Читать книгу Der Landdoktor Staffel 4 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 9
Оглавление»Ihr Neffe«, sagte die Hausmagd mit unterdrückter Stimme zu Petra Bürle, als sie ihr das Telefon reichte.
»Andreas?« Petras volles Gesicht begann zu strahlen. Sie nahm den Hörer und rief begeistert und viel zu laut in das Mikrofon: »Andreas! Das ist ja eine nette Überraschung. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesprochen? Wie geht es euch denn?« Und ohne ihren Neffen zu Wort kommen zu lassen, fuhr sie fort: »Stell dir vor, hier hat sich einiges getan. Franziska heiratet. Einen ganz tollen Mann. Wolfgang und ich überschreiben den beiden bald den Hof. Wir wollen zukünftig viel reisen ...« Atemlos plauderte sie weiter.
Petra Bürle liebte Andreas Mayer, das einzige Kind ihrer Schwester, wie einen eigenen Sohn. Ihr Kontakt zu ihm hatte sich nach dem frühen Tod seiner Mutter verstärkt. Ihre Sympathie für ihn war tief und kannte ebenso wenig Grenzen, wie ihr Rededrang,
»Jetzt sag doch auch du mal was«, forderte sie Andreas schließlich atemlos auf. »Wie geht es dir und Anna in meiner Heimat? Es ist richtig schön, mal wieder den bayerischen Tonfall zu hören. Ich habe dir schon so oft auf den Anrufbeantworter gesprochen, aber du hast nie zurückgerufen.«
Andreas lächelte in sich hinein.
Seine Tante Petra ... Er mochte sie, was nicht viele taten, aber er würde ihr niemals vergessen, dass sie sich nach dem Tod seiner geliebten Mutter stets um ihn gekümmert hatte.
»Entschuldige, dass ich mich so lange nicht mehr bei euch gemeldet habe, aber der Stress, du weißt schon.« Er seufzte und fuhr dann rasch fort, ehe seine Tante wieder lossprudeln konnte: »Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich kurzfristig entschlossen habe, mit Anna für ein paar Tage Urlaub zu machen. Und da dachte ich an euer Ruhweiler Tal.«
»Das ist ja eine tolle Idee«, legte Petra auch gleich wieder begeistert los. »Dann sehen wir uns endlich mal wieder. Ihr könnt natürlich bei uns auf dem Anwesen wohnen.«
Andreas musste lächeln. Anwesen ... Typisch Tante Petra. Sie gab gern an mit dem, was sie besaß.
»Danke für deinen Vorschlag, aber ich würde lieber in ein Hotel gehen. Natürlich werden wir uns oft sehen, falls ihr Zeit haben solltest.«
»Franziska fährt morgen mit ihrem Verlobten in Urlaub, aber Wolfi und ich sind zu Hause. Du kannst jederzeit kommen. Wir freuen uns. Und was eure Unterkunft im Tal angeht, würde ich dir das Traditionshotel Wiesler empfehlen. Ein Mann von deinem Format und gesellschaftlichen Stand sollte schon im ersten Haus am Platz absteigen. Das Wiesler bietet auch für Kinder ein wunderbares Programm an. Seit Kurzem haben sie sogar eine junge Frau eingestellt, die den Kinderclub leitet, damit die Eltern im Urlaub auch mal so richtig Zeit für sich haben. Und das Essen ist hervorragend. Echte Schwarzwälder Küche wie natürlich auch Haute Cuisine, wenn du weißt, was ich meine.«
Da musste er laut lachen.
Natürlich wusste er das. Er war Geschäftsmann und zwar einer derjenigen, der die besagte Haute Cuisine viel zu oft essen musste, obwohl er sie wirklich nicht schätzte. Als Münchner liebte er gut gefüllte Teller und deftige Kost, statt nur ein Blumenkohlröschen und ein Häppchen Rinderfilet, garniert mit einem Teelöffel Soße.
»Danke für den Tipp«, erwiderte er. »Das klingt gut. Ich werde gleich dort anrufen und ein Zimmer buchen.«
Zu seiner Überraschung war es zwei, drei Lidschläge lang still in der Leitung. Dann fragte seine Tante hörbar besorgt: »Hast du Probleme, Junge?«
Er räusperte sich und bemühte sich um einen leichten Tonfall: »Keine Angst, ich habe alles im Griff. Nur dass momentan in der Firma alles drunter und drüber geht. Vor drei Tagen musste ich für eine Produktionsreihe von Heudreschern eine Rückrufaktion starten. Wir haben im Nachhinein einen Fehler im Bremssystem entdeckt.« Er seufzte in Erinnerung an diese Katastrophe. »Leider habe ich diesen Fehler nicht vor der Auslieferung der Maschinen bemerkt. Wahrscheinlich bin ich zurzeit etwas überlastet.«
»Das habe ich dir schon vor Monaten gesagt«, erwiderte seine Tante da mit ernster Stimme. »Du solltest dich endlich nach einem Geschäftsführer umsehen, der sich um die Betriebsführung kümmert, dann könntest du dich wieder mehr der Produktion widmen, als promovierter Maschineningenieur.«
»Du kennst mich. Ich delegiere nur ungern.«
»Glaub mir, mein Junge, deine Gesundheit wird diesem Stress nicht mehr lange standhalten, auch wenn du erst knapp über dreißig bist. Du führst ein Unternehmen mit über dreihundert Mitarbeitern. Du hast dich um mehrere Immobilien zu kümmern und du bist seit drei Jahren ...« Sie verstummte, was selten vorkam. Er wusste warum. Petra Bürle hatte ein weiches Herz und es gab ein Thema in seinem Leben, das sie stets zu Tränen rührte.
Schließlich sagte sie: »Wolfgang und ich freuen uns, wenn du zu uns ins Tal kommst. Franzi wird total enttäuscht sein, wenn sie dich nicht sehen kann. Mit ihrem Verlobten würdest du dich bestimmt bestens verstehen. Und wie gesagt: Nimm dir ein paar Tage Auszeit, um dich zu erholen. Hier werden sich dir vielleicht ganz neue Perspektiven auftun. Man weiß ja nie. Das Leben geht manchmal seltsame Wege. Glaub mir.«
Damit sollte Petra Bürle recht behalten.
*
Andreas genoss die Fahrt durch den Schwarzwald. Durch das geöffnete Schiebedach drang die frische Luft in den Wagen. Wie in seinen geliebten Bergen duftete sie auch nach Harz und Moos. Anders als in Österreich ragten hier, hinter den bewaldeten Hügeln, keine grauen Bergspitzen in den Himmel. Wie Scherenschnitte malten sich die schwarzen Tannenspitzen im Gegenlicht der Sonne gegen das hellblaue Firmament ab. Die Schwarzwaldhügel stellten sich hintereinander auf, um in der Ferne mit dem lichten Horizont zu verschmelzen.
Auf einem Rastplatz hielt er an. Von hier aus hatte er einen weiten Blick über die Landschaft. Saftige Wiesen im Tal, in denen friedlich, wie unberührt, einzelne Höfe mit dem für den Schwarzwald tief herunter gezogenen Schindeldächern lagen. Die Luft war von Wärme durchtränkt und vom Duft des Sommers erfüllt.
Ja, er freute sich auf die bevorstehenden Tage in Ruhweiler.
»Papa?«
Annas Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen.
Er drehte sich um und entdeckte das liebliche Gesichtchen seiner Tochter hinter der Autoscheibe. Es sah noch ganz verschlafen aus.
»Sie wir schon da?«, fragte Anna.
Er öffnete die hintere Tür, und die Kleine kletterte heraus.
»Nur noch ein paar Minuten. Dort unten liegt schon Ruhweiler. Schau mal.« Er führte sie an die Balustrade, die den Rastplatz von dem steil abfallenden Gelände abgrenzte. Er zeigte auf den gegenüberliegenden Hügel. »Ich glaube, dort hinten liegt unser Hotel. Das kann es eigentlich nur sein. Es ist das größte im Tal.«
»Sind da auch andere Kinder in meinem Alter?«, erkundigte sich Anna, die von diesem Urlaub erst einmal gar nicht so begeistert gewesen war. Sie hatte bei ihren Freundinnen und der Haushälterin zu Hause in München bleiben wollen. Doch als sie erfahren hatte, dass die anderen auch alle in Ferien fahren würden, willigte sie schließlich ein.
»Bestimmt. Wir haben doch Sommerferien. Außerdem hat das Hotel ...«
»Ich weiß.« Anna lächelte zu ihm hoch. »Einen Kinderclub. Hoffentlich nicht nur für Kleinkindern«, setzte mit betont genervter Miene hinzu, wobei sie ihre großen dunklen Augen verdrehte und das Näschen in die Luft hob.
»Einen Kinderclub und einen Miniclub für die Babys.« Er zwinkerte ihr zu. »Du kannst entscheiden, in welchen du eintreten möchtest.«
»In den Miniclub natürlich«, konterte seine Tochter und gab ihm einen spielerischen Stups in die Seite.
»Okay, nachdem wir das geklärt haben, fahren wir weiter. Ab in den Wagen«, forderte er sie gut gelaunt auf. Dann bemerkte er, dass sie ihr Gesicht verzog. »Was ist?«, fragte er sofort alarmiert.
»Der blöde Kopf, aber es geht schon wieder. So ist das nun mal bei den Frauen«, fügte sie mit so komischer Miene hinzu, dass er laut über ihren Scherz lachen musste.
Seine Tochter ... Er liebte sie. Sie war zwar erst acht und sah auch ihrem Alter entsprechend aus, aber manchmal besaß sie den Humor eines Erwachsenen.
*
Schon bald sah Andreas den Hotelkomplex Wiesler auf der Anhöhe liegen. Das große alte Schwarzwaldhaus strahlte Wärme, Charme und eine majestätische Zeitlosigkeit aus. Um das prächtige Haupthaus herum scharten sich noch kleinere Häuser mit tief gezogenen Schindeldächern und winzigen Fenstern. In einem befand sich, laut Prospekt, die Wellnessabteilung, im anderen waren die Sporträume wie auch der Kinderclub untergebracht, im dritten die Wirtschafts- und Personalräume.
Er kannte das Hotel von früher. Wenn er als Student seine Tante besucht hatte, war er stets von ihr hierhin zum Essen ausgeführt worden. Tante Petra liebte es »gehobener«, wie sie sich ausdrückte. Sie ging gern mit einem großen Hund spazieren, wie man in Bayern sagte.
Nun hatten sie das mit bunten Blumen bepflanzte Rondell erreicht. Er stieg mit Anna aus, die sich umsah und mit kritischem Blick meinte: »Aber hier sind ja keine Kinder in meinem Alter.«
»Einen kleinen Moment Geduld, junge Dame«, erwiderte er streng. »Lass uns erst einmal ankommen, auspacken und dann schauen wir uns alles in Ruhe an. Du wirst dich schon nicht langweilen. Immerhin gibt es hier ja auch noch Tante Petra, die sich riesig auf dich freut.«
»Darf ich auch reiten?«, erkundigte sich seine Tochter mit spitzbübischem Blick.
Das Reiten hatte sie in letzter Zeit wegen ihrer Kopfschmerzen vernachlässigt.
»Du kannst alles machen, was du möchtest«, versprach er ihr.
»Und was machst du dann in den Stunden, in denen ich keine Zeit für dich habe?«, lautete ihre nächste Frage.
»Was bleibt mir dann anderes übrig als wandern zu gehen, damit mir nicht langweilig wird«, antwortete er belustigt und freute sich schon darauf, endlich einmal wieder seinem Lieblingshobby nachgehen zu können.
*
»Pass gut auf dich auf«, sagte Ursel, die Rezeptionsdame, zu Sophie Lindemann am nächsten Morgen, einem Sonntag, als diese abmarschbereit vor ihr stand. Sie schmunzelte der jungen Frau, die mit zünftiger Kniebundhose, Stiefeln und mit einem Rucksack voller Proviant perfekt ausgestattet war, zu: »Nicht, dass du in die Höllentalschlucht fällst.«
Sophie lachte ein Lachen, das zu ihrem Typ passte. Es klang hell und melodisch und legte ein Strahlen auf ihr Gesicht, das mit der Sonne an diesem frühen Morgen wetteiferte.
»Keine Sorge«, antwortete sie, »Ich werde mich genau nach der Wanderkarte richten. Dann wird mir schon nichts passieren. Einen schönen Tag wünsche ich dir.«
»Du bist gemein«, antwortete die junge Frau hinter der Rezeption. »Bei dem herrlichen Wetter würde ich dich lieber begleiten, als hier arbeiten zu müssen.« Sie zögerte und fragte: »Sag mal, wer leitet heute eigentlich den Kinderclub?«
»Die Frau vom Chef, wie vergangenen Sonntag. Sie frühstückt heute mit den Kids, damit deren Eltern mal länger schlafen können«, rief Sophie ihrer Kollegin zu, bevor sie beschwingten Schrittes die Hotellobby verließ.
Frohgemut fuhr sie zu dem Parkplatz außerhalb von Ruhweiler, der den Einstieg zu dem riesigen Wandergebiet bot. Ein einziger Wagen stand dort, eine schwarze Limousine. Sophie parkte direkt neben ihm.
Sie war also nicht die einzige, die es an diesem Sonntag zu dieser frühen Stunde in die Wälder zog.
Voller Elan schulterte sie den Rucksack. Beim Anblick der bewaldeten Hügel weitete sich ihr Herz. Einen dieser Hügelkämme wollte sie heute erwandern, dort oben stehen und die Welt aus der Vogelperspektive betrachten.
»Auf geht’s«, sagte sie zu sich selbst und marschierte mit frischer Kraft los.
Der ausgeschriebene Weg führte zunächst durch noch taunasse Wiesen leicht bergauf. Auf ihnen grasten friedlich braunweiße Kühe. Mit ihren großen, sanft blickenden Augen sahen sie sie neugierig an. Bestimmt fragten sie sich, was sie hier so allein machte.
Schon bald schien die Sonne so warm auf sie herunter, dass sie froh war, dem Weg in den Wald folgen zu können, wo die Luft noch frisch und ein wenig feucht war. Zwischen den schwarzen Tannen blieb sie stehen und atmete den Geruch von feuchter Erde und würzigem Harz tief in sich ein. Sie liebte den Duft südländischer Kräuter oder den salzigen der Nordsee, aber dieser hier in dem Tannenwald wirkte auf sie wie ein Lebenselixier. Mit frischer Energie stieg sie flotten Schrittes weiter. Als sie aus dem Wald in den Sonnenschein heraustrat, legte sie die Hand über die Augen und betrachtete das Panorama, das sich ihr aus dieser Höhe bot.
Tief unter ihr lag das Ruhweiler Tal mit seinen schmucken Bauernhäusern. Die blühenden Wiesen zogen sich weit herauf bis zum Wald, den sie gerade durchquert hatte und über dem sich der azurblaue Himmel ausbreitete.
Sophie atmete mehrmals tief durch, streckte die Arme hoch, reckte sich, höher und höher, als wollte sie die Sonne zu sich herunter holen.
Tat das gut!
Dann wanderte sie weiter über den Hügelkamm, begleitet von Büschen und Tannenspitzen am Wegesrand und in der Luft von ein paar Schwalben, die auf Futtersuche waren. Bald jedoch wurden ihre Beine müde. Sie bemerkte, wie wenig Kondition sie zurzeit besaß. Wie auch, wenn sie das vergangene Semester lang von morgens bis oft spätabends für ihre Seminararbeit am Schreibtisch gesessen hatte. Zum Sport war sie kaum gekommen. Das musste sich in diesen Semesterferien ändern. Nicht nur an ihren freien Sonntagen, sondern auch während der Woche. Sie hatte ein Programm für die Kinder ausgearbeitet, das viel Bewegung in frischer Luft beinhaltete. Die tat den Kleinen gut und auch ihr.
Schnaufend blieb sie stehen. Erschöpft und schwitzend ließ sie sich auf einem der riesigen Findlinge nieder, die die Sonne aufgewärmt hatte. Sie befreite sich von ihrem Rucksack und schöpfte mit beiden Händen das kristallklare kühle Wasser aus dem kleinen Rinnsaal, das ein Meter unter ihr aus der Erde trat und ins Tal floss. Sein Gurgeln und Kluckern unterbrach die heilige Stille hier oben auf dem Hügelkamm. Es mischte sich in das leise Säuseln des Morgenwindes, der ihre erhitzte Stirn kühlend umschmeichelte.
Das Wasser schmeckte köstlich, besser, als der teuerste Champagner. Der Platz gefiel ihr, die Aussicht war atemberaubend. Über ihr der weite Himmel, gegenüber von ihr, auf der anderen Seite des Ruhweiler Tales, sanfte grüne Hänge, an die sich der schwarze Wald anschloss und unter ihr das idyllische Dorf mit seinen Schwarzwaldhäusern. Sie kam sich vor wie der einzige Mensch auf Erden.
*
Andreas hatte schon als Junge die Bergeinsamkeit geliebt. Mit seinem Vater hatte er damals mehrtägige Wanderungen durch die Alpen unternommen. Er genoss die noch frische Kühle des Morgens, den würzigen Duft der Gräser, den von feuchter Erde und Moos und er liebte den Anblick der Vögel, wie sie am hohen Himmel ihre Schwingen weit ausbreiteten und dahinsegelten. Frei und schwerelos, ohne etwas von den Sorgen der Menschen auf Erden zu wissen.
Im gleichmäßigen Tempo setzte er einen Schritt vor den anderen, dennoch musste er immer wieder stehen bleiben, weil sein Herzschlag aus dem Takt kam. Die feinen Stiche, die er hin und wieder in der linken Brusthälfte spürte, beunruhigten ihn und er fragte sich, ob er sich mit dieser Wanderung tatsächlich etwas Gutes tat.
Vielleicht nicht meinem Körper, dachte er dann, aber meiner Seele. Denn mit jedem Schritt wurde sein Kopf klarer.
Ich werde in der Firma kürzer treten, nahm er sich vor. Ich werde mir für Anna mehr Zeit nehmen. Es ist nicht gut für ein Kind, wenn es die meisten Stunden am Tag mit einer Haushälterin, der Kinderfrau oder in Obhut von guten Freunden aufwächst und ihren Vater nur abends und am Wochenende sieht. Und selbst dann nicht immer, korrigierte er sich mit schlechtem Gewissen.
An diesem Sonntagmorgen zum Beispiel hatte er Anna dazu überredet, im Kinderclub zu frühstücken, um früh aufbrechen und inmitten der Natur allein sein zu können, bevor bei diesem schönen Wetter der Ansturm der anderen Ausflügler ihn stören würde.
Andreas seufzte leise auf, nicht nur, weil sich der Pfad jetzt steiler bergauf wand, sondern weil er niemals ohne schlechtes Gewissen gegenüber Anna war. Und das belastete ihn.
Die Idee von Tante Petra ist gar nicht so schlecht, sagte er sich. Ich sollte mich in naher Zukunft tatsächlich nach einem fähigen Geschäftsführer umsehen. Wieder seufzte er. Eigentlich war ja auch alles anders geplant gewesen. Maya hatte die Geschäftsführung inne, und er war für die Produktion zuständig. Dann kam plötzlich alles anders ... Nun gut, das konnte er nun nicht mehr ändern. Er musste das Beste aus allem machen.
*
Wie wäre Sophies Leben verlaufen, wenn sie an diesem Sonntag, statt zum Wandern, zum Schwimmen gegangen wäre? Wie wäre das Leben von Andreas Mayer und seiner Tochter weiter verlaufen, wenn Andreas den offiziellen Wanderweg zum Hexenhäusle, einer bekannten Restauration in diesem riesigen Ausflugsgebiet, genommen hätte, statt den Weg, der durch den Wald führte, einzuschlagen? Wären sich diese beiden Menschen auf jeden Fall über den Weg gelaufen? Später einmal? Oder gar nicht?
Sophie, die sich allein an ihrem Plätzchen wähnte, entdeckte plötzlich talwärts einen dunklen Haarschopf. Dann tauchte der gesamte Kopf auf und schließlich der dazugehörende Körper. Der Mann trug wie sie Wanderkleidung und Rucksack. Da er den Blick auf den Boden gerichtet hielt, hatte er sie noch nicht entdeckt, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genauer zu betrachten.
