster, als würde sie jemanden suchen. Er wusste, wen.

»Komm, ich bringe dich hinaus«, bot er ihr an. »Michael wartet bestimmt draußen auf dich.«

Tatsächlich saß der Verwalter im Vorraum der Praxis neben der Rezeption und stand jetzt auf. Sein Blick richtete sich auf Franziska. Fragend, neugierig und besorgt.

»War es schlimm?«

»Ich lebe noch, wie du siehst«, erwiderte sie lächelnd.

Ihr Blick und die Art, wie sie diese Worte aussprach, verrieten viel mehr als ihre Worte. Da spürte Matthias wieder diese besondere Beziehung, die diese beiden jungen Menschen miteinander verbinden musste, und er erinnerte sich an den Moment, als er zum ersten Mal seinem Lockenköpfle gegenüber gestanden hatte, damals auf dem Stationsgang der Freiburger Uniklinik. In diesem Augenblick hatte er geahnt, dass er der Liebe seines Lebens gegenüber gestand. Wahrscheinlich ging es Franziska und Michael in jetzt genauso.

*

Der Abend war für eine romantische Kutschfahrt wie geschaffen, wenn man von der Vorgeschichte absah. Über den Schwarzwaldhügeln lag bereits die Dämmerung. Die untergehende Sonne ließ die Kämme noch einmal aufleuchten. Ein lauer Wind strich durch die Tannen, sein leises Säuseln erfüllte die Luft und die Vögel sangen eine wunderschöne Melodie. Ruhe ging durch das Ruhweiler Tal, über dem schon von weit her die ersten Sterne grüßten.

»Danke«, sagte Franziska in das Schweigen hinein. Dabei lächelte sie Michael von der Seite an.

Er erwiderte ihr Lächeln und ihren Blick.

»Gern geschehen«, meinte er nur.

Zufrieden trabten die Stute und der Hengst eng neben einander her. Genauso zufrieden lehnte sich Franziska im Sitz zurück. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte die Fahrt noch ewig so weitergehen können. Sie fühlte sich in Michaels Nähe wohl. Und sie glaubte zu wissen, dass es ihm genauso erging.

Kurz vor ihrem Ziel brach sie das harmonische Schweigen zwischen ihnen.

»Macht dir die Arbeit als Verwalter Spaß?«, erkundigte sie sich.

Sichtlich erstaunt blickte er sie an.

»Ja.« Er begann zu lächeln. »Für mich stand schon früh fest, dass ich hier auf dem Land bleiben wollte. Ich liebe die Arbeit mit den Tieren und in der Natur.«

Sie lächelte versonnen. »Wie mein Opa. Wenn er noch jünger wäre, würde er den Hof noch weiter ausbauen. Er würde noch ein paar Pferde kaufen, würde die Landwirtschaft vorantreiben und …«

»Und eine Schafzucht aufziehen«, unterbrach Michael sie.

Sie hob die Brauen. »Schafe? Davon hat er mir noch nichts erzählt.«

»Ich habe mich mit ihm über das Thema unterhalten. Erst gestern noch«, verriet ihr Michael. »Er fragte mich nach meinen Träumen und ich sagte ihm, dass ich davon träume, eine Schafherde zu besitzen. Shropshire-Schafe, die sehen aus wie kleine Teddybären, geben viel Wolle und sind robust.«

Franziska schwieg verwirrt.

Das war also sein Traum. Und ihr Traum? Sie wollte eine Familie haben, einen Ehemann und Kinder. Zwei Hunde vielleicht, eine Katze. Aber Schafe?

»Abends würde ich dann mit meiner Frau bei den Schafen auf der Weide sitzen und die Nacht begrüßen. Ganz romantisch. Zusammen mit unserem Pyrenäenberghund. Ich habe sie während eines Urlaubs in den Pyrenäen kennengelernt. Es sind herrliche Hunde mit weißem Fell. In diesem Urlaub damals ist mein Traum geboren worden. Warst du schon einmal in den Pyrenäen?«

»Nein.« Franziska lächelte. »Aber ich habe gehört, dass es dort sehr schön sein soll.«

»Eine tolle Landschaft. Ursprünglich, einsam und Natur pur. Schneebedeckte Gipfel und würziges Weideland.« Er verstummte jäh, warf ihr einen Blick zu und fragte: »Hast du auch Träume?«

»Ich habe den Traum vom Landleben. Deshalb bin ich aus der Stadt wieder hierhin zurückgekommen.«

»Ich würde auch nicht von hier fort wollen«, sagte Michael im Brustton der Überzeugung.

»Auch nicht in die Pyrenäen?«

Er lachte. »Nur, um Urlaub zu machen.«

Seine Antwort gefiel ihr. Sie gefiel ihr sogar sehr.

»Urlaub in den Pyrenäen könnte ich mir auch gut vorstellen«, wagte sie sich vor.

»Ich könnte mich als Reiseführer anbieten«, ging Michael, zu ihrer Freude, mit verwegenem Lächeln, das ihr Herz zum Klopfen brachte, auf ihre Bemerkung ein.

»Darüber sollten wir uns einmal näher unterhalten.«

Leider hatten sie nun den Hof erreicht.

»Lass mich bitte hier aussteigen«, bat sie ihren Lebensretter. »Ich gehe durch die Hintertür in meine Wohnung. Wenn meine Mutter mich mit der verbundenen Hand sehen würde, könnte sie die ganze Nacht nicht schlafen.«

Wieder ganz Kavalier sprang Michael vom Bock, lief um die Kutsche herum und bot ihr seine Hand, die sie nur allzu gern ergriff. Dann standen sie sich gegenüber und schwiegen. Sie fanden beide keine Worte für den Zauber, der sie in diesen Augenblicken umfing. Es war eine Ahnung auf Mehr, das Wissen darum, dass sie an diesem Abend die Türen zu ihren Herzen ein klein wenig für den anderen geöffnet hatten.

»Bis morgen«, sagte Franziska schließlich leise und entzog ihm langsam ihre Hand.

»Bis morgen«, erwiderte Michael.

Diese beiden Abschiedsworte waren nicht nur ein Versprechen, sich am nächsten Tag wiederzusehen, sondern auch ein Versprechen auf den Beginn einer wunderschönen Liebe.

*

»Blumen?« Matthias hob die Brauen, als er den üppigen Strauß auf dem Terrassentisch sah. Er warf seinem Lockenköpfle einen skeptischen Blick zu. »Muss ich mir Gedanken machen?«

Die Landarztfrau lachte herzlich auf.

»Nein, musst du nicht«, antwortete sie. Dabei warf sie ihrem Mann über den fürs Abendessen eingedeckten Tisch hinweg einen Luftkuss zu. »Die Blumen habe ich mir heute Nachmittag selbst geschenkt. Ich konnte einfach nicht widerstehen.«

»Dann muss ich jetzt wohl ein schlechtes Gewissen haben, gelt?«, murmelte Matthias mit zerknirschter Miene.

Er erinnerte sich daran, dass es schon eine Weile her war, seit er seiner Frau zum letzten Mal Blumen gebracht hatte.

»Das musst du genauso wenig«, beruhigte Ulrike ihn mit strahlender Miene. »Du schenkst mir doch täglich deine Liebe aufs Neue. Blumen dagegen verwelken.«

»Ich liebe dich.« Er sprach die Worte nicht aus, sondern formte sie nur mit den Lippen, wie sie es beide immer taten, wenn ihnen danach zumute war und sie nicht allein waren. Sein Lockenköpfle antwortete ihm auf die gleiche Art, obwohl sie hier draußen auf der Terrasse unter sich waren, mit Ausnahme von Lump, der neben dem Tisch bereits Stellung bezogen hatte und darauf wartete, dass es nun endlich losging mit dem Essen.

»Ich habe übrigens beim Blumenkauf etwas Interessantes erfahren«, fuhr die Landarztfrau fort, während sie die Pilzsoße über die Spätzle verteilte.

»Was denn?«

»Petra Bürle war auch im Laden. Ich habe das Gespräch zwischen ihr und der Verkäuferin mitbekommen.« Sie lachte fröhlich. »Die Großfürstin hat eine Tischdekoration aus gelben Rosen mit goldenen Bändern bestellt.«

»Haben die Bürles etwas Besonderes zu feiern?«, fragte Matthias erstaunt.

»Das hat die Verkäuferin auch gefragt, woraufhin Petra antwortete, dass sie morgen Besuch bekommen würden. Und jetzt halt dich fest: von Baron von Haltersleben.«

Der Landarzt legte das Besteck auf den Teller und sah seine Frau erstaunt an.

»Der junge Baron, dem heute das Jagdhaus gehört?«

»Petra und ihr Mann wollen es ihm abkaufen. Die beiden sollen in regem Kontakt mit der Baronsfamilie stehen, wie Petra stolz verkündete«, fügte Ulrike mit übertrieben wichtigem Blick hinzu.

»So, so.« Matthias lächelte vergnügt.

»Nach dem Kauf, sollte er überhaupt zustande kommen und nicht nur ein Hirngespinst unserer Großfürstin sein, würde den Bürles der gesamte ehemalige Besitz der von Haltersleben gehören.«

»Dann fehlt ja nur noch der Adelstitel.«

»Na ja, den können sie dem Baron schlecht abkaufen.«

»Wer weiß, was sich Petra noch alles einfallen lässt, um auch noch an den zu kommen«, erwiderte der Landdoktor und wusste in diesem Moment noch nicht, wie Recht er mit diesen so scherzhaft hingeworfenen Worten behalten sollte.

*

Franziska trat aus dem Büro, das einen eigenen Eingang auf der Rückseite des Bauernhauses hatte. Sie wollte gerade zu ihrem Wagen gehen, als sie ihren Vater in Begleitung eines jungen Mannes mit dünnem blonden Haar, langem Gesicht und blasierter Miene entdeckte.

O nein. Das konnte nur Baron Cornelius von Haltersleben sein.

Ehe sie schnell wieder im Büro verschwinden konnte, hatte ihr Vater sie bereits entdeckt.

»Franziska!« In gebieterischer Manier winkte er sie heran, was in ihr schon den ersten Widerstand weckte, dem sie jedoch noch nicht nachgab.

Betont langsam schlenderte sie auf die beiden zu. Dabei bemerkte sie, wie der Fremde sie, den sie um die Dreißig schätzte, mit hervorstehenden wasserhellen Augen musterte, vom Kopf angefangen bis hinunter zu ihren nackten Beinen. Allein schon diesen Blick, unter dem sie sich nackt vorkam, empfand sie als unangenehm.

»Das ist unsere Tochter«, stellte ihr Vater sie nun seinem Gast mit hörbarem Stolz vor. »Alleinerbin meines gesamten Grund und Bodens und dem, was noch kommen wird«, fügte er großspurig mit geschwellter Brust hinzu. »Und das, mein Kind, ist Baron von Haltersleben.«

Der Genannte machte eine zackige Verbeugung, die so albern aussah, dass sie fast laut aufgelacht hätte. Das Lächeln, das dieser folgte, machte ihn dann schon etwas sympathischer.

»Von Haltersleben«, wiederholte er. »Ich bin hoch erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Hallo«, erwiderte sie kurz und knapp und bemerkte das Zucken, das über das blasse Gesicht des jungen Barons lief. Insgeheim freute sie sich darüber, dass sie ihn anscheinend durch diese lässige Begrüßung verärgert hatte. Den entsetzten Blick ihres Vaters tunlichst ignorierend, fuhr sie mit zuckersüßem Lächeln an den Baron gewandt fort: »Ich muss weiter. Ade.«

Sie hob die Hand und wollte sich umdrehen. Doch da hielt sie die streng klingende Stimme ihres Vaters zurück.

»Franziska, deine Mutter und ich erwarten dich in einer Stunde zum Mittagessen. Baron von Haltersleben ist heute unser Gast.«

Sie schluckte, zögerte. Sie hatte schon auf den Lippen, zu erwidern, dass sie keine Zeit hätte, besann sich dann aber. Sie kannte ihre Mutter. Sie konnte fuchsteufelswild werden, wenn man ihrem Willen nicht nachkam. Deshalb nickte sie nur und ging zu ihrem Wagen. Mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen fuhr sie vom Hof.

Blödmann, dachte sie, während sie den großen lattendürren Baron in seinem englischen Tweedjackett und mit der roten Fliege unter dem hüpfenden Adamsapfel wieder vor sich sah. Nun gut, nach dem Mittagessen würde sie ja nichts mehr mit ihm zu tun haben, tröstete sie sich.

*

Franziska schauderte jetzt noch, als sie an das Essen zurückdachte, an die geschwollene und gespreizte Art ihrer Mutter, das devote Verhalten ihres Vaters dem jungen Baron gegenüber und an dessen glotzende Blicke, die er ihr auch momentan immer wieder zuwarf, während sie ihm den Hof und die umliegenden Wiesen zeigte, natürlich nur auf Wunsch ihrer Eltern und innerlich widerstrebend.

»Führ den Baron nach dem Essen doch ein bisschen über unser Land, mein Kind«, hatte ihr Vater beim Nachtisch gesäuselt.

Natürlich hatte sie sofort gewusst, dass dies nur die Idee ihrer Mutter sein konnte, deren Blicke immer wieder zwischen Cornelius von Haltersleben und ihr hin und her gegangen war. Spätestens da hatte sie geahnt, was ihre Mutter im Schilde führte. Sie hatte nicht nur vor, das alte Jagdhaus einzuheimsen, sondern dazu auch noch den Titel dieses arroganten Gockels. Und zwar durch eine Heirat mit ihrer Tochter.

Franziska schluckte verkrampft. Sie fühlte sich in der Falle sitzend. Wäre sie doch gar nicht erst zum Mittagessen erschienen, hätte sie doch von Anfang an Stellung bezogen. Jetzt schlenderte sie hier neben dem Typen her, der ihr alles andere als sympathisch war.

»Welch ein großes Anwesen«, sagte da Cornelius von Haltersleben in ihre Gedanken hinein. Er lächelte sie von der Seite an. »Wenn ich daran denke, dass dieses Land einst meiner Familie gehört hat, fühle ich mich gleich heimisch bei Ihnen.«

»Hier fühlt sich jeder sofort heimisch«, entgegnete sie. »Unser Tal ist halt so idyllisch und friedlich.«

Der Baron blieb stehen.

»Da wäre doch zu überlegen, ob ich das Jagdhaus überhaupt verkaufen sollte«, meinte er mit versonnenem Blick auf die bewaldeten Hügelketten, die sich bis zum blauen Horizont hinter einander aufstellten. »Wenn ich es behalten würde, könnte ich öfter hierhin kommen. Was meinen Sie dazu?«

Er sah ihr in die Augen, dabei flatterten seine hellbewimperten Lider leicht, als wenn er nervös wäre.

»Das müssen Sie selbst wissen«, entgegnete sie betont kühl. »Mir ist das völlig egal.«

»Was genau ist Ihnen egal?«, hakte er sogleich nach.

»Der Verkauf als auch, ob Sie weiterhin hierhin kommen. Wir kennen uns schließlich nicht.«

»Das könnte sich ja ändern«, lautete die prompte Antwort.

Bildete sie sich den flirtenden Blick sowie den lockenden Unterton in der hellen Männerstimme nur ein? Wie wohl klingend war dagegen Michaels Stimme. Tief, dunkel, sanft und ein wenig rau. Einfach erotisch.

»Ich zeige Ihnen jetzt die Pferde«, sagte sie in entschiedenem Ton, während sie weiterging.

Diesen Vorschlag sollte sie schon ein paar Sekunden später bereuen.

*

Als Franziska die Tür zum Pferdestall öffnete, stand Michael vor ihr. Mit feindlichem Blick, mit dem er gleichermaßen sie wie den Besucher bedachte.

»Was gibt es?«, erkundigte er sich, ohne eine Miene zu verziehen.

Sie räusperte sich.

Die Situation, in die sie sich gerade so unüberlegt gebracht hatte, verschlug ihr zunächst die Sprache. Was sollte Michael jetzt denken? Sie war in Begleitung eines ihm fremden jungen Mannes, der zu ihrem eigenen Entsetzen jetzt auch noch in beschützender Geste den Arm um ihre Schultern legte. Wie kam dieser Typ überhaupt dazu?

Rasch trat sie zur Seite, aus der Reichweite des Barons. Noch einmal räusperte sie sich und stellte dann die beiden Männer mit halbwegs fester Stimme einander vor.

»Herr von Haltersleben möchte sich unsere Pferde ansehen«, fügte sie mit unsicherem Blick auf Michael hinzu.

Dabei versuchte sie, den Ausdruck sichtlicher Genervtheit auf ihr Gesicht zu zaubern, ohne dass Cornelius von Haltersleben dies mitbekam. Doch Michael würdigte sie keines Blickes. Er sah den Besucher an, der ein Kopf kleiner war als er, und meinte nur nicht gerade freundlich: »Das geht jetzt nicht. Die Tiere haben ihr Futter bekommen.«

»Soll das ein Witz sein?«, fuhr ihn da ihr Begleiter unbeherrscht an. »Wie behandeln Sie denn die junge Dame? Haben Sie vergessen, dass Sie ihr Angestellter sind?«

Franziska hielt den Atem an. Sie bemerkte, wie Michaels Gesicht sich noch mehr verdunkelte.

»Unsere Tiere sind sehr sensibel«, ergriff sie geistesgegenwärtig die Partei für ihn. »Besonders der Rappe dort hinten und der Braune, die vor zwei Tagen ein traumatisches Erlebnis hatten. Kommen Sie …« Resolut drehte sie sich um und verließ den Stall.

