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II

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IM NOVEMBER 1678 bezog Simon Chrysander sein Quartier in London. Robert Hooke, der Sekretär der Royal Society, hatte in dem Haus, das die Throgmorton Street mit der Broad Street verband, das erste Stockwerk für ihn herrichten und möblieren lassen, das er nun, wenn alles nach Wunsch verlief, zusammen mit seinem Diener Kauppi und einer Köchin namens Peg, die ihm ebenfalls Mr. Hooke überlassen hatte, ein halbes Jahr lang bewohnen würde. Wenn Dr. Chrysander aus dem Fenster blickte, sah er zur Linken die Kirche St. Peter Le Poor, zur Rechten die Steuerbehörde, und dahinter, tief im Nebel, die Schornsteine des Gresham College.

Chrysander war ein grobknochiger Mann in den Dreißigern, von mittlerer Statur, kantigen Zügen und einem dunklen, fast südländischen Teint. Seine Augen standen ein wenig eng, die Brauen berührten sich und der Bartschatten widerstand jeder Rasur. Das Haar, schwarz mit dem ersten Grau, trug er nackenlang; Kauppi schnitt es unter einem Topf. Schwarze Haare wuchsen auch auf Chrysanders Händen und bildeten um die Knöchel kleine Wirbel. Seine Finger waren kurz und gedrungen, zwei Nägel der Rechten dafür lang, einer flach gefeilt, der andere spitz, Werkzeuge für unterwegs. In Uppsala hatten ihn manche für einen Bauern gehalten, zumal er sich oft nicht sorgfältig kleidete; die Engländer verwechselten ihn mit einem Priester oder Schlimmerem. Erst hatte er jedermanns «Hochwürden» korrigieren müssen, später sah er verwundert, wie ihn fremde Passanten mit der Geste für Galgenstrick begrüßten oder sogar Kot nach ihm warfen. Erst allmählich begriff er, dass hier ein schwarzer Rock und kurzes Haar Bekenntnisse waren, für allzu viel Frömmigkeit und gegen den Hof mitsamt der französischen Mode. Chrysander wusste, warum er in England publizierte. Dass Gottesfurcht mit Kotwerfen geahndet wurde, befremdete ihn allerdings doch.

Vor drei Tagen war er in London eingetroffen. Übermorgen würde er die Royal Society besuchen. Eine außerordentliche Sitzung war anberaumt, um den Kurator des Kabinetts zu begrüßen. Chrysander würde sprechen müssen. Darauf freute er sich nicht. Er freute sich allerdings auf Mr. Hookes Fossilien und auf die Farne und Pilze aus Übersee.

Kauppi rückte mit finsterer Miene das Mobiliar. Wahrscheinlich versuchte er, Chrysanders Wohnung in Uppsala nachzustellen, denn Kauppi fühlte sich in London nicht wohl. Er war ein Lappe von ungefähr sechzehn Jahren, kurz und rundlich, mit flachem Gesicht, der nur selten sprach und nie fragte; Chrysander schätzte dies sehr. Vor fünf Jahren hatte er Kauppi gefunden, ein herrenloses Kind auf einem Hügel bei Jukkasjärvi, den der Professor erklomm auf der Suche nach den Geheimnissen der nordischen Fauna und Flora. Er hatte das Kind zur Seite geschoben, was es sich leise fauchend gefallen ließ, und unter ihm jenes Moos entdeckt, das er später Chrysandria taufte. Beide hatte er nach Süden gebracht und behalten, den lappischen Knaben und das lappische Moos, und während der Erste soeben einen englischen Teetisch aus seinem Blickfeld zu entfernen suchte, lebte das Zweite, flach hingeduckt auf einen Granitstein, unter einem Glassturz in Chrysanders Arbeitszimmer und zeigte sich keineswegs beeindruckt von der Reise nach London. Das Moos bedurfte keiner Erde und kaum eines Tropfen Wassers, muckste sich nicht und wünschte weder Paarung noch Luft, und in den nunmehr fünf Jahren, da es seinem Herrn für jeden wissenschaftlichen Vergleich als Bezugspunkt diente, hatte es sich nicht einen einzigen Zoll vorgewagt auf den noch unbewachsenen Grund.

Kauppi verwahrte den Schlüssel zum Arbeitszimmer. Kauppi bewachte das Moos. Auch Kauppi war genügsam. Wenn er Möbel rückte, bis alles die rechte Ordnung hatte, so konnte sein Herr diesen Wunsch gut verstehen.

