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III

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«IN GUARDIA!», schrie Vater und band Lucius’ Klinge innerhalb.

Das Gras war grün in Cheshire und der Himmel hing niedrig. Man übte auf dem Feld und nicht im Haus. Auch der Krieg fand im Feld statt und nicht in Häusern. Wenn es regnete, blieb man. Auch der Krieg blieb Krieg, wenn es regnete. Lucius wagte einen schnellen Blick zum Himmel.

«Cavation! Via!», schrie Vater.

Lucius cavierte, Vater cavierte desgleichen, Lucius ging abermals mit der Klinge durch und Vater wiederum, und Lucius cavierte ein fünftes Mal und machte dann die Finte in der Quarta nach Vaters rechter Brust, und Vater ging nach links, und Lucius passierte unter Vaters Rapier und stieß in der Seconda nach Vaters unterem Leib, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Und Lucius cavierte wieder, und Vater cavierte dagegen, und Lucius ging durch und Vater ging wiederum durch, und nach der fünften Cavation und der Quarta nach rechts machte Lucius abermals die Passata sotto, die linke Hand im nassen Gras, und schnell wieder hoch, damit Vater nicht spottet, und dann die Seconda abermals nach der unteren Linie, und wieder griff Vater die Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Die ersten Regentropfen fielen.

«Schlafen Sie, Sir?», schrie Vater. «Via!»

Und Lucius cavierte und Vater ging durch und Lucius ging wiederum durch und dann abermals Vater, und im Haus waren die Schwestern, Maudlin und Barbara, sie hatten Lucius im Türstock gemessen, in nur einem Monat war er gewachsen um die Breite von Maudlins Kamm, sie lachten ihn aus, und Lucius machte die Finte nach rechts und Vater ging nach links und schon fiel mehr Regen, und Lucius bückte sich unter Vaters Klinge, zum dreißigsten Mal, zum vierzigsten Mal, und da war längst ein Abdruck seiner linken Hand im Gras, denn man wich nicht und wirbelte nicht und schlenkerte nicht, sondern hielt die Bahn und hielt die Mensur, sonst war man ein Feigling, und Lucius stieß in der Seconda zu, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Lucius cavierte, und Vater, und Lucius, und Vater wieder, und dann die Quarta, Lucy, sagten die Schwestern, Lucy lernt die Passata seit Wochen, nichts als die Passata, gewiss ist er dumm, denn Vater drillt ihn wie einen Hund, und bald passt er nicht mehr unter Vaters Degen durch, bald ist er ein Riese und kommt auf den Jahrmarkt. Lucy, unser Lucy, die großen Schwestern nannten ihn so, wenn Vater es nicht hörte, und die Mutter hatte ihn so genannt, denn sie zog Töchter vor, denn Töchter lebten, Söhne kamen meist tot zur Welt, Töchter waren besser. Lucy, sagte die Mutter zu ihrem Sohn und dann starb sie selbst, und Lucius nannte sich selbst Lucy, wenn keiner es hörte, denn Mädchen müssen nicht fechten und Mädchen wachsen nicht so. Lucy, dachte Lucius, blamier dich nicht, und Vater ging nach links, und Lucius machte die Passata sotto und ging in die Seconda, glatt und geschmeidig wie Vater, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Der Regen fiel stärker und Lucius cavierte, und Vater cavierte, und Lucius ging wieder durch, und Vater ging wieder durch, und der Regen wurde dunkel und das Gras immer grüner, ein tiefer See, und Lucy machte die Finte mit der Quarta, und er schwamm, ein Fisch mit Rapier, «via!», schrie Vater, und Lucy passierte unter Vaters Klinge davon auf Nimmerwiedersehen, eine Muschel, die versank, und ein Wasservogel, der davonflog, und Vater schrie «via!» und Lucy flog, und er wurde eine Spottdrossel und ein Papagei und ein gefiederter Drache und eine rote Taube, und Vater machte die Primeinladung und stieß mit der Quarta zu und stieß wiederum mit der Quarta zu und fluchte, denn er stieß ins Leere, denn Lucy war ein Vogel, und er stieß abermals ins Leere, denn Lucy war ein Fisch, und dann wurde er eine Wolke und dann wurde er Wasser und dann wurde er Luft, und Vater stieß zu, und Lucy wandelte sich, glatt und geschmeidig wie lauter vollendete Kreisfinten, vom Fisch zur Muschel zum Vogel zum Wasser zur Wolke, wie Proteus, der Meergott, der die Gestalten wechselt wie das Kleid, den keiner zu halten vermag, denn seit Lucius Lawes so schrecklich gewachsen war, wollte er werden wie Proteus und längst nicht mehr werden wie Vater.

Lucius erwachte. Er fror. Das Bettzeug war klamm. Er schloss die Augen und versuchte zu verschwinden. Er versuchte das öfters. Gelungen war es ihm noch nie. Statt zu verschwinden, stahl sich der Earl of Fearnall leise aus Bett und Zimmer.

Er hatte nichts an. Er fand ein Hemd in seinem Ankleidezimmer, keine Hose, keinen Morgenmantel, nur zwei Strümpfe. Irgendwo gedämpfte Stimmen, Personal vielleicht, oder die Orangenfrau, oder der Mann mit den Spitzen, der jeden Morgen kam, oder sogar Besuch – Lucius rannte nackt von Zimmer zu Zimmer, bog ab, bog wieder ab, fort von den Stimmen, ihn schwindelte, er stolperte über die Schwelle einer Kammer, schlug die Tür zu und kauerte sich in eine Ecke. Hier verwahrte er sein Schwarzpulver. Hierher folgte ihm niemand ohne Befehl. Lucius steckte den Kopf in die zerknitterte Wäsche, die er unterwegs gefunden hatte, kniff die Augen zu und versuchte wieder einzuschlafen.

«In guardia!», schrie Vater. «Quartflankonade und Kreisstoß! Via!»