Was blieb dem Baron da anderes übrig? Er folgte ihr.

»So ein ungehobelter Klotz«, schimpfte er vor sich hin. Dabei wischte er sich ein paar Mal mit dem Handrücken über den Ärmel, als hätte er sich schmutzig gemacht.

»Herr Salm ist der beste Verwalter, den es gibt«, verteidigte sie den Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte.

Cornelius von Haltersleben sah sie mit kühler Miene an. »Verzeihen Sie, aber ich glaube, Sie sind noch zu jung, um so etwas zu beurteilen.«

»Wie bitte?« Abrupt blieb sie stehen. Ein kurzes hartes Lachen kam ihr über die Lippen. »Sie können das ja wohl noch weniger beurteilen. Sie kennen Herrn Salm ja gar nicht.«

»Solche Manieren einer jungen Dame gegenüber …« Mit angewiderter Miene schüttelte er den Kopf.

»Michael arbeitet hier nicht mit jungen Damen, sondern mit Rindern und Pferden. Ich finde, es reicht, wenn er mit ihnen bestens umzugehen versteht.«

Die Verblüffung stand dem Baron auf den Zügen geschrieben. Und dann begann er zu lachen. Richtig herzlich zu lachen, was ihn gleich ein wenig sympathischer machte.

»Sie haben Humor«, meinte er mit bewunderndem Blick. »Schenken Sie mir morgen einen Ausritt, nach dem Mittagessen der Pferde?«

Sie musste lächeln. Er schien auch nicht ganz humorlos zu sein.

Trotzdem erwiderte sie: »Morgen habe ich keine Zeit.«

»Bitte …« In den wasserhellen Männeraugen konnte sie lesen, wie wichtig ihm dieser Ausritt war.

»Ich habe zwei Termine«, sagte sie freundlich, aber konsequent. Dann dachte sie kurz nach. »Sind Sie denn morgen überhaupt noch hier?«

»Ich übernachte im Wiesler.«

»Trotzdem.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht, wenn Sie das nächste Mal kommen«, fügte sie in der Hoffnung hinzu, ihn nie wiederzusehen. »So, und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Außerdem sind Sie ja mit meinem Vater verabredet.«

Sie lächelte ihn flüchtig an, drehte sich um und eilte davon.

Sie wusste nicht, dass sie im Kopf des Barons eine Idee hatte entstehen lassen, die ihr das Leben zukünftig schwer machen sollte.

*

Für Wolfgang Bürle war es selbstverständlich, die anstehenden Kaufverhandlungen von Mann zu Mann zu führen. Bei so wichtigen Geschäften hatten Frauen nichts zu suchen. Und schon einmal gar nicht seine eigene, die ihm doch nur ständig ins Wort fiel.

Der Großbauer warf noch einmal einen Blick auf seinen Spickzettel. Hatte er irgendwelche Punkte vergessen? Bevor er sich auf diese Frage eine Antwort geben konnte, klopfte es an der Wohnzimmertür. Rasch ließ er den Zettel in der Tasche seiner bunt geblümten Seidenweste verschwinden und erhob sich.

»Mein Lieber!«, rief er aus, als Cornelius von Haltersleben im Türrahmen erschien. Breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen ging er seinem Gast entgegen. So, als wären sie die besten Freunde und hätten sich viel länger als nur die halbe Stunde nach dem gemeinsamen Mittagessen nicht mehr gesehen. »Nehmen Sie Platz«, forderte er den jungen Mann auf. »Kaffee und einen Schluck Cognac?«

»Weder noch«, antwortete der Baron weit weniger gut gelaunt als er.

Wolfgang blinzelte verwirrt.

»Ist etwas passiert?«, erkundigte er sich besorgt, während er sich wieder in die Kissen des Sofas fallen ließ.

»Ihre Tochter hat mir einen Korb gegeben, als ich sie fragte, ob sie morgen mit mir ausreiten würde.«

Dieses Mädchen, dachte der Großbauer verärgert. Er lachte gekünstelt auf, wedelte mit der Hand durch Luft und meinte: »Franziska ist, so viel ich weiß, morgen mit ihrer besten Freundin zum Einkaufen verabredet. Sie wissen doch … Frauen. Aber keine Sorge, verlassen Sie sich nur auf mich. Sie bekommen noch Ihren Ausritt.« Er kratzte sich im Nacken und besann sich darauf, um was es jetzt eigentlich ging. Jetzt hieß es, nur keinen Fehler zu machen.

»So, mein lieber Herr Baron«, fuhr er aufgeräumt und forsch fort. »Jetzt tun wir mal Butter bei die Fische. Was wollen Sie für den alten Kasten haben?«

Um seinem Gast Zeit zu lassen, griff er nach dem Zigarrenetui, bot es Cornelius von Haltersleben an, welcher jedoch nur stumm den Kopf schüttelte, und zog dann für sich eine dicke Brasil heraus. Ein wenig umständlich, so kam es ihm selbst vor, schnitt er deren Spitze ab, drehte die Zigarre ein paar Mal zwischen den Lippen und steckte sie dann an. Durch den Rauch hindurch sah er den jungen Mann an, der in dem tiefen Sessel fast verschwand.

»Die Sache ist die …«, begann Cornelius von Haltersleben nun. »Das Haus stellt für mich eine große Belastung dar. Es müsste auch dringend saniert werden.«

Wolfgang musste ein zufriedenes Lächeln unterdrücken.

Das waren Argumente, um den Preis zu drücken. So einfach hatte er sich die Verhandlung gar nicht vorgestellt.

Doch dann eröffnete der Baron ihm etwas, was seine bisherigen Pläne völlig zunichte machte. Nun ging die Unterhaltung nur noch schleppend voran, und der Bürle-Bauer hielt seinen Gast nicht zurück, als sich dieser schnell verabschiedete.

*

Der schwarze Porsche hatte kaum den Hof verlassen, als Petra kurzatmig ins Wohnzimmer stürzte.

»Und?« Voller Erwartung sah sie ihren Mann an. »Seid ihr euch einig geworden?«

»Nein.« Wolfgang drückte die Zigarre im Ascher aus.

»Will er zu viel Geld für die alte Hütte?« Petras Kuhaugen hingen an dem Mund ihres Mannes. Jetzt zupfte sie an seinem Ärmel. »Nun sag doch schon.«

»Er will nicht verkaufen.«

»Wie bitte? Er will nicht verkaufen?«

»Besser gesagt, er kann nicht. Sein Vater hat im Testament vorgesehen, dass er über sein Erbe erst verfügen kann, wenn er einen Nachkommen hat.« Wolfgang zuckte in einer schicksalsergebenen Geste mit den Schultern. »Der alte Baron ist vor zwei Wochen gestorben und die Testamentseröffnung war erst gestern.«

»Einen Nachkommen?« Verständnislos blinzelte seine Frau ihn an. »Also ein Kind?«

»Ja.«

»Ist er denn verheiratet?«

»Nein.«

Da klatschte sie in die Hände, als hätte sie den ersten Preis gewonnen. Ein triumphierendes Lächeln legte sich über ihr Gesicht.

»Das ist doch wunderbar!«, rief sie aus. »Nichts ist einfacher als das. Er soll unsere Franziska heiraten. Dann bleibt alles in der Familie und unsere Tochter wird Baronin.« Sie beugte sich zu ihrem Mann herunter und rieb ihre Wange an seiner. »Genau so habe ich es mir sowieso schon vorgestellt«, vertraute sie ihm flüsternd an und gab ihm einen dicken Kuss.

Wolfgang Bürle war nicht nur ein wenig schwerfällig in seinen Bewegungen, sondern auch in seinen Gedanken. Noch hatte er nicht ganz begriffen, was seine Frau meinte.

»Blödsinn«, murmelte er nur vor sich hin.

»Kein Blödsinn«, trumpfte Petra auf. »Lass mich nur machen. Außerdem, was sollen denn die Leute sagen, wenn wir das Jagdhaus jetzt doch nicht kaufen? Die glauben doch, uns würde das Geld dafür fehlen. Das geht auf keinen Fall. Wir können uns nicht im Tal zum Narren machen. Franziska muss den Baron heiraten. Jetzt erst recht. Es ist doch nur zu ihrem Besten. Frau Baronin …«

Diese Worte zergingen Petra auf der Zunge. Dabei verdrehte sie in schwärmerischer Manier die Augen.

*

Während Petra Bürle an diesem frühen Nachmittag die Zukunft ihrer geliebten Tochter auf adeligem Parkett bereits unter Dach und Fach glaubte, saß Franziska wieder am Schreibtisch. Immer noch sah sie Michaels düsteren Blick vor ihrem inneren Auge, als sie ihm den Baron vorgestellt hatte, der sich, aus welcher Regung auch immer heraus, im Pferdestall als ihr Verehrer und Beschützer aufgespielte. Nur wenige Minuten später, nachdem sie sich von Cornelius von Haltersleben verabschiedet hatte, war sie noch einmal in den Stall gegangen, um mit Michael zu reden. Doch sie konnte ihn nirgends finden.

Mit solchen ungeklärten Situationen tat sie sich schwer. Zumal sie sich in Michael verliebt hatte. Das war ihr endgültig klar geworden, als sie ihn zusammen mit dem hochmütigen Besucher erlebt hatte. Wie ruhig, wie bestimmend er reagiert hatte auf dessen unhöfliches Verhalten. Michael war kein Mann vieler Worte, sondern einer der Tat. Und das imponierte ihr. Sie musste ihn unbedingt heute noch sprechen, musste die unangenehme Stimmung zwischen ihnen richtig stellen. Sie wusste, dass er am übernächsten Tag auf eine Viehauktion fahren würde. Er sollte seiner Abwesenheit nicht etwa denken, dass sie Interesse an diesem Haltesleben hätte.

*

Nach diesem, für alle ereignisreichen Tag war auf dem Bürle-Hof endlich Ruhe eingekehrt. Die Glocken im Ort läuteten den Abend ein. Im Westen glühte noch der Himmel, während im Tal ganz langsam die Dämmerung aufzog. Sie kroch die bewaldeten Hänge hinauf und am gläsernen Himmel zeigte sich bereits die Sichel des Mondes.

Mit einem Strauß weißer Margeriten und blauer Glockenblumen in der Hand ging Franziska den holprigen Wiesenweg hinauf zu dem Holzkreuz, das ihr Großvater zu Ehren seiner vor vielen Jahren verstorbenen Frau hatte errichten lassen. Liebevoll legte sie die Blumen vor das Häuschen, in dem stets eine Kerze brannte, verweilte dort ein paar Minuten lang in Gedenken an ihre Großmutter und setzte sich dann auf die Bank, von der aus sie einen unverstellten Blick ins Tal hinunter sowie auf ihr Elternhaus hatte.

Franziska saß jedoch nicht nur hier oben, um ihrer Großmutter zu gedenken. Sie hatte Michael dabei beobachtet, wie er vor einer halben Stunde genau den gleichen Weg hinaufgegangen war. Daraufhin hatte sie sich rasch ihr sonnengelbes Kleid angezogen, das Haar gebürstet, ein wenig Lipgloss aufgelegt und sich auf den Weg gemacht.

Während sie die würzig duftende Abendluft tief in die Lungen einzog, wanderten ihre Gedanken zu dem Mann, den sie nun ganz in ihrer Nähe vermutete. Sie dachte an seinen Handkuss von vor zwei Tagen. Bis tief in ihre Seele hatte er sie berührt. Seine dunkle Stimme vibrierte jetzt noch in ihren Ohren, die Berührung seiner Lippen brannte noch auf ihrer Wunde. Sie hatte sie ganz durchschauert. Und wieder verspürte sie den brennenden Wunsch, sich in Michaels Arme fallen zu lassen, sich hinzugeben, seine Hände zu spüren und ihren Mund auf seine Lippen zu pressen.

Doch je länger sie so allein auf der Bank saß, desto mehr machte sich Enttäuschung in ihrem Herzen breit. Enttäuschung darüber, dass sie den Verwalter nirgendwo entdeckte. Ob er sie vielleicht von Weitem gesehen hatte und ihr aus dem Weg gegangen war?

Fest presste sie die Lippen aufeinander und sah sich möglichst unauffällig um. Sie tat so, als würde sie den Blick schwärmerisch schweifen lassen, um zu genießen, was von diesem schönen Sommertag noch übrig geblieben war – die Hügelkämme, die wie heißes Erz glühten, die Wolkenstreifen, die wie goldene Boote am Himmel dahin segelten, das schwindende Licht, das einen dunklen Mantel über Wiesen, Büsche und Tannen legte. Unruhig rutschte sie auf der Holzbank hin und her. Aus den Wiesen stieg nun Nachtkühle auf, und in ihr das Bedauern darüber auf, dass Michael nicht zwischen den Baumstämmen hervortrat und auf sie zuging, mit der gleichen Sehnsucht im Herzen wie sie und einem zärtlichen Lächeln auf dem Gesicht. So, wie man es so oft in Liebesfilmen sah.

Da. Ein Geräusch. Das Knacken trockener Zweige in ihrem Rücken, das Rascheln von Blättern. Schritte, die näher kamen.

Franziska kannte keine Angst. Deshalb kam sie gar nicht auf den Gedanken, diese Schritte könnten Jemandem gehören, der auf dem Land ihrer Eltern nichts zu suchen hatte. Das konnten nur Michaels Schritte sein. Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie drehte sich um.

*

Tatsächlich trat Michael auch in diesem Moment aus dem Tannenwald heraus. Genauso wie in einer Filmszene. Ob er jedoch die gleiche Sehnsucht im Herzen spürte wie sie, konnte Franziska in seinem ausruckslosen Gesicht nicht erkennen. Auf alle Fälle machte er keinen überraschten Eindruck, sie hier sitzen zu sehen.

Ob er sie schon mit dem Fernglas beobachtet hatte?, schoss ihr durch den Kopf.

»Ich habe gehofft, dich hier zu treffen«, sagte sie offen und schenkte ihm ihr Lächeln, von dem sie wusste, dass es auf die meisten Männer unwiderstehlich wirkte. Auf Michael jedoch schien es seine Wirkung zu verfehlen.

»Warum?«, fragte er in sachlichem Ton.

Seine dunklen Augen, dieses Mal wirkten sie so leblos wie ein ausgetrocknetes Moor, sahen sie starr an. Dieser Blick kühlte ihren Mut mächtig ab.

Sie räusperte sich. Dann stand sie auf, straffte sich und pustete sich eine Strähne aus der Stirn.

»Wegen heute Mittag«, fuhr sie mit energisch klingender Stimme fort. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich das Verhalten von Herrn von Haltersleben völlig unpassend fand. Er ist ein unsympathischer Typ. Ich mag ihn nicht. Überhaupt nicht«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Sie sah, wie Michael tief Luft holte, so, als würde er einen Druck auf der Brust verspüren.

»Aber deine Eltern werden ihn mögen«, antwortete er dann mit seinem tiefen Bass ruhig.

Sie schluckte.

Er besaß Menschenkenntnis. Ja, ihre Eltern mochten den Baron. Aber was meinte Michael mit seinen Worten? Sie glaubte, einen gewissen Unterton in ihnen vernommen zu haben.

»Na und?«, erwiderte sie. »Damit habe ich doch nichts zu tun.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, lautete seine Antwort, während sein Blick zum Horizont hinüber schweifte, wo das letzte Licht des Tages verblasste.

Wieder dieser viel sagende Unterton.

»Aber ich«, sagte sie mit vorgestrecktem Kinn. »Wenn du glaubst, ich würde nach der Pfeife meiner Eltern tanzen, irrst du dich. Und überhaupt. Wovon redest du eigentlich?«

Sein Blick kam ihr vor wie eine Dolchspitze, die geradewegs in ihr Inneres drang.

»Ich rede davon, dass dieser Baron für deine Eltern bestimmt einen willkommenen Schwiegersohn darstellt. Selbst der Stallbursche redet ja schon davon. So gut kennen eure Angestellten deine Mutter.«

Sie lächelte ihn an und sagte: »Wen meine Eltern mögen oder nicht, interessiert mich nicht. Es kommt darauf an, wen ich mag. Und da gibt es schon einen Mann.«

Sie bemerkte das Zucken, das über Michaels Gesicht lief. Ganz deutlich sah sie es. Er schien erschrocken zu sein. Oder enttäuscht?

»So?« Seine Stimme war rau.

»Ja«, antwortete sie bekräftigend.

»Und wer ist der Glückliche, wenn ich fragen darf?« Er machte ein paar Schritte auf sie zu, betont gelangweilt, wie ihr schien.

Sie zögerte.

Sollte sie sich getäuscht haben? Sollte sie ihm wirklich so gleichgültig sein wie er jetzt vorgab? Wieder dachte sie daran, dass er ihr das Leben gerettet hatte, unter Einsatz seines eigenen, sah seine Blicke wieder vor sich, besorgte, tiefe, zärtliche Blicke, spürte den Kuss auf ihrer zerschundenen Hand.

Obwohl sein Verhalten in diesen Augenblicken nicht gerade aufmunternd auf sie wirkte, fasste sie sich ein Herz. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, so dass sie sich so nah gegenüber standen, dass sie seinen Duft, den nach Sonne, frischer Luft und diesem unaufdringlichen Aftershave, riechen konnte. Sie sahen sich an. Michael hatte immer noch diesen ausdruckslosen Blick. Und plötzlich durchrann sie ein Schauer. Sie begann zu zittern, obwohl es immer noch warm war. Diese Situation musste sie jetzt beim Schopf fassen, bevor er übermorgen erst einmal weg sein würde.