Simon Chrysander war der Sohn des Pfarrers von Söderfors in Dalarna, das älteste Kind von sechs lebenden und sechs toten Geschwistern. Er hatte selbst Pfarrer werden sollen in Söderfors. Stattdessen wurde er Professor in Uppsala und ging nicht mehr zur Kirche. Wieder blickte er aus dem Fenster. Nie klarte es auf. Jedes Metall lief an in dem rötlichen Dunst, Kofferschließen, Knöpfe, Sezierbesteck, alles sah aus wie Bronze. Dicht lag der Nebel über der Broad Street, über Männern, Frauen, Kindern, Kutschen, Hunden, Bettlern und allerlei Unrat in den Gossen, über einem entlaufenen Pferd, das in einen Laden drängte, über einem Greis, der gestürzt war und nicht mehr aufstand, über einer Sänfte ohne Träger, schräg in den Schlamm gerammt, als solle sie dort Wurzeln schlagen. Es wurde schon dunkel. Es war nie hell gewesen. Chrysander graute es vor dem Gresham College und ihn graute auch sonst. Die Welt war groß. Der Arten waren viele. Kaum reichte eine Lebenszeit hin, dies alles recht zu sortieren. Schon dreimal hatte Chrysander heute das Moos aufgedeckt, um sich an seiner Verlässlichkeit zu freuen. Er spürte Kauppis Hand an seinem Rockschoß. Kauppi roch, wenn die Furcht zum Professor kam. Chrysander scheuchte ihn fort. Er schloss die Fensterläden und griff nach Ogilbys Stadtplan von London.

Als er das Haus verließ, war Nacht. Er hatte Kauppi zu Bett geschickt und die Tür von außen verriegelt, denn er wollte nicht, dass Kauppi nach ihm suchen kam, wie er es in Uppsala manchmal tat. Nicht immer hielten Riegel den Lappen zurück; aber Chrysander wollte ihm doch wenigstens den Ausbruch erschweren.

Er ging zu Fuß, die Kapuze über den Hut und das halbe Gesicht gezogen, den Degen griffbereit und einen Dolch im Ärmel. Er bezahlte einen Jungen, der ihm leuchtete, vorbei am Church Market und bis Walbrook. Dort kaufte ihm Chrysander das Licht ab und setzte seinen Weg alleine fort.

Er wusste, was er brauchte, aber er wusste nicht, wo es war. Ogilbys Tafeln hatten ihm wenig Aufschluss gegeben über Londons verworrene Anatomie. Zunächst ging er viel zu nah ans Wasser. Er geriet in die Docks von Dowgate und musste umkehren. Er stolperte über einen Betrunkenen oder Toten, bog ein in die Thames Street und folgte ihr hartnäckig nach Westen. Ein verirrtes Schwein stieß ihn bittend mit der Schnauze an. Chrysander unternahm diese Wanderung nicht gern, aber es war an der Zeit und es half nichts, sich zu sträuben. Chrysander war kein Moos. Er bedauerte dies täglich, doch ändern konnte er es nicht.

Er nahm Witterung auf von der Stadt. Es war nicht einfach. London hatte sein Aroma verloren in den Flammen von ’66 und die neuen Häuser wiesen ihm nicht den Weg. Sie waren schnell gebaut und oft schon rissig. Chrysander passierte Kirchhöfe ohne Kirchen, öde Flecken voller Unrat und Morast. Hier und da standen noch Brandruinen, in denen man Waren feilbot oder fertigte, in denen man schlief, wenn man kein Obdach hatte, in denen man gewiss auch mordete, wenn man ein Mörder war und ein Opfer fand in der Nacht. Chrysander tastete nach seinem Dolch. Er ging zügig voran, Blackfriars vor sich, dahinter Alsatia, dahinter der linke Rand von John Ogilbys ungenügendem Stadtplan.

Schließlich wurde er fündig, oder man fand ihn, noch bevor er das kartographierte Gebiet verließ. Ein Jüngling, der an einer Hauswand lehnte, abgerissen, aber im Putz. «Huren, Sir?» Chrysander nickte.

Er folgte dem Schlepper in eine Seitengasse, in einen Durchgang, in einen dunklen Hof. Man hielt dort Kaninchen und Geflügel. Die Ställe stanken. Die Hühner glucksten und scharrten leise im Schlaf. In der Haustür hingen gefilzte Vorhänge, der Zubringer schob Chrysander hindurch, dann machte er kehrt und bezog wieder Posten auf der Straße. Chrysander schlug die Kapuze zurück. Die Wirtin des Lokals nahm den neuen Gast in Empfang. Sie knickste, ließ ihn ein, ließ ihn stehen. Chrysander kannte hier nicht die Gepflogenheiten. Er blieb allein in einem düsteren Gang, Steinboden, an der Wand zwei Stühle, über der Tür eine Feuerglocke, daneben ein Gemälde von Susanna im Bade. Zaghaft folgte er dem Licht und fand den Salon.

Es war ein bescheidenes Unternehmen, sparsam mit Mobiliar und Mädchen. Chrysander verharrte schweigend in der Tür. Auf einem Sofa saß eine Frau und stickte. Ein Alter befühlte vergnügt zwei kleine Mädchen, eines auf jedem Knie. Chrysander atmete auf. Dies waren Huren, die schlichteste Spezies in der Klasse der Res Humanae, hilfreich gegen das Grauen und einfach zu fassen in einer Formel aus Körper und Geld.