Lucius entschied sich gegen den Schlaf. Er versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Lucius hatte viel getrunken, mehr als einen verschwommenen Kummer bekam er nicht zu fassen. Der Kummer schien ihm ein Schmerz der Liebe, der Nachhall eines misslungenen Rendezvous. Vielleicht war er bei einer Frau gewesen. Vielleicht war etwas nicht gut gegangen mit dieser Frau. Womöglich hatte Lucius dies oder jenes verwechselt, das Spiel für die eine Freundin mit dem Spiel für die andere, womöglich die Masken vertauscht, vermischt oder irrtümlich abgelegt, eine Verwandlung falsch begonnen. Selten unterliefen Lucius solche Fehler. Manchmal geschah es doch. In vielen Gestalten erschien Lucius Lawes, um seine Freundinnen zu unterhalten. Er kam als Verliebter oder Libertin, als Spieler oder Spielzeug, Verführer oder Verführter, als Philosoph zuweilen, der etwas von Freiheit versteht, als Unschuld vom Lande, die es zu verderben gilt, und auch als Verrückter, dessen Grillen die Sinneslust heilt, und hier und da, in besonderen Fällen, als Beförderer der empirischen Wissenschaft, dem die Liebe nichts anderes ist als ein Experiment zu den Gesetzen von Stoß und Wirkung. Das Repertoire war umfangreich. Eine Verwechslung wäre verzeihlich. Vielleicht hatte Lucius jemanden enttäuscht. Sein Kummer wuchs. Sein Gedächtnis blieb gelähmt. Lucius roch traurig an seiner Schulter. Manchmal belebte ein fremder Duft die Erinnerung, doch heute roch Lucius nur nach Schlaf. Ein Faden war gerissen im farbenreichen Gewebe des Earl of Fearnall und die verlorenen Enden passten nicht mehr zusammen.

Lucius streifte das Hemd über den Kopf. Dann zog er den rechten Strumpf an. Den linken vergaß er, noch während er ihn krempelte. Reglos saß er auf dem kalten Boden, das Hemd um die Schultern, die Arme und alles Weitere nackt, nur das rechte Bein und die rechte Hand jeweils bekleidet mit einem schönen taubenblauen Strumpf. Lucius’ Haar war wirr, seine Miene leer, der Kopf freudlos betrunken vom Wein und vom Träumen. Das gestrige Spiel war vergessen. Ein neues Spiel fiel ihm nicht ein. Und wenn Lucius Lawes kein Spiel einfiel, konnte er sich nicht bewegen.

Allmählich und zunehmend unbehaglich spürte er jenen inwendigen Druck, den er oft empfand, am Morgen vor allem, doch auch sonst in wehrlosen Minuten. Er konnte den Druck nicht benennen; es fühlte sich an, als sei etwas in seinem Körper gefangen, zu viel von etwas, das anschwoll und hinauswollte und den Weg nicht fand. Lucius wünschte, er hätte Brandy, um dieses Gefühl zu betäuben, doch es gab keinen Brandy in dieser Kammer, es gab nur Schwarzpulver und Natron und Soda und Antimon, Lapis Solaris und Lapis Infernalis, Auripigment vielleicht und ein wenig Knallgold, falls noch welches übrig war und nicht schon alles verpufft. Lucius übte sich mitunter in der leuchtenden Chemie. Von Zeit zu Zeit besuchte er eine Sitzung der Royal Society und führte dort Detonationen vor, bebrillt, zerstreut und im mausgrauen Rock. Jetzt stand ihm der Sinn nur nach Brandy. Mühsam zwang er sich aufzustehen. Er fand keinen Brandy. Er fand nur einen Dolch. Den nahm er mit in seine Ecke.

Lucius kannte den Dolch nicht. Er zog ihn aus der Scheide. Er war spitz und scharf, der Griff aus Eisenbändern geflochten wie ein kleiner Käfig, obenauf ein Kreuz. Er sah aus, als gehöre er Sir Lancelot, der damit Bären stach, weil ihm ein Speer zu bequem war. Lucius betrachtete den Dolch lange. Er sah Sir Lancelot reiten durch karstiges Land, ohne Schwert, ohne Rüstung, barhaupt, mit flatterndem Haar, weil er büßte oder prahlte oder vom Wahnsinn geschlagen war, und er hatte nur diesen Dolch, und erst kam ein Wolf, den Sir Lancelot stach, und dann kam ein Eber, den stach er auch, und dann kam ein Bär, ein Drache, ein siebenköpfiger Löwe ... Lucius blinzelte. Er erinnerte sich, der Dolch gehörte dem Schweden, die Herren hatten ihn ihm gestern fortgenommen in Mutter Bushells Hurenhaus.

Dies war das misslungene Spiel. Im Theater mit den Herren, Kleopatra, und ein Handkuss für den König, und dann hinaus in die Nacht. Lucius hatte den Goldrock getragen. Dies war sein Kostüm fürs Theater und für das Spiel namens «die Lustbarkeiten des verwilderten Lords». Er spielte es selten. Es strengte ihn an. Es galt, durch die Stadt zu ziehen, mit den Freunden, die sonst keine Freunde waren, und Unheil anzurichten, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Man musste Steine werfen und Leute erschrecken und mancherlei tun, um die Nachtwächter aufzubringen, bis sie einen mit gesenkter Pike verfolgten, und schließlich, bevor man einkehrte und sich sehr betrank, galt es auch stets, ein Opfer zu finden, das die Freunde prügeln konnten aus diesem oder jenem Grund. Lucius im Goldrock spielte hier meistens den Köder. Gestern hatte er sich als gefallenes Mädchen verkleidet, eine neue Maske, die sich gut anfühlte und ihm wohl auch gut stand. Dann hatten die Gentlemen den gefoppten Kunden verbläut. Die Szene war falsch gewesen. Lucius hatte schlecht gespielt. Der Kunde hatte ebenfalls schlecht gespielt. Der Kunde war kein Kunde gewesen, Lucius war keine Hure gewesen, nur die Freunde hatten getan, was im Libretto stand, gelacht, geschlagen, getreten. Ich mag Euch. Lieber Herr. Nennt mich Lucy. «Gottverdammt, süßer Jesus», flüsterte Lucius, «die schwarze Pest soll mich fressen!»

Er drehte den Dolch des Schweden in den Händen. Er strich über die Schärfe. Er befühlte das kleine Kreuz. Ihr habt mein Herz entflammt. So sagt man doch in den Romanen? Lucius berührte die Klinge vorsichtig mit den Lippen. Der Druck in seinem Körper nahm zu. Er könnte nach einem Arzt schicken. Dazu müsste er rufen. Lucius konnte nicht rufen, und er sah auch den Nutzen nicht ein. Der Arzt würde ihm Senneswasser geben und Ratschläge und vielleicht eine Ader schlagen. Er würde Patient sein müssen, um mit dem Arzt zu sprechen. Eben war er kein Patient. Er war gar nichts, nackt und benommen, ein Wesen namens Lucy, das es eigentlich nicht gab. Es vermochte nicht viel, das Wesen namens Lucy. Eine Ader zu schlagen verstand es jedoch wohl.