»Ist dir kalt?«, fragte er da. In seiner Stimme schwang der Ton von Sorge mit.

Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, zog er sein Jeanshemd aus, unter dem er ein weißes T-Shirt trug, und legte es fürsorglich um ihre Schultern.

Sie brachte kein Wort hervor. Der Stoff strahlte die Wärme seines Körpers auf ihre Haut ab und gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, wie sie es noch nie zuvor bei einem Mann empfunden hatte. Da ließ die Spannung in ihr nach und sie wagte, Michael anzulächeln.

»Danke«, flüsterte sie. Dann legte sie die Handflächen auf seine Brust, die gesunde und die verbundene. »Du bist der Mann, den ich mag«, sagte sie mutig. »Falls es bei dir anders sein sollte, schäme ich mich trotzdem nicht meiner Gefühle zu dir.« Sie hielt seinen Blick fest und bemerkte, wie in seinen Augen ein warmes Leuchten aufglomm. Und plötzlich ging über dem tristen Moor, das sie gerade noch in diesen gesehen hatte, die Sonne auf. Und endlich löste Michaels Antwort alle Spannungen in ihr.

»Mir geht es genauso wie dir«, sagte er leise mit einem Lächeln auf den Lippen, das ihr weiche Knie machte und ihr ein Gefühl bescherte, wie sie bisher noch nicht kennen gelernt hatte.

Es war schmerzhaft und süß zugleich. Es durchzog ihre Brust, wanderte tiefer und brachte alles in ihr zum Vibrieren. So sehr es sie innerlich zum Klingen brachte, so sehr lähmte es sie jedoch auch in ihrer Reaktion, weil es ihr noch so fremd war.

Was sollte sie nun tun? Wie sich verhalten, nachdem sie gegenseitig so offen zu einander gewesen waren? Michael schien dies genauso wenig zu wissen wie sie. Ihre Herzen waren einander schon so nah, aber ihre Körper sich noch fremd.

Dann endlich streckte Michael die Arme nach ihr aus.

*

Michael konnte gar nicht mehr anders. Er musste diese Frau spüren, ganz nah an sich. Ihm war zumute, als würde sich in seinem Herzen ein helles Licht ausbreiten, das seinen Körper ausfüllte und ihn mit ruhiger Freude erfüllte. Mit einer Hand bettete er Franziskas Kopf an seine Brust, in der sein Herz heftig schlug. Mit der anderen drückte er sie an sich.

»Es wird nicht leicht werden«, flüsterte er in ihr Haar. »Du und ich kommen aus unterschiedlichen Welten. Und deine Eltern wollen bestimmt keinen einfachen Verwalter aus dem Nachbardorf an deiner Seite sehen. Wirst du stark genug sein, um zu uns zu stehen?«

Da machte sie sich von ihm los und sah ihn an.

»Ich habe keine Angst, Michael. Vor nichts und niemandem. Wenn wir uns unseren Gefühlen zueinander sicher sind, kann uns niemand auseinander bringen.«

Ihre Worte klangen wie ein Schwur in seinen Ohren. Er nahm ihr liebliches Gesicht in beide Hände, sanft und behutsam, als wäre es zerbrechlich. Lange schaute er ihr in die Augen, die jetzt vor Glück feucht schimmerten.

»An meinen Gefühlen zu dir wirst du nie Zweifel haben müssen«, versprach er ihr. »Ich war schon früher heimlich in dich verliebt und werde es immer sein. Ich bin keiner von denen, die ständig andere haben müssen. Ich will nur nicht, dass du wegen mir Schwierigkeiten mit deinen Eltern bekommen würdest. Die Familie ist ein Gut, das man niemals verlieren sollte. Eher verzichte ich auf dich.«

Sie lachte leise und flüsterte: »Red keinen Blödsinn.« Dann schlang sie die Arme um seinen Nacken und schmiegte sich an ihn. »Ich will niemals mehr ohne dich sein«, sprach sie weiter. »Und ich bin so glücklich, dass du genauso empfindest wie ich. Sollten dich meine Eltern nicht akzeptieren, gehe ich mit dir fort. Ganz gleich, wohin. Hauptsache, wir sind zusammen.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, stellte sie sich auf die Schuhspitzen und küsste ihn auf den Mund.

Jetzt endlich warf er alle Bedenken ab. Zumindest für diese Augenblicke, denn er kannte sich viel zu gut, um sicher zu sein, dass sich bald wieder neue Bedenken bei ihm melden würden. Aber erst einmal wollte er nur das Glück genießen, das ihm diese Frau schenkte.

Er schloss sie fest in die Arme und küsste sie so innig, dass ihm fast die Sinne schwanden. Franziska erwiderte seine Zärtlichkeiten mit der gleichen Innigkeit, der gleichen Leidenschaft.

Mit diesen Küssen noch auf den Lippen und aufgewühlten Herzen gingen die beiden, nur begleitet vom gleißenden Licht des Mondes, schließlich eng umschlungen zum Bürle-Hof zurück. Die Dunkelheit gab ihnen den Schutz, um sich unbeobachtet noch einmal ganz zärtlich vor Michaels Tür zu verabschieden.

»Bis morgen und in alle Ewigkeit«, flüsterte Michael zum Abschied.

»Bis morgen und in alle Ewigkeit«, wiederholte Franziska wie ein Gelöbnis seine Worte und lief dann durch die Hintertür des Bauernhauses unbemerkt zu ihrer Wohnung.

*

Als Petra Bürle am nächsten Morgen mit ihrer Tochter nach dem Frühstück allein in der Küche war, sagte sie mit einem milden Lächeln: »Mein Kind, dein Vater und ich haben gestern lange über deine Zukunft gesprochen. Das Ergebnis möchte ich dir jetzt gern mitteilen.«

Franziska stockte der Herzschlag, während ihre Mutter eine bedeutungsvolle Pause einlegte, in der sie die goldenen Ringe an ihren fleischigen Fingern liebevoll betrachtete. Eine Vorahnung stieg in ihr auf, die ihren Rücken versteifte.

»Und?«, erkundigte sie sich kurz und knapp geradeheraus.

»Dein Vater und ich haben hart gearbeitet, damit du es einmal besser haben sollst als wir«, fuhr ihre Mutter mit bedeutsamer Miene fort. »Nach unserem Tod wirst du einmal eine reiche Frau sein. Aber Geld allein macht noch nicht glücklich.« Mit versonnenem Blick auf den Herrgottswinkel hob sie ihren wogenden Busen. »Wenn ich an deinen Vater denke …« Dann nahm die gerade noch honigsüße Stimme einen geschäftsmäßigen Ton an. »Du wirst auch einen Mann brauchen, der dir zur Seite steht. Natürlich nicht irgendeinen, der nichts mitbringt, sondern eine passende Partie. Geld gehört zu Geld, und dazu ein klangvoller Name sowie eine gesellschaftliche Stellung.«

Nun bestätigte sich Franziskas Verdacht. Sie wusste, worauf ihre Mutter hinaus wollte.

Sie stand so abrupt auf, dass sich der Stuhl unter ihr mit einem unangenehmen Geräusch beschwerte.

»Die Sache mit dem Baron kannst gleich vergessen, Mama«, sagte sie in entschiedenem Ton. »Nie und nimmer werde ich Cornelius von Haltersleben heiraten. Meine Zukunftspläne sehen ein bisschen anders aus als die, die du gestern Abend mit Papa geschmiedet hast. Ich lasse mich nicht verkuppeln. Ich suche mir meinen Ehemann selbst aus. Punkt.«

Fast hätte sie noch hinzugefügt, dass sie ihn bereits gefunden hatte. Doch eine innere Stimme riet ihr, dies in diesem Moment noch zu verschweigen.

»Wenn du bockig wirst, ziehen wir andere Seiten auf«, keifte da auch schon erwartungsgemäß ihre Mutter los. Dabei schoss dieser das Blut in den Kopf, der jetzt so aussah, als würde er gleich platzen wollen. »Du bist unser einziges Kind. Und wir meinen es nur gut mit dir. Du kannst in deinem jungen Alter ja noch gar nicht wissen, was gut für dich ist. Einen Baron findest du nicht alle Tage. Deshalb wärst du saublöd, wenn du net zugreifen würdest.«

Wie immer, wenn Petra die Fassung verlor, fiel sie in den kernigen Bayerischen Dialekt, den sie sonst recht gut verdrängen konnte.

»Und ich wär noch saublöder, wenn ich´s tät«, schnappte Franziska im gleichen Stil unerschrocken zurück.

»Baron von Haltersleben hat ein Auge auf dich geworfen«, fuhr ihre bis zum Äußersten erregte Mutter fort. »Das hat er deinem Vater beim Abschied anvertraut. Einen solchen Mann darfst du net enttäuschen. Denk mal an deine Kinder …«

Franziska wich verdutzt zurück. »Meine Kinder? Ich habe doch noch gar keine.«

»Aber du wirst mal welche haben. Die werden dann adelig sein und sich wiederum in den gleichen Kreisen bewegen.«

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Diese Situation kam ihr vor wie eine Szene aus einem Possenstück.

»Mama«, begann sie mit erzwungener Ruhe nun ganz langsam, »lass mich mal allein machen. Ich habe ganz bestimmte Vorstellungen von meinem Leben. Und in denen hat ein Baron von Haltersleben keinen Platz.«

Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ die Küche.

»Du wirst schon sehen …«, hörte sie ihre Mutter nur noch hinter sich her rufen, bevor sie die Tür schloss.

Ihr Herz hämmerte. Es wollte ihre Brust sprengen. Diese Auseinandersetzung nahm sie mehr mit, als sie sich hätte vorstellen können. Schließlich liebte sie ihre Eltern von Herzen. Wie gut, dass sie ihnen noch nicht erzählt hatte, dass Cornelius von Haltersleben ihr bereits drei SMS auf ihr Handy geschickt hatte, die sie natürlich unbeantwortet gelöscht hatte. Sie kannte ihre Mutter, wusste, wie durchsetzungsstark sie war. Und wie gern sie auch Druck ausübte, um ihre Ziele zu erreichen, wenn sie davon überzeugt, dass diese ihr selbst und ihren Angehörigen zum Vorteil dienten.

Als sie schließlich draußen auf dem Hof stand, schlug sie den Weg zum Auszugshaus ein. Sie musste jetzt mit jemandem sprechen. Und zwar mit ihrem Großvater.

*

So ruhig wie sich Anton Bürle bei dem Gespräch mit seiner Enkelin nach außen hin gab, war er in Wirklichkeit nicht. Die Ziele seines Sohnes und seiner Schwiegertochter brachten seinen Puls zum Rasen. Trotzdem besänftigte er die aufgeregte junge Frau mit den Worten: »Noch ist nicht aller Tage Abend. Kümmere dich nicht um die beiden. Sie können dich nicht in Ketten zum Traualtar führen. Und eines musst du wissen, mein Kind: Ich stehe hinter dir. Auch hinter Michael. Ihr Zwei, das passt zusammen. Und was so zusammen passt, kann nichts auseinander bringen.«

Nachdem Franziska ins Büro gegangen war, zog sich der alte Bürle seine ausgeleierte Strickjacke an und eilte schneller, als die Schmerzen in seinen Knien erlaubten, über den Hof zum Bauernhaus. Mit dem Stock klopfte er einmal kurz an die Stubentür, hinter der er die hohe Stimme seiner Schwiegertochter vernahm.

Wahrscheinlich redete Petra wieder einmal auf den armen Wolfgang ein.

Ohne ein »Herein« abzuwarten, stieß er die Tür auf.

»Wolfgang, ich muss mit dir reden«, sagte er in einem Ton, der selbst die aufgeregte Petra jäh verstummen ließ.

Wolfgang wechselte schnell einen Blick mit seiner Frau, die wie immer wie zu heiß gewaschen aussah.

»Worüber?«, erkundigte sich Petra an seiner Stelle mit aufgewühltem Blick.

»Wenn ich wollte, dass du das wissen solltest, könnten wir das Gespräch auch unter sechs Augen führen«, erwiderte er ruppig, wandte sich dann wieder an seinen Sohn und sagte knapp: »Komm mit mir, Wolfgang.«

Da erhob sich dieser wie ein geprügelter Hund und folgte seinem Vater durch den Gang nach draußen.

»Gehen wir ein paar Schritte«, schlug Anton vor.

Wolfgang schwieg, steckte die Hände in die Hosentaschen und passte sich dem langsamen Schritt des Altbauern an. Als die beiden außer Hörweite des Hauses waren, blieb Anton stehen.

»Was ist das für eine verrückte Geschichte über den Baron und unserer Franziska«, donnerte er so unvermittelt los, dass der gut genährte Wolfgang zusammen zuckte. »Die kann doch nur auf dem Mist deiner Frau gewachsen sein. Du hast kein Recht, dein einziges Kind für eine solche Sache zu verheizen, nur weil deine Petra den Hals nicht voll kriegen kann. Ich erwarte von dir, dass du dich endlich mal als Mann zeigst und deine Frau in die Schranken weist. Franziska braucht keinen Baron, sondern einen anständigen Mann, der was von der Landwirtschaft versteht, der den Hof verwalten kann und das achtet und weiterführt, was ich mit meinem Vater aufgebaut und an dich weitergegeben habe.«

Wolfgang schnappte sichtbar nach Luft. So war ihn sein Vater schon lange nicht mehr angegangen. Normalerweise mischte er sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Jungen.

»Franziska hat doch Glück, eine solche Partie machen zu können«, stotterte der Hoferbe gleichermaßen verdattert wie hilflos. »Falls sie überhaupt zustande kommt. Die beiden kennen sich ja bisher kaum«, räumte er kleinlaut ein.

»Glück ist, wenn das Herz spricht. Lass die Franzi ihren Mann allein aussuchen dürfen«, sprach sein Vater wütend weiter. »Mischt euch da nicht ein. Oder willst du etwa das Leben deiner Tochter auf dem Gewissen haben? Sie geht eher ins Wasser als dass sie den Baron heiraten würde. Das hat sie mir eben anvertraut.«

Diese Worte saßen. Wolfgang erblasste. Er kannte seine Tochter viel zu wenig, um zu wissen, dass Franziska niemals auf einen solchen Gedanken kommen würde, aber Anton wusste wiederum genau, wie er seinem Sohn ein schlechtes Gewissen machen konnte.

*

Nach dem Streit mit ihrer Mutter am Morgen dachte Franziska nur noch daran, Michael am Abend wieder zu sehen. Sie konnte es kaum erwarten. Und als die Sonne ihre letzten Strahlen ins Tal sandte, die Luft voll süßer und verheißungsvoller Düfte war, radelte sie zu dem Ort, an dem sie sich verabredet hatten. Er lag im Jagdrevier des Bürle-Bauern und war ein lauschiges Plätzchen im Schutz der Tannen, von dem aus man einen traumhaften Blick in die Ferne hatte.

Michael wartete schon auf sie. Als sie ankam, krochen bereits violette Schatten langsam über die grünen Wiesen hinauf zum Waldrand. Ein seltsames unwirkliches Licht, das ein Echo auf die Abenddämmerung war, tauchte die kleine beschauliche Mulde in goldenen Glanz. Franziska hatte einen Korb mit Schinken, Käse und Brot mitgebracht, Michael eine Flasche Rotwein. So hatten sie es am Nachmittag verabredet.

Nachdem die beiden es sich auf der Wiese inmitten von gelbem Löwenzahn hatten schmecken lassen, saßen sie nun Hand in Hand eng nebeneinander und horchten in die Natur hinein.

Die Steinache, die ein paar Meter von ihnen entfernt ins Tal floss, schien leiser zu plätschern als am Tag. Das Geläut der Kuhglocken war verstummt und irgendwo in den Tannen über ihnen lockte ein Nachtkäuzchen seinen Liebsten.

»Der Bruder einer Freundin von mir ist Rechtsanwalt«, sagte Franziska ganz unvermittelt in das Schweigen zwischen ihnen hinein. »Ich habe heute mit ihm telefoniert. Falls meine Eltern unsere Liebe nicht akzeptieren werden und mir mit Enterbung drohen, müssen sie mir einen Pflichtteil zahlen, mit dem wir uns irgendwo anders etwas Eigenes aufbauen.«

Michael starrte sie an, als wäre sie gerade vom Himmel gefallen.

»Aber das will ich nicht«, widersprach er ihr heftig. »Ich will nicht, dass du dich wegen mir mit deinen Eltern entzweist. Und ich will genauso wenig von deinem Geld leben.«

»Das sollst du auch gar nicht«, antwortete sie mit spitzbübischem Lächeln. »Ich stelle nur das Grundkapital für die Schafherde. Aufbauen musst du sie. Dann hat am Ende jeder seinen Teil eingebracht.«

Da musste Michael lachen.

»Du bist wunderbar«, flüsterte er voller Liebe, während er sich zu ihr hinüber beugte. »Aber mein größter Wunsch ist, dass wir ohne kämpfen zu müssen unseren Weg gemeinsam gehen können.«

Franziska schloss die Augen, horchte nur noch auf Michaels tiefe ruhige Stimme, die ihr eine Gänsehaut machte, spürte die zärtlichen Berührungen seiner Hände. Sie vergaß alles um sich herum. Und wollte es auch ganz bewusst vergessen. Ihre derzeitige Situation auf dem Hof war nicht gerade die schönste. Ihre Mutter hatte am Nachmittag wieder auf sie eingeredet, die schriftliche Einladung zum Ausritt mit dem Baron, anzunehmen. Cornelius von Haltersleben hatte sie persönlich vorbei gebracht, zusammen mit der Kunde, er würde seinen Aufenthalt verlängern. Doch damit wollte sie sich jetzt nicht belasten. Sie fühlte sich vielmehr, als wären sie und Michael ganz allein auf der Welt, ohne all die anderen Menschen, die ihnen Probleme machen wollten.