Ein weiteres Mädchen, schon besser gerundet, plauderte an einem Tisch mit drei jungen Herren in vollem Staat. Sie blickten auf, als Chrysander eintrat, grinsten, grüßten nicht, sprachen weiter. Sie sprachen vom Theater. Eben kamen sie aus der Vorstellung. Kleopatra hatten sie gesehen, davor einen Prolog, Scherze, wie dumm der König sei. Der König war in seiner Loge gewesen. Der König hatte gelacht. Darüber lachte nun die Hure, artig und etwas matt. Die drei Männer lasen ihr den Prolog vor, den sie gedruckt besaßen, mit einer Rollenverteilung, die keinen Sinn ergab. Huren, Theater, das Gerede vom König, draußen die Hühnerställe und hier die Männer im Galakleid, saphirblau, lavendel, maron, Brokat über Brokat über Satin über ellenweise Brüsseler Spitzen, die längst nicht mehr weiß waren nach einem nebeligen Tag: Auch dies ergab wenig Sinn für Chrysander. Die Ratio für Hurenhaus, so trostreich in Uppsala, hatte hier nicht die beste Kontur. Chrysander wollte kehrtmachen. Doch ein Mädchen wollte er auch. Dem Ding war Genüge zu tun. Andernfalls schrie es Alarm. Wenn das Ding pochte, konnte Chrysander nicht denken, und er musste denken, tagaus, tagein, denn das war sein Beruf. Er wich einen Schritt zurück. Er tat einen Schritt nach vorne. Die jungen Herren blickten auf.

«Gott zum Gruße, Hochwürden», rief der Saphirblaue.

«Beau jeu, Sir», kicherte der in Maron.

«Er soll Maudlin haben», bestimmte der Lavendelfarbene. «Maudlin wird Hochwürden gefallen.»

Die Hure am Tisch lachte. Die Hure auf dem Sofa schlug ein Kreuz und lachte dann auch. Der Alte mit den Kindern hob an zu einer Frage, besann sich aber und schwieg.

«Ich wähle selbst, Sir», sagte Chrysander, «und ich habe kein geistliches Amt.»

Die Herren ließen sich nicht beirren. Sie riefen «Mutter Bushell», das war die Wirtin, sie erschien, bekam ein Trinkgeld und nickte. Ob Maudlin umgekleidet sei? Jawohl. Ob Maudlin bereit sei? Zu Diensten in ihrer Kammer.

Chrysander wollte Maudlin nicht. Er mochte keine Huren mit Namen. Daheim in Uppsala, bei den Mädchen von Svartbäcken, war es Brauch, dass der Kunde sie taufte. Hesperis, Clematis, Nymphäa – viele gaben ihnen die Namen, die im nahe gelegenen Botanischen Garten auf den Schildern standen. Chrysander tat das nie. Er mochte keine Huren mit Namen. Gespräche mit anderen Kunden mochte er indes noch weniger. Er wollte die Ware, ihren Preis entrichten, und fort.

«Wo ist das Mädchen», fragte Chrysander, «und wie und bei wem wird bezahlt?»

Die Wirtin bestand auf Vorkasse. Sie bat Chrysander, Umhang und Degen abzulegen, dann schickte sie ihn die Treppe hinauf, erster Stock, erste Tür rechts. «A votre plaisir», rief der Herr in Lavendel und lachte. Chrysander verließ den Salon.

Er fand die Tür und klopfte. Niemand gab Antwort. Er wartete. Dann trat er ein. Eine Kammer, karg möbliert, ein Schrank, ein Stuhl, ein Bett. Die Wand zur Rechten war aus Brettern genagelt und reichte nicht ganz bis zur Decke. Sie trennte den Raum vom nächsten Verschlag, die zweckdienliche Bauart eines Stalles. Vor dem Fenster hing eine grüne Gardine, über dem Bett ein Stich aus dem Aretin, zwei nackte Leiber, vielleicht auch drei, kunstvoll ineinander verschlungen. Neben dem Schrank stand ein Mädchen vor einem kleinen Spiegel. Als Chrysander eintrat, wandte sie sich um, stutzte, dann lächelte sie.

Sie war schmal und hoch gewachsen, um einiges größer als ihr Gast. Rotes Haar, unberührt von der Brennschere, fiel über ihre Schultern und fast bis hinab auf die Taille. Rotblond waren auch Brauen und Wimpern. Den Kohlestift kannte sie nicht. Nur die Lippen waren geschminkt, ungeschickt hingepinseltes Rouge, ein greller Fleck in ihrem blassen Gesicht. Sie war übersät mit Sommersprossen, helle Tupfen auf noch hellerer Haut, im Gesicht, auf Händen und Armen, im Ausschnitt ihres Kleides. Schlüsselbeine und Brustbein zeichneten sich ab, kaum Busen. Im Mieder steckte ein zerknittertes Stoffblumensträußchen, Goldlack und Maßliebchen. Sie trug ein schlichtes weißes Unterkleid, knapp, vielleicht einfach zu klein, und blassgelbe Pantoffeln aus zerschlissenem Atlas. Ihre Füße waren groß, auch die Hände, lange getupfte Finger, ineinander verschränkt vor einem flachen, kaum geschnürten Bauch. Sie war nicht sehr jung; über zwanzig. An eine Hure gemahnte nichts. Sie war schön und sonderbar, wie ein Einhorn, ein Meerweib, ein Wappentier. Ungerufen kam ein Gedanke in Chrysanders Kopf, kauf sie frei, nimm sie mit. Er erschrak. Das Mädchen legte den Kopf schief. Dann faltete sich ihr langer Körper in einem tiefen Knicks.