Welch ein toller Typ. Zumindest, was sein Aussehen betraf. Groß, muskulös gebaut, braun gebrannt, geschmeidige, sportliche Bewegungen. Sein Gesicht konnte sie noch nicht erkennen.
Jetzt blieb er stehen, stemmte die Hände in die Mitte, richtete sich in voller Größe auf und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Nun konnte sie es betrachten. Es war markant geschnittenen mit dunklem Dreitagebart, aus dem sie jetzt zwei Augen von der Farbe eines tiefen Blaus überrascht ansahen, zwei, drei Atemlängen lang. Dann veränderte sich dieser Blick. Er nahm einen distanzierten, ja ausdruckslosen Ausdruck an.
Sophie war es gewohnt, von Männern angeschaut zu werden, jedoch anders. Begehrlich. Dieser Mann sah sie nach Überwindung seiner Überraschung, hier nicht allein zu sein, so gleichgültig an, als wäre er an Frauen völlig desinteressiert. Entweder war sie nicht sein Typ oder er war verheiratet.
All diese Gedanken jagten ihr binnen weniger Sekunden durch den Kopf. So lange, wie sich ihr Blick mit dem des Wanderers kreuzte. Dann wurde ihr die Situation, die eine ungewöhnliche Intensität in sich barg, unangenehm. Sie musste das Schweigen brechen. Oder sollte sie einfach stumm hier sitzen bleiben und abwarten, wie sich der Fremde verhalten würde? Noch stand er da, unterhalb von ihr, und blickte zu ihr hinauf. Nein, sie wollte nicht unhöflich erscheinen. Hätte sie statt ihn eine Frau hier oben in der Einsamkeit getroffen, würde sie ja jetzt auch etwas sagen. Ein Hallo oder Guten Tag oder irgendetwas.
»Hallo«, kam der Mann ihr nun zuvor. Er machte ein paar Schritte auf sie zu.
»Hallo«, erwiderte sie und lächelte ihn an. Seine dunkle Stimme passt zu seiner Gestalt, dachte sie.
Als er den Findling, auf dem sie saß, fast erreicht hatte, machte er Halt und schwieg wieder.
Sie spürte seine Unschlüssigkeit und fuhr fort: »Ein schönes Plätzchen hier, gelt?«
»Störe ich?«, erkundigte er sich mit ernstem Blick. »Ich könnte gut verstehen, wenn man hier oben allein sein will.«
»Natürlich nicht«, antwortete sie freundlich. »Die Natur ist doch für alle da.«
Er zögerte, scharrte mit dem Wanderstiefel in der Erde, dann hob er entschlossen das Gesicht und sagte: »Ich muss weiter. Noch einen schönen Tag.«
Sie öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, doch da hatte er sich auch schon umgedreht und stapfte mit festen Schritten auf dem Kamm weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Merkwürdig. Sie schüttelte den Kopf.
Was war das denn gerade gewesen?, fragte sie sich. Niemals zuvor hatte sich jemand ihr gegenüber derart verhalten. Nicht gerade unfreundlich, aber fest verschlossen wie eine Auster. So, als hätte er ein schlechtes Gewissen gehabt, ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln. Aber auch niemals zuvor hatte sie sich von einem Mann so sehr in den Bann gezogen gefühlt. War es diese ungemein männliche Ausstrahlung gewesen? Diese unverschämt dunkelblauen Augen mit dem Kranz schwarzer Wimpern, die ihnen eine geheimnisvolle Tiefe gaben? Oder nur diese seltene Situation, hier oben in der stillen Natur jemandem zu begegnen, der an diesem Sonntag anscheinend das gleiche Interesse, das gleiche Bedürfnis hatte wie sie? Allein zu sein und Ruhe zu haben. So etwas verband die Menschen miteinander, auch Fremde.
Eine Weile noch blieb sie sitzen. Dann ging sie tief in Gedanken versunken weiter. Als sie sich auf die Bank am Waldrand setzte, gestand sie sich ein, dass diese flüchtige Begegnung einen seltsam intensiven Nachhall in ihr bewirkt hatte. Sie wusste, dass sie diesen Mann, auch wenn sie ihn nie wieder sah, nicht so schnell vergessen würde.
Mit diesen Gedanken und seltsamen Empfindungen blieb sie noch lange sitzen. Schließlich beschloss sie, ihre Wanderung hier zu beenden und umzukehren. Eigentlich war ihr Ziel das bekannte Hexenhäusle gewesen. Doch plötzlich war ihr nicht mehr danach zumute. Die Vorstellung, sich dort unter die vielen anderen Ausflügler mischen zu müssen, missfiel ihr. Sie wollte sich die Zeit nehmen, noch ein wenig weiter zu träumen, das »Was-wäre-wenn» sich auszumalen. Wenn dieser Fremde sich neben ihr auf dem Findling niedergelassen hätte ...
Als sie schließlich in dem kleinen Zimmer, das sie während ihrer Zeit in Ruhweiler im Personaltrakt des Wieslers bewohnte, auf dem Balkon saß und zusah, wie die Sonne ihren Weg zum Horizont beschritt, stand das Gesicht des attraktiven Wanderers immer noch vor ihrem inneren Auge. Etwas an ihm hatte eine Saite in ihr berührt, von der sie keine Ahnung gehabt hatte. Sekundenlang sah sie sich jetzt sogar mit ihm Hand in Hand durch die blühenden und duftenden Wiesen gehen. Verliebt und unbeschwert. War sie verrückt? Sie hatte ihn nur wenige Sekunden lang gesehen, kannte ihn doch überhaupt nicht, aber sie war für die Liebe bereit. Ja, sie sehnte sich nach Liebe. So konnte nur die Erklärung für die seltsamen Regungen in ihr lauten. Sie sehnte sich nach der wahren tiefen Liebe, die ein Leben lang hielt. Sie hatte die Nase voll von oberflächlichen Bekanntschaften, wie sie sie auf der Uni machte. Sie wünschte sich endlich einen Hafen, in dem sie vor Anker gehen konnte. Und einen sturmerprobten Kapitän, der ihr den Weg dorthin zeigen würde.
*
Am nächsten Morgen machte sich Sophie voller Freude auf den Weg zum Kinderclub. Die Arbeit mit den munteren Kleinen gefiel ihr. Nicht umsonst studierte sie Grundschulpädagogik. Dieser Ferienjob half ihr zudem, praktische Erfahrungen zu sammeln. Für jeden Tag arbeitete sie ein Spiel und Unterhaltungsprogramm für die Kleinen aus, das möglichst allen Interessen entgegenkam.
Heute stand Schwimmen auf dem Tagesplan. Eine allein erziehende Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn, einem pfiffigen Kerlchen, hier Urlaub machte, hatte sich bereit erklärt, sie zu begleiten.
Mit der Badetasche in der einen Hand, den Schlüssel zum Aufschließen der Räumlichkeiten des Clubs in der anderen, betrat sie das Gebäude, um dann gleich darauf erstaunt inne zu halten. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können.
Vor der Tür des Kinderclubs stand ein dunkelhaariger Mann mit einem ebenso dunkelhaarigen Mädchen. Der Mann sah sich in dem Moment um, in dem sie abrupt stehen blieb. Er mochte ihre Schritte gehört haben.
»Ist das die Frau, die den Kinderclub leitet?«, hörte sie das Mädchen an seiner Seite fragen.
Doch sein Vater antwortete nicht. Nicht weniger überrascht als sie schaute er ihr entgegen.
Sie schluckte.
»Hallo«, begrüßte sie die beiden dann mit einem Lächeln und schneller schlagendem Herzen, während sie weiter auf sie zuging. »Wir kennen uns doch.«
»Ja, wir kennen uns«, antwortete ihr die tiefe Stimme, die angenehm in ihr widerhallte.
Allein diese Stimme schon, ging ihr fasziniert durch den Sinn.
Jetzt standen sie sich gegenüber. Da sie den Blick aus diesen ungewöhnlichen Männeraugen kaum mehr aushalten konnte, wandte sie sich an die Kleine, die sie neugierig betrachtete.
Dunkle Locken umrahmten das herzförmige Gesicht, große, ebenso dunkle Augen beherrschten es. Eine kleine Schönheit. Auf Anhieb spürte sie eine Anziehung zu dem Mädchen, die sie sich verstandesmäßig nicht erklären konnte.
Aber auch die Kleine schien ein deutliches Interesse an ihr zu haben.
»Kennst du meinen Papa?«, fragte sie.
Sie lächelte. »Na ja, kennen ist zu viel gesagt. Wir haben uns gestern kurz beim Wandern gesehen.«
»Hm.« Das Mädchen schien zu überlegen, warf ihrem Vater einen prüfenden Blick zu und wandte sich dann wieder an sie. »Darum war gestern eine andere Frau im Club. Und heute?«
»Heute werde ich da sein. Bis Samstag einschließlich.«
»Was machen wir heute?« Die dunklen Augen blitzen sie lebhaft an.
»Wir gehen schwimmen, machen ein Picknick am See und Spiele. Kannst du schwimmen?«
»Ja klar. Und du?« Ein pfiffiger Blick traf sie, der sie hellauf lachen ließ.
»Ich auch.« Sie reichte dem Kind die Hand. »Ich bin Sophie. Und wie heißt du?«
»Anna. Anna Mayer. Das ist mein Vater, Andreas Mayer«, übernahm Anna jetzt die Regie, da ihr Vater augenscheinlich die Sprache verloren hatte.
Sophie bemerkte nur aus dem Augenwinkel, dass dessen Blick unverwandt auf ihr lag und das machte sie ein wenig nervös. Um sich aus ihrer Befangenheit zu lösen, reichte sie nun auch Andreas Mayer die Hand. »Guten Morgen, Herr Mayer. Das ist ja ein Zufall, dass Sie hier im Hotel wohnen.«
»Solche Zufälle soll es geben«, bekam sie zur Antwort, was in ihren Ohren ziemlich gleichgültig klang, wenn nicht sogar ein wenig ablehnend.
Welch ein komische Kauz, obwohl er gar nicht so aussah. Ein Mann wie er erregte bestimmt die Aufmerksamkeit jeder Frau, wenn er durch die Stadt ging. Und dabei wirkte er so, als wäre er im Umgang mit diesen völlig ungeübt.
Er ist verheiratet, meldete sich da eine Stimme in ihr. Deshalb flirtet er nicht mit dir und verhält sich so zurückhaltend.
Diese Stimme ernüchterte sie jäh. Natürlich, rief sie sich rasch ins Bewusstsein, straffte sich und setzte ein verbindliches Lächeln auf.
»Wenn Ihre Tochter mit uns schwimmen gehen möchte, braucht sie ...«
»Schwimmsachen«, unterbrach er sie. Dieses Mal sahen seine Augen sie mit belustigtem Ausdruck an. Er wandte sich an Anna: »Du weißt, wo sie im Zimmer sind. Holst du sie schnell?«
*
Sophie sah dem Mädchen nach, wie es zum Ausgang flitzte. Das Schweigen seines Vaters in ihrem Rücken empfand sie als nervenzerreißend. Als Anna verschwunden war, drehte sie sich entschlossen zu ihm um.
Warum stand er überhaupt noch hier? Warum hatte er seine Tochter nicht begleitet, wenn er mit ihr keine Unterhaltung wünschte?
»Und? Wie gefällt es Ihnen hier?«, erkundigte sie sich in glattem Plauderton.
Da spielte ein Lächeln um seine Lippen, sehr sensibel geformte Lippen, die das kantige Kinn Lügen straften.
»Sehr gut«, erwiderte er zweisilbig.
Meine Güte, dachte sie genervt. Welch ein Stockfisch.
»Und die Gegend hier?«, fuhr sie dessen ungeachtet fort, allerdings schon hörbar ungehaltener.
»Genauso gut. Ich kenne sie aus meiner Jugend.«
Nanu? So viel Mitteilsamkeit?
»Ja?«, brachte sie nun ihrerseits nur einsilbig über die Lippen.
»Meine Tante lebt hier«, erzählte er ihr.
Seine Auskunftsfreudigkeit besänftigte sie wieder.
»Ich war begeistert, als ich vor einigen Tagen hier ankam. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich einen so tollen Semesterferienjob bekommen würde«, leistete sie nun ihren Beitrag zur Unterhaltung.
Leider sollte diese nun ein schnelles Ende haben. Die Tür öffnete sich und drei Kinder stürzten herein.
»Schwimmen, schwimmen, schwimmen!«, riefen sie durcheinander und überfielen Sophie mit Fragen.
Lachend hob sie beide Hände. »Moment, Moment, alles der Reihe nach. Zuerst schließe ich den Club auf. Dann könnt ihr hineingehen. Ihr wisst ja, dass wir warten, bis alle da sind und uns zuerst einmal begrüßen.«
»Ich sehe mal nach meiner Tochter«, hörte sie Andreas Mayer sagen. »Brauchen Sie meine Handynummer, falls tagsüber etwas mit Anna sein sollte?«
Erstaunt sah sie ihn an.
Er dachte mit. Das taten nur wenige Eltern. Welch ein verantwortungsbewusster Vater.
»Ja, das wäre gut«, erwiderte sie rasch.
»Hier.« Aus der Tasche seiner Kapuzenjacke zauberte er eine Visitenkarte hervor und drückte sie ihr in die Hand.
»Danke.« Sie sah zu ihm hoch.
Zwei, drei Lidschläge lang berührten sich ihre Blicke. Dann wandte sich Annas Vater ab.
»Bis heute Nachmittag«, rief er ihr über die Schulter zu. »Ich hole Anna gegen vier Uhr ab.«
Sie nickte nur noch, was er nicht mehr sah, denn da war er schon längst aus der Tür.
*
Sophie erkannte auf den ersten Blick, wie gut sich die achtjährige Anna in die Gruppe einfügte. Sie schien es gewöhnt zu sein, mit anderen Kindern, auch ihr fremden Kindern, zu spielen. Was ein weiterer Mosaikstein dafür war, sich ein Bild über ihren Vater sowie auch über ihre Familienverhältnisse zu machen.
Die Visitenkarte hatte sie darüber aufgeklärt, dass Andreas Mayer ein Unternehmen besaß, das Landwirtschaftsmaschinen herstellte. Obwohl er gestern in der Wanderkleidung wie auch heute Morgen in der Sporthose nicht so gewirkt hatte, sah sie ihn jetzt vor sich als viel beschäftigten Geschäftsmann, der im Alltag in Anzügen herumlief und auf Reisen war. Wahrscheinlich war Annas Mutter ebenfalls berufstätig und die Kleine hatte eine Kinderfrau. Eine Haushälterin würde in diesem Geschäftshaushalt wahrscheinlich ebenfalls nicht fehlen. Und selbst im Urlaub nahm sich Herr Mayer nicht allzu viel Zeit für sein Kind. Seine Frau weilte wahrscheinlich auf einer Schönheitsfarm.
Armes Mädchen, ging Sophie durch den Sinn. Sie selbst war dagegen in ihrer Familie sehr behütet aufgewachsen.
Mit einem liebevollen Lächeln sah sie Anna beim Toben mit den anderen Schwimmratten im See zu. In ihrem Verhalten war die Kleine ihrem Alter voraus. Sie war selbstständig und vernünftig, was kein Fehler war. Hier in der lustigen Gruppe jedoch kam das Kind in ihr zum Vorschein.
Eine Weile betrachtete sie ihre Schützlinge, dann stellte sie überrascht fest, dass Anna sich absonderte. Sie paddelte am Uferrand vor sich hin, verlor kurz darauf auch dazu die Lust und blieb einfach sitzen, mit gesenktem Kopf.
Sophie stand auf und gesellte sich zu ihr.
»Keine Lust mehr auf Wasserball?«, fragte sie.
»Ich habe wieder Kopfschmerzen«, sagte Anna leise.
»Kopfschmerzen?«
Unmöglich konnten diese durch den Gummiball hervorgerufen worden sein, der natürlich bei diesem ausgelassenen Spiel einige Kinder am Kopf traf. Er war weich und fluffig. Von der Sonne konnten die Schmerzen auch kaum herrühren. Das Seeufer lag im Schatten weit ausladender Baumkronen.
»Mach dir keine Gedanken«, meinte Anna in tröstendem Ton und mit treuherzigem Blick. »Die habe ich oft.«
Sie schluckte.
»Dann müsstest du mal zum Arzt gehen«, erwiderte sie ernst.
»Das machen wir auch. Papa wollte warten, bis wir hier sind. Hier gibt es einen Doktor, den Papa mag. Er kennt ihn von früher.«
Dr. Brunner, dachte Sophie. Auch sie hatte bereits von dem Landdoktor gehört. Die Frau des Hoteliers hatte ihr von ihm erzählt.
»Das ist eine gute Idee«, sagte sie zu Anna. »Soll ich deinen Vater anrufen? Heute wäre doch ein guter Tag, um nach dem Mittagessen den Arzt aufzusuchen.«
»Was hast du denn heute Nachmittag vor?«, erkundigte sich Anna neugierig.
»Wir wollen auf dem Hotelgelände ein Wigwam bauen, in dem ihr dann irgendwann in den kommenden Nächten übernachten könnt. Weißt du, was ein ...«
»Klar, ein Indianerzelt.« Anna lachte. Dann wurde sie ernst. Sichtlich überlegte sie. Dabei spitzte sie den süßen Schmollmund und schaute über das Wasser hinweg.
»Bauen ist etwas für Jungens«, meinte sie schließlich. »Ich melde mich dann dafür, mit den Mädchen den Wigwam einzurichten.«
»Okay, super«, stimmte sie ihr zu, ohne zu erwähnen, dass sie die Arbeitsteilung zwischen Jungen und Mädchen lieber lockern wollte. Wenn Anna jedoch erfahren hätte, dass alle an dem Zeltbau sowie der Einrichtung gemeinsam beteiligt sein würden, hätte sie vielleicht auf den Arztbesuch verzichtet. »Morgen werden wir das Zelt einrichten und morgen Abend vielleicht schon können wir eine Nacht darin übernachten, falls das Wetter sich hält«, fügte sie deshalb rasch hinzu.
*
»Ein neuer Patient, Doktor«, teilte Schwester Gertrud dem Landarzt durch die Sprechanlage mit. »Das heißt, seine kleine Tochter ist die Patientin.«
Matthias zog die Stirn zusammen. »Wie heißt er?«
»Andreas Mayer aus München.«
»Andreas? Den kenne ich doch. Er ist der Neffe der Bürle-Bäuerin.«
»Kaum zu glauben. Er ist so sympathisch«, kam es da von seiner altgedienten Helferin trocken zurück.
Er musste lachen. »Schicken Sie mir die beiden bitte ins Sprechzimmer.«
Keine halbe Minute später öffnete sich die Tür. Vater und Tochter standen im Rahmen. Andreas hatte sich nicht verändert in den vergangenen Jahren, in denen er ihn nicht gesehen hatte. Er war immer noch der attraktive junge Mann, den er in Erinnerung hatte. Bei näherem Hinsehen jedoch erkannte er die feinen Linien um seine Augen, die von einer großen Ermüdung erzählten, und ihn doch etwas älter erscheinen ließen als auf die Entfernung hinweg.
Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Schön, dass du uns wieder einmal besuchst. Von deiner Tante wissen wir, dass du ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden bist.«
Da lachte Andreas belustigt auf.
»Von Erfolgen berichtet Tante Petra am liebsten, gelt? Das ist meine Tochter Anna«, stellte er dann das Mädchen an seiner Seite vor, das ihn mit wachem Blick ansah.
»Grüß Gott, Anna«, sagte er zu der Kleinen.
Er wechselte ein paar Sätze mit ihr, die ihm zeigten, dass das Mädchen eine schnelle Auffassungsgabe hatte und überdies auch noch gut erzogen war, was bei seinen anderen kleinen Patienten nicht immer der Fall war.
»Dann erzähl mir mal, was dir fehlt«, forderte er Anna auf.
»Was mir fehlt?« Er konnte sehen, wie sie nachdachte. »Mir fehlt ein Kopf, der nicht mehr wehtut«, sagte sie schließlich, woraufhin er lachen musste. Cleveres Kind.
»Du hast also Kopfschmerzen?«
»Manchmal, oder ziemlich oft«, erwiderte sie mit ernstem Blick, der ihm ins Herz schnitt.
*
Zusammen mit Andreas und seiner Tochter füllte Matthias den Anamnesebogen aus. Dann untersuchte er Anna routinemäßig.