Lucy fand eine Küvette und trug sie in seine Ecke. Dann löste er den Strumpf von der Rechten und band damit den linken Arm ab. Seine Adern traten schön hervor, oft geschlagene Adern, stets hinlänglich verheilt. Er nahm den Dolch des Schweden, machte einen Schnitt und lockerte langsam die Stauung.

Er blutete gut. Die Schleuse war geöffnet, das Wasser konnte zu Tal, das Gefangene ging frei davon und musste nicht mehr drücken. Lucy legte den Kopf schief und sah seinem Blut zu, wie es in die Küvette floss, gleichmäßig und friedlich und ohne einen Laut. Er wurde matt und weich. Der Druck schwand, und die Träume der Nacht und der Wunsch nach der schwarzen Pest. Er ließ sich gründlich zur Ader. Bald fielen seine Augen zu. Er sah Sir Lancelot reiten, er sah grüne Wiesen, er hörte den Schweden, Lucy, du bist ein gutes Kind, und dann sah er den Schweden, seine Hände so freundlich in Lucys Haar, und er hörte ihn wiederum reden, du hast einen Wirrkopf, mein Kind, und abermals, ganz leise, Missgeburt, Wechselbalg, Monstrum, und all dies waren nur Kosenamen, wenn das Blut so tröstlich floss, und Sir Lancelot ritt, eine Dame vor sich im Sattel, Ihr entflammt mein Herz, schöne Lady, sagte Sir Lancelot und ritt über die Wiesen von Cheshire.

Irgendwann griff Lucy traumverloren in seine Wunde und drückte die Ader ab. Dann nahm er den linken Strumpf und verband sich. Einen Augenblick gab er sich noch, still in die Ecke geschmiegt; dann zog er das Hemd an und den rechten Strumpf aus, nahm den Dolch und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich an der Wand. Der Dolch war blutig, er wischte ihn ab, er wollte ihn behalten.

«In guardia», flüsterte Lucy. Lord Fearnall begann seinen Tag und schrie aus vollem Hals nach seinen Dienern.

Lucius Lawes trank eine Tasse Schokolade und ein Glas Brandy, dann legte er sein Muttergottesamulett um, schwärzte seine Brauen mit Kohle, wählte eine dunkle Perücke und einen altmodischen schwarzen Rock von annähernd spanischer Machart und fuhr, wie jeden Sonntag, mit der Mietkutsche zur katholischen Messe.

Erst vor kurzem, als in London die Rede ging, die Jesuiten wollten dem König ans Leben, war Lord Fearnall heimlich konvertiert. Nun war er Papist und schloss in der Kutsche eigenhändig die Fensterläden, wie es sich schickte für eine solche Reise. Sein Ziel lag in Southwark, jenseits der Themse. Dort sah es aus, als wüte noch immer die Pest. Es gab genügend katholische Messen in London, aber keine schätzte Lucius so wie diese. Sie erinnerte ihn an das Schafott, das die Whigs wohl in Kürze für die Papisten aufrichten würden, einen riesigen Galgen mitten im Tower, wo die Verurteilten störrisch das Sanctus sängen, bis ihnen der Strick den Atem nahm. Lucius mochte diese Vorstellung und schmückte sie immer weiter aus. Damit vertrieb er sich die Zeit, wenn er im spanischen Wams nach Southwark fuhr, die silberne Schmerzensmutter kühl auf der bloßen Haut.

Bis zur London Bridge träumte er vom Martertod. Über dem Wasser verblasste dieses Bild. Am Südufer stimmte er sich ein auf die Pracht des Christe eleison, während der Kutscher, wie geheißen, die düstersten Gassen nahm. Als Lucius schließlich ausstieg, war er heilig und kalt und verworfen wie das ewige Rom und der Papst höchstselbst, der die Frevler ins Feuer stößt wie einst Kaiser Nero die Christen.

Die Katholiken von Southwark trafen sich in einem Hinterhaus, grimmige Menschen, die in einer klammen Kapelle einem irischen Priester lauschten, der auf Lateinisch lamentierte. Lucius hieß Don Hieronimo in diesem Kreis. Niemand glaubte es ihm, aber man schätzte seinen Beitrag zur Kollekte. Don Hieronimo nahm Weihwasser. Er küsste seine Fingerspitzen und schlug einige vertrackte Kreuze, wie dies die Sitte war in seiner spanischen Heimat. Asperges me, Domine, hyssopo, et mundabor. Ein Zauberspruch.

Lucius’ Latein war nicht das beste. Er zählte die Bekreuzungen des Priesters. Zweiundfünfzig würden es sein, bis die Messe vorüber war, wenn er nichts versäumte. Lucius fiel auf die Knie und verharrte so, als Einziger. Et clamor meus ad te veniat, Domine. Don Hieronimo verbarg das Gesicht in den Händen und vergoss ein paar Tränen, vielleicht für seine untreue Frau in Kastilien, die er eigenhändig erstochen hatte, vielleicht für seine Brüder und Vettern, die am fernen Amazonas den Pfeilen der Wilden erlagen, vielleicht auch für einen verbläuten Professor und die vielen Sünden des Lucius Lawes. Er tupfte vorsichtig seine Augen, um den Kohlestift nicht zu verschmieren, dann blickte er auf und wartete auf die Wandlung.

Seit er den Katholiken von Southwark eine Dose Weihrauch geschenkt hatte, beglückte ihn das Opfer besonders. Während der Priester Wasser und Wein vermischte, mischte Lucius Spanien mit dem Rom der Alten. Bald sah er sich im Morgennebel auf dem Kapitol der Venus Genetrix opfern, Lucius Sulla in jungen Jahren, als er noch wild war und sittenlos, mit blauen Augen und so vielen Sommersprossen, dass die Spötter den Vers auf ihn machten, «Sulla ist gesprenkelt gleich einer mehlbestäubten Maulbeere», wie Plutarch erzählt. Sic fiat sacrificium nostrum, sagte der Priester zu Gott und Lucius zur schaumgeborenen Venus, und er opferte ihr, statt der Hostie, einen Granatapfel und eine Taube und bat um Glück in der Liebe, mit der Dame Nicopolis und dem Knaben Metrobius, die ihm beide gewogen waren; denn auch dies verschwieg Plutarch nicht. Erst beim Sanctus verblasste das Kapitol. Lucius rückte seine Toga zurecht und sprach ein stilles Gebet für Gott den Allmächtigen. Er bat um Vergebung. Gott vergab ihm. Ich schuf dich mit schwärmendem Geist, sprach Gott, sei ohne Sorge, Lucy mein Sohn. Lord Fearnall verbeugte sich tief vor dem Altar. Dann verließ er eilig die Kapelle und sprang in die Kutsche, denn sein Zeitplan war, wie immer, äußerst gedrängt.