Michael zog sie behutsam an sich und küsste sie. Sie erwiderte seinen Kuss. Dabei flammte in ihr ein Begehren auf, das sie bis jetzt nur bei ihm erfahren hatte. Es blendete alles Andere in ihrem Leben aus. Es machte sie benommen, unfähig, auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen. Sie spürte das lodernde Feuer, das seine Berührungen in ihr entfachten. Ihre Lippen brannten vor Sehnsucht, den Mund des geliebten Mannes zu spüren. Immer und immer wieder. Sie konnte gar nicht genug von seinen Küssen bekommen.

Dem jungen Verwalter ging es nicht anders. Ihm war zumute, als wäre eine lodernde Fackel in sein Herz gefallen. Dieses, für ihn bisher fremde Gefühl, stürmte mit aller Wucht auf ihn ein, war so stark, dass es ihn fast schmerzte. Obwohl er und Franziska erst kurz zusammen waren, wusste er bereits jetzt, dass sie die Frau seines Lebens war. Und das sollten auch bald alle anderen wissen, nahm er sich fest vor, während er Franziskas sehnsuchtsvolle Küsse erwiderte. Von Heimlichkeiten hielt er nichts. Er wollte mit der geliebten Frau in der Öffentlichkeit auftreten. Nach seiner Rückkehr von der Viehauktion würden sie beide der Welt zeigen, dass sie von nun an zusammen gehörten.

*

Nichts verbreitet sich so schnell wie Gerüchte. Schneller als der Wind eilen sie den tatsächlichen Ereignissen voraus.

So hieß es auch schon am nächsten Morgen beim Bäcker, dass Franziska Bürle und der junge Baron »etwas miteinander hätten«. Da diese frohe Kunde die Mutter der angeblich zukünftigen Baronin in die Welt gesetzt hatte, hinter vorgehaltener Hand und mit geheimnisvollem Lächeln natürlich, gab es niemanden, der an dieser Neuigkeit zweifelte.

Einige Dörfler freuten sich darüber, dass die natürliche und im Tal beliebte Franziska eine so glänzende Partie machen würde. Andere spöttelten, weil sie die neureiche Petra nicht mochten, und wieder andere munkelten, dass diese Heirat niemals zustande kommen würde, weil ein Baron eine Frau seinesgleichen und nicht eine Bauerntochter heiraten würde. Niemand war über diese in Gang gesetzte Gerüchteküche so glücklich wie die Brautmutter in spe, die hoffte, die von ihr gewünschten Ereignisse würden sich dadurch verselbständigen und beschleunigen. Das morgens beim Bäcker in Umlauf gesetzte Gerücht sollte ein paar Stunden später auch schon neue Nahrung bekommen.

*

Am Spätnachmittag kam Franziska aus Freiburg zurück, wo sie einen Termin beim Steuerberater gehabt hatte. In Vorfreude darauf, dass sie am Abend mit Michael, der frühmorgens nach Straßburg zur Auktion aufgebrochen war, telefonieren würde, fuhr sie ins Ruhweiler Tal hinauf.

Als sie das Traditionshotel Wiesler vor dem Ort rechts auf dem Hügel liegen sah, erinnerte sie sich jäh wieder daran, dass sich dort oben immer noch Cornelius von Haltersleben aufhielt, wie ein Adler in seinem Horst auf der Suche nach Beute, jederzeit bereit, seine Schwingen auszubreiten und sich auf diese zu stürzen, sobald er sie entdeckte.

Bei diesem Vergleich lächelte die junge Frau belustigt vor sich hin. Im Rausch ihrer Gefühle zu Michael und mit der Sehnsucht nach ihm im Herzen hatte sie den Baron ganz vergessen. Dazu mochte auch beitragen, dass sie diesen ausschließlich als Geschäftspartner ihres Vaters betrachtete, mit dem sie nichts zu tun hatte. Wie sie von ihrer Mutter wusste, zogen sich die Kaufverhandlungen noch hin, was ihr auch einleuchtend erschien. Immerhin ging es nicht darum, ein paar Brötchen zu kaufen.

Ein Geräusch unterbrach Franziska in ihren Gedanken. Der Motor begann plötzlich zu stottern und ihr Auto machte ein paar Sätze nach vorn. Dann verstummte er und ihr Wagen blieb auf der bergauf führende Straße stehen. Einfach so.

»Was ist denn jetzt los?«, murmelte sie und zog die Bremse an.

Den Bruchteil einer Sekunde später wusste sie die Antwort: Das Benzin war ausgegangen. Seit einiger Zeit war die Tankanzeige kaputt, was sie nun schon das zweite Mal vergessen hatte. Doch die beiden letzten Mal hatte sie einen Reservekanister dabei gehabt, der sie bis zur nächsten Tankstelle brachte. Aber wie konnte es anders sein? Vor ein paar Tagen hatte sie versäumt, den Kanister neu zu füllen. Sie hatte es einfach vergessen.

»So ein Mist«, schimpfte sie ziemlich undamenhaft vor sich hin, stieß die Autotür auf und stieg aus.

Da erst wurde ihr bewusst, dass sie mitten auf der schmalen Straße stand. Und das auch noch vor einer scharfen Kurve. Sie musste weg von hier. Bei Gegenverkehr …

Franziska hielt den Atem an. Sie horchte. Da hörte sie auch schon aus der Gegenrichtung ein Auto kommen. Schnell, sehr schnell, mit dem dröhnenden Motor eines Sportwagens. O Gott … Sie vernahm genau das Geräusch, wenn ein forscher Fahrer vor einer Kurve stark abbremste, um in dieser dann wieder zu beschleunigen. Und da kam der schwarze Sportwagen auch schon um die Ecke. Gelähmt vor Entsetzen war sie keiner Reaktion fähig. Was sollte sie auch tun? Sie konnte ihren Wagen nicht von der Straßenmitte wegschieben. Sie konnte nur darauf hoffen, dass der Fahrer ein schnelles Reaktionsvermögen besaß, sonst würde binnen der nächsten Sekunden ein schreckliches Unglück passieren.

Franziska hoffte nicht umsonst. Tatsächlich erkannte der Autofahrer das Hindernis noch früh genug, bremste und der Sportwagen kam mit quietschenden Reifen schliddernd am Straßenrand zum Stehen. Die Fahrertür wurde aufgestoßen und Cornelius von Haltersleben sprang heraus.

»Sind Sie wahnsinnig?«, rief er ihr entgegen. »Das ist ja mal wieder so typisch Frau. Mitten auf der Straße zu parken.«

Panik stand ihm auf dem Gesicht geschrieben. Der Adamsapfel über der roten Fliege zitterte.

In jeder anderen Situation hätte sich Franziska einen solch rüden Ton verboten, doch die Angst hielt auch sie immer noch gefangen. Überdies war ihr bewusst, dass sie sich falsch verhalten hatte. Welch ein Unglück hätte passieren können, wenn der Baron nicht so geistesgegenwärtig reagiert hätte. Dankbarkeit breitete sich in ihr aus, die sie seinen Ton sofort vergessen ließ.

»Entschuldigung«, erwiderte sie kleinlaut. »Ich weiß, dass ich …«

Cornelius von Haltersleben schüttelte mit immer noch aufgelöster Miene den Kopf, seufzte dann laut auf und begann schließlich lächeln. Nicht gerade strahlend, aber zumindest freundlich.

»Panne?«, fragte er kurz in verständnisvollem Ton.

Sie schluckte. »Noch schlimmer.«

Da lachte er, so richtig aus dem Bauch heraus. »Benzin?«

Sie nickte nur.

»Ist mir auch schon passiert, allerdings an einer für den Verkehr günstigeren Stelle.« Er öffnete ihre Fahrertür. »Darf ich?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, schwang er sich auf den Sitz, lockerte die Bremse und ließ ihren Wagen gekonnt rückwärts an den Straßenrand rollen.

»So, das Hindernis haben wir erst einmal aus dem Weg geräumt.« Er rieb sich die Hände. Dann sah er sie an. »Benzin oder Diesel?«

»Benzin.«

»Sie haben Glück. Ich habe einen Reservekanister an Bord. Das haben wir gleich.«

Er machte kehrt, holte den besagten aus seinem Kofferraum und füllte den Inhalt in ihren Tank. Als er fertig war, zeigte sich auf seinem langen, keineswegs sehr attraktiven Gesicht ein Lächeln, das es gleich viel sympathischer wirken ließ.

Eigentlich ist er doch ganz nett, dachte sich Franziska. Viel lockerer, als sie gedacht hatte. Und ein Mann der Tat, was sie positiv überraschte.

In diesem Moment hupte es zweimal. Sie drehte den Kopf in die Richtung und entdeckte am Steuer des Wagen die größte Klatschtante aus dem Tal. Die ältere Frau fuhr winkend im Schritttempo an ihnen vorbei, um sich genau anzusehen, mit wem sie hier auf der Straße stand und sich unterhielt. Morgen weiß es das ganze Dorf, dass ich den Baron getroffen habe, ging ihr durch den Kopf. Und wahrscheinlich noch viel mehr, von dem sie jetzt noch gar keine Ahnung hatte.

»So, jetzt können Sie weiterfahren«, sagte Cornelius von Haltersleben in ihre Gedanken hinein, wobei sie in seinem Blick las, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Dankeschön«, sagte sie. Und gleich darauf stellte sie ihm die Frage, die sie jedem in dieser Situation gestellt hätte: »Wie kann ich Ihnen das wieder gutmachen?«

»Indem Sie morgen mit mir ausreiten«, lautete seine Antwort.

O nein.

Sie zögerte, was er zum Anlass nahm, um sich mit süffisanter Miene und in anmachendem Ton zu erkundigen: »Oder an was dachten Sie?«

»Bestimmt nicht an Das, an was Sie jetzt denken«, erwiderte sie streng.

»Sie scheinen mich schon gut zu kennen, wenn Sie wissen, an was ich denke« , konterte er sichtlich belustigt. »Aber nein, ganz im Ernst«, fuhr er dann sachlich fort: »Ich würde mich freuen, wenn Sie einem Ausritt zustimmen würden. Der Verkauf zieht sich noch ein paar Tage in die Länge. Ich muss noch erst ein paar Formalitäten in der Kreisstadt hier abklären, bevor Ihr Vater und ich den Vertrag unterschreiben können. Ganz offen gesprochen, mir fehlt der tägliche Ausritt, den ich zu Hause in Basel auf meinem Gut habe. Und wenn ich dann noch so nette Begleitung dabei hätte …«

O Mann, sagte sie sich. Wenn ich jetzt zustimme, gibt er Ruhe. Und auf diesem Ausritt würde sie die Gelegenheit ergreifen, ihm zu sagen, dass sie in festen Händen war. Damit hatte diese leidige Sache ein Ende.

Sie straffte sich. »Okay. Morgen Vormittag eine Stunde von zehn bis elf.«

Da klappte der Baron in der Mitte wieder wie ein Taschenmesser zusammen. Als er wieder hoch kam, stand ein Lächeln auf seinen Zügen. »Ich freue mich. Bis morgen. Und meine besten Grüße an Ihre werten Eltern.«

Dann drehte er sich um, stieg in seinen Sportwagen und fuhr an ihr vorbei, nicht ohne seine Rechte zu heben und ihr huldvoll zuzuwinken.

Komischer Kauz, sagte sich Franziska, als sie den Motor anschaltete. Ob alle Adelige sich so gestelzt verhielten? Kein Wunder, dass er Mama so gefällt. Ihre Mutter besaß eine Schwäche für so altmodische Manieren.

Auf dem Weg nach Hause dachte sie gar nicht mehr daran, dass sie und der Baron zusammen gesehen worden waren, was den bereits umlaufenden Gerüchten über eine Liaison zwischen ihnen neue Nahrung geben sollte.

*

An diesem Abend verschwieg Michael am Telefon, dass er sich unwohl fühlte. Schon seit Tagen litt er unter Halsschmerzen, aber Franziskas Zärtlichkeiten hatten sie ihn vergessen lassen. Nach dem Gespräch mit der geliebten Frau nahm er sich vor, nach seiner Rückkehr am nächsten Tag umgehend zu Dr. Brunner zu gehen. Nicht, dass er eine ansteckende Krankheit ausbrütete, mit der er Franziska noch anstecken würde.

Am nächsten Mittag verließ er die Auktion früher als er vorgehabt hatte. Er hatte drei gute Rinder ersteigert, und das zu einem sehr guten Preis. Sein Chef, Franziskas Vater, würde sich nicht beschweren können. Und der Altbauer ihn loben.

So machte er sich auf den Weg nach Hause. Zwei Stunden später sah er Ruhweiler vor sich liegen. Er beschloss, gar nicht erst zum Hof zu fahren, sondern gleich auf den Praxishügel.

»Sie müssen warten, junger Mann«, teilte ihm Schwester Gertrud mit. »Das Wartezimmer ist noch voll, da der Chef zwischendurch zu einem Notfall musste.«

Nun gut, sagte sich Michael. Dann würde er eben warten.

Die meisten Leute im Wartezimmer kannte er vom Sehen. Obwohl einige versuchten, ihn ins Gespräch zu ziehen, war ihm mehr danach, zu schweigen. Allein das Sprechen tat ihm schon im Hals weh. So döste er ein wenig vor sich hin, bis er eine ältere Frau, die als die größte Klatschtante in Ruhweiler galt, zu ihrer Sitznachbarin sagte: »Haben Sie schon gehört? Die kleine Bürle, die Franziska, hat etwas mit einem Baron. Von Haltersleben heißt er. Seine Familie besaß früher hier viel Land, das dann Franziskas Großvater und später ihr Vater aufgekauft haben.«

»Einen Baron?«, echote es aus drei Frauenmündern.

»Zuerst habe ich ja auch gedacht, das wäre nur ein Gerücht, aber dann habe ich die beiden gestern mit eigenen Augen gesehen. Dass sie verliebt ineinander sind, war auf den ersten Blick zu erkennen.«

Die Frauen sprachen noch eine Weile über diese Neuigkeit, in der Michael das Blut hoch kochte. Er stammte aus dem Tal und wusste, dass dessen Bewohnerinnen nichts so sehr liebten wie Gerüchte. Dennoch machte ihn wütend, dass die Leute seine geliebte Franziska mit diesem Lackaffen in Verbindung brachten. Sie gehörte zu ihm. Nur, dass dies noch niemand wusste. Nicht einen Gedanken verschwendete er daran, dass dieses Gerücht stimmen könnte. Noch nicht. Er glaubte an Franziskas Liebe zu ihm. Doch dann passierte etwas, wogegen er sich nicht wehren konnte. Je länger er darauf warten musste, ins Behandlungszimmer gerufen zu werden, und je blumiger die Patientinnen neben ihm Franziskas Zukunft an der Seite eines reichen Barons ausmalten, desto mehr begannen die ersten Zweifel an der geliebten Frau in ihm zu nagen. Trotz seines gesunden Selbstbewusstseins fragte er sich, was er, der Verwalter vom Bürle-Hof, gegen einen reichen Adeligen darstellte. Nichts, würde die Antwort aller Leute hier im Wartezimmer lauten. Wenn sie erfuhren, dass in Wirklichkeit er und Franziska das Liebespaar waren, würden sie bestimmt über ihn lachen. Welche schöne junge Frau würde ihn einem reichen Baron vorziehen? Keine. Nur Franziska, so konnte er nur hoffen.

»Herr Salm?«

Die tiefe, stets streng klingende Stimme Schwester Gertruds rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Kommen Sie bitte zum Doktor.«

*

Matthias freute sich, als er den sympathischen jungen Mann sah.

»Ich hoffe, du hast nichts Ernsthaftes«, sagte er, während er ihm andeutete, sich zu setzen.

»Nur Husten und Halsweh. Ich glaube, ich habe mich erkältet«, antwortete Michael.

»Bei dem schönem Wetter?« Matthias lächelte ihn an. »Wie ist dieser Husten denn? Bellend, schmerzhaft, quälend, mit oder ohne Auswurf, ganztägig auftretend oder nur zu bestimmten Tageszeiten oder beim Verzehr bestimmter Nahrungsmittel? Es gibt nämlich ganz verschiedene Arten von Husten und entsprechende Ursachen, denen wir auf den Grund gehen müssen.«

Michael sah ihn sichtlich verwirrt an. »Ich wusste gar nicht, dass es so viele Arten gibt.« Er überlegte und meinte dann: »Also, ein trockener Husten. Zuerst jedenfalls. Seit gestern habe ich tatsächlich, verzeihen Sie, es klingt ein wenig ekelig, aber ich habe Auswurf. So etwas Weißes.«

»Auch Fieber?«

»Nein, oder vielleicht nur etwas erhöhte Temperatur, aber das ist nichts Schlimmes.«

»Könnte es aber werden«, sagte Matthias. »Hier.« Er reichte seinem Patienten ein Thermometer. »Schieb es unter die Zunge. Danach sehe ich mir deinen Hals an.«

Kurze Zeit später bestätigte sich Michaels Vermutung, leicht erhöhte Temperatur zu haben.

»Und jetzt mach bitte einmal den Mund auf.«

Matthias stellte eine deutliche Rötung im Hals fest, welche für ihn mit den beschriebenen Krankheitssymptomen auf eine akute Bronchitis hindeutete.