»Bis jetzt schaut noch alle ganz gesund aus«, sagte er schließlich zu der Kleinen. »Herz, Lunge, Hals.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Aber ich würde noch gern ein kleines Blutbild machen und brauche eine Urinprobe vom Morgenurin.«
Als er den verständnislosen Blick des Mädchens auffing, setzte er sich auf den Rand der Untersuchungsliege und erklärte ihm: »Es ist so: Kopfschmerzen können der Ausdruck vieler Krankheiten sein. Manche zeigen sich ganz deutlich im Blut, das aus vielen Stoffen besteht. Wenn einer dieser Stoffe fehlt, kann dieses Fehlen uns schon einen Hinweis auf eine bestimmte Erkrankung geben. Genauso kann einer der Bestandteile des Blutes stark überhöht vorhanden sein, was ebenfalls auf eine Krankheit hindeutet. Mit dem Urin, der im Labor auf seine Bestandteile untersucht wird, ist es genauso.«
»Was ist denn Urin?«, erkundigte sich Anna mit gerunzelter Stirn.
Er musste lachen.
»Dein Pippi«, half ihm da Andreas aus der Klemme.
»Pippi? Pfui. Und das fasst du an!«, rief Anna entsetzt aus.
»Du machst morgen nach dem Aufstehen in ein kleines Gefäß und das wird dann an ein Labor geschickt, das deinen Urin auf seine Bestandteile untersucht. Niemand muss die Flüssigkeit dabei mit Fingern berühren.«
Die Kleine schien sichtbar beruhigt. »Aber warum morgen erst?«
»Weil der Urin morgens sehr konzentriert ist. Während des Schlafens haben sich in ihm viele Stoffe ansammeln können. Du musst dir das so vorstellen wie bei einem Detektivspiel. Je mehr Anhaltspunkte man findet, desto schneller findet man den Täter. Bei dir kann der Täter, der für deinen Kopfschmerz verantwortlich ist, eine Krankheit sein, die ich durch das Abhorchen mit dem Stethoskop oder Fiebermessen allein nicht herausfinden kann.«
»Dann bist du also ein Detektiv?«, fragte Anna ihn todernst.
Wieder musste er lachen. »Ja, so könnte man einen Arzt durchaus auch nennen.«
»Und mein Blut und Pippi ...«, sie kicherte verschämt, »sind die Spuren.«
»Genau, du hast es erfasst«, lobte er sie.
Anna legte die kindlich runde Stirn in Falten, sie schien angestrengt zu überlegen. »Wie soll ich dir denn mein Blut geben?«
O je, jetzt kam der schwierigere Teil, dachte sich Matthias. Kinder in Annas Alter hatten naturgemäß Angst vor Spritzen.
»Ich muss dir ein bisschen abnehmen.«
»Wie machst du das?«
»Indem ich einmal kurz in deinen Arm piekse.«
Zu seiner Überraschung schien Anna davon ziemlich unbeeindruckt. »Tut das weh?«
»Nein, manche Leute spüren es gar nicht. Es ist ganz einfach: Du gibst einfach deinen Arm bei mir ab und in der Zeit, in der ich mich mit ihm beschäftige, legt Schwester Gertrud mit dir ein kleines Puzzle. Aber pass gut auf, Gertrud ist eine super Puzzlelegerin. Wer zuerst fertig ist, bekommt einen Preis geschenkt.«
Matthias zwinkerte dem besorgt dreinblickenden Andreas aufmunternd zu, bevor er seine Helferin durch die Gegensprechanlage bat, ins Sprechzimmer zu kommen.
»Bringen Sie eines unserer Puzzle mit«, sagte er, damit sie wusste, was er vorhatte.
Dieses Spiel hatte bisher bei all seinen kleinen Patienten funktioniert. Es lenkte sie von dem Einstich ab. Schwester Gertrud konnte überdies auch sehr gut mit Kindern umgehen. Sie brachte sie stets zum Lachen. So merkte Anna tatsächlich nichts von der Blutentnahme.
»Wann werde ich die Ergebnisse erfahren?«, erkundigte sich ihr Vater, als Anna mit Schwester Gertrud das Behandlungszimmer verlassen hatte.
Wenn ich morgen in der Früh die Urinprobe bekomme, kann das Labor sie noch am Vormittag abholen. Übermorgen müsste ich dir mehr sagen können. Ruf mich an.«
*
Am Nachmittag dieses Tages kam Anna nicht mehr in den Kinderclub zurück. Sophie machte sich Sorgen, was sie wunderte. Schließlich bestand kein Zwang für die kleinen Gäste. Oft verbrachten sie auch die Tage mit ihren Eltern. Aber Anna ging ihr trotz aller vernünftigen Argumente nicht aus dem Sinn. Fast war sie schon so weit, ihren Vater anzurufen, um sich zu erkundigen, ob er mit seiner Tochter beim Landdoktor gewesen war. Hätte dieser Vater nicht so eine starke Anziehungskraft auf sie ausgeübt, hätte sie das auch getan.
Am frühen Abend hielt sie es auf ihrem Personalzimmer nicht mehr aus. Normalerweise saß sie nach der Arbeit gemütlich auf dem kleinen Balkon und las, aber dieses Mal spürte sie eine Unruhe in sich, der sie kaum mehr Herr wurde.
Zuerst schlenderte sie durch Ruhweiler, im Hinterkopf immer den Gedanken, sie könnte Andreas und Anna Mayer rein zufällig über den Weg laufen. Als dies nicht eintraf, schalt sie sich, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen war. Wahrscheinlich saßen Vater und Tochter längst im Hotelrestaurant, und vielleicht sogar mit Annas Mutter. Wie kam sie überhaupt auf den Gedanken, dieser Mann könnte ungebunden sein? Und dennoch, sie konnte einfach nicht glauben, dass er verheiratet war. Oder wollte sie das nur nicht glauben?
Schließlich stieg sie wieder in ihren Wagen und fuhr zum Hotel zurück. Auf halbem Weg dorthin hielt sie wieder an. Zu schön war der Abend, um ihn auf dem kleinen Balkon zu verbringen. In ihr kam plötzlich der Wunsch hoch, noch einmal zu der verborgenen Kapelle zu gehen, die sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Sie lag idyllisch auf einer Lichtung inmitten des Tannenwaldes, ein Ort der inneren Besinnung.
Vielleicht konnte sie ja dort wieder zur Vernunft kommen und sich diesen Mann aus dem Kopf schlagen.
*
Nach fünf Minuten stand Sophie vor der kleinen Kirche, die einstmals ein frommer Bauer als Dank für seine Rettung aus irgendeiner Bedrängnis errichtet hatte. Das war lange her, wie sie dem Entstehungsdatum entnommen hatte, aber das Gemäuer trotzte tapfer dem Verfall. Das Dach und das Türmchen waren wohl schon einige Male erneuert worden.
Dieses Mal fasste sich Sophie ein Herz und trat ein.
Im Innern befand sich nur ein kleiner Altar mit zwei Kerzen und einer Topfpflanze. Davor standen ein paar einfache Betstühle. Heiligenbilder zierten die Wände, deren Farben bereits verblasst waren. Der Raum wirkte gepflegt.
Auf leisen Sohlen, aus Angst, diese heilige Stille zu stören, ging sie weiter. Es war kühl hier drinnen. Da hörte sie ein Geräusch hinter.
So erschrocken, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, drehte sie sich um. Fassungslos sah sie den anderen Besucher an.
Andreas schien weit weniger überrascht zu sein als sie. Wahrscheinlich hatte er sie schon durch die kleinen Fenster entdeckt.
Wie angenagelt blieb sie stehen.
War das Zufall oder Schicksal?, fragte sie sich in diesen Augenblicken, in denen sich ihre Blicke auf eine Entfernung von wenigen Meter trafen.
»Hallo.« Andreas’ Stimme schreckte sie aus den Gedanken auf, die ihr binnen Bruchteile einer einzigen Sekunde durch den Kopf schossen.
»Hallo«, erwiderte sie und brachte noch nicht einmal ein Lächeln zustande.
Plötzlich kam sie sich fehl am Platz vor. Ja, geradezu aufdringlich, obwohl sie doch wirklich nicht hatte wissen können, dass er am gleichen Tag zur gleichen Zeit den gleichen Ort wie sie aufsuchen würde.
»Entschuldigung«, murmelte sie völlig konfus vor sich hin und schickte sich schon an, die Kapelle zu verlassen, als sie ihn sagen hörte: »Bleiben Sie doch.«
Mit hämmerndem Herzen blieb sie stehen, sah ihn wieder an.
Bei jedem anderen Mann hätte sie anders reagiert. Ganz normal und natürlich. Entspannt. Sie hätte einen flotten Spruch von sich gegeben, man hätte vielleicht eine Weile locker miteinander geplaudert, aber dieser Mann legte ihr Hemmungen auf. Nein, vielmehr bekam sie in seiner Nähe Hemmungen. Und das hatte nur etwas mit ihr zu tun. Er faszinierte sie so sehr, was er wahrscheinlich gar nicht ahnte.
Es war so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Staubkörnchen tanzten auf den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die schräg auf den Mosaikboden fielen. Die Luft verdichtete sich.
Sophie konnte ihren Atem hören. Sie schluckte. Und jetzt?, fragte sie sich. Warum schwieg er, dieser merkwürdige Mensch? Sie glaubte, kaum mehr Luft mehr zu bekommen und so brach es aus ihr hervor: »Ein schöner Ort, gelt?«
Da endlich lächelte er sie an, ein warmes Lächeln, das sie mitten ins Herz traf.
»Ja, ich bin vor ein paar Jahren öfter hier gewesen«, erwiderte er, ohne sie anzusehen.
Sein in sich gekehrter Blick lag auf dem schlichten Altar.
Was sollte sie darauf erwidern? Zeigte er ihr nicht eindeutig, dass er nichts weiter dazu sagen wollte?
»Waren Sie heute mit Anna beim Arzt?«, erkundigte sie sich in sachlichem Ton.
Er nickte.
»Und?«
»Die Routineuntersuchung hat nichts Auffälliges gezeigt. Wir müssen jetzt auf die Laborergebnisse warten.« Wieder folgten Sekunden spannungsvollen Schweigens.
Irgendwie unangenehm, dachte sie.
Sie räusperte sich, zeigte auf die Wandmalereien.
»Sie sind gut gemacht. Ich ..., ich interessiere mich für Kunst. Vergangenes Semester habe ich auch das Fach Kunst belegt ...« Jäh verstummte sie.
Wie kam sie nur dazu, plötzlich loszuplaudern? Sie kannten sich doch gar nicht. Um sich davor zu schützen, aus ihrer Verwirrtheit heraus zu viel über sich zu erzählen, gab sie den Ball an ihn weiter und meinte in betont lockerem Ton: »Und Sie machen also hier Urlaub.«
Welch eine blöde und sinnlose Äußerung, schalt sie sich gleich darauf. Am besten würde sein, sie verließ jetzt schleunigst diesen Ort, bevor sie noch mehr Unsinn von sich gab.
Sie hob die Schultern und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf, bevor sie sagte: »Okay, ich muss zurück. Es wird bald dämmrig im Wald.«
»Darf ich mich anschließen?« Die dunklen Männeraugen sahen sie ernst an.
Da konnte sie nicht anders. Sie strahlte ihn an und wusste, dass sie dadurch wahrscheinlich viel zu viel von ihrer gegenwärtigen Gemütslage verriet, zumal sein Blick bis tief in ihre Seele zu dringen schien.
»Du studierst also«, führte er die Unterhaltung fort, als sie die Kapelle verließen. »Oder sollen wir beim Sie bleiben?«
»Nein, gar nicht. So alt sind wir ja beide noch nicht, oder?«
Jetzt lachte er sogar.
»Wie alt du bist, weiß ich nicht. Ich bin zweiunddreißig.«
»Ich fünfundzwanzig«, gab sie nur allzu gern preis, in der Hoffnung, er würde noch mehr über sich erzählen.
»Übrigens, ich heiße Sophie, aber das weißt du vielleicht schon von deiner Tochter.«
»Andreas«, stellte er sich vor. »Anna gefällt es sehr gut im Kinderclub. Sie wollte heute wiederkommen, aber Dr. Brunner meinte, sie sollte Ruhe haben. Der Landdoktor will in den kommenden Tagen einige Untersuchungen machen, um die Ursachen ihrer Kopfschmerzen herauszufinden. Von einer sich anbahnenden Grippe oder Erkältung kommen sie nicht, das hat er heute schon feststellen können.« Er räusperte sich, als wollte er dieses Thema abhaken. Dann fragte er übergangslos: »Was studierst du denn, außer Kunst im vergangenen Semester?«
»Lehramt.«
»Ich wäre auch gern Lehrer geworden, aber dann bin ich beim Maschinenbau gelandet.«
»Und stellst heute Landwirtschaftsmaschinen her«, vervollständigte sie diese Information.
Er blieb stehen, sah sie überrascht an.
»Deine Visitenkarte«, half sie ihm auf die Sprünge.
»Stimmt.«
Sein tiefes Lachen machte ihn ihr noch sympathischer.
Wieder traf sie ein langer Blick. Sie spürte, wie sie unter ihm errötete und ihr Herzschlag seinen regelmäßigen Takt verlor.
So etwas war ihr lange nicht mehr passiert. Sie kam sich so aufgeregt vor wie zu Teenagerzeiten.
Rasch wandte sie den Kopf ab und schaute zum Horizont hinüber, wo die untergehende Sonne den Himmel in ein dunkles Rot tauchte. Sie war sich sicher, dass ihr Kopf gerade genauso aussah. So fühlte er sich zumindest an.
»Ist Anna jetzt allein?«, erkundigte sie sich nach einer Weile, in der sie schweigend nebeneinander hergingen.
»Ja, sie schaut sich eine Kindersendung im Fernsehen an«, lautete Andreas’ Antwort. »Anna ist für ihr Alter schon sehr selbstständig.«
Also wird er allein mit seiner Tochter hier Urlaub machen, schlussfolgerte sie. Laut erwiderte sie: »Das habe ich bereits gemerkt. Sie ist ein tolles Mädchen.«
So dachte sie tatsächlich. Sie hatte die Kleine schon richtig ins Herz geschlossen. Fast wollte ihr dieser Satz auch noch über die Lippen kommen, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen. Andreas sollte nicht etwa denken, sie wollte sich über seine Tochter bei ihm beliebt machen.
»Ja, sie macht das alles sehr gut«, sagte er nach einer Zeit, in der sie nicht mehr damit gerechnet hatte. Sein Unterton alarmierte sie. Er klang irgendwie traurig.
Sie warf ihm einen Seitenblick zu.
Mit dem gleichen in sich gekehrten Blick von eben sah er wieder in die Weite, so, als wäre sie gar nicht anwesend. Und plötzlich wusste sie: Dieser Mann wollte allein sein. Das spürte sie. Abrupt blieb sie stehen.
»Ich biege hier links ab«, sagte sie hastig. »Ich möchte noch jemanden besuchen«, flunkerte sie.
Wie von weit her fand sein Blick sie wieder.
»Ähm …, ja, okay. Wir sehen uns morgen früh im Kinderclub«, stellte er ihr in Aussicht, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er ihre Entscheidung bedauerte.
Sie hob die Hand. »Ja, alles klar. Also dann, grüß Anna. Ich wünsche ihr gute Besserung und würde mich freuen, wenn sie morgen wieder dabei sein könnte.«
Schnell drehte sie sich um und bog in den Weg ein, der statt zum Hotel direkt nach Ruhweiler führte. Ihr Verhalten kam ihr wie eine Flucht vor, zumal ihr jetzt einfiel, dass ihr Wagen doch in entgegen gesetzter Richtung auf dem Parkplatz stand.
Hoffentlich hatte Andreas seinen nicht neben ihrem geparkt. Dann würde ihm der kleine Schwindel wahrscheinlich auffallen und er würde denken, sie wollte nichts mit ihm zu tun haben wollen.
Als sie am Ruhweiler Friedhof vorbei ging, pochte die Ader an ihrem Hals. Das Blut lief schneller durch ihren Körper. Schließlich blieb sie stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Bruchsteinmauer und schloss die Augen.
Sie ahnte, nein, sie wusste, dass etwas geschehen war, was ihr Leben verändern würde. War dieser Mann etwa ihr Schicksal? Nicht, weil er so umwerfend gut aussah. Da gab es vielmehr etwas zwischen ihnen, dem sie keinen Namen geben konnte. Ob ein gutes oder ein schlechtes Schicksal, das vermochte sie nicht zu sagen. Diese Ungewissheit legte sich wie ein Schatten auf ihre Seele. Und eine innere Stimme riet ihr, Annas Vater lieber zukünftig zu meiden.
*
In der Nacht wachte Sophie mit Bauchschmerzen auf.
Was war denn das? Sie verspürte eine leichte Übelkeit. Bestimmt die Folgen von der Schwarzwälderkirschtorte, von der sie noch spätabends vor dem Schlafengehen ein Stück gegessen hatte. Sie konnte einfach nicht widerstehen. Mit Heißhunger hatte sie sich auf die Torte gestürzt und in wenigen Bissen die Köstlichkeit verschlungen.
Das hatte sie nun davon.
Müde stand sie auf und nahm ein paar Magentropfen ein. Dann legte sie sich wieder hin, um eine halbe Stunde später erneut aufzuwachen. Die Schmerzen meldeten sich wieder. Bis sechs Uhr blieb sie im Bett liegen, ohne dass es ihr besser ging.
Was nun?, fragte sie sich. Sie musste zur Arbeit, wollte auf keinen Fall ausfallen.
Ein Anruf bei Ursel, die an diesem Tag Frühdienst hinter der Rezeption hatte, klärte sie darüber auf, dass die Landarztpraxis bereits ab halb acht besetzt war.
»Sagst du Frau Wiesler Bescheid, dass ich etwas später kommen werde?«, bat sie ihre Bekannte.
»Kein Problem«, lautete die Antwort, die sie jedoch nur wenig beruhigte. Es war unangenehm, an diesem Morgen nicht pünktlich sein zu können, zumal die Kinder ja auf sie warteten.
Eine Viertelstunde vor Praxisöffnung stand Sophie auf dem Patientenparkplatz. Staunend sah sie sich um.
Praxishügel wurde die Anhöhe hier genannt, auf der der Landarzt mit seiner Frau lebte und praktizierte. Das alte Schwarzwaldhaus, wahrscheinlich das Wohnhaus, sowie die beiden anderen Gebäude, vermittelten Behaglichkeit. Landarztpraxis und Miniklinik las sie auf zwei Hinweisschildern, die sie beide hier in dieser Idylle inmitten blühender Wiesen mit herrlichem Ausblick nicht vermutet hätte. Eher kam es ihr so vor, als stünde sie vor einem schönen Hotel, in dem man sich wunderbar erholen konnte. Diese angenehme Umgebung trug bestimmt auch dazu bei, dass Dr. Brunner so viel Patientenzulauf hatte.
Da wurde von innen die Praxistür geöffnet. Im Rahmen stand eine ältere Frau in weißem Kittel, die zu ihr hinüberschaute. Sie musste der »Praxisdrache« sein, wie Ursel die Sprechstundenhilfe genannt hatte.
Sophie ging auf sie zu.
»Guten Morgen«, begrüßte sie die grauhaarige Schwester und stellte sich vor. »Ich weiß, ich bin sehr früh, aber ich müsste gegen acht Uhr wieder im Hotel Wiesler sein, wo ich seit Kurzem arbeite. Ich möchte nicht gleich in den ersten Arbeitstagen dort zu spät kommen«, fügte sie mit verlegenem Lächeln hinzu.
Sophie ahnte nicht, dass sie durch ihre Einstellung dem Praxisdrachen auf Anhieb sympathisch war. Schwester Gertrud hasste Unpünktlichkeit und mangelndes Pflichtgefühl.
»Kommen Sie mit«, sagte sie freundlich und schob die zierliche junge Frau in den Praxisvorraum. »Ich werde den Doktor anrufen.«
*
Auch Matthias war die hübsche, natürlich wirkende Blondine auf den ersten Blick sympathisch.
»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte er sich.