Als er nach Hause kam, warteten schon zwei Diener darauf, ihn umzukleiden. Die Hoftracht war steif und schwer. Lucius stand wie eine Puppe, die Beine gespreizt, die Arme ausgestreckt, dass man auch alles recht in Form bringen konnte. Er trug Pfirsich und Ocker an diesem Sonntag und venetianerrote Borten, die Spitzen in Creme, Bänder und Rosetten schwarz wie die Nacht, dazu die braune Perücke, den hübschen Degen, der nichts taugte, und den Hut mit den blassgelben Flaumfedern eines Riesenvogels aus Übersee. Don Hieronimos Augenbrauen wurden abgewischt. Lucius trank ein Glas Brandy, ließ sich die Wangen pudern, dann stieg er in die Schuhe und in seine eigene Kutsche, vierspännig, mit Glasfenstern, schwarz wie ein Leichenwagen. Er saß gebückt bis Whitehall, um die Federn auf seinem Hut nicht zu stauchen.

Lord Fearnall wartete dem König in dessen privaten Gemächern auf. Er teilte dieses Amt mit mehreren Dutzend Damen und Herren. «Nun, Lucius?», fragte der König. Lucius verneigte sich. Er stand in der Gunst des Königs dank Vaters Heldentaten. Einst war Vater ein einfacher Soldat gewesen. Dann wurde er General. Er schlug die Feinde der Krone aufs Haupt, Schotten, Rundköpfe, Holländer und was sich sonst noch tummelte an bösartigem Gesindel. So wurde George Lawes der erste Earl of Fearnall. Dann starb er. So wurde Lucius der zweite Earl, fünfzehnjährig, wortkarg, der beste Fechter von Cheshire. Der König hatte George Lawes’ drei Waisen damals nach Whitehall geholt, um die Töchter alles und den Sohn noch etwas anderes als den Umgang mit dem Rapier zu lehren, und seit dieser Zeit betrachtete er Lucius, der nun volljährig war und Mitglied des House of Lords, stets mit freundlichem Interesse.

Lucius erhob sich geschmeidig aus der Reverenz. Er wartete, welches Spiel Charles II. befehlen würde. Manchmal wollte er, dass Lucius den Prüfling spielte: ob die Erziehung in Whitehall auch schöne Früchte trug. Manchmal wünschte er Unterhaltung, ernste, schlüpfrige, alberne, chemische, je nach Laune und Augenblick. Zuweilen wollte er Lucius als Knaben sehen. Zuweilen als Gentleman. Zuweilen als jungen Politiker, der stets die richtigen Dinge sagt. Mitunter durfte Lucius auch den Narren spielen, fahrig, geniert und niemals nüchtern, der seine Beine verhaspelt bei der banalsten Courante und nach der Duchess of Cleveland seufzt, als sei sie eine ehrbare Frau.

Lucius Lawes stand in seinen Kleidern wie in den Kulissen eines Theaters und wartete, dass ihm der König das Textbuch reiche für seinen Auftritt. Doch der König wollte heute nicht spielen mit dem Earl of Fearnall. Er wiederholte, «nun, Lucius?», dann besprach er sich mit dem Duke of Lauderdale über schottische Angelegenheiten. Der Duke of Lauderdale hatte eine lange Oberlippe, die oft zwischen die Zähne geriet. Die Zähne waren grau, die lange Lippe beim Sprechen voll Schaum. Der Duke of Lauderdale war der Diktator von Schottland und auch sonst ein Herr von Gewicht. Lucius verneigte sich wieder, im Stil des Soldaten nun, seine Absätze klackten.

Er folgte dem Hof in die Kapelle. Längst spürte er wieder den Druck im Inneren. Längst wünschte er sich wieder Brandy. Er sah die Schwestern, Barbara und Maudlin, beide im Gefolge der Duchess of York. Vielleicht würden sie mit Lucy spielen. Vielleicht würden sie «Kleiner Bruder in Nöten» mit ihm spielen. Aber sie waren zu weit entfernt und Lucius hatte nicht die Kraft, sich durch die Menge zu drängen. Man las Jesaja zum Morgengebet. Höret des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom. Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Hure wurde? Es gab keinen Weihrauch. Es gab kein Latein. Es gab weder Spanien noch die Venus Genetrix.

«Apropos Hure», meinte der Herr, der neben Lucius saß, «war dies nicht précieux, das Plaisir? Bald wollen wir wieder bei Mutter Bushell einkehren, Sie mit erlogenem Kleinod und wir mit wahrhaftigen Fäusten!»

Lucius drehte langsam den Kopf. Der Sohn des Lord Stretton, wie meist in Maron.

«Allzeit à votre service!» Der Sohn des Lord Stretton lachte.

Lucius stand auf. Er schlich durch die ganze Kirche, auf Zehenspitzen, damit seine Absätze keinen Lärm machten. Leute blickten sich um. Eine Missgeburt. Ein Monstrum. Verflucht sollst du sein. Lucius verließ die Kapelle. Er folgte dem Flur, den Zimmerfluchten, passierte Diener, Wachen und den Lord Chamberlain, eine unruhige Dame ohne Geleit und einen verirrten Menschen mit sechs Otterhunden. Dann trat er ins Freie. Er suchte seinen Diener und fand ihn nicht, er fand seine Kutsche, nicht den Kutscher. Lucius verspürte das dringende Bedürfnis, sich auszuziehen. Er musste fest die Arme kreuzen, um sich daran zu hindern. Endlich kamen seine Leute zurück. Lucius befahl die Heimfahrt.

Er ertrug das Schweigen nicht. Er wollte auch nicht nach Hause. Mitten auf der Pall Mall ließ er halten und stieg aus. Er blickte die Männer an, den Diener auf dem Tritt, den Kutscher auf dem Bock, er kannte sie gut, er wusste nicht, wie sie hießen. Vielleicht hieß der Kutscher John.