»Sie kann durch Viren oder Bakterien entstanden sein oder durch das Einatmen von Gasen oder Dämpfen. Hast du auf dem Hof mit irgendwelchen Säuren zu tun gehabt?«

Michael verneinte.

»Dann gehe ich davon aus, dass dich irgendwelche Viren oder Bakterien gefunden haben. Zur Bekämpfung verschreibe ich dir ein Breitbandantibiotikum und zur Erleichterung des Abhustens einen leckeren Saft.«

»Klingt verlockend.«

»In einer Woche möchte ich dich noch einmal sehen. Dann sollten die Halsschmerzen abgeklungen sein. Der Husten kann jedoch noch etwas länger andauern.«

»Okay.«

Matthias stellte das Rezept aus und stand auf. Sein Patient zögerte merklich. Hatte er noch etwas auf dem Herzen?

»Kann ich noch etwas für dich tun?«, erkundigte er sich.

Der junge Verwalter machte auf ihn einen bedrückten Eindruck. Er kannte ihn zwar als ernsten schweigsamen Mann, der jedoch stets guter Laune war.

»Wie geht es dem Altbauern?«, erkundigte er sich und setzte sich wieder.

»Dem geht es gut«, antwortete Michael. Fast zärtlich lächelte er vor sich hin. »Ich habe gern mit ihm zu tun. Wir sind auf einer Wellenlänge.«

Matthias warf ihm einen forschenden Blick zu. Irgendetwas beschäftigte Michael. Das spürte er.

»Sagen Sie, Herr Doktor …«, begann der junge Mann da auch schon, »kennen Sie eigentlich Baron von Haltersleben?«

Aha, daher wehte der Wind. Sein Lockenköpfle hatte ihm beim Mittagessen von dem Gerücht erzählt, das im Ruhweiler Tal zurzeit seine Kreise zog.

»Nur vom Hörensagen. Als die Familie damals weggezogen ist, war ich noch jung und der heutige Baron noch gar nicht geboren. Danach habe ich nichts mehr von den Haltersleben gehört.« Er lächelte Michael an. »Das heißt, ich habe mich auch nicht für sie interessiert. Warum fragst du?«

»Wegen dem Gerücht, das umgeht«, antwortete dieser mit finsterer Miene.

»Du meinst, dass Franziska und der junge Baron …?«

Michael nickte und senkte den Kopf.

»Die Leute reden viel. Was sagt denn Franziska selbst dazu?«, erkundigte er sich.

»Sie liebt mich und bestreitet jegliches Interesse an ihm, aber ich weiß, dass dieser Typ ein Auge auf sie geworfen hat und dass Frau Bürle diese Verbindung wünscht.«

»Ich kenne Franziska als ein Mensch, der sich in ihre Angelegenheiten nicht reinreden lässt.«

Michael schwieg eine Weile. Schließlich sagte er:

»Franziska ist noch so jung, noch ein wenig unerfahren. Später vielleicht, wenn sich der normale Alltag in unsere Liebe einschleicht, wird sie bereuen, dass sie die Chance, Frau Baronin zu werden, nicht ergriffen hat. Ich will nicht derjenige sein, der ihr diese Möglichkeit verwehrt, verstehen Sie?«

Matthias wusste, welch ernsthafter und verantwortungsvoller Mensch Michael war. Um ihn zu beruhigen sagte er: »Du machst dir zu viele Gedanken. Was zählt, ist eure Liebe und die müsst ihr beschützen und nähren. Lieben bedeutet Arbeit. Man darf sie nicht als Selbstverständlichkeit ansehen, dann kommt sie einem auch nicht abhanden. Außerdem habt ihr Zwei in Anton Bürle einen Schutzpatron. Er steht ganz auf eurer Seite. Und wenn es dem zu bunt, wird er mit seiner Schwiegertochter ein Wörtchen reden. Darauf kannst du dich verlassen. Der lässt sich nicht auf der Nase herum tanzen. Und wenn Petra letztendlich noch vor einem Respekt hat, dann vor ihm. Es besteht also kein Grund, an eurer gemeinsamen Zukunft zu zweifeln.«

Nachdem Michael wieder zu Hause war, musste er Franziska unbedingt sehen. Er rief sie auf ihrem Handy an, doch sie meldete sich nicht.

Merkwürdig. Er wusste, dass sie zu Hause war. Ihr Wagen stand auf dem Hof.

Keine Minute später staunte er nicht schlecht, als es an seiner Wohnungstür klopfte. Er öffnete und sah sich ihr gegenüber. Mit duftigem offenen Haar, in weißer Jeans und rotweißkarierter Bluse stand sie da. Sauber sah sie aus, zum Anbeißen hübsch.

*

Franziskas vor Freude blitzende Augen verrieten nichts darüber, dass sich die junge Frau in schlechter Stimmung von zu Hause weggeschlichen hatte.

»Ich gehe hoch in meine Wohnung«, hatte sie nach dem gemeinsamen Abendessen mit ihren Eltern gesagt. »Ich muss nachdenken«, woraufhin Petra ihren Mann unterm Tisch mit wissender Miene angestoßen hatte.

»Tu das, mein Kind«, hatte sie in wohlgefälligem Ton geantwortet. »Der Ausritt mit dem Baron heute Vormittag hat dich bestimmt angestrengt.«

Während ihre Mutter beim Abendessen nur über dieses Thema gesprochen hatte, hatte ihr Vater den Sauerbraten weiter in sich hinein gestopft. Ohne ein Wort zu sagen, was sie überrascht hatte. War in die Beziehung zwischen ihm und dem Baron schon der erste Wermutstropfen gefallen?

Statt in den ersten Stock zu gehen, hatte Franziska sich jedoch aus der Hintertür heraus geschlichen und war auf Umwegen zur Verwalterwohnung gelaufen.

»Ich musste dich unbedingt sehen nach den beiden Tagen«, sagte sie jetzt zu Michael mit bebender Stimme. »Ich konnte keine Sekunde länger warten.«

»Mir geht es genauso. Ich habe dich schon angerufen.«

»Mein Handy liegt in der Wohnung.«

Michael zog sie in den kleinen Flur, wo er sie in die Arme schloss und innig küsste. Doch zu ihrer eigenen Verwunderung konnte sie sich dieses Mal in seine Küsse nicht so hineinfallen lassen wie sonst. Michael schien das zu bemerken. Er ließ sie los und fragte mit besorgtem Blick: »Ist etwas passiert?«

»Nein.« Sie lachte und fiel ihm wieder um den Hals. »Ich hatte nur ganz schreckliche Sehnsucht nach dir. Du, ich …«

Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass sie am Vormittag mit Cornelius von Haltersleben ausgeritten war und ihm unmissverständlich mitgeteilt hatte, sie sei bereits in festen Händen. Doch da verschloss Michael ihr schon mit heißen Küssen die Lippen und zog sie in die Stube hinein.

Von nun an redeten die beiden überhaupt nicht mehr viel. Jetzt wollten sie sich nur noch ganz gehören. Und als sie irgendwann in die Wirklichkeit zurückfanden, eingehüllt in die schützende Dunkelheit des Zimmers, dachte Franziska nicht mehr an den Baron. Sie erschrak, als sie die Kirchenuhr Mitternacht schlagen hörte.

»Ich muss nach Hause«, flüsterte sie Michael ins Ohr.

»Hmm«, murmelte dieser nur und schloss noch fester die Arme um sie.

»Du musst morgen doch auch früh aufstehen.«

»Hmm«, kam es wieder müde von ihm zurück.

Da löste sie sich ganz sanft aus seiner Umarmung, drückte ihm noch einen Kuss auf die Lippen und verließ auf Zehenspitzen seine Wohnung.

*

Am nächsten Morgen saß Franziska wieder früh am Schreibtisch. Es klopfte. Im Rahmen stand ihr Vater, wie immer in seinem hechtgrauen Trachtenanzug. In den Händen drehte er sein Taschentuch, das an manchen Stellen schwarz war. Seit ein paar Tagen hatte er zum Leidwesen seiner Frau wieder zu Schnupfen angefangen.

»Kann ich dich sprechen?«, fragte Wolfgang seine Tochter ungewohnt förmlich.

Franziska lachte. »Warum so höflich, Papa? Normalerweise teilen wir uns das Büro.«

»Den Bürokram machst du besser als ich«, meinte da der Bauer augenzwinkernd. »Ich war nie so gut darin.« Ächzend ließ er sich in einen der tiefen Sessel fallen und zog seine Schnupftabakdose aus der Jackentasche.

Franziska ließ ihn gewähren. Außer Essen, Trinken und Schnupfen hatte er derzeit nur wenig Freude. Ihre Mutter zerrte ihm an den Nerven, mehr noch als sonst. Sie setzte alles daran, um ihren ehrgeizigen Plan, Schwiegermutter des jungen Barons zu werden, umzusetzen. Das wusste sie nur zu gut. Manches Streitgespräch zwischen ihren Eltern hatte sie schon mitbekommen, weswegen ihr ihr Vater leid tat.

»Gibt es etwas zu besprechen, Papa?«, erkundigte sie sich.

»Na ja …« Der Bauer zog eine Prise Tabak geräuschvoll in die Nase, wischte sich mit dem Taschentuch die Krümel von der Oberlippe und steckte es dann in die Tasche. »Ich wollte mit dir wegen heute Abend reden.«

»Heute Abend?«

»Deine Mutter hat den Baron zum Essen eingeladen.«

In Franziska versteifte sich alles. »Denk bitte nicht, dass ich dieses Mal dabei sein werde.«

»Wirklich nicht?«, fragte ihr Vater sichtlich hilflos.

»Hat dich Mama geschickt?«

»Nein, hat sie nicht. Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Sie ist einkaufen gefahren.«

»Nein, Papa, wirklich nicht.«

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann setzte sich ihr Vater aufrecht hin.

»Schau mal, Franzi«, begann er in dem einschmeichelnden Ton, in den er stets verfiel, wenn er seine Frau zu etwas überreden wollte. »Damit es nicht wieder Streit gibt, bitte ich dich, dann wenigstens mit dem Baron vor dem Essen noch einmal auszureiten.«

Franziska schluckte. »Warum sollte ich das tun? Ich war gestern Vormittag schon eine Stunde mit ihm unterwegs. Warum soll ich ihm Hoffnung machen, obwohl ich ihn nicht will, was ich ihm gestern auch gesagt habe?«

»Dass du ihn nicht willst, scheint ihn wenig zu beeindrucken.« Wolfgang seufzte. »Zeig deiner Mutter gegenüber wenigstens noch einmal deinen guten Willen. Sie will doch eigentlich nur dein Bestes. Frau Baronin zu werden ist der Traum aller Mädchen.«

»So ein Quatsch.«

»Nicht?« Der Großbauer sah seine Tochter verunsichert an.

»Meiner nicht.«

»Er wäre eine so gute Partie«, fuhr er mit bedauernder Miene fort. »Angesehen, reich. Denk mal, dann hätten deine Mutter und ich einen adeligen Schwiegersohn.«

»Bitte, Papa, hör endlich auf.« Wütend hielt sie sich jetzt die Ohren zu.

Ihr Vater seufzte noch einmal, aus tiefstem Herzen. Schließlich sah er sich im Büro um, so, als wollte er sich vergewissern, dass er auch wirklich allein mit seiner Tochter war. Dann sagte er mit unterdrückter Stimme: »Sollte dem Baron der Ausritt mit dir heute nicht gefallen, wird er das Interesse an dir verlieren. Er legt viel Wert auf das Äußere einer Frau. Und wenn er aus der Einsicht heraus, dass du nicht die Richtige für ihn bist, sein Interesse verliert, kann er es mir nicht anlasten.«

Franziska sah ihn zuerst skeptisch an, bemerkte dann das verschwörerische Blinzeln in den kleinen Augen und musste lachen.

Sie hatte ihn verstanden. So ein Schlingel.

»Du gibst mir also die Erlaubnis, mich schrecklich zu benehmen?«, fragte sie wieder etwas besser gelaunt.

»Das auch wiederum nicht«, meinte ihr Vater hastig und wand sich. »Aber ich gehe davon aus, dass du schon weißt, was du tun musst, um ihn in die Flucht zu schlagen.«

»Und das Jagdhaus bekommst du dann trotzdem?«

»Das habe ich schon abgeschrieben. Der Baron darf es nur verkaufen, wenn er heiratet. So steht es im Testament.«

Nun wurde ihr manches klar. »Darum also der Aufstand von Mama. Sie will mich unter die adelige Haube bringen, um das Haus zu bekommen.«

»Nein, an der ersten Stelle steht für sie, dass du Baronin wirst«, widersprach ihr Vater ihr.

Franziska schüttelte seufzend den Kopf. Sie konnte ihre Mutter nicht verstehen. Forschend sah sie ihren Vater an. Dass er sich heimlich gegen seine Frau stellte, überraschte sie.

»Hat Opa mit dir geredet?«

Der Großbauer zuckte mit den Schultern.

»Könnte schon sein«, meinte er, ihrem Blick ausweichend. Dann beugte er sich nach vorn, was bei seinem Bauch keine leichte Übung war, und ergriff ihre Hände. »Schau mal, das ewige Gezeter hier im Haus, seit die Mama auf die Idee gekommen ist, dich in Adelskreisen unterzubringen, belastet mich zu sehr. Du kennst sie. Sie wird keine Ruhe geben.«

Noch einmal gab sie einen Stoßseufzer von sich. »Schrecklich.«

»Darum, Franzi …« Ihr Vater nickte ihr auffordernd zu.

»Gut, Papa. Ich reite mit ihm aus und werde mein Bestes geben.«

*

Nachdem ihr Vater gegangen war, hatte Franziska das dringende Bedürfnis, Michael von dem Gespräch zu erzählen. Sie wollte wissen, was er dazu sagte. Nicht, dass er falsche Schlüsse aus diesem bevorstehenden Ausritt ziehen würde.

Wie manchmal während des Tages ging Franziska zu den Ställen hinüber. Wenn es auch nur wenige Minuten waren, die sie tagsüber miteinander verbrachten, in aller Heimlichkeit in einer dunklen verborgenen Ecke, lebte die junge Frau in diesen Minuten auf. Nur in Michaels Armen fühlte sie sich geborgen, geliebt und begehrt.

Michael packte gerade neues Zaumzeug aus, als sie den Pferdestall betrat. Sie sah sich um, ob sie allein waren.

»Keine Sorge, niemand da«, rief Michael ihr zu.

Er hatte ihr Verhalten richtig gedeutet.

Sie lief auf ihn zu. Doch anders als sonst, hielt er sie mit ausgestreckten Armen auf Abstand. Sein Blick war ernst, so ernst, dass sie erschreckte.

»Das Gerücht, dass du und dieser Baron …« Er verstummte.

Franziska seufzte, schlang den Arm um seine Mitte und schmiegte sich an ihn.

»Mama tut alles dafür, es zu nähren. Aber du musst keine Angst haben. Ich liebe dich. Nur dich.«

»Trotzdem stört es mich, dass so über dich und einen anderen Mann geredet wird«, erwiderte er. »Ich liebe dich, aber diese Heimlichkeiten will ich nicht mehr. Ich möchte dich überall küssen dürfen, möchte mich nicht verstecken müssen, möchte keine Angst haben müssen, mit dir in flagranti ertappt zu werden. Wir tun nichts Schlimmes. Wir lieben uns und wollen zusammen bleiben. Worauf wollen wir warten? Wie lange wollen wir unsere Liebe verheimlichen? Wenn alle davon wissen, wird auch dieses Gerücht verstummen.«

Michaels Worte, aus denen Franziska einen deutlichen Vorwurf hörte, trafen sie völlig unvorbereitet. Eigentlich hatte sie ihm nur von dem Gespräch mit ihrem Vater erzählen und ihn für ein paar Minuten fühlen wollen, ganz nah. Seine Forderung durchkreuzte ihren Plan. Wie ihr Vater hielt auch sie es inzwischen für viel geschickter, wenn der Baron das Interesse an ihr verlieren würde. Dann müsste selbst ihre Mutter einsehen, dass aus der Adelshochzeit nichts werden würde und wäre vielleicht sehr viel bereiter, Michael Salm als Schwiegersohn anzuerkennen. Doch dafür musste sie noch einmal mit dem Baron ausreiten.

»Ich denke genauso wie du. Aber eines nach dem anderen«, sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte. Ihre Stimme gewann wieder an Kraft, als sie fortfuhr: »Mir wäre lieber, die Sache in Frieden über die Bühne zu bringen. Mein Traum wäre, mit dir und meinen Eltern in Harmonie hier auf dem Hof zu leben. Natürlich bin ich bereit, mit dir wegzugehen, wenn meine Eltern unsere Liebe nicht akzeptieren. Aber schöner wäre es anders.«

Da nahm Michael sie in die Arme und hielt sie ganz fest an sich gedrückt.

»Das wäre mir auch lieber, aber daran glaube ich nicht.« Er küsste sie auf die Stirn, bevor er das Thema wechselte: »Übrigens, ich fahre heute nach der Arbeit zu meinen Eltern. Kommst du mit mir?«

Sie überlegte rasch. Wenn sie sich nicht vorgenommen hätte, Cornelius von Haltersleben an diesem Abend in die Flucht zu schlagen, hätte sie allzu gern seinem Vorschlag zugestimmt. Aber so? Der Ausritt war in dieser Situation wichtiger.

Sie trat einen Schritt zurück.

»Beim nächsten Mal«, versprach sie ihm. »Wann kommst du zurück?«

»Es wird spät werden. Meine Geschwister kommen auch«, erwiderte Michael hörbar und sichtbar enttäuscht über ihre Absage.