«Maudlin?»

«Ja, lieber Herr.»

Sie sprach rau, ein wenig heiser, ein wenig gedehnt; der Tonfall einer ländlichen Gegend. Nur langsam richtete sie sich auf. Sie rückte den Stuhl für Chrysander zurecht, wischte den Sitz mit dem Rockzipfel ab und bat ihn Platz zu nehmen, mit einer etwas zu großartigen Geste, als spiele ein Kind die Prinzessin. Sie kicherte, nur kurz, fast ein Schluckauf. Dann lächelte sie. Chrysander wollte sich nicht setzen. Er wollte fort und nicht fort. Etwas war nicht in der Ordnung. Maudlin kräuselte die Nase, als röche sie Chrysanders Zweifel. Feuerrot waren ihre Lippen, weiß die Zähne, wie bei einer Dame von Stand. Sie betrachtete ihren Gast aufmerksam. Sie tat nicht ihre Hurenpflicht. Sie schaute und blinzelte, als traue sie nicht ihren Augen. Chrysander setzte sich doch. Seine Kunst der Bestimmung versagte. Animalia. Viviparos. Oviparos. Vegetabilia. Cruciferae. Saxifraga. Zoophythes. Chrysanders Denkmaschine spuckte Begriffe aus, schnell und furchtsam, wie ein Gebet in Not. Er hob den Kopf und blickte in Maudlins helle Augen.

Irgendwann trat sie einen Schritt zurück. Sie senkte den Kopf und nestelte an ihren Maßliebchen.

«Aus Cheshire komm ich, lieber Herr. Schweinemagd bin ich gewesen. Ich war im Stall und draußen sind alle an der Pest gestorben, sie haben mich draußen nicht wollen, Mama und Vater und das Dorf, weil Ihr seht ja, ich bin zu rot, und der Teufel hat mich scheckig gespuckt, und zu lang bin ich, das Stalltor ging viel zu weit runter, ich haute mir den Kopf und alle lachten, und dann hat sie die Pest geholt, oh ja, das weiß der Herr, nicht wahr, der liebe kluge Herr weiß um die Pest in Cheshire?»

Chrysander schauderte. Quadrupedes. Amphibia. Eine Hure, die biographisch vorgeht, sah sein System nicht vor.

«Cheshire ist grün», fuhr Maudlin fort, «grüne Wiesen, sonst nicht arg viel, aber fein grün in Cheshire, vor der Pest, guter Herr, und nach der Pest auch, und nun, nun, einer nahm mich mit, hat mich malen wollen als die heilige Magdalene, aber froschnackt, der Schelm, und nun, nun bin ich hier, lieber Herr, das bin ich, eine femme de plaisir, und Ihr?»

Maudlin bückte sich. Ihr Haar streifte Chrysanders Hände. Sie verharrte reglos. Sie wiederholte: «Und Ihr?»

«Schweden», murmelte Chrysander.

«Was?»

«Aus Schweden, mein Kind. Ein anderes Land.»

«Grün?»

«Im Frühling.»

«Und habt Ihr Heimweh, lieber Herr?»

Chrysander gab keine Antwort. Maudlin ging in die Hocke und hielt sich mit beiden Händen an seinen Knien fest. Chrysander betrachtete ihr Brustbein, die Linie ihres Halses. Er wollte sie haben, jetzt und weiterhin. Er würde davonlaufen müssen. Das Mädchen richtete Schaden an in seinem Gehirn.

«Seid Ihr Priester?», fragte Maudlin. «Sprecht Ihr mich los?»

«Nein. Du musst zur Kirche gehen.»

«Was seid Ihr sonst?»

«Arzt und Professor.»

«Professor? Was ist das?»

«Einer, der ordnet. Der die Ordnung sucht.»

«Ihr ordnet, guter Herr? Was?»

«Alles. Die Dinge der Welt. Es sind viele. Es ist eine Frage der Zeit.»

Chrysander hörte sich sprechen wie einen Fremden. Hatten sie ihm eine Hexe gegeben? Gab es solche? Eine noch offene Frage in der Klasse der Res Humanae.

«Ordnung», sagte Maudlin, den Kopf gesenkt, «das ist schön. Das erstaunt mich. Das ist wie Friede. Könnt Ihr das? Wo lerntet Ihr das? Ordnet Ihr alles? Auch Leute?»

«Auch diese.» Chrysanders Zunge war schwer. Maudlin streichelte abwesend sein linkes Bein. Schatten huschten über ihr Gesicht, Kummer, Freude, Furcht, Verwirrung oder nur eine nervöse Verschiebung der Muskeln.

«Verzeiht, Sir. Ich bin neu hier. Ich muss das Spiel noch lernen.»

Chrysander versuchte aufzustehen. Maudlin hielt ihn fest, ein harter Griff um beide Knie, als packe sie ein Ferkel im Stall.

«Wie geht das?», fragte sie laut, fast befehlend. «Wie macht Ihr das, ein jedes Ding recht zu ordnen?»

«Ich sehe es an, ich bestimme es, dann gebe ich ihm einen Namen.» Es klang einfach, wenn Chrysander das sagte. Er wagte nun, sich zurückzulehnen. Er wagte einen langen Blick auf Maudlins unfassbares Haar.