«John?», fragte Lucius.

«Jawohl, Mylord?»

«Heißt du John?»

«Nein, Mylord.»

«Pardon», sagte Lucius. «Ich möchte trotzdem bei dir sitzen.»

Ein verblüffter Blick, aber der Kutscher rückte zur Seite. Lucius kletterte auf den Bock. Er saß unbequem auf seinen steifen Rockschößen.

«Fahr nach Smithfield», sagte Lucius, «und wieder zurück.»

Der Kutscher, der nicht John hieß, trieb die Pferde an. Der Nebel machte sich an Lucius’ Haar zu schaffen und an den Federn auf seinem Hut. Lucius wischte die Feuchtigkeit von seinen Wangen. Er wollte nicht nach Smithfield und auch nicht wieder zurück.

«Vor einigen Jahren», sagte Lucius, «war im Hatton Garden ein Mann, der das Paradies ausstellte. Hast du das gesehen?»

«Zu Diensten, Mylord.» Der Kutscher räusperte sich. Er gab keine Antwort auf Lucius’ Frage.

«Das Paradies», fuhr Lucius fort, «war ein Pavillon, ein Zelt, grüne Leinwand. Der Eintritt kostete fünfzehn Penny. Tiere, Vögel, Pflanzen und Gestein, alles war auf Holz oder Stoff gemalt und dann ausgesägt oder aufgespannt, jedes Tier, wie es stand oder lief oder kroch oder lag, und jeder Vogel, wie er saß oder flog, und dazwischen Bäume und Büsche und Felsbrocken, auf denen wiederum Tiere standen oder saßen, Affen zum Beispiel, ich erinnere mich an die Affen, sie waren lustig. Ich war damals noch ein Knabe, die Schwestern führten mich hin. Der Besitzer des Paradieses ging darinnen umher und sagte Gedichte zu jedem Tier und jeder Pflanze und wie sie miteinander lebten und wie sie fruchtbar waren und sich mehrten, und wie Gott sah, dass es gut war etcetera, alles in Reimen. Dann ahmte er die Rufe der Tiere nach, wie die Vögel singen und die Affen schreien, und dann ahmte er das Geräusch der Blätter im Wind nach und sogar das Trippeln der kleinen Füße der Eidechsen auf dem Fels. Es war nur ein einziger Mann. Er konnte das alles zur selben Zeit. Sicherlich hatte er auch die Figuren gemalt und gesägt und geschnitten und hingestellt. Das Zelt platzte schier aus den Nähten. Es war ein großes Durcheinander im Paradies. Maudlin spottete darüber, und der Mann sagte ein Gedicht auf sie, das ging ungefähr so: Die Dame spare das Geplärr / zusammen reimt sich’s Gott der Herr. Maudlin war beleidigt und wir mussten gehen. In der Woche darauf war das Paradies verschwunden. Übrig blieb nur ein runder Fleck auf dem Rasen. Ich erinnere mich an die Affen. Sie waren lustig.»

«Hat Mylord in Smithfield Geschäfte?», fragte der Kutscher.

«Wenn du an das Paradies denkst: Glaubst du, es ist vollgestopft mit Tieren und ohne Sinn und Verstand?», fragte Lucius.

«Möchte Mylord in Smithfield halten oder gleich umkehren, wie befohlen?»

«Umkehren. Denkst du von Zeit zu Zeit an das Paradies?»

Der Kutscher wendete am Marktplatz.

«Gibst du mir bitte eine Antwort?», sagte Lucius.

Der Kutscher zog erschrocken den Kopf ein. «Ich denke, wenn belieben, nicht ans Paradies, Euer Ehren.»

«Und wenn du daran dächtest: Wie dächtest du es dir? Geordnet?»

«Zu Diensten, Euer Ehren, ich weiß nicht.»

«Ich glaube, es ist ohne Sinn und Verstand», sagte Lucius, «und grün, und durcheinander, und voller Tiere und Vögel und Pflanzen und Gestein. Und besonders voller Affen. Das glaube ich. Du hast etwas versäumt im Hatton Garden.»

«Wie Mylord befiehlt», murmelte der Kutscher.

Lucius ließ halten. Er stieg vom Bock und in die Chaise. Wieder einmal versuchte er zu verschwinden und wieder einmal gelang es ihm nicht, sich auch nur eines einzigen Zolls seiner sperrigen Person zu entledigen.

Zu Hause schickte Lord Fearnall nach einem Arzt. Als er kam, empfing er ihn nicht. Er schrie nach dem Mittagessen, nach dem Hausmantel, nach Briefpapier, Brandy und der Badewanne. Alles bekam er und nichts wollte er haben. Lucius schrie nach seinem Papagei. Man brachte ihn ins Zimmer. Der Papagei hörte auf den Namen Lauderdale, wegen seiner blassen Augen und der Form des leicht vermorschten Schnabels. Lucius schickte die Diener fort. Lauderdale kratzte sich.

«Ich will wissen», sagte Lucius, «wie er heißt.»

Lauderdale biss in seine Stange, den Kopf zwischen den Füßen.

«Gibt es einen schwedischen Gesandten in London?»

Lauderdale versuchte einen Überschlag und verhedderte sich in seiner Kette.

«Ich versprach, ich besuche ihn. Ich möchte ihn noch immer besuchen. Ich kann ihn gut leiden. Ich möchte sehen, was er tut. Und warum. Ich möchte ...»

«Rää», sagte Lauderdale.

«Ich möchte», begann Lucius wieder, «ich möchte, zum Teufel, ich will ...»

«Rää», wiederholte Lauderdale. Er kniff die Augen zu.

«Er sagte, ich sei leicht zu bestimmen.»

Lauderdale lachte.

«Dann sagte er, ich sei eine Missgeburt. Er ist ein Scheusal. Ich mag ihn nicht. Ich will wissen, wo er wohnt. Ich will ihn besuchen. Ich werde etwas finden, um es anzuziehen. Er wird verstehen, dass ich nicht stets die femme de plaisir sein kann, er wird mich auch anders empfangen.»

Lauderdale lachte heiser. Lucius trat gegen den Pfosten, der seine Stange hielt. Lauderdale hustete und klammerte sich fest.

«Gibt es eine Behörde», fragte Lucius, «in der man die Ankunft von Fremden notiert? Gibt es ein Amt für Schweden? Er ist Professor. Wer ist unterrichtet über Professoren aus Schweden?»