»Mich von den Schmerzen befreien«, lautete Sophie Lindemanns schlichte Antwort. »Sie haben mich vergangene Nacht geradezu überfallen. Ich denke, das ist die Schwarzwälderkirschtorte gewesen, die ich noch so spät gegessen habe.«
»Dann wollen wir mal sehen.« Auf seine einladende Geste hin folgte sie ihm vom Gang ins Sprechzimmer. »Setzen Sie sich bitte«, forderte er sie auf und zeigte auf den Patientensessel vor seinem Schreibtisch. »Beschreiben Sie mir Ihre Schmerzen.«
»Hier im Bauch.« Sie zeigte auf den Oberbauch. »Mir ist auch immer noch ein bisschen übel«, fügte sie hinzu.
»Okay.« Er stand auf und ging zur Untersuchungsliege. Aufmunternd nickte er ihr zu. »Wollen wir?«
Nachdem sich seine Patientin dort ausgestreckt hatte, zog er einen Schemel heran. »Darf ich?«
Vorsichtig tastete er ihren Bauch ab. Als er auf die rechte Seite ihres Oberbauches kurz Druck ausübte, stöhnte sie schmerzvoll auf. Als er losließ, schrie sie sogar leise.
Loslassschmerz, stellte er im Stillen fest. Dieser Schmerz war typisch bei Blinddarmentzündungen.
Er legte seine Hand auf ihre Stirn.
»Temperatur haben Sie nicht, aber wir wollen vorsichtshalber doch einmal messen.«
Er nahm das Thermometer aus dem Schrank und legte es ihr unter die Zunge. Dabei sprach er weiter: »Die plötzlich einsetzenden Bauchschmerzen sowie die Übelkeit deuten auf eine Blinddarmentzündung hin. Sind die Schmerzen in den letzten Stunden stärker geworden?«
Sie schüttelte den Kopf. Wegen des Thermometers konnte sie nicht antworten.
Er schwieg so lange, bis er sie davon befreit hatte.
»37 Grad. Noch im Normalbereich«, sagte er wie zu sich selbst.
Ein entzündeter Appendix konnte in weniger als vierundzwanzig Stunden nach Einsetzen der Symptome platzen. Als lebensrettende Maßnahme musste dann umgehend operiert werden. Da im Fall seiner Patientin die Schmerzen in den vergangenen Stunden jedoch nicht stärker geworden waren und sie kein Fieber hatte, ging er davon aus, dass er die Entzündung mit einem Antibiotikum in den Griff bekommen konnte. Und dann würde man weitersehen.
»Sie können sich wieder anziehen«, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem Sophie ihm gegenüber Platz genommen hatte, klärte er sie über die Diagnose auf sowie auch über die Risiken.
»Falls die Schmerzen heute im Laufe des Tages stärker werden und Sie Fieber bekommen sollten, müssen Sie umgehend kommen oder einen Krankenwagen rufen. Ein stark entzündeter Blinddarm kann durchbrechen und dieser Durchbruch, bei dem Eiter und Blut in die Bauchhöhle gelangen, kann wiederum tödlich sein. Darum ist sofortiges Handeln lebensrettend. Haben Sie mich verstanden?«, fragte er mit väterlichem Lächeln.
Sie nickte stumm.
»Ich stelle Ihnen ein Rezept aus, das Sie in der Apotheke, die um acht Uhr öffnet, einlösen sollten. Je schneller Sie das Antibiotikum einnehmen, desto eher können wir Erfolge verzeichnen.« Er zögerte. »Schwester Gertrud sagte, Sie arbeiten seit Kurzem im Wiesler.«
Sie nickte. »Im Kinderclub.«
»Dann sind Sie die junge Frau, von der in Ruhweiler alle schon schwärmen. Es hat sich bereits herumgesprochen, wie gut Sie mit den Kleinen umgehen können.«
Sophie lächelte sichtlich verlegen.
»Soll ich Sie für heute und morgen krankschreiben?«, bot er ihr an. »Ein bisschen Ruhe könnte nichts schaden.«
Sie zögerte, schüttelte schließlich verneinend den blonden Lockenkopf, der ihn an sein Lockenköpfle erinnerte.
»Ich versuche es erst einmal«, sagte sie in entschiedenem Ton. »Ich muss ja nicht gerade mit den Kindern turnen oder wandern«, meinte sie dann tapfer.
*
Als Sophie über den Patientenparkplatz zu ihrem Wagen ging, kam ein Auto den Wiesenweg hinunter gefahren. Eine schwarze Limousine. Sie blieb stehen, denn sie erkannte das Kennzeichen: M für München. Sollten das etwa Andreas und Anna sein?
Da erkannte sie Andreas auch schon hinterm Steuer. Der Beifahrersitz jedoch war leer, was sie leise aufatmen ließ. Sie hatte schon befürchtet, dem Mädchen wäre es schlechter gegangen.
Andreas parkte neben ihr und stieg aus. Mit fragendem Blick ging er um den Wagen herum auf sie zu.
»Guten Morgen.« Seine Stimme klang erstaunt. »Bist du krank?«
Sie lächelte zu ihm hoch und bemerkte dabei, dass sich ihr Herzschlag wieder beschleunigte.
»Nur Magenschmerzen und ein bisschen Übelkeit«, erwiderte sie betont leichthin. »Wo ist denn Anna?«
»Sie liegt noch im Bett. Ich wollte nur schnell ihre Urinprobe abgeben. Dafür musste sie mich nicht begleiten.« Andreas runzelte die Stirn. »Ist der Kinderclub heute geschlossen?«
»Nein, nein«, wehrte sie schnell ab. »Mir geht es gut. Ich kaufe mir jetzt rasch die Arznei und dann legen wir los.« Sie zögerte. Gern hätte sie sich noch eine Weile mit ihm unterhalten, aber die Zeit drängte.
»Okay, dann will ich dich nicht aufhalten«, erwiderte er, als wäre er erleichtert, sich von ihr verabschieden zu können.
Da überfiel sie jäh wieder eine tiefe Enttäuschung. Gleichzeitig aber auch die Erkenntnis, dass sie sich diesen Mann aus dem Kopf schlagen musste. Andreas Mayer war offensichtlich einer Bekanntschaft mit ihr gegenüber verschlossen, was sie erneut vermuten ließ, dass er an eine andere Frau gebunden war.
Sophie hatte mit dieser Vermutung sogar Recht, wenn die Bindung auch ganz anders war als sie dachte.
*
Gegen Mittag wirkte das Medikament gegen die Übelkeit, die sie während des ganzen Vormittags empfunden hatte. Der Schmerz in ihrem Oberbauch piekste sie jedoch ununterbrochen weiter.
»Du siehst so blass aus«, bemerkte Anna mit besorgtem Blick, die an diesem Tag wieder im Kinderclub war.
Wie feinfühlig die Kleine war.
»Alles ist gut«, beruhigte sie das Mädchen. »Was machen denn deine Kopfschmerzen?«
»Heute geht es besser.«
»Na fein, das freut mich.« Sophie sah sich in dem Wigwam um, den ihre Schützlinge gerade mit Spielsachen bestückten. »Prima macht ihr das«, lobte sie alle.
»Können wir heute Nacht hier schlafen?«, erkundigte sich der sommersprossige Phillip.
Er hatte bereits Indianerkleidung angelegt und sich während des Vormittags zum Häuptling ernannt. Die anderen scharten sich um ihn.
»Ja ..., Bitte ..., Sophie ...«, bettelten alle durcheinander.
»Lasst uns abwarten, wie das Wetter sich entwickelt«, dämpfte sie da schnell die Begeisterung.
Sie wollte erst einmal sehen, wie sie sich am Abend fühlte. Wenn sich ihre Schmerzen nicht besserten, würde sie lieber die Nacht in Ruhe in ihrem Zimmer verbringen wollen, ohne Verantwortung für einen kleinen wilden Indianerstamm übernehmen zu müssen.
»Schade ...«, klang es da aus mehreren Kindermündern, und die enttäuschten Blicke taten ihr im Herzen weh.
»Sophie geht es heute nicht so gut«, sagte Anna in die Runde. »Es ist besser, sie geht ins Bett.«
Sophie lächelte in sich hinein. Anna zeigte sich wesentlich reifer und verantwortungsbewusster, als ihre gleichaltrigen Spielkameraden. Ob ihre Mutter vielleicht krank war und sie dadurch zur Rücksichtsnahme erzogen wurde?
*
Kurz vor vier Uhr an diesem Tag fühlte sich Sophie erleichtert, als die Kinder nach und nach von ihren Eltern abgeholt wurden oder selbstständig hinüber ins Hotel zurückgingen. Der Tag, so viel Spaß ihr auch die Arbeit machte, hatte sie angestrengt. Sie musste sich erst einmal aufs Bett legen. Appetit hatte sie keinen. Die Übelkeit war zwar weg, die Schmerzen waren geblieben. Sie hatten sich jedoch nicht verstärkt, was sie beruhigte.
Gegen sieben Uhr aß sie dann doch eine Kleinigkeit. Sie fühlte sich ein wenig erholt und lechzte nach frischer Luft.
Ein Abendspaziergang würde bestimmt nicht schaden. Hier im Ruhweiler Tal hatte sie sich angewöhnt, jeden Abend noch eine Runde zu drehen.
Als sie aus dem Personaltrakt trat, sah sie Andreas in Wanderkleidung über den Hof gehen.
Kam er zurück oder brach er zu einem Spaziergang auf?
Sie blieb stehen. Und wieder begann ihr Herz schneller zu schlagen.
Dieses Mal werde ich nicht auf ihn zugehen, nahm sie sich fest vor.
Sie wollte gerade eine andere Richtung einschlagen, als er sie bemerkte.
*
Du hast die Gelegenheit, zu winken und einfach weiterzugehen, sagte ihm sein Verstand. Sollte er sie ergreifen? Sollen ja, aber wollen?
Entschlossen hob Andreas die Hand. Und dann verselbstständigten sich seine Beine. Sein Herz begann hart an die Rippen zu klopfen, ein völlig ungewohntes Gefühl im Umgang mit einer Frau.
Wie schön sie war. Eine zierliche weibliche Figur, äußerst hübsche Beine, geschmeidige und leichte Bewegungen. Ihr sonniges Lächeln berührte ihn ganz besonders, vom ersten Augenblick an. Sie war eine Frau, die Kraft und Schwäche zugleich ausstrahlte. Sehr gut konnte er sie sich mit aufgestecktem Haar vor einer Schulklasse vorstellen, aber ebenso gut mit aufgelösten Locken ... Nein, das durfte er sich gar nicht ausmalen. Er erahnte bei ihr auch eine tiefe Einfühlungsfähigkeit, als könnte man ihr alles anvertrauen, ohne dass sie einen verurteilte. Eine Frau, in deren Schoß man den Kopf legen und seinen Kummer abreden konnte.
All diese unfertigen Gedanken jagten einander in seinem Kopf, während er auf sie zu ging.
»Hallo.« Seine Stimme kam ihm selbst fremd vor. Rau und belegt klang sie. »Wie geht es dir?«
»Ich will ein bisschen frische Luft schöpfen«, antwortete sie.
Blass sah sie aus, wie Anna ihm schon erzählt hatte.
»Wo ist Anna?«, erkundigte sie sich mit ihrer melodisch klingenden Stimme.
»Nachdem wir im Pool geschwommen und ein paar Spiele gemacht haben, wollte sie jetzt mit eurem Indianerhäuptling eine Kindersendung im Fernsehraum sehen. Danach möchte sie mit ihm und seiner Mutter zusammen essen. Weißt du, die Frau, die mit dir und den Kindern zusammen den Ausflug zum See gemacht hat.«
Sophie nickte. »Sie ist alleinerziehend und sehr nett.«
»Finde ich auch«, erwiderte er, woraufhin sich ihr Blick jäh veränderte.
War es der Ausdruck von Aufmerksamkeit, der das Leuchten in ihren wunderschönen Augen erlischen ließ?
Mehrere Lidschläge lang schwiegen sie. Er ärgerte sich darüber, dass ihm nichts einfiel, was die Unterhaltung hätte fortsetzen können. Stattdessen betrachteten sie beide abwesend das Licht- und Schattenspiel der Wolken auf den bunten Wiesen. In diesem Moment, als eine der weißen Wolken die untergehende Sonne bedeckte, sagte Sophie entschlossen: »Okay, ich muss weiter. Bis dann.« Ihr Lächeln wirkte flüchtig. Sie wandte sich nach rechts und ging weiter.
Er biss sich auf die Lippe.
Nun gut, dachte er. Das war völlig okay für ihn. Genauso wollte er es doch, oder?
*
Jetzt war Sophie um eine mögliche Erklärung für Andreas zurückhaltendes Verhalten ihr gegenüber reicher.
Vielleicht war er gar nicht verheiratet, sondern hatte sich in diesem Urlaub in diese alleinerziehende Mutter verliebt, eine junge muntere und sympathische Frau. Hübsch, natürlich, unkompliziert. Sie arbeitete im Kindergarten. Anna und ihr Sohn verstanden sich bestens. Was würde passender sein können?
Sie ging so schnell, dass sie bald außer Atem war.
Ihre Gedanken, ihre Vermutungen, ihre Fantasien überschlugen sich. Frust breitete sich in ihr aus, der sie den pieksenden Schmerz im Oberbauch für eine Weile vergessen ließen. Eine solche Situation war ihr fremd. Bisher hatte sie die Männer enttäuscht, die sich für sie interessierten. Jetzt hatte sie endlich einmal einen Mann getroffen, der für sie den Traummann schlechthin darstellte, und dieser Traummann verschmähte sie.
Jetzt ist aber gut, rief sie da eine innere Stimme zur Vernunft. Du verrennst dich in eine Sache, die völlig unwirklich ist. Traummann ... Wie kannst du das überhaupt beurteilen? Du kennst Andreas Mayer doch kaum.
Stimmt, musste sie dieser Stimme leider Recht geben.
Und trotzdem. Es gab sie, die besagte Liebe auf den ersten Blick, dieses Gefühl, das wie Amors Pfeil mitten ins Herz trifft, wenn man zum ersten Mal einem Menschen gegenüber steht. Das Gefühl oder vielmehr das Wissen, dass man genau mit diesem Menschen und mit keinem anderen zusammen sein will. Andreas hatte etwas an sich, was sie tief im Innern berührte. Er sprach eine Sehnsucht an, die sie schon immer verspürt, aber nie gelebt hatte.
Schlag ihn dir aus dem Kopf, befahl ihr da die innere Stimme. Man heiratet nie seinen Traummann. Ein Traummann ist nur zum Träumen da, um sich ab und zu über die harte Wirklichkeit hinwegzutrösten.
Sophie seufzte und blieb stehen. Schon lange hatte sie den Hotelkomplex hinter sich gelassen. Eigentlich wollte sie noch einmal zu der kleinen Kapelle gehen, aber dazu fehlte ihr jetzt die Lust. Und auch ein wenig die Kondition.
Kurz entschlossen steuerte sie die Bank an, die über ihr am Waldrand auf sie zu warten schien und die einen unverstellten Blick ins Tal bot. Dort würde sie eine Weile rasten und dann zurück aufs Zimmer gehen.
*
Andreas änderte an der ersten Weggabelung die Richtung.
Eigentlich hatte er zu der kleinen Kapelle gehen wollen, aber dann erschien ihm der Weg dorthin für diesen Abend doch zu weit. Er wollte Anna gegen neun Uhr bei Lena, so hieß die alleinerziehende Mutter, abholen.
In Gedanken wanderte er an dem Waldrand entlang, den Blick ins Tal gerichtet. Was wäre, wenn er Sophie gleich noch einmal begegnen würde? Auch sie hielt sich hier irgendwo in diesem Gebiet auf.
Eine leichte Unruhe beschlich ihn. Wünschte er sich das etwa schon?
Nach jeder Wegbiegung, hinter der er sie nicht entdeckte, breitete sich tatsächlich eine immer größere Enttäuschung in ihm aus. War er nun vollends übermütig geworden?, rief er sich zur Vernunft. Diese diffusen Gefühle durfte er überhaupt nicht haben.
Schluss jetzt, befahl er sich.
Er blieb stehen und atmete ein paar Mal tief durch, in der Hoffnung, die frische Luft hier oben würde das Chaos in ihm wieder ordnen können. Er überlegte. Nach der nächsten Biegung führte ein Wiesenweg hinunter zum Hotel. Den würde er nehmen. Dann würde er halt früher zu Anna, Lena und Phillip stoßen und noch ein bisschen mit den dreien Karten spielen. Dadurch konnte er sich bestimmt besser von seinen, ihn beunruhigenden Gedanken ablenken, als wenn er hier weiter allein herum wandern würde.
Strammen Schrittes ging er weiter. Dann sah er sie. Sie saß auf der Bank und schaute ihm entgegen, als hätte sie auf ihn gewartet.
*
Als Andreas vor ihr stand, ignorierte Sophie tunlichst die harten Schläge ihres Herzens.
Wie gut er aussah mit dem verwuschelten Haar, in dem einfachen Shirt und der Jeans.
Er räusperte sich. »Hast du einen Spaziergang gemacht?« Gleich darauf schüttelte er den Kopf. Ihm schien gerade aufzufallen, dass seine Frage nicht gerade genial gewesen war.
Sie musste ein Lachen unterdrücken. Beide waren sie verlegen, beide gehemmt, erkannte sie plötzlich.
»Ja«, erwiderte sie ernst.
Dabei sah sie zu ihm hoch und fühlte sich wieder von diesen intensiv blauen Augen wie gefangen. Andreas hielt ihren Blick fest. Sie spürte, wie er sie eindringlich musterte, und sie spürte die Kraft, die von ihm ausging. Unwillkürlich rang sie nach Atem.
»Willst du dich setzen?« Diese Einladung kam wie von selbst über ihre Lippen. Sie wollte ihn einfach nicht weitergehen lassen. Irgendetwas in ihr machte sie sicher, dass auch er dieses Prickeln in der Abendluft spüren musste. Eine solch starke Anziehung, wie sie sie empfand, konnte doch nicht einseitig sein.
Er setzte sich an das andere Ende der Bank.
Immer noch schwiegen sie, und in ihrem Innern tobte das Chaos.
Der Abend war mild, wie für die Liebe geschaffen. Ein sanfter Wind sang in den Gräsern, und wie eine ferne Melodie klang das Läuten von Kuhglocken aus dem Tal zu ihnen hinauf. In diese ländliche Idylle hinein fragte Andreas nun: »Bist du eigentlich allein hier?«
Wie bitte? Warum interessierte ihn das?
»Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun«, fügte er mit entwaffnendem Lächeln hinzu.
Was sollte das denn heißen? Würde ihn etwa stören, wenn sie mit einem Ehemann hier wäre? War er vielleicht doch an ihr interessiert?
Nun gewann sie ihre Reaktionsschnelligkeit zurück.
»Und du?«, fragte sie blitzschnell. Mutig sah sie ihn von der Seite an.
Er erwiderte ihren direkten Blick und hielt ihn fest.
»Ich bin allein hier. Das heißt, mit Anna.«
»Wie lange noch?«
»Mal sehen, vielleicht noch eine Woche.«
»Ich bin auch allein hier.« Sie wollte weitere Fragen stellen, traute sich dann aber doch nicht, nicht nur aus Höflichkeit und Zurückhaltung, sondern auch aus Angst davor, er könnte sich ihr wieder verschließen.
»Woher kommst du?«, erkundigte er sich.
»Vom Bodensee. Aus Lindau.«
»Dort ist es auch schön.«
O je, ihre holperige Unterhaltung drohte bereits wieder zu versickern, so unbeholfen stellten sie sich beide an. Bei jedem anderen Mann wäre sie jetzt aufgestanden und hätte sich verabschiedet, aber nicht bei Andreas. Sie wusste, dass er nicht so langweilig war, wie er in diesen Augenblicken erschien. Sie spürte, dass er nur verlegen war, oder unschlüssig, was aus dieser Situation werden sollte.
Plötzlich stand er auf. Ganz abrupt, als hätte er ihr schon zu viel über sich verraten.
»Ich muss gehen.«
Ich auch, wollte sie erwidern, hätte sich ihm gern angeschlossen, doch seine Miene verriet, dass er dies nicht wünschte. So zwang sie sich nur zu einem unverfänglichen Lächeln und sagte: »Einen schönen Abend noch.«
»Dir auch.« Ein weiterer, ein sehr tiefer Blick, ein Zögern, dann drehte er sich um und ging festen Schrittes den Wiesenhang hinunter.