«Tut es mit mir, guter Herr.»

«Dich bestimmen?»

«Nun ja!»

Chrysander verzog den Mund. Es wurde fast ein Lächeln. Maudlin neigte den Kopf, tief und tiefer, und berührte mit den Lippen seine Hand.

«Es ist schwer», sagte Maudlin, «nicht wahr?»

«Es ist einfach», sagte Chrysander.

«Glaubt Ihr?»

«Oh ja!»

«So tut es denn!»

«Du bist ein Mädchen, Maudlin», begann Chrysander, «du bist ein gutes Mädchen», ergänzte er verblüfft, «das einen Wirrkopf hat und den rechten Weg versäumte.»

Maudlin überlegte. Dann sagte sie leise, «nennt mich nicht so, nennt mich Lucy.»

Chrysander blickte sie fragend an. Ein Name war ihm mehr als genug.

«Lucy heiß ich. Maudlin war meine Schwester. Sie war bös und starb und ich stahl ihren Namen. Aber Lucy ist meiner. Mein eigener. Ich ...»

Sie stockte. Sie verschränkte ihre Finger sorgfältig über Chrysanders Knie und legte den Kopf in den Nacken.

«Ich mag Euch. Lieber Herr. Nennt mich Lucy.»

«Ich muss dich nicht nennen, mein Kind.»

«Das ist schade.»

Mit Entsetzen beobachtete Chrysander seine Hand. Sie hob sich und öffnete sich, als wolle sie etwas nehmen. Chrysander hatte der Hand nicht befohlen, dies zu tun. Sie öffnete sich weiter und bewegte sich weiter und dann geriet sie in das Haar des Mädchens, das Maudlin heißen sollte und Lucy hieß, das sich anbot als Hure und sich nicht wie eine Hure benahm. Ihr Haar war weich und fein. Chrysander hielt eine Strähne und hob sie hoch, nah vor seine Augen, als sei das ein Farnwedel, ein Faden der Seidenraupe, die Mähne eines fremdartigen Tieres.

«Man könnte nachsehen», murmelte Chrysander, «wie du zu bestimmen bist, Kind, unter deinen Kleidern.»

«Ihr seid galant, Sir?» Lucy rückte beklommen ab.

«Ich möchte», sagte Chrysander, «nicht sprechen.»

«Nicht?»

«Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich käme als Kunde. Du bist nicht zu Hause in deinem Gewerbe.»

«Mögt Ihr Huren?»

«Manchmal.»

«Warum?»

«Weil sie schweigen. Weil sie nicht fragen.»

«Oh», sagte Lucy. «Oh, lieber Herr. Das ist schlimm.»

Langsam rückte sie weiter ab und langsam stand sie auf. Noch immer hielt Chrysander eine Strähne ihres Haares und Lucy ließ ihn gewähren, sie stand krumm und wartete geduldig, bis ihr Gast genug hatte von dieser Betastung.

Er hatte nicht genug. Dennoch ließ er die Strähne los. Lucy blickte ihn an. Etwas wandelte sich in ihrer Miene, unbestimmt, unbestimmbar, sie wischte über ihre Augen, als verscheuche sie einen Traum.

«Es ist nicht gut hier», sagte sie leise. «Ich komme mit Euch. Nicht jetzt. Ich lass Euch fort, und dann komme ich in Euer Haus, wann Ihr wollt, wann Ihr befehlt. Ich will auch schweigen. Ich will auch tun, was die Huren tun. Ich will auch bei Euch bleiben, wenn Euch das gefällt. Es ist nicht gut hier. Glaubt mir, lieber Herr. Geht jetzt fort. Dann ruft mich. Dann komm ich.»

Chrysander schwieg. Auch er war aufgestanden. Er stand nahe vor Lucy. Sie neigte höflich den Kopf, um ihren Gast nicht allzu sehr zu überragen. Chrysander spürte ihren Atem und roch ihre Haut.

Simon Chrysander besuchte Bordelle seit bald zwei Jahrzehnten. Er hatte die Mädchen von Svartbäcken bezahlt, junge Dinger mit eckigen Hüften, auch Weiber jenseits der Blüte, deren dienstfertige Haut schon abgenutzt war, und auch zuweilen eine verirrte Schöne, deren Bild ihm im Kopf blieb für eine oder anderthalb Stunden. Er hatte Mädchen von der Straße bezahlt und die Ware im Hausgang genommen, auch die Töchter der Lappen kannte er, die sich nicht hinlegen mochten, weil sie sagten, so täte man es nur mit dem Liebsten. Seit zwanzig Jahren kannte Simon Chrysander die schlichte Formel der Hurerei, und nie war es ihm eingefallen, ein Mädchen zu sich zu nehmen, und sei es auch nur für einen einzigen Tag.

«Wollt Ihr, guter Herr?», fragte Lucy.

Chrysander wandte sich ab. Er ging zum Fenster. Er studierte den stockfleckigen Stich aus dem Aretin. Er konnte die Worte nicht sagen, nein, mein Kind, du bist nicht bei Sinnen. Chrysander schwieg und starrte auf das Bett, das zu kurz schien für Lucys langen Körper.