«Rää! Rää!», rief Lauderdale.

Lucius lächelte. Er kraulte Lauderdales Bauch.

«Danke. Die Royal Society. Das ist eine gute Idee.»

Da Mr. Hooke ausgegangen war, holte Lucius’ Diener kurzerhand Josiah Blane. Er saß in der schwarzen Kutsche, bevor er wusste, wie ihm geschah, ohne Anhaltspunkt, ohne Hut und in den Schuhen fürs Haus. Josiah versuchte sich geehrt zu fühlen. Stattdessen fürchtete er nur um sein Augenlicht.

Josiah kannte den jungen Earl. Er hatte ihn oft schon gezeichnet. Wenn er teilnahm an einer Sitzung der Royal Society – er war Mitglied ehrenhalber, wie alle Herren von Stand –, gab es meist wenig zu protokollieren. Niemand begriff seine Experimente. Sie waren laut und feurig und nicht geeignet für geschlossene Räume. Niemand wagte, den Earl in den Hof zu schicken, da er hoch in der Gunst des Königs stand. So führte er denn im Sitzungssaal vor, was gewisse Substanzen vermochten, wenn man sie mit Schwung zusammengab. Sie vermochten Erstaunliches. Sie schwärzten die Hände des Earls, den Tisch und oft auch die Decke. Zuweilen ließ sich eine Detonation nicht gut an. Dann half Lord Fearnall mit Schwarzpulver nach. Er besaß mehr davon, wurde erzählt, als die Artillerie des Coldstream-Regiments. Der Earl sprach selten. Nichts kümmerte ihn außer der Chemie. Er war zerstreut wie ein alter Gelehrter und wusch sich die Haare nicht öfter als Mr. Hooke.

In unfroher Stimmung betrat Josiah Blane das Haus des Earl of Fearnall, ein Gebäude nicht weit vom Strand und kaum einen Steinwurf entfernt von Arundell House. Der Diener führte ihn durch Treppenhaus und Gemächer. Das Auge des Protokollanten sog ein, was die Kürze der Zeit erlaubte. Teppiche. Tapeten. Mobiliar. Ein Gemälde von Susanna im Bade, wie es heute ein jeder besaß. Das Haus wirkte kalt und neutral, als könne man es mieten. Nichts deutete hin auf die Neigungen eines Besitzers. Nichts deutete hin auf den Earl of Fearnall. Der Diener stellte Josiah vor eine Tür und brachte sich in Sicherheit.

Zögerlich betrat Josiah eine verdunkelte Kammer. Lord Fearnall verkochte Stinkendes in einem offenen Gefäß, wie stets ohne Handschuhe und in einem schlechten mausgrauen Rock. Zwei Knöpfe fehlten. Brandlöcher zierten die Ärmel. Die Brille des Earls beschlug über dem dampfenden Tiegel, ein Bügel war geflickt mit Draht. Barfuß stand er in den Schuhen, zerschlissene gelbe Pantoffeln wie die eines Mädchens aus kläglichen Verhältnissen. Sein Hals war schief, sein Haar fahl und fettig, als habe der Herrgott in einer seltsamen Laune einen Jüngling geschaffen nach dem Vorbild des Mr. Hooke.

Josiah verbeugte sich. Er grüßte, dann grüßte er lauter. Endlich blickte der Chemiker auf.

«Bitte? Wer sind Sie?

«Josiah Blane. Zu Diensten. Ihr habt mich gerufen, Mylord.»

Der Earl blinzelte verwundert durch seine trübe Brille. Die Kalzination trat in eine kritische Phase ein. Eine Flamme beleckte den Daumen des Earls, er schien es nicht zu bemerken.

«Royal Society, Euer Ehren», fügte Josiah Blane hinzu, «ich bin der Stenograph.»

«Vitriol», murmelte der Earl, «Vitriol ... es klumpt ... der Saturn steht schlecht ...» Abwesend kratzte er seine linke Wade mit der Spitze des rechten Pantoffels. Dann wandte er sich langsam um und betrachtete Josiah Blane, als sei er ein Stückchen Brennstein, von geringer Bedeutung, allenfalls brauchbar für die eine oder andere Reaktion.

«Kennen Sie einen Professor, junger Mann ...», begann er zäh, dann verstummte er. Der Tiegel glühte. Josiah wich zurück bis zur Tür.

«Wie nennt man gleich dieses Land», fragte der Earl, «dieses Land, dieses Land ... das Land dort im Norden ...» Er seufzte tief und kratzte seinen fettigen Kopf. «Ah, Schweden! Einen Professor aus Schweden. Er versteht sich, so heißt es, aufs Vitriol.»

«Stets zu Diensten», sagte Josiah, «ich kenne keinen Schweden, der sich aufs Vitriol versteht.»

«Er versteht sich auch wohl auf anderes ...» Endlich nahm Lord Fearnall seinen Tiegel vom Feuer. Er entzündete einen Holzspan.

«Die Society sollte unterrichtet sein über Gelehrte aus dem Ausland ...» Er bewegte die Flamme unentschlossen von hier nach dort. «Der Stenograph sollte unterrichtet sein über die Belange der Society ...»

Der brennende Span verirrte sich in die Nähe einiger eng verschnürter Pakete. Lord Fearnall schien ihn vergessen zu haben. Er starrte angestrengt in den Tiegel. Josiah musterte die Pakete. Er dachte an den Spruch vom Coldstream-Regiment. Er fragte sich, in welchen Behältnissen man Pulver verwahrt.

«Ich wüsste doch gerne», sagte der Earl, «um was es sich handelt bei dieser schwedischen Angelegenheit.» Die Flamme berührte die Schnur des größten Pakets.

«Simon Chrysander, Professor Upsaliensis», rief Josiah, die Hand an der Klinke, «er ist bestellt, das Kabinett zu ordnen, morgen wird er im Gresham College empfangen, er wohnt in der Throgmorton Street, das Eckhaus an der Broad Street, Mr. Hooke gab ihm seine Köchin, er reist mit einem kleinen Wilden aus Lappland, er rechnet Rationes über die Welt und gewiss auch übers Vitriol, Euer Ehren, achtet auf Eure Lunte!»

«Danke», sagte der Earl of Fearnall. Er ließ den Fidibus fallen und trat ihn aus. Dann wies er auf die Tür. Josiah Blane lief davon. Lucius nahm die Perücke ab.