Als er außer Sichtweite war, stand sie auch auf. Tief enttäuscht, ja ein wenig verzweifelt sogar, weil sie aus diesem Mann nicht schlau wurde. Widersprüchliche Gefühle tobten in ihr. Sie wollte ihm nicht nachgehen, sondern warten, bis er im Tal angekommen war. Und während sie wartete, tauchte Andreas’ Kopf ganz plötzlich wieder über der Wiesenkuppe auf. Zuerst glaubte sie, sie würde ihrer Einbildung erliegen. Doch dann stand der ganze Mann wieder vor ihr. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln.
»Bist du morgen Abend auch hier?«, fragte er.
Zuerst war sie viel zu verblüfft, um antworten zu können. Dann nickte sie.
»Ja, wenn das Wetter wieder so schön ist.«
Diese kleine Einschränkung musste sie einbauen, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie sich freute.
Er hob die Hand. »Dann bis morgen Abend.«
Er verschwand, und sie blieb völlig verwirrt allein zurück.
*
Am nächsten Abend wartete Sophie eine halbe Stunde auf der Bank, aber Andreas ließ sich nicht sehen.
Gehörte er zu den unzuverlässigen Leuten? Eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. War ihm etwas dazwischen gekommen? Hatte Anna wieder Kopfschmerzen?
All diese Überlegungen gingen ihr durch den Kopf, während sie auf der Bank wartete. Unschlüssig sah sie sich um.
Die Strahlen der untergehenden Sonne drangen längst nicht mehr durch die Zweige der dicht stehenden Fichten. Aus dem Wald wehte ein kühlerer Hauch. Auf der Wiese, die sich unterhalb des schmalen Weges erstreckte, zeigte sich zwischen all den goldgelben Butterblumen immer noch kein dunkelhaariger Kopf. Mit jeder Minute des Wartens wurde sie sich sicherer, dass Andreas nicht mehr kommen würde.
Sie seufzte und stand auf. Mit hängenden Schultern ging sie zurück. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Aber auch ein Sehnen. Sie blieb stehen. Beim Anblick der Schwarzwaldhügel, die tausende von Jahren unverrückbar dort hinten am Horizont standen, wurde ihr bewusst, wie klein der Mensch doch im Vergleich zu ihnen war. Und wie unbedeutend ein bisschen Enttäuschung oder ein bisschen Liebeskummer. Vielleicht sollte sie sich sogar bei ihrem Schicksal bedanken. Es hatte sie noch früh genug erkennen lassen, dass Andreas der falsche Mann für sie war. Gott sei Dank war noch nichts zwischen ihnen passiert. Kein zweites Mal würde sie sich mit ihm verabreden. Jetzt war Schluss, nahm sie sich vor.
Schnellen Schrittes eilte sie den Wiesenweg hinunter. Und dann geschah das Wunder: An der Stelle, wo der Birkenhain begann, trat Andreas zwischen den silbrigen Stämmen hervor und lächelte ihr entgegen. Erleichtert, wie ihr schien. Als er vor ihr stand, zeigte er auf die Bank unter einer der Bäume.
»Lassen wir uns setzen«, schlug er vor und dirigierte sie sanft, aber zielstrebig auf diese zu.
Sie hielt den Atem an, ging wie auf Eiern, stolperte und wäre fast hingefallen, wenn Andreas’ Arm sie nicht gehalten hätte.
Gleichzeitig blieben sie stehen. Er hielt sie immer noch in der Taille. Sie drehte den Kopf und schaute zu ihm hoch.
»Ich wollte nicht kommen«, sagte er, ihren Blick festhaltend. »Ich hatte Angst.«
Angst?, dachte sie verwirrt.
»Danke, dass du trotzdem hier bist«, erwiderte sie leise.
»Ich musste.«
Und dann passierte es ganz einfach. Im Nachhinein hätte sie noch nicht einmal sagen können, wer von ihnen den ersten Schritt getan hatte. Ihre Lippen bewegten sich aufeinander zu, berührten sich. Zuerst ganz leicht, zögerlich, um sich dann in einem Kuss zu verlieren, der kein Ende mehr nehmen wollte.
Als Andreas sie abrupt losließ, taumelte sie.
»Entschuldige«, murmelte er, während er sich das Haar aus der Stirn strich. Er sah an ihr vorbei, ins Nirgendwo.
Er entschuldigte sich?
»Lass uns zurückgehen«, sagte er in entschlossenem Ton. »Komm!« Er berührte kurz ihren Arm.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Sophie wusste nicht, was sie von Andreas Verhalten halten sollte. Ihre einzige Erklärung war, dass er an eine andere Frau gebunden war und gerade der Versuchung nicht hatte widerstehen können.
Ernüchterung machte sich in ihr breit. Und Wut über sich selbst, dass sie sich derart hatte gehen lassen.
Inzwischen hatten sie den Hotelkomplex erreicht, beide in ihren Gedanken versunken.
»Hier wohne ich.« Sie zeigte auf zwei Fenster in dem Personaltrakt und blieb stehen.
»Ich begleite dich noch.«
Als sie vor dem Hintereingang standen, umfing sie sein blauer Blick. »Also dann ...« Er schien unschlüssig zu sein.
»Ade«, verabschiedete sie sich tonlos, drehte sich um, öffnete die Tür und schloss sie hinter sich.
Durch den Glaseinsatz sah sie noch die Umrisse seiner Gestalt, ein paar Sekunden lang. Dann drehte sich auch Andreas um und verschwand aus ihrem Blickfeld.
*
Mitternachtsblau spannte sich in dieser Nacht der Himmel über dem Ruhweiler Tal, gesprenkelt mit unzähligen Sternen. Die Mondsichel spendete genug Licht, um die Umrisse der Hügelkämme erkennen zu lassen. Im Gras zirpten die Grillen und ringsum duftete der Schierling. Romantischer hätte eine Nacht nicht sein können.
Andreas saß auf der Dachterrasse der kleinen Suite, nur wenige Meter vom Personaltrakt entfernt, und schickte seine Gedanken auf Reise.
Sophie ... Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Das war der Grund dafür gewesen, dass er ihre Verabredung eigentlich nicht hatte einhalten wollen. Dann jedoch war ihm ein solches Verhalten schäbig und feige vorgekommen und er war losgelaufen. Erneut hatte ihn die menschliche Wärme, die sie ausstrahlte, ganz gefangen genommen. Mit jeder neuen Begegnung gefiel sie ihm besser. Sophie Lindemann hatte sich inzwischen einen Platz in seinem Herzen erobert, obwohl das doch gar nicht sein durfte. Dennoch ging ihm ihr Lächeln heiß durch den Körper, erfüllte sein Herz mit einer wohlig prickelnden Freude. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, diese halb geöffneten wunderschönen Lippen zu küssen, über ihr schimmerndes Haar zu streicheln. Und nun hatte er beides getan, obwohl er es nicht gedurft hätte. Er durfte ihr keine Hoffnung auf Mehr machen.
Andreas stand auf, warf einen Blick in Annas Zimmer und kehrte auf die Terrasse zurück. Hier ging er hin und her wie ein Tiger im Käfig, der die Freiheit vermisste.
Wider alle Vernunft erfasste ihn auch jetzt wieder ein schmerzliches Verlangen nach Sophie. Er sehnte sich so nach ihr, begehrte sie so sehr. Noch nie hatte er derart für eine Frau empfunden, noch nie hatte er eine Frau so gebraucht, noch nie war er in einer so ausweglosen Situation gewesen. Es hatte keinen Zweck, die Wahrheit länger zu leugnen. Er hatte sich in Sophie verliebt. Wie? Warum? Auf diese Fragen fand er keine logischen Antworten. Sein Herz, sein Körper und seine Seele sagten ihm etwas ganz anderes als sein Verstand.
*
Sophie war erstaunt, dass Andreas seine Tochter am nächsten Morgen in den Kinderclub begleitete. Anna war bis jetzt meistens allein gekommen. Sie kannte sich gut aus im Wiesler.
»Sophie!«, rief das Mädchen schon von Weitem, begann zu laufen und warf sich in ihre ausgebreiteten Arme.
»Guten Morgen, meine Kleine«, erwiderte sie. Dabei drehte sie sich mit ihr einmal im Kreis.
»Hast du heute noch Schmerzen?«, erkundigte sich Anna.
Die zärtliche Fürsorge dieser Achtjährigen berührte sie tief im Herzen.
»Alles ist gut«, antwortete sie. »Und was machen deine Kopfschmerzen?«
»Sie sind weg.« Anna löste sich aus ihrer Umarmung. »Sind die anderen schon da?«
»Klar, du bist eine der letzten heute Morgen. Phillip, unser Indianerhäuptling, wartet schon auf dich.«
»Dann geh ich rein. Tschüss Papa.« Anna winkte ihrem Vater zu und weg war sie.
Sophie blieb stehen. Ihr Blick suchte den von Andreas, welcher sie nun mit warmem Ausdruck umfing.
Wie schwierig es war, sich die Sehnsucht zu verbieten, hatte sie in der vergangenen Nacht erfahren. Obwohl sie ernsthaft bemüht gewesen war, den Münchner Geschäftsmann aus ihrem Herzen zu verbannen, war dieser Versuch gescheitert. Dieser eine Kuss, diese Sekunden der Leidenschaft ...
Während sie sich nun in die Augen sahen, kam die Erinnerung an ihr kurzes Zusammensein am vergangenen Abend wieder in ihr hoch. In diesen Momenten wurde sie sich sicher, dass Andreas ihr vom Schicksal vorbestimmt war, und als er sie jetzt wieder mit diesem besonderen Lächeln anschaute, entschloss sie sich, den Grund seines zwiespältigen Verhaltens herauszufinden. Vorher würde sie nicht zur Ruhe kommen können.
Sie erwiderte sein Lächeln, mit Lippen und Augen, wie sie wusste.
»Was war das gestern?«, fragte sie ihn.
Das Flackern in seinen Augen verriet ihr, wie sehr ihn diese direkte Frage verunsicherte. Er schwieg, blickte über ihren Kopf hinweg über das Hotelgelände. Dann, als hätte er einen Entschluss gefasst, kehrte sein Blick zurück und traf mitten in ihre Augen.
»Ich hielt es für besser so.«
»Das verstehe ich nicht«, kam ihr die Erwiderung spontan über die Lippen.
»Bitte entschuldige, aber ich ...« Er verstummte und senkte den Kopf.
Noch schwankte sie zwischen ihrem Stolz und dem Bedürfnis, Klarheit zu bekommen. Letzteres war schließlich stärker als ihr Stolz.
»Bist du verheiratet?«
Seine dunklen Brauen zuckten in die Höhe. Er wirkte verdutzt. Dann lachte er.
»Nein, natürlich nicht.«
Natürlich nicht? So unnatürlich wäre das ja nun nicht, ging ihr durch den Sinn, ohne die Worte auszusprechen.
»Hast du Angst, eine Frau näher an dich heranzulassen?«
Bis vor einer Minute hätte sie sich nicht vorstellen können, einem Mann eine solche Frage zu stellen. Zumal diese eindeutig ihr Interesse an ihm verriet.
Egal, sie wollte es jetzt wissen, sagte sie sich, während sie ihn angespannt beobachtete.
Seine Wangenmuskeln zuckten. Und da er immer noch schwieg, fuhr sie unerbittlich fort: »Warum? Bist du vielleicht doch gebunden? Wenn nicht verheiratet, dann verlobt?«
Sie hob die Schultern, fühlte sich plötzlich so unwohl wie selten zuvor in der Gegenwart eines Mannes. Doch jetzt hatte sie sich einmal auf diesen Weg begeben. Nun wollte sie ihn auch zu Ende gehen, in der Hoffnung, dass es ihr danach leichter fallen, ihn zu vergessen. Dafür überwand sie gern ihren Stolz.
*
Sophie hatte keine Angst, ihm ihre Gefühle zu zeigen, ihre Aufrichtigkeit und Verletzlichkeit, er fühlte sich jedoch in einer stählernen Falle. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass er sich nichts mehr wünschte, als nächtelang mit ihr zu reden, zu schweigen oder sie zu lieben, dass er ihre Nähe genauso genoss, wie sie ganz offensichtlich seine zu genießen schien. Aber diese Situation war für ihn neu, unbekannt. Natürlich hatte er manchmal daran gedacht, sich irgendwann einmal verlieben zu können. Genauso war für ihn aber auch völlig zwingend erschienen, diese Gefühle zu unterdrücken.
Diesen Zeitpunkt hatte er bei Sophie verpasst.
»Hallo?«, machte sie sich in sein Grübeln hinein bemerkbar, mit ihrem hinreißenden Lächeln, das die so oft zitierten Schmetterlinge in seinem Bauch flattern ließ.
»Verzeih.« Mit beiden Händen strich er sich das Haar aus der Stirn. »Nein«, beantwortete er nun endlich ihre Frage, ob er gebunden sei, obwohl sie mit ihrer Vermutung der bitteren Wahrheit eigentlich so nahe war.
»Ganz bestimmt nicht«, beteuerte er. »Aber ich brauche immer etwas Zeit, bis ich mich jemandem öffnen kann.«
»Dann liegt es also nicht an mir?«
Der Ausdruck von Erleichterung, von Hoffnung, breitete sich auf ihrem Engelsgesicht aus.
»Nein, es liegt ganz sicher nicht an dir.« Wieder wusste er nicht, wie er fortfahren sollte.
Er schluckte verkrampft, fühlte sich von ihrem weichen Blick geradezu hypnotisiert. Schließlich berührte seine Hand ganz von selbst ihre Wange, spielte mit einer Strähne ihres Haares.
»Wir haben Zeit«, versprach er ihr mit belegt klingender Stimme. »Ganz viel Zeit.«
Da passierte etwas, was seine Grundsätze fast aus den Angeln gehoben hätte, hier vor dem Eingang zum Kinderclub, inmitten der Kinderschar, die ausgelassen um sie herum tobte.
Sophies wunderschöne Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Lächeln verriet ihm, dass es Tränen der Freude, der Hoffnung waren.
Diese Tränen ließen den Damm in ihm bröckeln, wollten ihn fortschwemmen, und er streckte schon die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, sie an sich zu drücken, sie zu küssen, mit all der Leidenschaft, die sie in ihm freisetzte. Doch dann konnte er sich gerade noch beherrschen.
Nein und nochmals nein.
Hastig trat er einen Schritt von ihr zurück, aus der Gefahrenzone heraus.
»Können wir uns heute Abend sehen?«, fragte er, als er wieder den Anflug von Enttäuschung in ihren Augen las.
Er wollte sie doch gar nicht enttäuschen, er wollte ihr nicht wehtun.
»Ja, wenn du möchtest«, lautete ihre hörbar verunsicherte Antwort.
»Ja, ich möchte«, versicherte er ihr nun mit fest klingender Stimme. Und um einem neuen Meinungsumschwung vorzubeugen, fügte er rasch hinzu: »Um sieben Uhr auf der Bank oben am Waldrand?«
*
Nur noch fünf Stunden, dachte Sophie, während sie die Kinder beim Spielen beobachtete.
Andreas ... Dass allein ein Name so viel Aufregung in ihr entfachen könnte, hätte sie nie für möglich gehalten. Nein, die Liebe auf den ersten Blick war keine Erfindung von Träumern und Romantikern. Es war ihr passiert, und nach der Begegnung mit Andreas am Morgen gab sie diesem Gefühl wieder neuen Raum in ihrem Herzen. Es war eine eigenartige Empfindung, geprägt von freudiger Erwartung, ein bisschen Unsicherheit und immer noch bangem Hoffen. Sie fühlte sich aber auch sehr gut an, besonders jetzt, da sie wusste, den begehrten Mann in wenigen Stunden wiederzusehen. So leicht war plötzlich alles, rosarot und herrlich beflügelnd.
Während Sophie in der Sonne saß und sich auf ihre Verabredung freute, saß Andreas im Sprechzimmer des Landarztes.
»Ich kann dich beruhigen«, begann Matthias das Gespräch. »Die Laboruntersuchungen haben keinerlei Auffälligkeiten gezeigt. Demnach ist Anna körperlich gesund. Um ganz sicher zu gehen, dass ihr körperlich wirklich nichts fehlt, könntest du mit ihr noch zu einem Neurologen gehen.«
»Neurologen?« Andreas erschrak zutiefst. Das sah man ihm an.
Matthias lächelte ihm beruhigend zu. »Nur, wenn du auf Nummer sicher gehen möchtest, obwohl ich davon ausgehe, dass Annas Kopfschmerzen psychischer Natur sind.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ...« Der Landdoktor überlegte, bevor er weitersprach. »Wir sollten uns einmal ihre Lebenssituation anschauen. Fühlt sie sich zum Beispiel in der Schule überfordert?«
»Ausgeschlossen. Anna ist eine sehr gute Schülerin, ohne viel dafür tun zu müssen. Die Lehrerin hat mir vor den Ferien noch bestätigt, dass ihr alles nur so zufliegt. Sie muss sich nicht anstrengen.«
»Hat sie Schwierigkeiten mit Mitschülern?«
»Sie ist sehr beliebt und geht gern zur Schule.«
»Ist sie oft allein?«
»Eigentlich nicht. Sie hat Freundinnen, mit denen sie Nachmittag spielt, die zu uns kommen. Sie hat die Tagesmutter und unsere Haushälterin.«
Matthias biss sich kurz auf die Lippe, entschloss sich dann, die heikle Frage zu stellen: »Könnte sie sich von dir vernachlässigt fühlen?«
Da schwieg der junge Mann mit gesenktem Kopf. Schließlich sah er ihm geradewegs in die Augen.
»Vielleicht in letzter Zeit. Ich bemühe mich zwar, so viel wie möglich mit Anna zu unternehmen, aber in den vergangenen Monaten hatte ich eine schlechte Phase in der Firma. Es gab schwerwiegende Probleme. Da ist es nicht immer einfach, wenn man abends nach Hause kommt. Diese Probleme bringt man ja mit, sie drücken einem auf die Stimmung.«
Matthias nickte nur. Er kannte diese Situation von einigen seiner Patientinnen, die ihre Kinder allein erzogen und gleichzeitig berufstätig waren. Manche Kinder litten mehr, andere weniger unter einer diesen Umständen. So vernünftig und ihrem Alter voraus ihm die kleine Anna auch erschien, sie war immer noch ein achtjähriges Kind, das viel emotionale Sicherheit brauchte.
»Hat Anna schon einmal erwähnt, dass sie ihre Mutter vermisst?«, wagte er sich noch ein wenig weiter vor.
Andreas’ Blick begann zu flackern.
»In den vergangenen Monaten gab es tatsächlich solche Situationen«, gestand er ihm mit betroffener Miene. »Ich habe nicht den Eindruck, dass sie Maya vermisst. Von ihr spricht sie nicht mehr. Sie war ja erst vier Jahre alt. Aber ich glaube inzwischen auch, dass sie eine Mutter an ihrer Seite vermisst.«
Das könnte schon die Ursache für Annas Kopfschmerzen sein, überlegte er. Die Kleine vergleicht ihre Situation mit der von Kindern, die in einer intakten Familie leben, zerbricht sich den Kopf, der dann zu schmerzen beginnt. In der Wissenschaft war es kein Geheimnis mehr, dass Kopfschmerzen bei Kindern sehr häufig vorkamen und in der Regel der Ausdruck seelischer Probleme waren. Eine solche Diagnose stellte die Ärzte vor eine große Hürde. Diese Ursachen waren nicht etwa durch eine Operation oder durch Medikamentengabe aus der Welt zu schaffen.
Er lehnte sich zurück und lächelte Andreas an.
»Ich würde vorschlagen, dass du zuerst einmal das Gespräch mit Anna suchen solltest. Sprich sie bei einer passenden Gelegenheit einfach auf solche Gedanken an. Dann wirst du schon hören, wie es in ihrem kleinen Herzen aussieht.«
Andreas strich sich das Haar aus der Stirn, atmete einmal tief durch und sagte dann mit bewegt klingender Stimme: »Glauben Sie mir bitte, dass mir das Glück meines Kindes über alles geht. Ich würde selbst die Firma verkaufen, wenn ich Anna dadurch ein unbeschwertes Leben bieten könnte, aber die Situation ist komplexer, als Sie wissen. Ja, sogar tragisch.«
Matthias hob die Brauen. »Willst du darüber reden?«
Der Landarzt hörte zu, und als Andreas zu Ende erzählt hatte, sagte er tief betroffen: »Du hast recht. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken.«
»Können Sie mir sagen, was ich tun soll?«
Matthias schob die Brille ins Haar und sah zum Fenster hinaus in den Sonnenschein.