«Geht fort», sagte Lucy. Sie hatte sich angeschlichen. «Geht fort, lieber Herr. Es ist nicht gut. Wenn Ihr bleibt ...»

Chrysander drehte sich um. Lucy war tief errötet.

«Wenn Ihr bleibt, entflammt Ihr ganz mein Herz, so sagt man doch in den Romanen?»

Chrysander wich zurück. Er floh zu dem Stuhl und hielt sich an dessen Lehne.

«Sagt man so?», fragte Lucy. «Sagen dies die Ritter zu ihren Damen?»

«Schweig still», sagte Chrysander mühsam. «Ich habe für dich bezahlt.»

«Ihr wollt nicht fort?»

«Nein», sagte Chrysander.

«Geht», sagte Lucy.

«Nein», wiederholte Chrysander.

«So bleibt denn.» Lucy seufzte. «Und ich will unschuldig sein an allem.»

Chrysander setzte sich. Man würde das Geschäft nun abwickeln. Alles wäre dann an seinem Platz. Nichts wäre geschehen, mit Lucy, mit Chrysander, wenn sie miteinander handelten, wie es der Sitte entsprach.

«Komm», bat Chrysander, «komm her.»

Lucy kam folgsam näher. Auf halbem Weg blieb sie stehen und kratzte ihre linke Wade mit der Spitze des rechten Pantoffels.

«Ihr habt nicht viel Zeit? Ihr wollt Euch schnell erfreuen, und dann fort, und wieder ordnen, nicht wahr?»

Chrysander nickte dankbar.

«Ich bin Jungfrau», sagte Lucy. «Hat Euch Mutter Bushell unterrichtet?»

Chrysander schüttelte den Kopf.

«Sie ist tölpisch. Alles überlässt sie den Mädchen. Aber sorgt Euch nicht. Ich bin geschickt. Ich will knien und von der Pumpe trinken.»

«Nein!», rief Chrysander.

«Doch wohl! Hab ich’s nicht schön gesagt?»

Lucy schürzte ihre Röcke und ging vor Chrysander in die Knie. Sie strich über seine Schenkel. Sie öffneten sich fügsam. Chrysander legte eine Hand in Lucys Nacken, fand den Weg unter die Haare, fand ihren Hals. Lucy schauderte, denn Chrysanders Hand war kalt. Sie nahm die zweite und wärmte sie zwischen den ihren. Dann rückte sie näher, schlug seinen Rock zurück und öffnete langsam die unteren Knöpfe der Weste. Sie fand seinen Hosenlatz. Sie öffnete auch diesen.

«Das ist ungezogen», sagte Lucy, «Ihr werdet es mögen.»

Das Ding befreite sich selbst. Es lauerte schon länger. Lucy lächelte, als sei es hübsch anzusehen. Sie schloss drei Finger darum, behutsam und linkisch. Chrysander atmete auf. Dieses Bild war bekannt. Die dienstwillige Hand der Hure, das blödsinnig entzückte Ding. Die Hure beugte sich vor, einige rote Strähnen fielen ihr übers Gesicht.

«Möchte der Herr mein Haar bitte halten, bis die Pumpe Wasser gibt?»

Mit beiden Händen fasste Chrysander die Strähnen zusammen. Die Hure befeuchtete gewissenhaft ihre geschminkten Lippen. Sie holte tief Luft, als wolle sie tauchen, und sie lächelte dabei noch immer. «Lucy», sagte Chrysander. Er kannte seine Stimme nicht. Lucy neigte den Kopf. Dann zerbarst die Bretterwand, die den Raum vom nächsten trennte.

Chrysander fuhr zurück. Fast wäre er vom Stuhl gefallen. Lucy setzte sich auf die Fersen und drehte sich langsam um. Krach und Geschrei. Die jungen Stutzer aus dem Salon, zwei brachen durch den Verschlag, der dritte riss die Tür auf, sie johlten und lachten, ein Wirbel aus Haaren und Spitze. Auf der Treppe zeterte die Wirtin. Unten kreischten die Mädchen. Der Saphirblaue hatte Chrysander entwaffnet, bevor er sich überhaupt an seinen Dolch erinnerte. Er stieß Chrysander aufs Bett. Der in Maron gab ihm eine Kopfnuss. Der Saphirblaue schrie, «bei allen Teufeln, Herr Jesuit, sie wähnten sich wohl im heiligen Rom!» Chrysander fand keine Worte. Er wollte aufstehen, der Maronbraune stieß ihn zurück. Lucy saß noch immer auf dem Boden, die Röcke hochgerutscht, das Haar im Gesicht, die Miene schläfrig und leer. «Aufwachen, Mylady», rief der Mann in Lavendel. Lucy hob langsam den Kopf. Der Lavendelfarbene griff ihre Hand und zog sie auf die Füße. Er trug Kleider über dem Arm, eine lange Perücke, schweren goldenen Stoff. Chrysander sprang auf. Der Saphirblaue zog den Degen und hielt die Spitze unter sein Kinn. So stand Chrysander, schwankend, den Bettkasten in den Kniekehlen, halb aufrecht, halb sitzend, und sah zu, was mit Lucy geschah.