Lange durchforschte er seine Garderobe. Sämtliche Gewänder, und es gab deren viele, blätterte er aufmerksam durch, ob er die passende Geschichte fände in diesem vielfältigen und kostbaren Buch, doch nichts gefiel ihm und nichts empfahl sich als Anfang eines neuen Spiels für den Mann namens Simon Chrysander. Endlich stieß er auf das Kleid des Winters. Er hatte es auf der Bühne getragen, als man in Whitehall das Stück von Pomona und Pan aufführte zum Geburtstag der Königin. Der Winter hatte Pomona geraubt und fortgeschleppt und dazu allerlei Verse über kargen Boden und Bäume ohne Frucht rezitiert, um den König zu amüsieren, der seine kinderlose Frau nicht allzu sehr schätzte.

Das Kostüm des Winters war weiß wie das Kleidchen der Hure: alles, vom Hut bis zu den Schuhen. Nur eine schmale silberne Stickerei, Schneeflocken vielleicht oder Eisblumen, zierten Ärmel und Hosenbänder. Man konnte diesen Anzug in Gesellschaft nicht tragen. Weiß in Weiß sah die Mode nicht vor. Lucius drehte die Perücke des Winters in den Händen. Die weißen Locken sagten ihm nicht zu. Er überlegte. Dann schickte er nach dem Barbier.

Drei Stunden später warf der Barbier die Papilloten fort und stellte die Brennscheren ins Wasser. Lucius massierte seinen Nacken. Es war schwere Arbeit, sein glattes Haar in ein Gebilde zu verwandeln, das aussah wie die schönste Perücke. Lucius ließ sich ankleiden und trat vor den Spiegel. Da stand der Winter, mit blassen Wangen, dicht in rote Locken gehüllt, als trüge er Feuer auf den Schultern. Lucius war sich fremd in diesem Kostüm. Er schminkte seine Lippen, dann wischte er die Farbe wieder fort. Auch Puder wollte er nicht und erst recht kein Bleiweiß. Der Schwede sollte ihn erkennen. Das wiederholte er lautlos, als er in die Kutsche stieg, er soll sich wundern, aber er soll mich kennen, er soll wissen, dass ich das bin, ich, Lord Fearnall, ich, Lucius Lawes, ich, Lucy, im weißen Kleid und mit dem eigenen Haar.

Er lächelte furchtsam vor sich hin. Er wollte den Degen ablegen. Eine seltsame Idee. Lucius lächelte weiter, ein wenig starr, und er legte den Degen ab und schob ihn unter den Sitz.

Er fuhr bis zur Royal Exchange, dort stieg er aus und nahm eine Sänfte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Haus des Schweden, aber er konnte nicht zu Fuß gehen in seinen weißen Seidenschuhen und all seiner weißen Pracht. Throgmorton Ecke Broad Street schickte er die Sänfte fort. Es war längst dunkel. Viele Leute eilten noch durch die Straßen, die Männer von der Börse und vom Steueramt, die auch sonntags nicht von ihren Dienststellen lassen konnten, Verkäufer, Gesindel, Burschen mit Licht, Familien, die andere Familien besuchten zum Abendbrot. Lucius stakste über eine Pfütze und suchte sich eine trockene Stelle. Dort stand er wie festgewurzelt. Passanten gafften ihn an. Lucius blickte hinauf zu den Fenstern.

Nun beträte er das Haus. Dann stiege er die Treppen hinauf. Es gäbe einen Türklopfer, vielleicht eine Glocke, vielleicht stünde der junge Wilde auf der Schwelle, vielleicht auch die eine oder andere gelehrte Erfindung, ein Messgerät womöglich, das Besucher begutachtete, ob sie auch wohlgesinnt seien. Bei Lucius mäße das Gerät vertrackte Werte. Er träte trotzdem ein. Der Schwede trüge einen Hausmantel und ein Tuch um den Kopf und zöge eine seltsame Miene. Er schwiege. Lucius schwiege ebenfalls. Er wäre verlegen und wüsste nicht, was zu tun sei in diesem Fall. Der Schwede sähe ihn lange an, und Lucius ertrüge den Blick tapfer, und der Schwede würde dann seines weißen Anzugs gewahr und seiner roten Locken und auch seiner Verlegenheit, und er ließe Lucius noch ein wenig leiden und dann bäte er ihn leise und nicht allzu freundlich, ihn zu unterrichten über die Bedeutung dieses Kostüms, und wenn sich Lucius überwände, in die Augen des Schweden zu blicken, sähe er darinnen, dass dieser den Winter überaus kleidsam fand und auch das Werk der Brennschere. Lucius lüde den Schweden dann ein, selbst zu bestimmen – das Kleid, das Haar, den späten Besuch, und Lucius an sich: was dies alles bedeute.

«Mylord», begänne der Schwede, «um Euch zu bestimmen, muss ich Euch, mit Verlaub, untersuchen, wie die Objekte im Gresham College. Voreilig hielt ich diese Aufgabe für einfach. Doch ist sie wohl der Mühe wert. Zwar nannte ich Euch eine Missgeburt und kann dies eben nicht widerrufen, doch auch solche, wie man weiß, lohnen eine Bestimmung und zeigen die Vielfalt der Natur. Zwar habt Ihr mich gefoppt und beleidigt und ich grolle Euch sehr, doch weil ich Euch, in meinem Aberwitz, gut leiden mochte, als wir einander gestern trafen ...» Hier unterbräche er sich. Lucius schlüge die Augen nieder. «Nun denn», führe der Schwede fort, «ich will annehmen, Mylord, dass Ihr Wert genug habt, um studiert zu werden wie ein indianischer Kürbis oder ein Einsiedlerkrebs, der sich fremde Muschelschalen anzieht, weil er selbst kein Haus hat und sein Leib zu weich ist für ein ungepanzertes Leben. So will ich Euch denn bestimmen, zumal Ihr ausseht in Eurem weißen Kleid wie ein Baumwollstrauch aus Virginia.»

So spräche der Mann aus Schweden zu Lucy im weißen Kleid. Bald vergäße er den Mylord und das Euer Ehren, und Lucy vergäße, dass er kein Spiel wusste für den Schweden, und der Schwede brächte nach und nach eine gute Ordnung in Lucy, und Lucy brächte nach und nach eine gute Unordnung in den Schweden, und dies ginge weiter und weiter, die ganze Nacht.