»Es gibt immer eine Lösung im Leben» meinte er dann. »Im Augenblick kann ich dir zwar keine anbieten. Ich muss erst einmal darüber nachdenken. Aber manchmal findet das Leben ja auch selbst eine. Man muss sie dann nur erkennen.«
*
Mit klammen Händen ging Sophie an diesem Abend den Wiesenweg hinauf zu der Bank am Waldrand.
Würde Andreas sie ein zweites Mal versetzen? Hoffentlich nicht. Sie sehnte dieses Wiedersehen herbei. Das kurze Gespräch zwischen ihnen am Morgen zwischen Tür und Angel hatte ihr gezeigt, dass es noch so vieles zu klären gab. Andreas hütete ein Geheimnis, das ihn daran hinderte, sich ihr zu nähern. Und dieses Geheimnis musste sie lüften.
Ein Summen lag über der Wiese. Offensichtlich waren zu dieser Abendstunde noch Tausende Bienen dabei, Nektar aus den bunten Blüten zu sammeln. Aus dem Wald über ihr rief ein Kuckuck zu ihr hinunter.
Sie blieb stehen, horchte auf seinen Klang und fühlte ein paar Atemzüge lang völlige Ruhe und Frieden in sich. Ein unwirklicher Augenblick. Dann trieb sie die Erwartung weiter durch das saftige Gras.
Als sie über die Wiesenkuppe blicken konnte, entdeckte sie Andreas auf der Bank, die langen Beine ausgestreckt, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Mit geschlossenen Augen hielt er das Gesicht der Abendsonne entgegen. Ganz entspannt saß er da.
Welch ein Mann, dachte sie und ihr Herz machte wieder einen Sprung. Zum ersten Mal spürte sie, dass hinter der Körperlichkeit, die sie bei ihm so anzog, eine tiefe Seelenverbundenheit stand. Ein Gefühl von Vertrautheit, das sie sich nicht erklären konnte. Wieder war ihr zumute, als hätte das Schicksal genau diesen Mann für sie bestimmt.
Im nächsten Augenblick entdeckte er sie. Er winkte ihr zu, stand auf und ging ihr entgegen. Dann standen sie sich gegenüber. Andreas hielt ihre Hand fest. Sie lächelten sich an. Da spürte sie es ganz deutlich, so deutlich wie nie zuvor: Zwischen ihnen flackerte etwas auf, das einem elektrischen Strom gleichkam. Mit angehaltenem Atem erwiderte sie Andreas tiefen Blick, wartete. Stocksteif stand sie da, ihre Hand in seiner großen warmen.
»Ach, Mädchen«, sagte er da leise.
Nun ging ihr das Herz auf.
»Ja?« Sie wusste, dass in ihrem Lächeln all ihre Gefühle für ihn lagen.
»Nichts.« Er lächelte zurück. »Ich habe mich auf dich gefreut.«
Allein diese Worte aus seinem Mund empfand sie schon wie eine Liebeserklärung. Und dazu noch sein Augenausdruck. Weich, warm, voller Innigkeit, als würde auch er das Gefühl haben, sie schon viel länger zu kennen. Sie wich seinem Blick nicht aus, vielmehr glaubte sie, in ihm zu ertrinken. So offen, so eindringlich, so zärtlich hatte Andreas sie bisher noch nie angesehen. Sie bemerkte, wie er sich in diesem Augenblick innerlich öffnete und ein Gefühl unglaublichen Glücks erfasste sie. Sie bewegte sich nicht und hielt den Atem an, um den einzigartigen Zauber dieser Situation nicht zu zerstören. Am liebsten hätte sie die Welt angehalten, hätte für den Rest ihres Lebens hier verharrt, Blick in Blick mit dem geliebten Mann, der ihr seine Zuneigung zum ersten Mal offenbarte.
Da hob Andreas seine Hand, strich ihr übers Haar und ließ sie in ihrem Nacken liegen.
Ganz still war es nun um sie herum. So, als würde die Natur innehalten, die Welt aufhören, sich zu drehen.
Langsam zog er ihren Kopf zu sich heran. Seine Berührung war Aufforderung genug für sie, um den Mut zu fassen, die Arme um seinen Nacken zu schlingen, die Augen zu schließen und ihm ihren Mund zum Kuss anzunähern.
Während sich ihre Lippen berührten, miteinander verschmolzen, war ihr zumute, als würde ein Licht in ihr aufglühen. Ein Licht, das dieser, sie so faszinierende Mann in ihr angezündet hatte und das keine Schatten duldete. Während sie den Atem von ihm trank, dachte sie nicht mehr an all die bislang noch unbeantworteten Fragen. Zu lange hatte sie sich nach Liebe gesehnt, nach Wärme und Geborgenheit. Nach der Geborgenheit, die sie jetzt in Andreas’ Armen empfing, die sie eng umschlungen hielten.
Andreas’ Mund glitt über ihre Schläfen, Augen, Wangen und fand immer wieder zurück zu ihren Lippen. Liebevoll, sehr sanft, voller Zärtlichkeit.
Und während sich die beiden auf der verschwiegen liegenden Bank am Waldrand ihrer Liebe hingaben, umschatteten sich die Wiesen, die Wälder, die Schwarzwaldhügel nachtblau. In den Büschen begann es zu glänzen und zu flimmern. Leuchtkäfer taumelten wie goldene Funkeln auf und nieder. Unten im Ruhweiler Tal leuchteten die ersten Lichter auf, so, als wären ein paar Sterne vom Himmel auf die Erde gefallen. Bald zeigte sich auch der Mond und mit ihm ein leuchtender Punkt nach dem anderen. Als kurz darauf sogar eine Sternschnuppe über den Himmel reiste, schloss Sophie die Augen. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass das, was auf dieser Bank zwischen ihr und Andreas geboren worden war, niemals sterben würde.
*
Die Verliebten ahnten nicht, dass sie in der unberührten Natur nicht allein waren.
Wie jeden Abend machten Matthias und Ulrike Brunner mit Lump vor Einbruch der Dämmerung einen Spaziergang. Dabei besprachen sie, was sich am Tag so alles ereignet hatte.
An diesem Abend spazierten sie durch das Jagdrevier des Landarztes, Lump an der langen Laufleine voran.
»Andreas Mayer war heute Nachmittag bei mir in der Praxis«, erzählte Matthias seiner Frau.
Ulrike blieb stehen. »Und? Wie geht es seiner Tochter?«
Der Landdoktor gab ihr das Gespräch wieder.
»Wahrscheinlich fühlt sich das Mädchen hier wohler als zu Hause.«
»Anna hat sich sehr der jungen Frau aus dem Kinderclub angeschlossen, Sophie Lindemann, die wegen ihrer Blinddarmschmerzen bei mir war«, fuhr der Landdoktor fort.
»Was ein Zeichen dafür ist, dass sie ihre Mutter vermisst.«
»Oder eine Mutter überhaupt«, verbesserte Matthias sein Lockenköpfle.
»Das ist doch auch normal«, bekräftigte Ulrike. »Jedes Kind braucht Mutter und Vater, eine männliche Bezugsperson und eine weibliche. Ein Kind, welches nur mit einem Elternteil aufwächst, wird stets etwas vermissen. Wir Frauen können den Vater nicht ersetzen und dieser nicht die Mutter. So einfach ist das.«
Der schmale Wildpfad führte die beiden nun wieder aus dem Wald heraus, wo es bereits dämmrig war. Auf dem Wiesenweg, der oberhalb von Ruhweiler vorbei führte, blieb Lump abrupt stehen und hielt seine nasse Nase in den lauen Abendwind. Er witterte etwas.
Matthias und Ulrike hielten ebenfalls im Schritt inne. Da entdeckten sie das Liebespaar, das eng umschlungen auf der Bank saß und die Welt um sich herum nicht wahrnahm. Es waren Andreas Mayer und Sophie Lindemann.
»Wer ist die Frau?«, flüsterte die Arztfrau mit großen Augen.
»Sophie Lindemann.« Auch Matthias konnte kaum glauben, was er sah.
»Das ist doch toll«, meinte da sein praktisch denkendes Lockenköpfle. »Dann hat er ja schon die zukünftige Mutter für Anna im Arm.«
Der Landdoktor enthielt sich einer Antwort. Er wusste, dass die Situation weitaus komplizierter und schwieriger war, als seine Frau ahnte.
Er zog sie rasch zurück in den Schutz des Waldes.
»Davon hat Andreas mir heute gar nichts erzählt«, sagte er, während sie auf einem anderen Weg zum Praxishügel zurückgingen.
Da blieb Ulrike stehen, stellte sich auf die Schuhspitzen und küsste ihren Mann auf die Lippen.
»Vielleicht hat er es zu dieser Stunde selbst noch nicht gewusst.« Schelmisch lächelte sie ihn an. »Du weißt doch, hier bei uns im Tal wohnt die Liebe, die den einen früher, den anderen etwas später ereilt. Das haben wir doch schon so oft erfahren.«
*
An diesem Abend konnte sich Andreas nur schlecht von Sophie trennen. Er brachte sie bis zur Haustür, wo er sich noch ein paar leidenschaftliche Küsse stahl. Ihre zärtlichen weichen Hände, ihre sanft klingende Stimme machten ihn fast sicher: Er musste den Schwur, den er geleistet hatte, brechen. Aber an diesem Abend brachte er seine neu gewonnene Überzeugung noch nicht über die Lippen. Diesen so innigen Stunden mit ihr wohnte eine ganz besondere Stimmung inne, die er durch einen Ausflug in seine Vergangenheit nicht zerstören wollte. Außerdem wollte er erst einmal auch mit Anna sprechen. Er wusste, wie sehr sie Sophie mochte, aber es war etwas anderes, sie als Leiterin des Kinderclubs zu mögen, statt als die zukünftige Frau an der Seite ihres Vaters und als ihre Stiefmutter.
Als er schließlich auf der Dachterrasse seines Hotelzimmers die Nacht begrüßte, kam ihm der Gedanke, zu dieser späten Stunde noch zu seiner Tante Petra zu fahren, bei der Anna an diesem Abend hatte übernachten wollen. Sollte er mit ihr über sein Problem reden? Petra konnte sein wie sie wollte, aber für dramatische Liebesgeschichten hatte sie stets ein offenes Ohr, und auch umsetzbare Ratschläge.
Dann jedoch verzichtete er darauf, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen. Nicht wegen der Uhrzeit, sondern weil er glaubte, die Meinung seiner Tante bereits zu kennen: Petra dachte pragmatisch und realistisch. Von Gewissensnöten verstand sie nur wenig. Sie lebte in der Gegenwart und traf ihre Entscheidungen danach, was für sie im Hier und Jetzt von Vorteil war. Sein aktuelles Problem, das in der Vergangenheit gründete, würde sie kaum verstehen können. Außerdem hatte sie Maya nie gemocht.
*
Überglücklich, dass sie nun zueinander gefunden hatten, ging Sophie in dieser Nacht zu Bett. Jetzt musste sie nur noch die Liebe zwischen ihr und Andreas wie ein junges Pflänzchen pflegen und nähren, damit sie stabil und kräftig wurde.
Zwischen ihren Küssen an diesem Abend war sie einige Male in Versuchung gewesen, den geliebten Mann noch einmal nach dem Grund seiner bisherigen Zurückhaltung zu fragen. Sie war sich sicher, dass diese nicht aus einer Schüchternheit entsprungen war. Aber diese Frage hatte sie Andreas nicht gestellt. Nein, die Nacht war zu schön gewesen für irgendwelche Diskussionen, die dann vielleicht Probleme aufgeworfen hätten.
Mit diesen Gedanken im Kopf lag Sophie selig lächelnd im Bett, betrachtete den runden Mond, der in ihr Zimmer schien und ebenfalls zufrieden zu lächeln schien.
Ja, das Leben war schön. Und besonders schön war, dass sie Anna so sehr mochte. Und Anna sie.
*
Drei Sonnentage vergingen, Tage ungetrübten Glücks. Sophie und Andreas verbrachten jeden Abend zusammen.
Am Spätnachmittag, nach Schließung des Kinderclubs, unternahmen sie etwas mit Anna. Wie eine richtige Familie. Anna klagte nicht mehr über Kopfschmerzen, Sophie genauso wenig über Bauchschmerzen und Andreas wurden endlich nach langer, langer Zeit die Erholung und Entspannung zuteil, die er so dringend brauchte.
Der Samstagabend sollte der schönste werden in Sophies bisherigen Leben. Anna hatte wieder auf dem Bürle-Hof übernachten wollen. Ihre Großtante kümmerte sich rührend um sie.
Nachdem Sophie und Andreas in der Rottwälder Brauerei deftig geschmaust hatten, saßen sie auf der Dachterrasse, Hand in Hand. Sie genossen die Nähe des anderen. Als Andreas der jungen Frau zart über die Wange strich, glaubte sie, in der Innigkeit dieser Berührung ihre eigene Sehnsucht nach Liebe gespiegelt zu sehen. Tief atmete sie den Duft der Rosenbüsche ein, schaute zu, wie das Licht der untergehenden Sonne langsam von der Dunkelheit verschluckt wurde. Am Himmel blinkten die ersten Sterne zu den beiden hinunter.
Andreas stand auf und legte eine CD ein. Dann kam er zurück, zog Sophie aus dem Sessel und legte den Arm um sie. Er tanzte gut. Sehr gut. Sophie spürte bei jedem Schritt seine Sinnlichkeit, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Als die Musik zu Ende war, löste sie sich nur schwer aus seiner Umarmung. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und flüsterte: »Sophie, ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Und wenn das meine letzten Worte sein sollten, dann hätte sich mein Leben schon gelohnt.«
Mit vor Glück überlaufendem Herzen schmiegte sie sich wieder an ihn. Niemals hätte sie gedacht, dass dieser Mann, der sich mit der Liebe anfänglich so schwer getan hatte, derart innige Worte finden würde. Als er sie nun hochhob und ins Schlafzimmer trug, floss ihr Herz vor Seligkeit über.
In dieser Nacht liebten sie sich zum ersten Mal. Sie taten dies mit einer solchen Leidenschaft, als wäre es auch gleichzeitig das letzte Mal. Beide glaubten, für ein paar Stunden in einer eigenen Wirklichkeit zu leben, einem eigenen Kosmos, in dem es nur Liebe und Zärtlichkeit gab.
Irgendwann gingen sie nach draußen. Sie atmeten die Nachtluft tief ein. Ihnen war zumute, als wäre es ihnen gelungen, die Zeit anzuhalten. Lange rührte sich nichts um sie herum. Kein Lüftchen wehte. Alles war so still, dass sie glaubten, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein.
Irgendwann begann ein Vogel zu singen und die Wolken am Himmel bekamen Farbe. Sie tauchten ein in ein gelbrötliches Licht, das hinter den Schwarzwaldhügeln am Horizont heraufwuchs. Und dann ließ sich die Sonne sehen, groß und leuchtend. Ehrfurcht erregend. Der Anblick des aufgehenden Planeten, der Aufzug eines neuen Tages, schenkte den Liebenden eine Verbundenheit, die sie sicher machte, dass sie für immer zusammen bleiben würden.
Niemals hätten sie an diesem Sonntagmorgen gedacht, dass in dem Beginn ihrer großen Liebe bereits das Ende steckte.
*
Den Sonntag verbrachten Sophie und Andreas mit Anna zusammen. Das Herz der jungen Frau lief über vor Glück, wenn Annas kleine Hand immer wieder ihre große suchte oder wenn das Mädchen vertrauensvoll seinen Kopf an sie schmiegte. Wie auch jetzt, als sie mit dem Ausflugsboot über den Titisee fuhren. Wie gut, dass Sophie in diesen Momenten nicht Andreas’ Gesicht sehen konnte.
Die Liebesbeweise seiner Tochter nahm er mit zwiespältigen Gefühlen wahr. Einerseits war er dankbar, dass Anna der Frau an seiner Seite so viel Sympathie entgegen brachte, andererseits jedoch fühlte er sich dadurch auch immer mehr unter Druck. Annas Sehnsucht nach einer Mutter fand er durch ihr Verhalten Sophie gegenüber bestätigt. Doch wie sollte er ihr den Wunsch erfüllen?
Während dieses Tages vermochte Andreas diese Gedanken immer wieder zu verdrängen. In der Nacht jedoch, von Sonntag auf Montag, strafte ihn sein Unterbewusstsein mit einem Traum, der ihm schonungslos seine Lage vor Augen führte.
Maya erschien ihm im Traum. Noch einmal durchlebte er mit ihr die wichtigsten Stationen ihres gemeinsamen Lebens. Ihr Kennenlernen, ihre kameradschaftliche Zusammenarbeit in der Firma, glückliche Nächte, Annas Geburt. Und immer wieder hörte er Maya sagen: »Wir werden uns wieder begegnen und uns gerade in die Augen sehen. Das können wir doch dann, oder?«
Auch in diesem Traum bestätigte er ihr noch einmal, wie auf ihrem Sterbebett, dass sie sich dann natürlich in die Augen würden sehen können. Schließlich war es für ihn eine Ehrensache, sich an seine Versprechen zu halten.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden wachte er in Schweiß gebadet auf. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.
Er war im Urlaub, im Wiesler Hotel, mit seiner Tochter Anna. Maya war tot. Er hatte Sophie kennen und lieben gelernt – und genau das war sein Problem. Diese Liebe konnte er nicht leben, auch wenn er sich nach nichts mehr sehnte, als an der Seite Sophies durchs weitere Leben zu gehen.
Andreas sprang aus dem Bett, trat auf die Dachterrasse, wo die noch kühle Morgenluft seinen Schweiß trocknete. Während Anna nach dem schönen Sonntag noch in seligem Schlummer lag, wurde Andreas immer klarer, dass er mit Sophie niemals glücklich werden konnte. Er konnte sie nicht glücklich machen und dadurch auch sich selbst nicht. Ein Mann, der darunter litt, ein Versprechen gebrochen zu haben, konnte niemanden glücklich machen. Und Sophie hatte es verdient, der glücklichste Mensch unter der Sonne zu werden. Wenn er zeitlebens unter schlechtem Gewissen litt, machte er nicht nur die geliebte Frau unglücklich, sondern auch seine Tochter. Ein mit psychischen Problemen belasteter Vater konnte seinem Kind keine Stütze sein.
Und während die aufgehende Sonne die Nebelschleier am Horizont langsam auflöste und die Landschaft mit atemberaubenden Rosa- und Goldtönen überzog, reifte in Andreas ein für alle weitreichender Entschluss.
*
Montagmorgen erschien Anna nicht im Kinderclub.
Sophie dachte sich noch nichts bei. Nachdem sie dann jedoch bis Mittag von den beiden nichts gehört hatte, rief sie Andreas auf seinem Handy an. Es war ausgeschaltet.
Und nun?, fragte sie sich mit aufkeimender Unruhe. Okay, sie würde warten. Wieder fiel ihr ein, dass sie ihm immer noch nicht ihre Handynummer gegeben hatte. Nun gut, er konnte sie ja jederzeit im Hotel erreichen.
Auch der Nachmittag ging vorbei, ohne etwas von den beiden zu hören.
Nach ihrer Arbeit schlenderte sie zum Haupthaus hinüber. Ihre Bekannte, die inzwischen mitbekommen hatte, dass sie und der attraktive Gast aus München ein Paar geworden waren, sah sie verwirrt an, als sie sich bei ihr erkundigte, ob Herr Mayer auf seinem Zimmer wäre.
»Weißt du denn nicht, dass er heute in aller Früh ausgecheckt hat?«, lautete Ursels Antwort.
»Er ist abgereist?« Sophie erkannte kaum ihre eigene Stimme. »Und Anna?«
»Mit seiner Tochter natürlich. Hier, das soll ich dir von der Kleinen geben.«
Mit zitternder Hand nahm sie den Briefumschlag entgegen. Dann verließ sie die Hotellobby. Draußen, ein wenig abseits der anderen Gäste, setzte sie sich auf eine Bank.