Zaghaft, mit unbestimmter Miene, zupfte sie an Stoff und Haar auf dem Arm des Lavendelfarbenen. Sie bekam einen Ärmel zu fassen, zog daran, es war ein Hemd, Lucy sah es an, es gefiel ihr nicht, sie ließ es fallen. Der Lavendelfarbene grinste und hielt artig die Garderobe, als sei er ihr Kammerdiener. Lucy befreite den Goldstoff aus dem Wust. Ein Gehrock, schwer brokatiert, eng an eng bedeckt mit Steinen und Perlen. Lucy zog ihn ungeschickt über. Er passte. Sie strich zweifelnd über die Hügel und Täler der glänzenden Stickerei.

Allmählich erwachte sie. Ihr Gesicht veränderte sich. Die Augen wurden schmäler, der Mund breiter, sie versuchte zu lachen, es misslang. «Prost», murmelte Lucy. Der Maronbraune trug eine Weinflasche. Lucy fingerte eine Weile am Korken, dann schlug sie den Hals an der Stuhllehne ab und trank. Der Wein lief ihr übers Kinn.

«Auf Leviticus 20», schrie der Lavendelfarbene, «wer beim Tiere schläft und beim Knaben, dem faule der Sack ab, spricht der Herr, par bonheur!»

Lucy fasste ihr Haar zusammen und drehte einen Knoten, dann nahm sie die Perücke, beugte sich vornüber, ein Griff in die Stirn, ein Griff in den Nacken, sie richtete sich auf und warf die Locken zurück. Sie fielen in Form. Braunes Haar à la mode, kostbar geölt und gekräuselt. Lucy straffte die Schultern. Ein schmaler Junge in fürstlichem Brokat, groß, sehr blass, voller Sommersprossen. «Ihr Wohl, Mylord», rief der Herr in Maron. «Was nun?», fragte der Lavendelfarbene. «Wein!», plärrte der Saphirblaue, der nicht an die Flasche kam, da er Chrysander vor dem Degen hatte. Man gab ihm den Wein. Er trank. Dann schrie er «vive la sodomie», und kippte Chrysander einen guten Schluck ins Gesicht.

Lucys fadenscheinige gelbe Pantoffeln. Das Kleidchen, ein wenig zu klein, schlichtes Leinentuch unter dem Goldstoff. Chrysander blinzelte. Er saß wieder auf dem Bett. Bin ich schwer zu bestimmen.? Oh nein, es ist einfach. Der Wein brannte in Chrysanders Augen.

«Lasst sein», sagte Lucy, «lasst ihn sein, lasst ihn gehen.»

Die Herren lachten. Lucy hielt ein Paar Hosen und Strümpfe in den Händen, drehte und knautschte sie ratlos. Er sah aus, als wolle er weinen. Er machte einen Schritt zum Bett und hielt inne.

«Ich sagte, Sie sollten fort. Ich will unschuldig sein an allem. Ich bin ...» Lucy verstummte. Dann zerrte er heftig an seinen Strümpfen und flüsterte «Hilfe».

Der Lavendelfarbene ging in die Knie und kleidete ihn an. Knopf um Knopf, Schnalle um Schnalle, Strumpfbänder und Hosenbänder, Schleifen in Ocker und Karmin und doppelte Spangen unter den Knien. Hemd und Weste wollte Lucy nicht haben. Er raffte über den Hosen das Kleid. Der in Maron legte ihm den Degen um. Lucy stopfte weißen Stoff unter das Gehänge. Der Lavendelfarbene half ihm in die Schuhe. Schwarzes Maroquin, Rheinkiesel am Spann, hohe Absätze, korallenrot.

Chrysander auf dem Bett. Lucy neben der Tür. Ihre Blicke trafen sich. Lucys Rock fing das Licht. Sein Hals war nackt und getupft, das Lippenrot verschmiert bis zum Kinn. Die Rosette an seiner Degenscheide schimmerte von Perlen. Über der Wange eine feine Strähne rotes Haar. Unter dem Goldbrokat ein Zipfel vom Hurenkleid. Ein junger Falter, dem noch das Weißzeug des Kokons anhängt, eine stockende, mühsame Verwandlung. Lucy senkte den Kopf. «Un badinage», murmelte er, «bloß badinage, ein dummer Streich, guter Herr ...»

Chrysander sprang auf und ging mit den Fäusten auf die lachenden Herren los, als gelte es, eine zerborstene Welt wieder in Form zu schlagen.

Es bekam ihm nicht. Die Herren zerrten ihn aus dem Zimmer und warfen ihn die Treppe hinab, er fiel über die Wirtin und die Huren. Eine kreischte, ein Zahn war ihr abgebrochen, ein paar Münzen brachten sie zum Schweigen. Die Herren schleppten Chrysander in den Hühnerstall. Sie prügelten und traten ihn, dazu sangen sie, dreistimmig und falsch und französisch. Die Hühner flatterten. Die Herren schlugen zu. Chrysanders Nase blutete, aves, gallinae, rostrum conicum, Federn überall, Gestank und Gegacker, Blut an den Federn und Federn im Blut, dann schleppten sie ihn auf die Straße. Die Nachbarn hingen aus den Fenstern und lachten. Chrysander kämpfte. Es war töricht. Sie stießen ihn hin und her. An der Hauswand, ein wenig abseits, stand Lucy. Sein Rock funkelte im Licht aus den Häusern. Bisweilen sagte er etwas. Das Geschrei war zu laut, es zu hören, und Lucy erhob nicht die Stimme. Er nestelte an seiner Degenschleife. Er zupfte an seinem Ärmel. Dann hielt er sich mit beiden Händen die Augen zu.