Wie versteinert stand der Earl of Fearnall in der Throgmorton Street. Er fror. Sein Nacken schmerzte. Keinen einzigen Schritt wagte er in Richtung dieses Hauses. Er stand lange, eine Alabasterfigur mit menschlichem Haar, stumm und entsetzt und immer entsetzter, «die Pest ...», begann er, und noch einmal «die Pest ...», und irgendwann gab er es auf.

Lucius rannte die Broad Street entlang bis zur Börse und bis nach Cornhill und bis zum Church Market. Er stolperte. Er hatte kein Licht. Bald waren seine Schuhe nass und dann auch die Strümpfe und der Kot der Straße bespritzte das Kleid des Winters. Lucius folgte der Cheapside, dann bog er nach links ab in die finsteren Gassen. Er lief weiter, den Hut unterm Arm. Seine Locken ringelten sich eng, dann lösten sie sich langsam auf. Das Öl, das sie festigte, mischte sich mit dem Nebel, es machte Flecken auf Lucius’ Schultern und auf seiner Stirn. Er erreichte Lambeth Hill und lief hinunter zu den Werften. «Die Pest soll dich holen!», schrie Lucius die Themse an. Es gab Piraten auf dem Fluss. Lucius wünschte sich sehr, einer möge kommen, ihn angreifen vielleicht oder besser, ihn mitnehmen, auf die Themse und bis zum Meer, und ihn dort in seine Obhut nehmen als Piratenschüler, mit neuem Namen und geschorenem Haar und einem künstlichen Gesicht aus Wachs, damit niemand auf den gekaperten Schiffen den Earl of Fearnall erkenne, der seinen Stand und seine Erziehung so schimpflich verleugnete.

Kein Pirat kam zu Lucius Lawes. Auch sonst kam niemand. Allerlei Gestalten schlichen bei den Werften umher, aber sie behelligten das weiße Wesen nicht, denn es sah aus wie ein Schauspieler, den man von der Bühne gepfiffen hatte, oder wie das Gespenst eines Ertrunkenen.

Lucius kehrte um. Er lief die Thames Street stadtauswärts und dann nach links in die Black Boy Alley. Er fand das Haus, das er suchte. Lucius begann zu schreien. Er schrie nach Mr. Digges, immer wieder, immer lauter. Irgendwann öffnete Mrs. Digges ein Fenster. Sie war fett und pockennarbig und nicht angetan von der späten Störung.

«Schaffen Sie mir Ihren Mann her», brüllte Lucius. «Jetzt!»

Mrs. Digges verschwand. Mr. Digges schlurfte zum Fenster.

«Ja!», schrie Lucius.

Mr. Digges erkannte ihn nicht.

«Ich bin’s, Edward Pett», schrie Lucius, «kommen Sie herunter, ich brauche Sie, bringen Sie zwei Waffen mit, beim Himmel, ich bitte Sie, ich brauche Sie jetzt!»

Mr. Digges stöhnte und verschwand. Dann kam er auf die Straße, in Hemd und Hose, in der Hand zwei Degen. Edward Pett sah eigenartig aus in seinem unzeitigen Karnevalskostüm, aber wenn er nach Mr. Digges verlangte, wollte ihm Mr. Digges den Gefallen tun. Denn Edward Pett zahlte gut für Mr. Digges’ Dienste.

Unter den vielen Fechtmeistern der Stadt London war Mr. Digges derjenige, auf dessen Können man am meisten und auf dessen Leumund man am wenigsten gab. Er kämpfte auch mit Bären, wenn man ihm Geld dafür bot. Seine Haut war wie Baumrinde, seine Kunst mit dem Rapier unerreicht. Die Fechtlehrer des Adels drohten den Knaben mit Mr. Digges, wie man Kindern droht mit Waldgespenstern. Der junge Mann namens Pett, ein desertierter Matrose aus dem holländischen Krieg, war eines Tages bei Mr. Digges erschienen, um mit ihm die Klingen zu kreuzen. Dies sei ein Gelübde, sagte Pett. Edward Pett musste fechten mit dem schrecklichen Mr. Digges, weil er sein Land verraten und seine Familie verlassen und sonst noch allerlei Übles getan hatte, das ihm Geld einbrachte, welches er nun Mr. Digges gab wegen ebendieses Schwures. Mr. Digges kümmerten Mr. Petts Schwüre wenig, und woher er das Geld nahm, das er Mr. Digges gab, war Mr. Digges’ Sache nicht. Er warf einen kurzen Blick auf den Jüngling in Weiß, der nicht aussah wie jener Pett, den er kannte. Doch auch dies hatte Mr. Digges nicht zu kümmern. Er gab dem Kostümierten einen Degen, nahm eine Fackel und ging voran.

Lucius bezahlte im Voraus. Er folgte Mr. Digges zur Ruine von St. Mary Magdalen. Dort hatte Mr. Digges seine Fechthalle eingerichtet und empfing seine Schüler, wenn er denn welche hatte. Außer dem verrückten Edward Pett kamen wenige, und Schüler mochte Mr. Digges diesen Gast nicht nennen, denn der Matrose, warum auch immer, führte das Rapier wie sonst keiner in London, außer, vielleicht, Mr. Digges. Es gab Licht in St. Mary Magdalen, Fackeln, offenes Feuer. Die Brandwachen ließen den Meister gewähren, denn einem Mr. Digges fuhr man nicht in die Parade.

«Schnell», sagte Lucius.

Mr. Digges zündete die Fackeln an. Eine Kirche ohne Dach, geborstene Fenster. Lucius legte Rock und Weste ab. Er machte einen Schritt vor und einen zurück, er stand nicht gut, er bückte sich und zog die Schuhe aus, dann öffnete er die Spangen und die Bänder an den Knien und zog auch die Strümpfe aus, und dann nahm er den Dolch des Schweden, schnitt eine der Litzen ab und band damit sein Haar zurück.

«Schnell», wiederholte Lucius.

Mr. Digges zog. Lucius zog. Sie verzichteten, wie stets, auf den Gruß. Und dann schlugen sie sich, Mr. Digges und Lucius Lawes, hart und wortlos, Viertelstunde um Viertelstunde, bis die Stunde voll war, und dann hinein in die zweite Stunde, das Geräusch der Klingen, das Geräusch der Schritte, Attacco pede fermo, Attacco per camminata, Mr. Digges’ Stiefel und Lucius’ bloße Füße auf dem kalten Steinboden der rußgeschwärzten einstmaligen Kirche St. Mary Magdalen.

Die Kunst der Bestimmung

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