Ich habe Dich lieb stand auf dem großen weißen Bogen in ungelenker rührender Kinderschrift geschrieben. Als wenn Anna bewusst gewesen wäre, dass diese schwierig zu entziffern war, hatte sie ihr Liebesgeständnis mit Herzchen und Rosen verschönert.
Immer wieder las Sophie diesen Brief, in dem all das Ungeschriebene mehr vom schmerzvollen Abschied des Kindes sagte, als die drei einsamen Wörter, die da standen.
Sie hob das Gesicht der Sonne entgegen, die ihr plötzlich viel zu grell vorkam. Sie trieb ihr die Tränen in die Augen. Fassungslosigkeit lähmte sie. Sie begriff nur eines: Andreas war abgereist, ohne ein erklärendes Wort. Aber brauchte sie diese Erklärung überhaupt noch? Nein. Sie ahnte ja den Grund. Er hatte Angst bekommen vor ihr, vor ihrer Liebe, vielleicht auch vor seinen eigenen Gefühlen. Wie auch immer.
Lange blieb sie sitzen, unfähig sich zu rühren. Die Sonne trocknete ihre Tränen. Einsam kam sie sich vor, allein. Daran änderte auch das fröhliche Gezwitscher nichts, das in dem Strauch neben der Bank erklang.
Irgendwann stand sie auf und ging auf ihr Zimmer. Geschlagen, vernichtet.
In dieser Nacht machten sich ihre Bauchschmerzen wieder bemerkbar. Am frühen Morgen verspürte sie Übelkeit. Sie musste sich übergeben. Die Schmerzen waren jetzt so stark, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte. Mit letzter Kraft setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr zur Miniklinik. Als sie dort auf dem Patientenparkplatz ausstieg, wurde ihr schwarz vor Augen.
Sie spürte nur noch, wie ihre Beine unter ihr versagten.
*
Als Sophie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie auf dem Untersuchungstisch der Miniklinik. Wie durch einen Schleier erkannte sie das Gesicht des Landarztes über sich. Da fiel ihr wieder ein, was passiert war.
»Sie haben Fieber«, sagte Dr. Brunner mit besorgter Miene.
Sie spürte seine Hand auf ihrer Stirn. Schon allein sie empfand sie als tröstend.
»Ich habe starke Schmerzen im Bauch«, flüsterte sie. »Sie kamen diese Nacht auf. Ich musste mich übergeben.«
»Zeigen Sie mir, wo es weh tut.«
Sie legte die Hand auf den Bauch. »Wie beim letzten Mal.«
Der Landarzt drückte kurz auf die Stelle, was sie schmerzvoll aufschreien ließ.
Schwester Gertrud, die neben ihm stand, reichte ihm ein Fieberthermometer, das er ihr unter die Zunge schob.
Mit geschlossenen Augen und einem Gefühl von Endzeitstimmung wartete sie darauf, dass er es wieder heraus nahm.
»39,5«, lautete sein Kommentar. »Wir sollten operieren.«
»Operieren?«
»Das hohe Fieber deutet auf eine starke Entzündung hin«, erwiderte Dr. Brunner mit bedeutsamem Blick. »Ich sagte Ihnen bereits, dass ein entzündeter Blinddarm in weniger als vierundzwanzig Stunden nach Einsetzen der Symptome platzen kann. Die eigentliche Operation ist ein Kinderspiel, falls keine Komplikationen auftreten. Aber wenn Bakterien aus einem geplatzten Wurmfortsatz ins Blut gelangen, entwickelt sich eine lebensgefährliche Sepsis.« Er sah sie eindringlich an. »Sind Sie mit einer Notoperation einverstanden?«
Sie konnte nur noch nicken. Nicht nur ihre Seele war krank, sondern jetzt auch noch ihr Körper. In diesem Moment war sie dankbar, die Verantwortlichkeit für ihr Leben, das Andreas am vergangenen Tag zerstört hatte, in die Hände dieses väterlich wirkenden Arztes zu geben.
*
»Schwester Gertrud, bereiten Sie bitte alles vor«, wies Matthias seine Helferin an. »Rufen Sie Dr. Klein, meine Frau sowie Schwester Monika. Es ist Eile geboten.«
In den nächsten Minuten entstand eine rege Geschäftigkeit in der Miniklinik. Schritte huschten hin und her, weiße Kittel wehten, und die schattenlose Lampe im Operationssaal leuchtete grell.
Matthias wusch sich Hände und Unterarme mit Spezialseife und rieb sie mit Desinfektionsmittel ein. Nacheinander hielt er sie seiner Frau entgegen, die ihm die Handschuhe überstreifte.
Derweil bereitete Gertrud die Patientin auf die Operation vor. Dann betrat er Seite an Seite mit seinem Lockenköpfle den kleinen Operationssaal, der technisch auf dem modernsten Stand war.
In der Mitte stand unter riesigen Tageslichtleuchten der Operationstisch, an dessen Kopfende bereits Dr. Maria Klein, die Anästhesistin, saß. Sophies Körper war rund um die Operationsstelle abgedeckt. Matthias legte die Hände leicht auf die grünen Tücher. Er spürte die Wärme von ihrem Körper und den sachten Rhythmus ihrer Atmung.
»Bereit?« Er sah Dr. Klein an.
Diese nickte.
»Skalpell«, wies er Ulrike in der knappen Sprache an, die im Operationssaal üblich war.
Er beugte sich über das kleine Fleckchen Bauch, das die Tücher frei ließen, und durchtrennte Haut und Fettgewebe mit einem einzigen sauberen und routinierten Schnitt. Sein Lockenköpfle, eine gelernte OP-Schwester, tupfte das Blut ab. Schon bald lag die offene Wunde rosig und trocken vor ihm. Er griff in die Bauchhöhle, um den Wurmfortsatz zu suchen. Bei der ersten Berührung spürte er, dass der Blinddarm bereits mürbe war, was für ihn bedeutete, ganz vorsichtig vorgehen zu müssen. In diesem Stadium konnte der Appendix an der Beugung abbrechen. Dann wurde die Basis zuerst vom Zäkum getrennt, statt ungekehrt.
Er verständigte sich mit Ulrike nur mit Blicken. Während sie den Wurmfortsatz festhielt, band er ihn ab und trennte ihn durch einen einzigen Schnitt. Dann legte er den Katgutfaden um den Stumpf, zog ihn an und nähte den abgebundenen Appendixstumpf zu. Diese Arbeit bedeutete für ihn Routine. Zu oft hatte er eine solche Operation durchgeführt, als dass ihm ein Fehler hätte unterlaufen können.
»Ich schließe jetzt die Wunde«, informierte er die Narkoseärztin.
»Herz und Atmung stabil«, teilte Dr. Klein ihm zufrieden mit.
»Nadel.«
Ulrike legte ihm das Gewünschte in die geöffnete Hand. Während er im gleichmäßigen Rhythmus die Nadel führte, schnitt sie die Fäden ab.
»Geschafft.« Matthias’ Augen lächelten sein Lockenköpfle über dem Mundschutz hinweg an. »Wir sind ein gutes Team«, flüsterten sie seiner Weggefährtin zärtlich zu.
*
»Du bist gemein, Papa.« Anna saß ihrem Vater mit verweinten Augen am Frühstückstisch gegenüber. »Ich wäre so gern noch geblieben.«
»Phillip reist doch auch heute ab«, erwiderte Andreas tonlos.
Er wusste, dass er gemein war. Er wusste, dass er sich seinem Kind gegenüber unverzeihlich benommen hatte. Und Sophie gegenüber sowieso. Ohne ein erklärendes Wort, ohne sich zu verabschieden hatte er sich gestern heimlich in der frühen Morgenstunde aus dem Ruhweiler Tal davongeschlichen.
»Wann sehe ich Sophie denn wieder? Kann sie uns wenigstens besuchen?«, hörte er Anna in seine Gewissensbisse schluchzend fragen.
Er griff sich an den Kopf. Er hatte das Gefühl, er würde gleich platzen. Ihm dröhnte das Blut so laut in den Ohren, dass er Anna, die ihn jetzt erneut mit Vorwürfen überschüttete, kaum verstehen konnte. Er fühlte sich unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Obwohl ihm der Schweiß aus allen Poren brach, rann ihm ein eiskaltes Frösteln über den Rücken.
Natürlich hatte er in dieser Nacht, der ersten wieder in München, kein Auge zugetan. Die Leere, die von ihm immer mehr Besitz nahm, drohte ihn zu verschlingen.
Wie durch eine Nebelwand sah er seine Tochter an, der die Tränen über die blassen Wangen kullerten. Ein gewaltiges Schluchzen erschütterte den zarten Kinderkörper.
Bei diesem Anblick kam er sich vor wie ein Verbrecher. Dass er unter seiner Entscheidung, nicht wortbrüchig werden zu können, litt, war eine Sache, dass er sein Kind dadurch todunglücklich gemacht hatte, eine andere. Wie mochte sich Sophie an diesem Morgen, zur gleichen Stunde, fühlen? Inzwischen würde sie wissen, dass er sich so feige verdrückt hatte. Vielleicht hatte sein Verhalten bei ihr ja einen gesunden Hass auf ihn ausgelöst. Das wäre gut. Der Hass in ihrem Herzen würde vielleicht die aussichtslose Liebe zu ihm verdrängen können. Er hasste sich nur selbst. Die Liebe für Sophie brannte ihm dagegen immer noch dicht unter der Haut. Was auch gut so war. Er wollte leiden. So wurde er wenigstens bestraft.
»Ich will wieder eine Mutter haben«, hörte er Anna sagen. »Genauso wie die anderen Kinder. Eine Mutter hätte niemals so was getan, wie du. Eine Mutter liebt ihr Kind, und du ...« Der Rest des Satzes ging wieder in einem verzweifelten Schluchzen unter.
Andreas schluckte. Er fühlte sich außerstande, darauf etwas zu erwidern. Anna war noch zu jung, um seine Lage verstehen zu können. War sie überhaupt zu verstehen? Übertrieb er nicht ein wenig, indem er so standhaft an einem Versprechen, das er einer Todgeweihten vor drei Jahren gegeben hatte, festhielt? Zum offensichtlichen Schaden ihrer gemeinsamen Tochter? Was sollte er nur tun?
»Ich will zu Tante Petra«, forderte Anna jetzt mit ihrer ganzen kindlichen Empörung ein. »Ich will nicht mehr bei dir bleiben. Und wenn ich bei Tante Petra auf dem Hof lebe, kann ich auch Sophie wiedersehen.«
Er stand auf, trat neben sein Kind, wollte ihm über die dunklen Locken streicheln, doch Anna entzog sich seiner Hand. Ihre Augen funkelten ihn an. Ihr süßer Schmollmund zitterte. Dann sprang sie auf und lief aus der Küche. Ein paar Sekunden später hörte er, wie seine Haushälterin sie tröstete und ihr das Lied vorsang, das die ältere Frau Anna schon als Baby vorgesungen hatte. Die warme Frauenstimme ging ihm ans Herz und er spürte, wie der Kloß in seinem Hals immer größer wurde.
Dann liefen auch ihm die Tränen über die Wange.
*
Wie durch Watte drangen leise Geräusche an Sophies Ohr. Noch fühlte sie sich schwerelos und außerhalb ihres eigenen Körpers. Nur langsam erwachten ihre Sinne wieder zum Leben. Hinter ihren Lidern sah sie eine Helligkeit, die sie blendete. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen. Schließlich gelang es ihr, die Lider zu heben und sie sah einen hochgewachsenen graumelierten Mann in weißem Mantel neben sich stehen, der sich nun mit entspannter Miene über sie beugte.
»Hallo, Frau Lindemann, da sind Sie ja wieder«, sagte Dr. Brunner munter.
»Bin ich schon ...?«
Das Sprechen tat ihr im Hals weh und ihre Zunge fühlte sich steif und pelzig an.
»Ja, Sie haben alles hinter sich. Die Operation ist bestens verlaufen. Sie hätte keinen Tag später sein dürfen. Der Appendix war schon mürbe.«
Völlig kraftlos schloss sie die Augen.
»Sie werden ungefähr fünf Tage bei uns bleiben müssen. Dann dürfen Sie wieder heim«, hörte sie ihn sagen.
»Der Kinderclub«, murmelte sie kaum hörbar.
»Keine Sorge. Wir haben im Hotel schon angerufen und Bescheid gesagt. Frau Wiesler wünscht Ihnen gute Besserung. Sie wird Sie in den kommenden Tagen besuchen.«
Sie schluckte, horchte in sich hinein. Sie fühlte nichts. Sie hatte keine Schmerzen. Sie befand sich in einem Zustand, als gäbe es ihren Körper gar nicht. Und trotzdem war da irgendetwas. Tief in ihr. Ja, Andreas. Er hatte sie verlassen. Jäh wurde ihr diese Wahrheit wieder bewusst. Und da wünschte sie sich, sie wäre wieder in Narkose.
»Frau Lindemann?« Die sanft und leicht beunruhigt klingende Dr. Brunners drang an ihr Ohr. »Alles in Ordnung? Haben Sie Schmerzen?«
Sie schüttelte den Kopf. Stumm, mit geschlossenen Augen, nur die Leere in sich wahrnehmend, die sie zu verschlingen drohte.
»Sehen Sie mich an.«
Sie erfüllte seine Bitte, ohne ihn jedoch richtig wahrzunehmen. Und dann begann sie zu weinen. Einfach so. Ganz leise. Sie weinte und weinte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Die Wunde in ihr öffnete sich. Aus ihr floss das Gift einer enttäuschten Liebe.
*
Obwohl Matthias wusste, dass es nach einer Narkose durchaus vorkommen konnte, dass Patienten wirres Zeug redeten oder auch manchmal weinten, überraschte ihn Sophies Reaktion. Ihr Weinen kam tief aus der Seele, war kein Ausdruck von Weltschmerz, wie ihn viele Menschen in bestimmten Situationen manchmal empfanden. Er ahnte, dass die junge Frau einen konkreten Grund hatte, so lange und aus vollem Herzen leise vor sich hinzuschluchzen.
»Was ist geschehen?«, fragte er. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Sagen Sie mir, was passiert ist.«
Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte.
»Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung geben?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Das hilft auch nicht.«
Erleichtert stellte er fest, dass ihr Weinen verebbte und sie sich anscheinend der Situation, welch auch immer sie zu diesem Ausbruch gebracht hatte, stellen wollte.
Tapferes Mädchen, dachte er.
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sprach er weiter. »Es ist besser, sich seinen Kummer von der Seele zu reden, als ihn in sich hineinzufressen. Eine kranke Seele macht den Körper auch krank.«
Da traf ihn ein aufgewühlter Blick aus den geröteten Augen. »Können Sie mir sagen, warum die Männer so sind?«, brach es aus ihr hervor.
Aha, Liebeskummer, wusste er sofort. Hatte sie sich etwa mit Andreas zerstritten?
Er räusperte sich, überlegte, ob sie so kurz nach Operation schon in der Lage sein würde für ein Gespräch.
»Andreas Mayer?«, fragte er nur.
»Woher wissen Sie das?«
»Von ihm.«
»Er hat mich verlassen.«
Stockend und mit letzter Kraft, wie ihm schien, erzählte sie ihm, was passiert war. Schließlich schloss sie erschöpft die Augen.
Ein solch feiges Verhalten traute er Andreas eigentlich gar nicht zu. Merkwürdig. Der junge Mann hatte ihm den Eindruck vermittelt, Sophie zu lieben. Irgendetwas musste passiert sein.
Er räusperte sich und sagte dann: »Sie sind jetzt erschöpft und müssen erst einmal wieder Kraft tanken. Schlafen Sie. Ich gebe Ihnen ein paar Tropfen, die Ihnen dabei helfen, ruhig zu werden. Wenn Sie wieder wach sind, lassen Sie mich rufen. Dann reden wir weiter.«
Er sah die junge Frau an, die mit geschlossenen Augen vor ihm lag. Ihr Atem ging schon regelmäßiger. Und bald wusste er, dass sie auch ohne Tropfen eingeschlafen war. Ihr geschwächter Körper und ihre zerschundene Seele forderten ihren Tribut.
*
Den Rest des Vormittag widmete sich Matthias seinen Patienten im Wartenzimmer. Dennoch ging ihm Sophies Kummer nicht aus dem Sinn, ebenso wenig Andreas’ Verhalten. Sollte er ihn anrufen? Lange überlegte er hin und her. Und kurz vor Ende der Vormittagssprechstunde informierte ihn Schwester Gertrud durch die Gegensprechanlage: »Herr Mayer will Sie sprechen.«
Erst einmal erleichtert atmete er aus. Das war doch schon einmal ein Fortschritt: es tat sich etwas.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie in der Praxis anrufe, aber ich brauche Ihre Hilfe«, hörte er Andreas sagen.
Seine Stimme klang ganz fremd. Belegt, ja sogar ein wenig hilflos, was so gar nicht zu dem Geschäftsmann passen wollte.
»Wie kann ich helfen?«, fragte er.
»Ich kann Sophie Lindemann nicht erreichen. Im Hotel ist sie nicht. Der Mann an der Rezeption sagte, er glaubte, sie hätte gekündigt, und ich besitze blöderweise nicht ihre Handynummer.«
Gekündigt?
Matthias schüttelte den Kopf. Nichts verbreitete sich so schnell wie die Unwahrheit.
»Sie ist hier in der Miniklinik«, teilte er Andreas mit und schilderte kurz, was passiert war.
Lange herrschte Stille in der Leitung, dann meldete sich Andreas erneut mit den Worten: »Ich muss unbedingt mit ihr reden. Ich habe großen Mist gebaut.«
Der Landdoktor musste lächeln. Diesen »Mist» kannte er bereits, doch das verschwieg er dem jungen Mann.
»Ich komme zurück«, sagte Andreas atemlos. »Heute am Spätnachmittag bin ich da. Glauben Sie, dass ich dann mit Sophie sprechen kann?«
»Falls keine Komplikationen eintreten, wird sie körperlich dazu in der Lage sein«, antwortete er.
Ob die junge Frau ihn überhaupt würde sprechen wollen, musste sie dann selbst entscheiden.
*
Ja, Sophie wollte mit Andreas sprechen.
Als er ins Zimmer kam, dachte sie zwar, sie würde träumen. Sie würde noch in Narkose sein oder ihre Fantasie ihr einen Streich spielen.
»Andreas?«, vergewisserte sie sich, als er an der Tür stehen blieb. Regungslos, was sie vermuten ließ, dass er nur das Produkt ihres Wunschdenkens war. Erst als er auf sie zuging, begriff sie, dass er leibhaftig im Zimmer war.
»Ich bin hier, um dich um Verzeihung zu bitten«, sagte er gerade heraus. Dabei legte er den bunten Sommerblumenstrauß achtlos auf ihre Bettdecke. Sein Blick umfasste sie, hielt ihren fest. »Kannst du mir verzeihen, dass ich mich gestern so einfach davongeschlichen habe?«, fuhr er fort. »Ich bin gekommen, dir den Grund dafür zu sagen. Möchtest du ihn hören?«
Sie konnte nur nicken, fühlte sich unfähig, etwas zu sagen. Dass er ihr Blumen brachte, dass er überhaupt gekommen war, dass er etwas klären wollte, ließ sie tief im Herzen hoffen, dass es vielleicht doch noch eine gemeinsame Zukunft für sie geben würde. Dennoch rief sie sich zur Vorsicht auf. Womöglich verstand sie seinen Besuch ganz falsch.
»Sag es mir«, bat sie ihn mit hörbar heiserer Stimme.
»Darf ich?« Er zeigte auf die Bettkante.
Als sie nickte, setzte er sich neben sie. Zögernd griff er nach ihrer Hand. Sie brachte es nicht fertig, sie seiner zu entziehen. Zu sehr genoss sie auch jetzt wieder deren Wärme, das Gefühl von Geborgenheit, die sie versprach, die Stärke, sie jederzeit halten zu können, wenn sie nur wollte.
»In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte ich einen Traum«, begann Andreas zu erzählen. »Als ich aus ihm aufwachte, war mir klar, dass ich abfahren musste. Der Traum hatte mir vor Augen geführt, dass ich mich nicht an eine Frau binden darf.«
Sophie schluckte. Hart spürte sie den Herzschlag im Hals. Enttäuschung nahm von ihr Besitz.
Nun entzog sie Andreas ihre Hand, rückte in den Kissen ein Stück höher, um mehr Abstand zwischen ihm und sich zu schaffen.