«Verflucht sollst du sein», sagte Chrysander. Blut lief ihm übers Kinn und ins Hemd. Der Saphirblaue puffte ihn in den Rücken, immer wieder, erst leicht, dann härter.

«Eine Missgeburt.» Chrysander sprach leise, wie zu sich selbst. «Ein Wechselbalg. Ein Monstrum. Nicht wert das Terpentin, in dem man seine Haut gerbt. Nicht wert eines einzigen Wortes. Es ist ohne Nutzen, es soll sterben und verrotten, wie es hätte verrotten sollen im Mutterleib.»

«Oho!», flötete der Saphirblaue.

«Quel petit insolent!», zirpte der im Lavendelrock.

«Ist dies das rechte Kompliment, Hochwürden», fragte der in Maron, «für unseren Freund Lucius Lawes, den ehrenwerten Earl of Fearnall?»

«So heiße ich.» Das Geschöpf im Goldrock blickte scheu durch seine Finger. «Ich heiße Lucy. Sie hörten nicht, Sir. Ich sagte, ich käme. Ich sagte, Sie sollten fort.»

«Kein Getändel, Mylady», lachte der Herr in Saphir.

«A votre santé», sang der Herr in Lavendel und schlug mit der Weinflasche zu. Chrysanders Kopf traf die Wand. Lucy schrie auf. Chrysander verlor die Besinnung.

Er sah sich den Orbis Pictus lesen, daheim im Pfarrhaus zu Söderfors, das Buch zum Lateinlernen, das Buch über Gottes Welt. Er hörte den Mannesälv rauschen, gleich hinter der Wohnstube, den Fluss, in dem Simon nicht baden durfte, weil sich das nicht schickte für den künftigen Pfarrer von Söderfors. Simon hatte den Orbis Pictus bunt gemalt für seine jüngeren Brüder. Sie saßen bei ihm. Er las ihnen vor. Venatus die Jagd. Praestigia die Gaukelei. Temperantia die Begnügsamkeit. Supplicia Maleficorum der Übeltäter Leibesstrafen. Dann gingen die Brüder fort, nach draußen zum Fluss, um zu baden, denn es war Sommer und man brauchte nur einen Pfarrer in Söderfors. Simon saß allein mit dem Orbis Pictus, dem Buch über Gottes Welt, und er kolorierte es mit Pflaumensaft, mit geraspelter Rinde in Eiklar, mit Messwein und Grasbrei und Blut. Er las Terra die Erde und Lapis der Stein, Flores, Fruges, Frutices, die Binsen, das knotige Schilfrohr, die Holderstaude, der Rosenstock, und draußen floss der Mannesälv mit den Kindern, und Simon las und malte, Geometria die Erdmesskunst, Phases Lunae des Monds Gestalten, und er malte die Weltweisheit blau, und er malte die Fischerei grün, und er malte Aves Rapaces die Raubvögel blutbraun, und mit schwarzer Tinte füllte er die Umrisse der Amphibia, der beidlebigen Tiere, das Krokodil, den gänsfüßigen Biber, den Otter, den quakenden Frosch mit der Kröte, und Sartor der Schneider, und Lintea das Linnen, und die Luft und die Wolke, Getreide und Bäume, Herdenvieh und Lastvieh, Uhrwerke und Fuhrwerke, und Coelum der Himmel und Mundus die Welt. Der Messwein war verschüttet. Der Pflaumensaft aufgebraucht. Die Rinde in Eiklar klumpte, das Blut war geronnen, das Gras auf der Wiese längst braun. Schwarz malte Simon Chrysander den ganzen Orbis Pictus. Der Mannesälv rauschte. Gott der Herr schritt am Ufer und zuckte die Achseln und Gott der Herr sah den Orbis Pictus und zuckte die Achseln, er schalt nicht, sprach nicht, segnete nicht, und er sah nicht, dass es gut war, und er sah nicht, dass es schlecht war, und er sah auch Simon Chrysander nicht über seinem schwarz gemalten Orbis Pictus, und Gott der Herr ging weiter, fort vom Pfarrhaus, fort vom Mannesälv, fort aus Söderfors, fort aus Dalarna, fort aus Schweden und fort aus Mundus, der Welt, und seine Achseln zuckten unaufhörlich, und seine Engel waren um ihn her wie auf den Bildern.

Chrysander schlug die Augen auf. Die Straße war still. Über ihm, mit einem Licht, stand Kauppi.

«Ich will nicht, dass du mir nachkommst», sagte Chrysander. Kauppi half ihm auf die Beine. Chrysander schluckte. Dann übergab er sich. Dann brachte ihn Kauppi nach Hause.

Die Kunst der Bestimmung

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