»Rufst du mich dann trotzdem noch an und sagst mir Gute Nacht?«, bat sie ihn.

Er nickte nur und wirkte dabei zurückhaltend.

Nun gut, sagte sie sich. Da müssen wir jetzt durch. Sie hatte ihre Aufgabe zu erfüllen. Da Michael nicht da war, musste sie ihm auch nichts davon erzählen. Der Ausritt würde ihn vielleicht nur unnötig beunruhigen.

*

Franziska beobachtete die Ankunft des Barons aus dem Fenster ihrer Wohnung. Ihre Mutter, in ein tannengrünes Seidenkleid gepresst, das blondierte Haar zu einem Turm aufgesteckt, benahm sich so huldvoll wie eine Königin, als sie den Handkuss von Cornelius von Haltersleben entgegennahm. Ihr Vater wirkte bei der Begrüßung weitaus zurückhaltender. Jetzt gingen die Drei ins Haus und keine zwei Sekunden später hörte sie ihre Mutter glockenhell rufen: »Der Herr Baron ist da, mein Schatz!«

Sie warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Perfekt. Mit ihrem Aussehen war sie mehr als nur zufrieden.

Die Pomade in ihrem streng zurückgekämmten Haar wirkte, als hätte sie es seit Tagen nicht mehr gewaschen. Schmierig klebte es am Kopf. Die weiße, viel zu weite Bluse hatte ein paar braune Spritzer auf der Brust, und die Reithose war viel zu groß, so dass sie ihre gute Figur verbarg. Ihre Hände hatten für diese Aufmachung am meisten gelitten. Sie musste ihre Nägel kürzen, ablackieren und hatte dann mit allen zehn Fingern ein paar Mal in der Blumenerde gewühlt, die nun noch unter ihren Nägeln klebte, obwohl sie sie danach gewaschen hatte. Alles war genau so, wie sie es haben wollte. Zu alledem hatte sie sich auch noch vor ein paar Minuten im Kuhstall aufgehalten. Ja, sie hatte sogar ihre Hose an einer unsichtbaren Stelle mit Mist beschmiert. Der Stallgeruch an ihr war geradezu penetrant, als hätte sie sich in Gülle gewälzt.

So kostümiert folgte sie nun dem Aufruf ihrer Mutter und ging die Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss. Am liebsten hätte sie laut gelacht, als sie sah, wie ihrer Mutter bei ihrem Anblick der Unterkiefer herunter fiel. Auch ihr Vater sah sie verdutzt an, wendete sich dann hastig ab, um sich eine Zigarre anzuzünden. Der Anblick seiner Tochter brachte ihn derart durcheinander, dass er ganz vergaß, seinem Gast auch eine anzubieten. Auf dem blassen Gesicht von Cornelius von Haltersleben jedoch machte sich ein Lächeln breit. Ein belustigtes Lächeln, was ihr zwei, drei Atemlängen lang den Wind aus den Segeln nahm.

»Willst … willst du dich nicht umziehen?«, stammelte ihre Mutter erbleichend.

»Warum?« Sie reckte das Kinn in die Höhe. Dann ging sie auf den Baron zu, streckte ihm ihre noch nach Mist riechende Hand entgegen, die er tapfer küsste, und sagte in burschikosem Ton: »Grüß dich. Ausrittbereit?« Sie duzte ihn einfach, wie einen Stallburschen.

»Aber …« Ihre Mutter fächelte sich mit der beringten Rechten Luft zu. »Aber willst du nicht …«

»Komm!« Sie forderte Cornelius mit einer Geste auf, ihr zu folgen.

Mit betont männlichem Gang verließ sie die Stube.

*

Ohne sich umzublicken, marschierte Franziska auf den Pferdestall zu, vor dem die beiden Tiere schon gesattelt warteten. Wie ein Cowboy schwang sie sich in den Sattel, während Cornelius ihr mit hoch gezogenen blonden Brauen dabei zusah.

»Sauber«, meinte er dann mit anerkennender Miene und tat es ihr gleich, wofür sie ihm insgeheim ebenfalls Anerkennung zollte.

»Und ab die Post.« Sie gab ihrer Stute die Sporen.

Der Ausritt der beiden war ein reines Kräftemessen, bei dem Franziska nur knapp gewann. Das auch nur, weil sie des Geländes kundiger war als Cornelius.

Schließlich zügelte sie ihre Stute auf einer Lichtung in der Nähe der Steinache. Sie fühlte sich erschöpft. Seit Jahren war sie nicht mehr so lange und so sportlich geritten. Zu ihrer Verwunderung zeigte ihr Begleiter dagegen noch keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Frisch und fröhlich schwang er sich aus dem Sattel, nahm beide Pferde und führte sie zum Bach, wo er sie grasen ließ. Dann kam er zurück und setzte sich neben sie ins Moos, mit ein Meter Abstand zwischen ihnen.

»Ein Schluck Kirschwasser?« Er zog einen Flachmann aus der Tasche seine Reitjacketts und reichte es ihr.

»Nein, dankschön«, antwortete sie und setzte ihre Wasserflasche, die sie in der Satteltasche mitgeführt hatte, an den Mund. Sie trank hastig. Dabei lief ihr das Wasser übers Kinn. Genau so sollte es sein.

Cornelius nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann.

»Gut siehst du aus«, meinte er dann, während er sie von der Seite ansah.

Verdutzt erwiderte sie seinen Blick.

Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

»Ich wette, du hast dich nur für mich so schön gemacht«, fuhr er fort.

Seine wasserhellen Augen lagen mit spöttischem Ausdruck auf ihr.

»Kann schon sein«, antwortete sie mit belegter Stimme.

Hatte er etwa ihr Spiel durchschaut?

»Das schreckt mich trotzdem nicht ab, dir den Hof zu machen«, fuhr er mit seiner etwas zu hohen Stimme fort. »Ich weiß ja, wie du in Wirklichkeit bist.«

Mist!

»Ich bin wie ich bin«, erwiderte sie patzig.

»Du wirst bestimmt schon gehört haben, dass ich das Jagdhaus nicht verkaufen darf, bevor ich eine Familie gegründet habe«, fuhr er ganz selbstverständlich fort. »Deshalb habe ich mich entschlossen, in ein paar Wochen erst mal wieder selbst dort einzuziehen. Als selbstständiger Finanzverwalter kann ich schließlich überall arbeiten. Dann können wir uns öfter sehen. Eine Frau wie dich finde ich interessant. Trotz deiner heutigen Verkleidung. Oder vielleicht gerade wegen ihr.« Er lachte. »Ich weiß, was du damit verfolgst und müsste eigentlich beleidigt darüber sein. Aber das Gegenteil ist der Fall. Dein Widerstand reizt mich nur noch mehr an dir.« Er beugte sich nach vorn und sah ihr tief in die Augen, während er hinzufügte: »Ich habe mich nämlich in dich verliebt. Auf den ersten Blick.«

Seine Worte verschlugen ihr die Sprache. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass Cornelius von Haltersleben derart reagieren könnte. Statt ihn zu vergraulen, hatte sie ihn nur noch mehr herausgefordert. Welch eine Ironie des Schicksals. Sollte er sich etwa tatsächlich in sie verliebt haben?

Sie holte einmal tief Luft und sah ihn an. Sein Blick war kühl, seine schmalen Lippen zu einem amüsierten Lächeln gekräuselt.

»Bilde dir nichts ein«, begann sie in harschem Ton. »Mich bekommst du nicht. Ich stehe auf andere Männertypen. Aber davon abgesehen, bin ich bereits vergeben, wie du weißt. Ich liebe meinen zukünftigen Mann.«

»Den Verwalter?« Er musterte sie lässig vom Kopf bis zu den gekreuzten Beinen.

»Ja, den Verwalter.« Sie drückte den Rücken durch und hielt seinem Blick stand.

»So was gibt es«, erwiderte er mit wegwerfender Handbewegung. »Auch wenn du dir die Mühe gemacht hast, heute wie eine Schlampe auszusehen, weiß ich, dass du was Besseres verdient hast als einen einfachen Verwalter. Du bist eine Superfrau, die verwöhnt werden will. Schau mal.«

Er griff in die andere Tasche seines Reitjacketts und zog ein kleines Päckchen heraus. Obwohl sie bisher von noch keinem Mann Schmuck geschenkt bekommen hatte, wusste sie sofort, dass dieses Päckchen von einem Juwelier war.

Entsetzt und empört zugleich sprang sie auf.

»Glaubst du, ich lasse mich kaufen?«, fuhr sie ihn an. »Das mag vielleicht bei anderen Frauen bisher geklappt haben, aber nicht bei mir. Ich will dich nicht. Ich liebe Michael und werde ihn heiraten. Ganz gleich, was meine Eltern dazu sagen. Deshalb mach dich nicht lächerlich und hör auf, mir den Hof zu machen, wie du es nennst.«

Mit diesen Worten lief sie auf ihre Stute zu, schwang sich in den Sattel und preschte davon.

Sie sah gar nicht mehr das lässige Schulterzucken sowie die gleichgültige Miene, mit dem der Baron ihren abrupten Aufbruch kommentierte.

*

Franziska ließ sich Zeit mit dem Nachhausekommen. Erst zwei Stunden, nachdem sie sich von Cornelius getrennt hatte, ritt sie zurück zum Hof. Mit unsagbarer Erleichterung stellte sie fest, dass der Sportwagen weg war. Sie versorgte ihre Stute und ging ins Haus. Natürlich war sie neugierig, wie das Abendessen verlaufen war. Innerlich richtete sie sich schon ganz auf einen Streit mit ihrer Mutter ein, dem sie jedoch nicht aus dem Weg gehen wollte. Diese leidige Sache musste ein Ende haben.

Aufrecht und entschlossen betrat sie das Bauernhaus. Aus der Küche klang Volksmusik, viel zu laut. Und ihre Mutter sang dazu aus voller Kehle mit.

Franziska stutzte. Sie schlich zur Küchentür, warf einen Blick durch deren Spalt und sah ihre Mutter sich im Takt der Musik wiegen.

»Mama?«

»Da bist du ja, mein Schatz!«, rief ihre Mutter erfreut aus. Sie klatschte in die Hände, eilte auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Sei nicht traurig, unser Baron ist schon weg, aber so ist das nun mal bei erfolgreichen Männern«, sagte sie in tröstendem Ton. »Sie gehören einem nie ganz allein. Wenn man jedoch bedenkt, dass sie einem die Welt zu Füßen legen …« Verzückt verdrehte die Bäuerin ihre Kuhaugen, bevor sie weitersprach: »Morgen kommt er ja wieder. Das hat er versprochen. Er war ganz begeistert von dir. Dem Herrgott sei Dank.« Hastig schlug sie ein Kreuz vor dem wogenden Busen. »Und ich hatte schon befürchtet, du hättest ihn vergrault mit deiner Aufmachung. Was immer dich geritten haben mag, dich derart anzuziehen, es hat ihn nicht abschrecken können. Das ist wahre Liebe, mein Kind. Welch ein Mann …«

»Du sprichst von dem Baron?« Franziska starrte ihre Mutter an.

Die Bürle-Bäuerin zögerte kurz, begann dann jedoch wieder zu strahlen. »Ja, von Cornelius.« Sie lächelte geschmeichelt. »Er hat mich gebeten, den Titel wegfallen zu lassen. Wo er doch bald …« Wieder verdrehte sie die Augen.

»Ist denn der völlig verrückt?«, entfuhr es der jungen Frau.

Ihr Hals schnürte sich zusammen. Sie hatte Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Cornelius von Haltersleben erschien ihr plötzlich wie eine Krake, die ihre Arme um sie legte, sie an sich klammerte und nicht mehr aus ihrem Griff ließ. »So geht das nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrer Mutter, die ihr in ihrem Glücktaumel sowieso nicht mehr von dieser Welt erschien.

Franziska drehte sich auf dem Absatz um und lief hinauf in ihre Wohnung. Dort ließ sie sich auf aufs Sofa fallen, atmete ein paar Mal tief durch und beschloss, erst einmal unter die Dusche zu gehen. Dann würde sie auf Michael warten. Sie musste mit ihm über alles sprechen. Wie es aussah, würde sie, um die Liebe mit ihm leben zu können, letztendlich doch den Hof verlassen müssen. Wenn der Baron sich weiterhin um sie bemühen würde, hätte sie von Seiten ihrer Mutter nichts mehr zu lachen, wenn sie ihr mitteilen würde, sie würde Michael Salm lieben.

*

Bis kurz vor Mitternacht musste Franziska auf den geliebten Mann warten. Sie saß vorm Fenster, um seine Rückkehr nicht zu verpassen. Als sie die Scheinwerfer seines Wagens sah, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Endlich. Sie lief hinaus.

»Michael!«, rief sie über den Hof und in der Stille der Nacht schallte ihre Stimme weithin.

Er drehte sich um. »Pscht.«

»Das ist mir egal.« Atemlos warf sie sich in seine ausgebreiteten Arme. »Ich muss dich sehen und mit dir reden.«

Sie schmiegte sich an seine Brust und schloss die Augen.

Genau hier gehöre ich hin, dachte sie, während sie seinen Duft wie ein Lebenselixier tief einatmete. Heute, morgen und für alle Zeiten. Alles würde sie dafür tun, die Liebe zu ihm leben zu können.

Sie nickte entschlossen, löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn ernst an.

»Lass uns hinein gehen.«

Schon im Flur erzählte sie ihm von dem Besuch des Barons und der gesamten Situation.

»Meine Mutter wird nie Ruhe geben, so lange Cornelius von Haltersleben mir den Hof macht, wie er sich ausdrückt. Und wenn Mama von uns erfahren sollte, wird sie Papa drängen, dir zu kündigen. Deshalb habe ich mir überlegt, dass wir beide den Stier bei den Hörner fassen müssen. Wir gehen freiwillig zusammen weg und bauen uns irgendwo etwas anderes auf. Mein Großvater wird mir bestimmt ein bisschen Geld leihen.«

Michael schluckte. Er hatte ihr mit ruhiger Miene zugehört und schwieg auch jetzt noch.

»Was ist, Liebling?«, fragte sie.

Eine schreckliche Ahnung überfiel sie.

*

Michael war nicht anzusehen, dass er innerlich völlig durcheinander war. Eifersucht und Wut auf diesen Baron, Sorge um eine gesicherte Zukunft für die geliebte Frau und für sich, aber auch die Sorge darum, dass Franziska die Loslösung von ihrem Elternhaus schon bald bereuen könnte, ballten sich zu einer bitter schmeckenden Mischung in ihm zusammen.

Er nahm Franziskas Hand und ging mit ihr ins Wohnzimmer zum Sofa. Dort zog er sie neben sich, hielt ihre Hand fest und sah ihr in die Augen. Dann holte er tief Luft und sagte: »Wir sind zwar erst kurz zusammen, aber was mich angeht, weiß ich, dass ich dich liebe. Und wenn zwei Menschen sich lieben, sollten sie auch heiraten. Ich habe leider kein Geld, das ich in die Ehe einbringen kann, aber dafür meine Arbeitskraft, meine Ehrlichkeit, mein Verantwortungsgefühl und all meine Liebe für dich. Falls du den Mut hättest …« Er verstummte, hielt den Atem an.

Franziska sah ihn mit großen Augen an.

»Ja, das ist ein Heiratsantrag«, stellte er klar. »Ich will mit dir eine Familie gründen. Du würdest mich zum glücklichsten Mann unter der Sonne machen, wenn du ihn annehmen würdest.«

Aber die junge Frau konnte nicht ›Ja‹ sagen. Tränen des Glücks schnürten ihr die Kehle zu. Sie versuchte, sie hinunter zu schlucken. Trotzdem suchten sie sich ihren Weg und kullerten ihr die Wangen hinunter.

»Möchtest du nicht?«, fragte Michael verunsichert.

Da warf sie sich an seine Brust und schmiegte sich an ihn.

»Nein«, sagte sie und lachte und weinte zugleich. »Quatsch, natürlich ja. Ich will der ganzen Welt zu zeigen, dass du der Mann bist, den ich liebe.«

Nachdem sich die beiden innig geküsst hatten, sah Michael seine Braut ernst an.

»Trotzdem kann ich mich noch nicht so richtig glücklich fühlen«, vertraute er ihr an. In seinen Augen stand sein innerer Zwiespalt geschrieben. »Ich möchte nicht, dass du dich mit deinen Eltern wegen mir zerwirfst. Lass uns doch ein vernünftiges Gespräch mit deinen Eltern führen, in dem wir …«

»Ich möchte meine Eltern auch nicht verlieren«, unterbrach Franziska ihn, »aber wenn sie es nicht anders wollen.« Sie nickte entschlossen. »Dann muss es erst einmal so sein. Vielleicht werden sie ja mit der Zeit vernünftig. Und wenn erst einmal ein Enkelkind da sein wird …« Sie blinzelte Michael verschmitzt an. »Lass mich machen«, beruhigte sie ihn, bevor sie ihn noch einmal zärtlich küsste. »Vielleicht sieht Cornelius von Haltersleben ja auch schon bald ein, dass er mich niemals bekommen wird. Mich wundert sowieso, dass der sich so sehr an mir festbeißt.«

»Mich nicht«, brummte Michael mit steiler Zornesfalte auf der Stirn.

»Eifersüchtig?«

»Und wie«, erwiderte er, bevor er sie besitzergreifend in die Arme riss und sie so lange küsste, bis sie sich schließlich atemlos voneinander lösten.

Franziska ordnete ihr Haar. Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten vor Glück. Sie schien geradezu von innen zu leuchten.