»Maya ist mir in diesem Traum erschienen. Sie hat mich daran erinnert, dass ich ihr auf dem Sterbebett das Versprechen geben habe, niemals mehr zu heiraten. Der Gedanke, dass Anna eine neue Mutter bekommen würde, war für sie völlig unvorstellbar. Ich habe ihr das Versprechen gegeben, einer Todgeweihten. Ich wollte, dass sie in Ruhe von dieser Welt gehen konnte. In dieser Situation war mir nicht bewusst, dass ich mich durch mein Wort zukünftig geißeln würde. Es wäre mir auch völlig gleichgültig gewesen. Ich dachte ja nicht an die Zukunft. Mayas Krankheit und ihr bevorstehender Tod gingen mir sehr nahe.« Andreas schluckte, griff sich an die Stirn und sprach weiter. »Jetzt, drei Jahre nach ihrem Tod, traf ich dich. Es war Liebe auf den ersten Blick, eine Liebe, die ich eigentlich gar nicht empfinden durfte. ich wusste sofort, dass ich Schwierigkeiten mit meinem Gewissen haben würde, wenn ich meinen Gefühlen nachgab. Darum auch mein für dich merkwürdiges Verhalten dir gegenüber. Dann jedoch war ich so glücklich mit dir, dass ich alle Hemmnisse über Bord warf und mich fallen ließ. Bis ich diesen Traum hatte. Ich wollte vor dir fliehen, hatte Angst, wenn ich dich noch einmal sehen würde, erneut in diesen Zweispalt zu fallen. Nachdem ich dann gestern wieder zu Hause war, wurde Anna immer unglücklicher. Zum ersten Mal hat sie mir deutlich gesagt, wie sehr sie sich eine Mutter wünscht, wie sehr sie eine braucht, und dass du diese Mutter für sie sein solltest. Sie hat mir eine richtige Szene gemacht. Auch heute Morgen. Da endlich begriff ich, dass ich mich von meinem Versprechen an Maya lösen muss, um mein Kind glücklich zu machen und auch mich selbst. Gewissen hin oder her ...« Er seufzte, sah sie abwartend an und lächelte dann verhaltend. »Ja, und jetzt sitze ich hier. Nachdem ich dich im Hotel nicht erreicht habe, rief ich Dr. Brunner an. Er erzählte mir, was passiert war.«
Sophie hatte dem geliebten Mann zugehört. Während er erzählte, fuhren ihre Gefühle Achterbahn. Hoffnung und Angst gaben sich abwechselnd das Steuer in die Hand. Die Hoffnung darauf, doch noch mit Andreas glücklich werden zu können, und die Angst davor, dass sein schlechtes Gewissen seiner Ex-Frau gegenüber irgendwann größer sein könnte als die Liebe zu ihr, wechselten einander ab.
Würde der gebrochene Schwur ihre Liebe vielleicht irgendwann zerstören können?
»Jetzt bin ich hier, weil ich weiß, was ich will«, hörte sie ihn nun mit fester Stimme sagen. »Ich bin gewillt und stark genug, mit meinem schlechten Gewissen zu leben, das sich bestimmt in Zukunft hin und wieder melden wird, aber ich bin nicht gewillt, ohne dich zu leben. Und Anna braucht dich auch.«
Sie sahen sich an, ihre Blicke verschmolzen miteinander.
Sie musste nichts sagen. Sie war sich sicher, dass Andreas in ihren Augen lesen konnte, dass sie ihm in diesen Augenblicken ihr Versprechen an eine gemeinsame Zukunft gab. Nur danach sehnte sie sich. Sie gehörten zusammen. Das Schicksal hatte es so gewollt. Und dann kamen ihr doch die Worte ganz von selbst über die Lippen: »Ich liebe dich und ich werde dir immer zur Seite stehen, auch wenn dich einmal Gewissenbisse plagen. Das stehen wir gemeinsam durch. Und Anna werde ich eine gute Mutter. Ich werde alles geben, um euch beide glücklich zu machen.«
Da zog Andreas sie an sich. Er strich ihr übers Haar, über die Schultern, sah sie an, als könnte er nicht glauben, dass sie in sein Leben getreten war und fortan zu ihm gehören wollte. Er wirkte so glücklich und gleichzeitig ungläubig wie ein Junge, dessen Traum erfüllt worden war.
»Sag nichts«, flüsterte sie lächelnd. »Küss mich lieber.«
Es wurde kein leidenschaftlicher Kuss, sondern ein zärtlicher, inniger, der die Schatten der vergangenen Stunden auf ihren Seelen in helles Licht verwandelte. Sie schmiegten sich aneinander mit einem Glücksschimmer im Herzen. Denn von nun an wussten sie, dass sie zusammengehörten.
*
Während Andreas am nächsten Morgen neben Sophie am Krankenbett saß und sich nicht trennen konnte, um zurückzufahren und Anna zu holen, machte Petra Bürle eine Entdeckung, die ihr die Fassung nahm.
»Das gibt es doch nicht.« Petra fielen fast die ohnehin großen Augen aus dem Kopf. Ihre Hand, die den Briefbogen hielt, zitterte leicht. Nicht etwa durch innere Rührung oder Betroffenheit, sondern durch Wut.
Sie stand auf und stellte sich ans Schlafzimmerfenster. Ihr Busen, eingezwängt in eine rote Seidenweste, die zu ihrem neuesten Kostüm im Landhausstil gehörte, hob und senkte sich. Ihr Atem ging stoßartig.
Zu dumm, dass ihr Wolfi nicht im Haus war. Und Franziska befand sich mit ihrem Verlobten in Urlaub. Wem sollte sie das Ungeheuerliche, das sie gerade gelesen hatte, jetzt anvertrauen? Zumal es noch von brisanter Bedeutung war. Und eine reine Familiensache, also nicht für alle Ohren geeignet.
Petra biss sich auf die Lippe. Dabei färbte der Lippenstift ihre Schneidezähne orangerot, was ihr etwas Vampirisches gab. Ihre beringten Finger klopften auf ihr tiefes Dekolletee, spielten mit dem goldenen Kreuz an ihrer Kette. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft.
Wie es im Leben doch kommen konnte, sinnierte sie, während sie auf die gegenüberliegende Seite des Ruhweiler Tales schaute, wo die schwarzen Tannen in einen wolkenlosen Mittagshimmel zackten.
Wäre sie an diesem Vormittag nicht auf die Idee gekommen, das Schlafzimmer aufzuräumen, wäre ihr die Dose, in der sie ein paar Erinnerungsstücke aufbewahrte, nicht in die Hände gefallen, sie hätte sie nicht geöffnet und diesen Brief nicht gefunden. Eine Kettenreaktion also, der sie zum Opfer gefallen war.
Der Brief stammte von ihrer vor vier Jahren verstorbenen Schwester. Sie hatte ihn zu einer Zeit erhalten, in der zwischen ihnen wieder einmal Funkstille geherrscht hatte. Darum hatte sie ihn damals auch nicht gelesen. Sie war noch nicht so weit gewesen, sich mit Waltraut vertragen zu wollen. Und später hatte sie ihn vergessen. Als sie sich mit Waldtraut auf deren Sterbebett versöhnt hatte, hatten beide nicht mehr an diesen Brief gedacht. Bis heute nicht. Und nun offenbarte er ihr eine Wahrheit, die ihr den Atem nahm. So eine Frechheit. Wie konnte eine Frau nur so gemein sein. Aber sie hatte Maya ja nie gemocht. Ihr Instinkt hatte sie damals schon nicht getäuscht.
Sie atmete tief ein, überlegte, klopfte auf ihr Dekolletee.
Was nun? Sollte sie Andreas davon erzählen? Lange überlegte sie. Dann entschied sie sich dazu, mit ihrem Neffen zu reden.
Nicht jeder hätte die Vergangenheit wieder aufleben, sondern stattdessen die Toten ruhen lassen, aber zu einem von Petras weniger guten Charakterzügen gehörte der, dass sie der Welt stets zeigen wollte, wie sehr sie im Recht war. Der Brief ihrer Schwester bot ihr dazu eine Gelegenheit. Und dieses Mal bewirkte sie durch ihre nicht immer gerade angenehme Art sogar das Glück zweier Menschen, statt es zu zerstören.
*
Ulrike kam vom Einkaufen zurück. In Gedanken war sie in die Liebesgeschichte von Sophie und Andreas vertieft. Sie liebte Liebesgeschichten mit Happyend. Und diese war so eine.
Andreas hatte sich für ein Leben mit Sophie entschieden und dadurch auch dafür, seinem Kind wieder eine Mutter gegeben. Sie wünschte ihm von Herzen, dass er langfristig mit dieser Entscheidung würde leben können, ohne unter schlechtem Gewissen zu leiden.
Dieses Thema beschäftigte die Landarztfrau so sehr, dass sie die schwere schwarze Limousine, die ihr in der Kurve mit viel zu hoher Geschwindigkeit entgegenkam, fast zu spät bemerkt hätte.
Der Wagen nahm Dreiviertel der Straßenbreite ein. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie unfähig zu reagieren. Dann jedoch riss sie instinktiv das Steuer nach rechts und ihr alter grüner Kombi rumpelte über den unbefestigten Seitenstreifen ein paar Meter die ansteigende Wiese hinauf.
In bedrohlicher Schräglage am Hang kam sie schließlich zum Stehen. Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte, schoss die blanke Wut in ihr hoch.
Wie konnte dieser Typ nur die gesamte Straßenbreite für sich beanspruchen? Und das bei diesem Tempo.
Sie stieß ihre Tür auf und sah sich nach dem Wagen um. Da staunte sie nicht schlecht.
Schwerfällig wälzte sich Petra Bürle aus dem Auto, mit aufgelöster Miene und ebenso aufgelöster Hochsteckfrisur.
»Ulrike»!«, rief sie mit aufgerissenen Augen in entsetztem Ton. »Mein Gott, das tut mir leid. Ich bin viel zu schnell und zu unaufmerksam gewesen. Ist dir was passiert?«
So viel Einsicht kannte man normalerweise gar nicht von der Bürle-Bäuerin. Da sie Petra anmerkte, wie fassungslos diese war, verrauchte ihre Wut schnell wieder. Irgendetwas musste passiert sein, dass diese so gerast war.
»Ich bin auf dem Weg nach München«, teilte Petra ihr da auch schon kurzatmig mit. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich kann Andreas, meinen Neffen, nicht erreichen. Zu Hause ist er nicht. Anna sagte mir weinend am Telefon, dass ihr Vater einen Geschäftstermin hätte und sie gern zukünftig bei uns wohnen wollte. An sein Handy geht er nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist. Zumal ich davon ausging, dass Andreas und Anna noch im Wiesler wären und ich ihm etwas ganz Wichtiges zu sagen habe.« Petra schnappte aufgeregt nach Luft. Ihr Gesicht glich einer Tomate.
»Ganz ruhig, Petra«, beruhigte Ulrike die Bäuerin. »Alles ist gut. Andreas ist in der Miniklinik.«
»In der ...?« Riesige Augen starrten sie an. »Ist er krank? Aber Anna ...«
»Er ist nicht krank. Er besucht nur Frau Lindemann, die bei uns liegt.«
»Das verstehe ich alles nicht«, murmelte Petra. Mit fahriger Hand strich sie sich eine Strähne zurück.
»Hör zu ...« Kurz und knapp berichtete sie ihr von der Blinddarmoperation. »Warum Andreas seinen Urlaub abgebrochen hat, soll er dir selbst erzählen«, fügte sie hinzu. Sie lächelte dessen Tante beruhigend an. Und da sie nun doch ein bisschen neugierig war, fragte sie: »Was ist denn eigentlich passiert?«
Da zögerte Petra nicht lange. Viel zu lange hatte sie ihre Neuigkeit für sich behalten müssen. Und ein paar Sekunden später konnte auch Ulrike nur staunen.
»Das ist ja ...« Erleichtert atmete sie aus. »Du musst sofort in die Klinik fahren und Andreas und Sophie davon erzählen«, sagte sie. »Ich rufe Schwester Gertrud an und frage, ob Andreas noch da ist. Sie soll ihn so lange festhalten. Er kann auch noch in einer Stunde zurück nach München fahren, um Anna zu holen.«
*
Schwester Gertrud stand hinter der Rezeption, als Petra wie eine aufgescheuchte Henne in den Praxisvorraum gestürzt kam.
»Ich muss zu Frau Lindemann«, sagte sie in forderndem Ton ohne eine Begrüßung. »Sofort. Es ist wichtig.«
»Moment einmal«, hob da der Praxisdrache an und straffte sich. »Unsere Patientin ist gestern operiert worden. Das geht nicht.«
»Das geht nicht?« Die Stimme der Bäuerin schraubte sich gleich drei Oktaven höher. »Und ob das geht. Das werde ich Ihnen jetzt zeigen.« Petra holte tief Luft und setzte sich in Bewegung.
Doch da stand auch schon Schwester Gertrud vor ihr, wie ein Straßenpolizist mit ausgebreiteten Armen. Sie tat alles für das Wohl ihrer Patienten.
Niemals würde sie diese aufgeregte Person zu einer frisch Operierten lassen, sagte sie sich. Und schon einmal gar nicht diese aufgeblasene Pute, die sie sowieso nicht mochte.
»Hier habe ich Hausrecht«, sagte sie mit betont freundlichem Lächeln. »Nehmen Sie bitte hier Platz, ich werde erst einmal den Doktor fragen.«
So sprachlos hatte man Petra Bürle selten gesehen. Dann passierte etwas, was genauso selten vorkam: Sie lenkte ein.
»Schauen Sie, Schwester Gertrud«, begann sie nun viel freundlicher und ruhiger. »Eigentlich muss ich ja nur meinen Neffen sprechen, Herrn Mayer. Es ist sehr wichtig. So wichtig, dass Ulrike ...« Der Vorname der Landarztfrau floss ihr geradezu genüsslich die Lippen, um dem Praxisdrachen ihre enge Verbundenheit mit deren Chefin zu dokumentieren. »Also Ulrike hat Sie ja nicht umsonst gebeten, Andreas aufzuhalten«, beendet sie ihre Rede. »Könnten Sie ihn rufen?«
»Da bin ich schon, Tante Petra«, hörten die beiden Frauen da die warm klingende Stimme des jungen Mannes.
Er kam aus dem Gang, der Praxis mit Miniklinik verband. »Was ist denn los? Du siehst ja völlig durcheinander aus«, stellte er erstaunt fest. »Und überhaupt, was machst du hier?«
»Komm mit«, ordnete Petra an, nahm seinen Arm und zog ihn aus der Praxis ins Freie. Dann erzählte sie ihm aufgeregt, was sie entdeckt hatte.
*
Nachdem sich Andreas mit einem langen Kuss von ihr verabschiedet hatte, sank Sophie zurück in die Kissen. Die Gewissheit, dass sie ihn am Abend wiedersehen würde, machte sie glücklich. Und er würde Anna mitbringen. Die beiden wollten ein paar Tage auf dem Bürle-Hof bleiben, wo sich Anna so wohl fühlte. Bei dem Gedanken an das Mädchen überflutete eine warme Woge ihr Inneres.
Sie lächelte entspannt und schloss die Augen.
Wie sehr freute sie sich darauf, die Kleine in die Arme schließen zu können, zumal sie jetzt auch wusste, wie sehr Anna an ihr hing. Sie machte es ihr so leicht, die Mutterrolle anzunehmen. Bald würden Annas Kopfschmerzen Geschichte sein. Sie würde alles tun, um das Kind glücklich zu sehen. Genauso Andreas. Sie fühlte so viel Liebe in sich, die sie den beiden schenken wollte. Wenn sie gesund war, würde sie mit den beiden nach München fahren, ihre neue Heimat kennenlernen. Sie konnte noch gar nicht richtig glauben, wie schnell sich ihr Leben verändert hatte. Wie eine Traumprinzessin kam sie sich vor. Und dieses Hochgefühl hätte sie auch noch die weiteren Stunden begleitet, wenn sich da nicht wieder eine Stimme in ihr gemeldet hätte: »Glaubst du wirklich, dass Andreas auf Dauer mit der Entscheidung, Anna doch eine neue Mutter zu geben, umgehen kann?«
Sophie seufzte.
Glaubte sie das wirklich?, fragte sie sich.
Und da war sie auch schon, die dunkle Wolke, die sich wieder auf ihr gerade noch so helles Gemüt legte. Zu gut konnte sie nachvollziehen, wie es für den geliebten Mann sein musste, seinen Schwur gebrochen zu haben. Auch sie würde damit auf Dauer Schwierigkeiten haben, zumal er seiner Frau dafür niemals mehr würde Abbitte tun können. Niemals würde er von Maya hören, dass sie ihm diesen Schritt verzeihen würde. Und wer wusste es schon? Vielleicht sahen sich die beiden ja tatsächlich irgendwann einmal dort droben in der blauen Unendlichkeit wieder. Dann konnte Andreas seiner Frau nicht mehr gerade in die Augen sehen. Und sie trug daran die Schuld.
Sophie presste die Lippen aufeinander. Wieder legte sich eine eiserne Faust um ihr Herz und drückte es zusammen. Und wieder fragte sie sich, ob sie und Andreas überhaupt glücklich werden konnten.
Bevor sie ihre düstere Stimmung immer tiefer ziehen konnte, öffnete sich die Krankenzimmer, so, als hätte der Besucher es sehr eilig. Erstaunt drehte sie den Kopf und sah Andreas im Rahmen stehen.
»Hast du etwas vergessen?«, fragte sie. Sie wähnte ihn bereits auf dem Rückweg nach München.
Andreas strahlte sie an. Seine Augen leuchteten. Der ganze Mann schien vor Energie zu platzen. In wenigen Schritten war er bei ihr, setzte sich aufs Bett und nahm sie ihn die Arme.
»Es ist etwas passiert, das glaubst du nicht«, sagte er in ihr Haar hinein.
Sie machte sich von ihm los. »Was denn?«
»Tante Petra war hier. Sie suchte mich. Sie musste mir etwas sagen. Stell dir vor«, er nahm ihre Hände in seine und fuhr atemlos fort, »sie hat heute Morgen einen Brief meiner Mutter an sie gefunden, in der meine Mutter ihr erzählte, dass sie Maya in flagranti erwischt hatte. Mit einem anderen Mann in leidenschaftlicher Szene. Damals war Anna vier Jahre alt. Meine Mutter fragte ihre Schwester in diesem Brief, wie sie sich verhalten sollte. Ob sie mir von Mayas Seitensprung erzählen oder ihn lieber vor mir verschweigen sollte, um die Ehe und Familie nicht zu zerstören. Mutter entschied sich zum Schweigen. Nie hat sie mir davon erzählt. Diesen Brief hat meine Tante erst heute Morgen gelesen, weil sie damals keinen Kontakt zu ihrer jüngeren Schwester wollte. Weißt du, was das heißt?« Er sah sie an, drückte ihre Hände und lächelte dieses freie offene Lächeln, das sie an ihm so liebte.
Sie griff sich an die Stirn. Ja, sie wusste, was er jetzt empfand.
»Ja, das heißt, dass du dich durch den Seitensprung deiner Frau von deinem Versprechen an sie, niemals mehr zu heiraten und Anna keine Stiefmutter zu geben, entbunden fühlst«, sagte sie langsam wie aus einem Traum aufwachend.
»Genau.« Andreas stand auf, verschränkte die Hände hinterm Kopf und legte ihn in den Nacken. In dieser Haltung atmete er ein paar Mal tief durch. Dann ließ er die Arme sinken und sah sie an.
»Ich bin frei. Jetzt bin ich endlich gänzlich frei. Frei für dich und unsere Liebe«, fügte er mit so zärtlich klingender Stimme und liebevollem Blick hinzu, dass ihr die Tränen kamen.
Es waren Tränen der Erleichterung, Tränen eines schier unfassbaren Glücks. Die Dämonen der Vergangenheit waren verbannt. Nun zählten nur noch die Gegenwart und die Zukunft, die den beiden jetzt so wolkenlos und strahlend wie dieser Sommertag erschien.
Und als sie diese Zukunft mit einem innigen Kuss besiegelten, hatten sie beide dieselbe Vision, sie sahen sich Hand in Hand, Anna in ihrer Mitte, über die bunten Wiesen laufen sehen, der Sonne entgegen.