»Ich muss jetzt nach Hause«, sagte sie mit traurigem Lächeln. »Aber bald werden wir uns nicht mehr trennen müssen.«

*

»Franziska!«

Die junge Frau blieb abrupt stehen, auf halbem Weg von Michaels Wohnung zum Bauernhaus.

Ihre Mutter. Wie eine aufgeplusterte Henne stand Petra Bürle auf dem Hof, die Hände in die Mitte gestemmt.

»Du kommst sofort ins Haus«, ordnete sie im Befehlston eines Stabsoffiziers an, welcher Franziska jedoch weniger zum Gehorsam als vielmehr zum Widerstand antrieb.

»Ich komme gleich«, antwortete sie betont ruhig und wollte an ihrer Mutter vorbei gehen.

»Du gehst auf der Stelle mit mir in die Stube«, kreischte Petra da los. Dabei zeigte sie mit ausgestrecktem Arm auf Michael, der noch in der Haustür stand und fügte hinzu: »Und Sie, Herr Salm, sind auf der Stelle entlassen.«

Da blieb Franziska stehen.

»Wenn Michael gehen muss, gehe ich mit ihm«, sagte sie mit vor Wut bebender Stimme. »Ich schwöre es dir.«

»Das ist …« Ihre Mutter gab einen gurgelnden Laut von sich, griff sich ans Herz, drehte sich um und lief ins Haus hinein.

Mit aufgewühltem Gemüt sah Franziska ihr nach.

»Geh zu ihr«, hörte sie Michael hinter sich sagen. Seine Hand lag fest auf ihrer Schulter. »Sie ist deine Mutter.«

*

»Du wirst mir jetzt doch hoffentlich nicht meinen Eindruck bestätigen«, ging Petra ihre Tochter mit eisiger Miene an.

Franziska warf ihr Haar zurück und hielt ihrem Blick stand.

»Michael und ich lieben uns«, antwortete sie schlicht.

Die Bäuerin verharrte zwei, drei Herzschläge lang in unbewegter Stellung, die Arme wieder in die Hüften gestemmt, den Blick starr auf das Gesicht ihrer Tochter gerichtet. Sie schien zu überlegen, was sie als nächstes tun sollte. Dieses Liebesgeständnis hatte ihr augenscheinlich allen Wind aus den Segeln genommen. Dann begann sie zu blinzeln.

»Wie lange geht dös schon zwischen euch?«, erkundigte sie sich mit brüchiger Stimme im Bayerischen Dialekt.

»Wir sind schon lange ineinander verliebt«, erwiderte Franziska, was ja auch der Wahrheit entsprach. »Und wir werden heiraten«, fügte sie mit erhobener Stimme hinzu.

Ihre Mutter jappte. »Und Cornelius?«

»Cornelius?« Franziska schickte einen Hilfe suchenden Blick zur Decke. »Den wolltest du für mich als Ehemann. Nicht ich.«

Die Bäuerin schnappte nach Luft. Ihre Arme fielen herab. Mit der eingefallen Hochsteckfrisur und der verschmierten Wimpertusche machte sie den Mitleid erregenden Eindruck eines Kämpfers, der eine Schlacht verloren hatte. Aber dann veränderte sich blitzschnell ihre Miene. Sie griff sich ins Haar, um es zu richten, straffte ihre füllige Gestalt und ballte schließlich die Hände zu Fäusten. Ihre Augen feuerten Blitze ab, als sie mit vor Kälte klirrender Stimme sagte: »Wie du willst, mein Kind. Wenn du so dumm bist und eine solche Partie wegen eines kleinen Verwalters ausschlagen willst, dann …« Sie schnaubte durch die Nase.

»Was dann?« Franziska hielt ihren Blick fest.

»Dann solltest du diese Liebe anderswo als auf unserem Hof ausleben. Überdies werden wir dich enterben. Ich möchte nämlich nicht, dass die Leute über uns reden.«

Franziska schluckte schwer, dann räusperte sie sich und erwiderte ruhig: »Ich glaube, die Leute werden viel eher reden, wenn du mich wegen dieser Liebe aus dem Haus wirfst und enterbst.«

Mit diesen Worten verließ sie die Stube.

*

In den nächsten Tagen legte der Sommer eine Pause ein. Die Temperaturen sanken. Es war zu kühl, um draußen zu sitzen.

Sehr viel eisiger noch war die Stimmung auf dem Bürle-Hof. Zumindest zwischen Mutter und Tochter. Der Großbauer zog sich zurück, von seiner Frau wie auch von Franziska. Wenn Vater und Tochter sich begegneten, sprachen sie nur übers Geschäftliche. Petra strafte auch Michael mit Missachtung, wenn sie ihm über den Weg lief. Ihr Mann dagegen verhielt sich dem Verwalter gegenüber ganz normal. Trotzdem fühlte sich Michael, als würde er auf einem Pulverfass sitzen. Die vergiftete Atmosphäre machte ihm mit jedem Tag mehr zu schaffen.

Franziska fühlte sich natürlich genauso unwohl. Sie hasste Streit. Und sie liebte ihre Mutter. Doch genau wie diese reagierte sie mit Starrsinn. Jeden Abend besuchte sie Michael jetzt ganz offiziell in seiner Wohnung. Und nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit. Wenn sie ihm tagsüber auf dem Hof begegnete, küsste sie ihn vor aller Augen auf den Mund. Es war nun kein Geheimnis mehr, dass die beiden ein Paar waren, was ihnen jeder der Hofangestellten gönnte.

Franziska verschwieg dem geliebten Mann jedoch die vielen SMS, die sie während eines Tages von Cornelius von Haltersleben bekam. Sie beinhalteten stets, dass er sich in sie verliebt hätte und die Hoffnung nicht aufgeben würde, sie doch noch für sich gewinnen zu können. Die roten Rosen, die er ihr geschickt hatte, verschenkte sie an eine Magd, was mit einem erneuten Wutausbruch ihrer Mutter quittiert wurde. Statt mit ihren Eltern die Mahlzeiten einzunehmen, aß sie fortan mit ihrem Großvater zusammen im Auszughaus.

»Das wird schon wieder«, brummte der Altbauer, nachdem seine Enkelin ihm wieder einmal ihr Leid geklagt hatte. »Irgendwann muss Petra nachgeben.«

»Daran glaube ich nicht«, widersprach Franziska ihm. »Ich befürchte sogar, dass sie Papa auch bald auf ihre Seite gezogen hat. Vater war heute Michael gegenüber schon arg ruppig. Er ist ihn zu Unrecht angegangen und hat gesagt, dass er sich einen neuen Verwalter suchen wird.«

Da donnerte Antons Faust auf den Küchentisch.

»Vorher werde ich mir eine neue Schwiegertochter suchen«, schimpfte er los. »Ich werde mit Wolfgang noch einmal reden müssen. Dass der sich von seiner Frau so sehr beeinflussen lässt …« Mit verständnisloser Miene schüttelte er den schweren Kopf. »Und Petra werde ich auch die Leviten lesen. Die hat sich weder in Hofangelegenheiten noch in deine Liebesangelegenheiten einzumischen. Sie hätte selbst einen Baron heiraten sollen, wenn ihr hier alles nicht genug ist.«

»Ach, Opa …« Franziskas Lippen zitterten, als sie ihren Großvater mit feuchten Augen ansah. »Am liebsten würde ich mit Michael von hier weggehen. Hier können wir nicht glücklich werden.«

»Das könnt ihr mir doch nicht antun!«, rief Anton da entsetzt aus. »Dann bin ich ja ganz allein mit diesen beiden Verrückten.«

»Wir hätten zurzeit ja auch noch kein Geld, um uns irgendwo eine Existenz aufzubauen«, beschwichtigte Franziska ihn da sofort. Dabei legte sie ihre Hände auf seine abgearbeiteten, die sich rau und trocken anfühlten.

»Wenn es euch an Geld mangelt, bin ich ja auch noch da«, erwiderte ihr Großvater.

Die beiden schwiegen eine Weile in Gedanken versunken. Sie ahnten nicht, dass das Schicksal schon bald die Karten für Franziskas und Michaels Lebens neu mischen würde.

»Ich finde es merkwürdig, dass Cornelius von Haltersleben Franziska so sehr nachsetzt«, sagte Ulrike am nächsten Morgen beim Frühstück zu ihrem Mann.

Mit erstaunter Miene sah Matthias von der Zeitung auf und lächelte. »Wahrscheinlich hat ihn die Liebe wie ein Blitz getroffen. Franziska ist sehr hübsch und liebreizend.«

»Jetzt wohnt der junge Mann bereits seit acht Tagen im Wiesler und schlawenzelt um sie herum, wie mir Anton gestern im Postamt erzählte. Glaubt der Baron etwa, innerhalb einer Woche seine Hochzeit unter Dach und Fach bringen können?« Ulrike schüttelte lachend den Kopf. »Wahrscheinlich ist er so von sich eingenommen, dass er davon ausgeht, die Frauen würden nur auf seinen Antrag warten.«

»Wenn es Petra Bürle nachginge, würde morgen bereits Verlobung gefeiert.«

»Völlig verrückt.« Sie sah ihren Mann besorgt an. »Ist das auch eine Folgeerscheinung unserer schnelllebigen Welt?«

Da lachte der Landarzt. »Hoffentlich nicht, aber es mag durchaus sein, dass erfolgreiche Leute meinen, die Liebe wäre ein schnelles Geschäft.«

»Apropos Geschäft«, griff seine Frau das Stichwort auf. »Man hört im Ort jetzt nur noch etwas über eine angebliche Liaison zwischen Franziska und dem Baron, aber nicht mehr über den Verkauf des Jagdhauses an die Bürles.«

»Vielleicht will unser Baron es seiner Braut zur Hochzeit schenken«, mutmaßte Matthias mit belustigtem Lächeln.

Dass Cornelius von Haltersleben ganz andere Pläne im Sinn hatte, wussten die beiden an diesem sonnigen Morgen noch nicht.

*

Es passierte nicht oft, dass Ulrike während der Sprechstundenzeit hinüber zur Praxis lief, um ihrem Mann etwas mitzuteilen. Doch mit der Verkündung der Neuigkeit, die sie am Nachmittag des gleichen Tages in Freiburg erfahren hatte, konnte sie nicht bis zum Abendessen warten.

Schwester Gertrud, die wie ein Wächter hinter der Rezeption stand, schien ihr ihre Aufregung anzumerken.

»Er hat noch einen Patienten«, sagte die altgediente Sprechstundenhilfe mit unterdrückter Stimme zu ihr. »Aber danach können Sie zu ihm.«

Es kam selten vor, dass Gertrud die Patienten warten ließ, außer bei einem Notfall. Und der schien ihr hier gegeben.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich der Landdoktor gleichermaßen erstaunt wie besorgt, als seine Frau das Sprechzimmer betrat.

»Ich muss dir unbedingt schnell etwas erzählen«, sagte sie. »Du glaubst ja nicht, was ich vor einer Stunde in Freiburg erfahren habe.«

»Erzähl«, forderte ihr Mann sie auf.

»Erinnerst du dich, worüber wir heute Morgen beim Frühstück gesprochen haben?«

»Du fandest es merkwürdig, dass dieser Baron Franziska so sehr nachstellt, obwohl sie ihn nicht will.«

»Genau. Ich kenne jetzt auch den Grund.«

»Da bin ich gespannt.« Matthias setzte sich, sein Lockenköpfle tat es ihm gleich.

»Also, die Welt ist ja bekanntlich klein«, begann Ulrike mit bedeutsamer Miene. »Manchmal passiert etwas, woran du überhaupt nicht denkst. So traf ich eben in Freiburg eine ehemalige Patientin von uns. Erinnerst du dich noch an Frau Miltner? Sie ist vor ein paar Jahren weggezogen und man hat nichts mehr von ihr gehört.«

»Wie bist du denn mit Frau Miltner auf Baron von Haltersleben zu sprechen gekommen?«

»Wie es sich manchmal so ergibt. Sie erkundigte sich nach den Neuigkeiten im Tal. Da erzählte ich ihr von den Sterbefällen und den Geburten in der vergangenen Zeit und davon, dass der junge Baron von Haltersleben im Tal aufgetaucht wäre. Da vertraute sie mir an, dass sie damals zu ihren Zeiten in Ruhweiler mit der alten Baronin bekannt gewesen war und heute noch Kontakt zu ihr hätte. Erst gestern noch.« Sie legte eine kurze Pause ein, in der sie einmal tief Luft holte und danach fortfuhr: »Frau Miltner erzählte mir, dass diese ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihrem Enkel hätte, also zu Cornelius von Haltersleben. Er hätte das gesamte Vermögen durchgebracht, würde einen unsoliden Lebenswandel führen und wäre zurzeit auf Brautschau, um sich finanziell zu sanieren. Frau Miltner wusste von der alten Baronin, dass Cornelius von Halters­leben seine Pläne geändert haben soll …

Der Landdoktor staunte, als er von den neuen Plänen des Barons hörte. Lange Zeit überlegte er, sah sein Lockenköpfle schließlich unschlüssig an und fragte: »Was meinst du? Sollten wir Anton davon erzählen? Er war vor einer Stunde noch wegen seiner Knie bei mir und hat sich akupunktieren lassen. Dabei hat er mir seine Sorgen wegen Franziska anvertraut und auch erwähnt, dass er Cornelius von Haltersleben nicht traut.«

»Womit er Recht hat, wie ich ihm jetzt bestätigen kann.« Ulrike nickte. »Ja, ich glaube, du solltest ihn anrufen. Dann wird Petra Bürle hoffentlich endlich Ruhe geben.«

*

Petra Bürle kam vom Einkaufen in der Kreisstadt zurück. Sie parkte die schwarze Limousine mitten auf dem Hof und stieg kurzatmig aus, mit hochrotem Gesicht. Sie hatte es eilig und war geistig so abwesend, dass sie ganz automatisch Michael zuwinkte, der gerade aus dem Pferdestall kam. So, wie sie es früher getan hatte. Der Verwalter sah ihr verdutzt nach, bis sie im Bauernhaus verschwunden war.

»Wolfgang!«, rief Petra mit schriller Stimme durch den langen Flur. »Wo bist denn wieder?«

»In der Stube«, kam es von ihrem Mann zurück, woraufhin seine Frau aufgeregt auf ihren hohen Schuhen, die ihre kräftigen Beine gar nicht richtig zu tragen wussten, den Flur entlang segelte. Sie stieß die Tür auf und blieb im Rahmen stehen.

»Wolfgang, stell dir vor …«, begann sie aufgeregt.

Ihr Mann, der bis dahin in Ruhe die Zeitung gelesen hatte, blickte auf. »Was ist?«

Petra zog ein weißes Spitzentaschentuch aus ihrem Jackenärmel und wischte sich damit über die Stirn.

»Stell dir vor, ich bin auf dem Rückweg vom Einkauf beim alten Jagdhaus der Haltersleben vorbeigefahren. Ein Möbelwagen stand davor. Das kann doch nur heißen, dass Cornelius von Haltersleben dort einzieht. Und weißt du, was das heißt? Wenn er jetzt hier wohnt, wird sich der Kontakt zwischen ihm und unserer Franziska bestimmt verfestigen. Dieser Mann ist ein ganzer Kerl. Der gibt nicht auf. Und irgendwann wird auch unsere Franziska schwach werden. Sie ist nämlich wie ich.«

Wolfgang schob die Zeitung beiseite und biss zuerst einmal herzhaft in den Kirschplunder, der auf dem Teller neben ihm lag.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte er kauend.

Seine Frau straffte sich. »Was kannst du dir nicht vorstellen?«

»Dass der Baron ins Jagdhaus einzieht. Das muss doch erst mal saniert werden.«

»Es ist aber so. Ein Möbelwagen stand vor der Tür und mehrere Leute waren da zugange.«

»Ob er es etwa doch an einen anderen verkauft hat?«

»Unsinn. Cornelius hat mir doch selbst erzählt, dass er mit dem Gedanken spielt, hierher zu ziehen.« Sie setzte sich neben ihn auf die Eckbank und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich glaube, jetzt wird mein Traum doch noch in Erfüllung gehen«, sagte sie mit versonnenem Lächeln. »Wenn Franziska und Cornelius sich ab jetzt öfter sehen …«

»Bitte …« Ihr Mann rückte zur Seite.

»Mit dem Geld kommt auch die Liebe.«

Da runzelte der Bürle-Bauer die Stirn. »War das bei dir auch so, als du mich kennen gelernt hast?«, erkundigte er sich mit forschendem Blick.

»Was denkst du denn? Nein, Wolfi, bei uns war es doch ganz anders«, säuselte da Petra und lehnte sich wieder an ihren Mann.

So blieben die beiden eine Weile sitzen, jeder in seine Gedanken versunken. Petra träumte von einer Adelshochzeit, Wolfgang überlegte, was der Möbelwagen vor dem Jagdhaus zu bedeuten haben könnte. Er glaubte nicht daran, dass Cornelius von Haltersleben dort einziehen wollte.

Da klopfte es an der Stubentür. Petra schrak zusammen und stand schnell auf.

»Dr. Brunner«, flüsterte die Hausmagd mit ehrfurchtvoller Miene.

Petra schluckte. »Der Landdoktor?« Dann zauberte sie ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht.

Das wurde ja immer besser. Plötzlich verkehrten in ihrem Haus nur noch Leute von Rang und Namen.

»Ich lasse bitten«, erklärte sie der Magd mit huldvoller Miene.

»Ihr Schwiegervater ist auch …« Weiter kam die Magd nicht. Da schob Anton Bürle sie auch schon mit dem Stock zur Seite und betrat die Stube.

*

Der Landdoktor hatte sich bereit erklärt, dem Freund seines bereits verstorbenen Vaters einen Gefallen zu tun. Vor zwei Stunden hatte er dem Altbauern die Neuigkeiten über Cornelius von Haltersleben erzählt. Daraufhin hatte dieser ihn gebeten mitzukommen, um seinen Sohn und seine Schwiegertochter über den Baron aufzuklären.

»Die glauben mir das nicht«, hatte Anton kopfschüttelnd gesagt. »Aber wenn du dabei bist …«

Schließlich hatte Matthias zugestimmt. Nun standen sie alle gemeinsam in der Stube des Bürle-Hofes. Petra schien vor Stolz zu platzen und machte ganz auf Gastgeberin, indem sie der Hausmagd Anweisungen gab, das Kirschwässerli und eine Jause zu bringen. Franziskas Vater strich sich bedeutungsvoll die geblümte Seidenweste glatt und bat, Platz zu nehmen.

»Jetzt hört ihr beiden mir mal genau zu«, begann sein Vater ohne Vorrede und ohne sich zu setzen. »Es geht um den jungen Baron. Ich habe Informationen über ihn.«

»Wir auch«, sagte da seine Schwiegertochter triumphierend und lächelte zuckersüß. »Cornelius zieht ins Jagdhaus.«

»Er wird es wahrscheinlich eher leer räumen«, verbesserte sie da ihr Schwiegervater ruppig.

»Was soll das heißen?« Petra legte die beringte Hand an ihren Hals.

»Er ist pleite und will heiraten.«

»Heiraten?« Der Bäuerin fielen die Augen aus dem Kopf. »Unsere Franziska?«

»Nein, eine Frau, die zehn Jahre älter und reicher ist als unsere Franzi.«

Petra wechselte die Farbe. Sie sah ihren Mann an und fauchte: »Da siehst du, jetzt war eine andere schneller.«

»Nun ist aber genug«, verwies Wolfgang da seine Frau in ihre Schranken. »Du hast doch gehört, dass der Baron pleite ist.«

»Aber der Titel«, meinte sie etwas kleinlauter.

»Er ist ein Lügner und Betrüger«, fuhr der Bauern seine Gattin an. »Willst du etwa so einen Menschen zum Schwiegersohn haben?«

Petra zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich.

»Eine Frau aus Mannheim«, fuhr ihr Schwiegervater fort. »Eine Industriellenwitwe. Er ist bereits seit vier Jahren mit ihr liiert und lebt von ihrem Geld.« Anton fasste seine Schwiegertochter scharf ins Auge. »So viel zu deinem Heiratskandidaten. Der feine Baron wollte nicht unsere Franziska, sondern nur unser Geld. Natürlich gefällt ihm so ein hübsches Mädchen wie unsere Franzi bestimmt besser als eine alte Schachtel, die er schon lange kennt. Und wahrscheinlich hätte er Franziska auch gern zur Frau genommen. Aber in erster Linie, weil sie mal eine reiche Erbin sein wird. Da deine Tochter ihn nicht will, hat er sich dafür entschieden, seine langjährige Geliebte zu heiraten, um seinen Schuldenberg begleichen zu können. Die Geschichte mit dem Testament war übrigens auch erlogen. Er kann natürlich das Haus jederzeit verkaufen.«

Während er sprach, wurde Petra immer blasser. Sein Sohn griff noch einmal nach dem Kirschplunder. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn.

»Das war knapp«, meinte er dann kauend. »Um ein Haar wäre unsere Tochter unglücklich geworden und unser gesamtes Vermögen …«

»Moment mal«, hob da Petra an. Sie wandte sich an den Landdoktor. »Jetzt sagen Sie mir bitte, Herr Doktor, ob das alles der Wahrheit entspricht.«

Matthias lächelte in sich hinein.

So ungefähr hatte er sich die Situation vorgestellt. Nach außen hin ernst, nickte er.

»Das, was Ihr Schwiegervater erzählt hat, entspricht der Wahrheit. Cornelius von Haltersleben ist tatsächlich finanziell ruiniert. Er hatte vor, Ihre Tochter zu heiraten, weil er Geld braucht. Natürlich hat er ziemlich schnell bemerkt, dass Franziska ihn nicht will. Also ist er zu seiner langjährigen Geliebten zurückgekehrt. Die Hochzeit soll in wenigen Wochen in Mannheim stattfinden.«

»Und woher wissen Sie das?« Petras Stimme klang nun ganz matt.

»Aus sicherer Quelle. Die Welt ist bekanntlich klein. Meine Frau hat be…«

»Das bedeutet …« Die Bürle-Bäuerin strich sich über die Stirn, als könnte sie mit dieser Geste diese für sie so schreckliche Wahrheit ungeschehen machen.

»Das bedeutet, dass du dich wieder mal in deinem Hochmut ziemlich lächerlich gemacht hast«, fiel ihr da ihr Schwiegervater ins Wort. »Du kannst froh und dankbar sein, wenn deine Tochter dir dein Verhalten verzeiht. Und was Franziskas zukünftigen Mann angeht, könnte sie keinen besseren bekommen als Michael, der unseren Besitz so gut verwaltet, als wäre es sein eigener. Einen solchen Mann braucht unsere Franzi.« Zur Bekräftigung seiner Worte stieß er zweimal mit dem Stock auf die Holzdielen. Dann sagte er: »Komm, Matthias, ich gehe jetzt zu Franziska ins Büro.«

»Und das Kirschwässerli?«, fragte Wolfgang eilfertig.

»Das trinken wir ein anderes Mal«, antwortete der Landarzt mit verbindlichem Lächeln. »Vielleicht können wir ja schon bald auf die Verlobung von Franziska und Michael anstoßen.«

Da kam wieder Leben in Franziskas Mutter. Sie wrang die Finger und schenkte dem Landdoktor ein zurückhaltendes Lächeln. »Dürften wir Sie und Ihre Gattin zu diesem Anlass als Gast unter unserem bescheidenen Dach begrüßen, Herr Doktor?«

Die Vorstellung, der allseits beliebte Mediziner würde in ihrem Haus verkehren, gab ihr nach dem gerade erlittenen Schock wieder neuen Auftrieb und versüßte ihr den Gedanken daran, dass ihre Tochter nun doch keinen Baron heiraten würde.

»Meine Frau und ich kommen gern zu diesem Anlass«, antwortete Matthias, der die Überlegungen hinter Petras schweißnasser Stirn ahnte. »Michael kenne ich schon seit seiner Kindheit und ich habe ihn immer gemocht.« Er hob die Hand. »Also dann … Ade. Bis zur Verlobung.«

*

Franziska konnte kaum erwarten, Michael von den neuen Entwicklungen zu erzählen. Jetzt war sie sich sicher, dass ihre Liebe eine Zukunft hatte, und zwar auf dem elterlichen Hof. Ihre Mutter würde nur einige Tage brauchen, um über den Schock hinwegzukommen, aber dann würde sie bald die Vorteile erkennen, Michael statt des Barons zum Schwiegersohn zu bekommen.

Nach der Arbeit ging sie zu Michael hinüber. Der geliebte Mann kam gerade aus der Dusche. Sein dunkles Haar war noch feucht und hing ihm wirr in die Stirn, was ihm etwas Verwegenes gab.

Ohne ein Wort zu sagen schloss er sie in die Arme und küsste sie innig.

»Ich habe mich den ganzen Tag nach dir gesehnt«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann seufzte er und ließ sie los. »Und trotzdem …«, fügte er mit unglücklicher Miene hinzu.

»Michael, ich muss dir etwas erzählen«, unterbrach sie ihn rasch, nahm seine Hand und zog ihn in die Stube.

Als sie eng nebeneinander auf dem Sofa saßen, berichtete sie ihm, was sich an diesem Tag ereignet hatte.

»Hast du danach schon mit deiner Mutter gesprochen?«, erkundigte er sich mit skeptischer Miene.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat sich ins Schlafzimmer zurückgezogen und sich von der Magd Beruhigungstee bringen lassen.«

»Und dein Vater?«

Sie lachte. »Ich glaube, der ist froh, dass Mama jetzt endlich Ruhe geben muss. Ihm ging es ja sowieso mehr um den Kauf des Jagdhauses.« Voller Zärtlichkeit strich sie ihm über die frisch rasierte Wange. »Ich bin ja so glücklich, dass alles so gekommen ist. Ich kenne Mama. Jetzt wird sie in eine Heirat zwischen uns einwilligen. Ihr geht es doch so sehr um die Meinung der Leute.« Sie lächelte den geliebten Mann schelmisch an. »Ich höre sie schon bald beim Bäcker sagen, dass ich zwar einen Baron zum Ehemann hätte haben können, mich aber für dich entschieden hätte und wie froh sie darüber wäre, dass der Hof so in die besten Hände kommt.«

Da seufzte Michael. »Ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden, wenn es tatsächlich so kommen würde wie du sagst.«

Sie rückte noch näher an ihn heran, sah ihm ernst in die Augen und sagte: »Was Liebe, echte tiefe Liebe, ist, weiß ich erst, seit ich dich kenne. Ganz gleich, was noch passieren wird, ich werde immer zu dir und unserer Liebe stehen. Du bist der Mann meines Lebens. Ich würde keinen anderen haben wollen.«

Ihre Worte klangen wie Musik in Michaels Ohren und scheuchten auch noch die letzten Schatten weg, die auf seinem Herzen lagen. Er hätte weinen können vor Glück. Er wünschte sich nur eines: Immer so an Franziskas Seite sein zu können wie jetzt, in diesem Augenblick: Ihre Augen voll Sehnsucht und Liebe auf sich gerichtet, ihr Mund so nah, dass er ihren Atem spürte.

Auch Franziska verlor sich in einem Taumel der Glückseligkeit, während sich ihr Blick in Michaels verlor. Selig schloss sie die Lider und gab sich ganz den wunderschönen Bildern hin, die vor ihrem inneren Auge entstanden: Hand in Hand, Seite an Seite mit dem geliebten Mann den elterlichen Hof zu leiten, mit ihm zusammen durchs Leben zu gehen bis ans Ende aller Tage.

Sie schlang die Arme um ihn. Ihre Herzen weiteten sich bei dem Kuss, zu dem ihre Lippen nun miteinander verschmolzen. Wie herrlich war es doch, zu lieben und geliebt zu werden. Als sie die Augen irgendwann wieder öffneten, sahen sie, dass die Sonne unterging. Sie tauchte die Hügelkämme in ein warmes Rot. Stumm und feierlich standen die Tannen oberhalb des Bürle-Hofes und die Kirchenglocke von Ruhweiler läutete die Nacht und den Frieden ein.

Wenn das kein gutes Zeichen ist, dachte Franziska mit versonnenem Lächeln, den Kopf auf Michaels Brust gebettet.

Keine drei Sekunden später klingelte es. Die Liebenden schraken zusammen, sahen sich fragend an. Michael öffnete. Vor der Haustür stand die Hausmagd.

»Ich soll euch sagen, dass die Bäuerin euch in der Stube erwartet«, sagte die junge Frau mit der bedeutungsvollen Miene eines wichtigen Kuriers.

Franziska war aufgesprungen und neben Michaelan getreten.

»Wie ist Mamas Laune?«, erkundigte sie sich aufgeregt.

»Sie hat wieder gegessen und mich angewiesen, eine Flasche Glottertaler aus dem Keller zu holen. Eine besonders gute«, fügte die Magd augenzwinkernd hinzu.

*

Als die jungen Leute Hand in Hand das Bauernhaus betraten, fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss, bevor Franziska klopfte. Aus dem Wohnzimmer klang muntere Volksmusik, wie meistens, wenn Petra guter Dinge war.

Auf das geträllerte »Herein« ihrer Mutter öffnete sie die Tür.

Wolfgang und seine Frau saßen nebeneinander auf dem ausladendem Ledersofa. Sie sahen den beiden entgegen. Auf dem niedrigen Holztisch standen eine Flasche Wein, vier Gläser und etwas zum Knabbern. Im Raum hing eine Atmosphäre von Gemütlichkeit, von Frieden, die die junge Frau sofort freier atmen ließ.

»Da seid ihr ja, ihr Beiden«, sagte Wolfgang aufgeräumt.

Schwerfällig erhob er sich. Er benötigte dabei einen Schubs von seiner Frau auf den Po, um in eine aufrechte Haltung zu kommen. Petra ließ sich an der Hand ihres Mannes hoch ziehen. Dann traten die beiden auf die junge Leute zu. Die Bäuerin hatte Schminke aufgelegt, Wolfgang sich frisch parfümiert.

»Die letzten Tage waren etwas – wie soll ich sagen? – turbulent«, begann der Großbauer nun mit ernster Miene seine Rede. »Ich schlage vor, wir vergessen den ganzen Blödsinn. Bei dir, Michael, möchte ich mich für meine harschen Worte entschuldigen.« Er strich sich mit der flachen Hand über die glänzende Stirn. »Der Stress …«, fügte er mit entschuldigendem Lächeln hinzu. »Du bist der beste Verwalter, den ein Bauer sich wünschen kann. Also …« Er reichte dem jungen Verwalter seine Pranke, in die dieser gern einschlug. Die beiden Männer sahen sich zwei, drei Lidschläge lang in die Augen und nickten sich zu. Dann trat Petra hervor.

»Nun …«, begann sie deutlich zögernd, »auch ich möchte mich entschuldigen.« Dabei sah sie zuerst ihre Tochter und dann Michael an. »Meine Nerven …« Mit tragischer Geste legte sie beide Hände an die Schläfen und seufzte. »Manchmal ist einem alles zu viel. Dann sagt man oder tut Dinge, die man normalerweise gar nicht tun würde.« Sie schenkte den beiden jungen Leuten nacheinander ein reizendes Lächeln, zuerst Michael, dann Franziska, bevor sie weitersprach: »Auch ich weiß, was Liebe ist«, fuhr sie in geschwollenem Ton fort. »Wahre Liebe. Wolfgang und ich sind heute noch glücklich. Das wünsche ich auch dir, mein Kind. Und wenn dein Herz sich für unseren Michael entschieden hat, dann ist er uns als Schwiegersohn von Herzen willkommen.« Immer noch deutlich verunsichert sah sie den jungen Verwalter an. »Darf ich dich umarmen und in unserer Familie willkommen heißen?«, fragte sie ihn. »Ich gehe davon aus, dass ihr Zwei euch einig seid, sonst würdet ihr ja nicht gekommen sein, gelt?«

»Ja, wir sind uns einig, Frau Bürle«, antwortete Michael ernst. »Und ich verzeihe Ihnen gern. Denn ohne den Segen der Eltern lässt sich nicht richtig glücklich werden.«

»Wohl wahr«, ließ sich da Wolfgang mit bekräftigendem Nicken vernehmen. »Dann lasst uns ein Glas auf euere Zukunft trinken.«

Nachdem Michael seiner zukünftigen Schwiegermutter einen herzhaften Kuss auf die geschminkte Wange gedrückt hatte und Franziska ihr um den Hals gefallen war, zog Petra ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich über die Augen. Keinesfalls wollte sie den weiteren Abend mit zerlaufener Wimpertusche begehen, schon einmal gar nicht in Gegenwart eines so attraktiven Schwiegersohns.

»Ach, ich bin ganz gerührt«, flüsterte sie ergriffen, als sie sich schließlich wieder ins Sofa sinken ließ. Dann besann sie sich jedoch und zupfte ihren Mann am Jackenärmel.

»Wolfgang, da war doch noch was …«, erinnerte sie ihn in energischem Ton.

»Ja, da ist noch was«, bestätigte dieser. »Meine Frau und ich haben uns überlegt, euch anlässlich eurer Hochzeit den Hof zu überschreiben. Wir sind zwar noch ein bisschen zu jung, um alles abzugeben, aber wir wissen ja, in welch gute Hände er kommt.«

»Wolfi und ich wollen jetzt mehr verreisen«, mischte sich Petra nun ein, die sich schnell von ihrer Rührung erholt hatte. »Vielleicht die Winter auf Mallorca verbringen …« Träumerisch verdrehte sie die Kuhaugen.

»Nun ja …« Wolfgang warf ihr einen strengen Blick zu, woraufhin sie sofort verstummte und den Kopf senkte. »So weit sind wir noch nicht. Aber wir wollen deutlich kürzer treten. Wir werden die Verwalterwohnung für uns umbauen, damit ihr beide ins Bauernhaus ziehen könnt. Denn irgendwann wollt ihr ja bestimmt auch Kinder haben.« Er seufzte erleichtert auf, straffte sich und strich sich die Seidenweste glatt. »Aber zuerst lasst uns heute noch ein bisschen feiern und all die Aufregung der letzten Tage vergessen.«

Es wurde ein schöner Abend und der Beginn einer guten Freundschaft zwischen den Bauersleuten und ihrem zukünftigen Schwiegersohn. Franziska weckte ihren Großvater, der zu später Stunde sogar noch mit seiner Schwiegertochter ein Tänzchen wagte, während die anderen Drei dazu klatschten. Danach gingen Franziskas Eltern Arm in Arm zu ihrem Schlafzimmer und Petra flüsterte: »Weißt du noch, Wolfi, als wir so frisch verliebt waren?«

Die beiden jungen Leute verbrachten die bisher schönste Nacht auf dem Bürle-Hof, ohne Heimlichkeiten, mit Frieden im Herzen und voller Freude auf eine gemeinsame Zukunft.

– E?N?D?E?–

Der Landdoktor Staffel 4 – Arztroman

Подняться наверх