Читать книгу Missouri - Christine Wunnicke - Страница 7
III
Оглавление«Aha», sagte Douglas Fortescue. Jeremy hätte ihn gerne geohrfeigt. Er sagte nichts als «aha», Stunde für Stunde, genau genommen seit sieben Jahren; so lange lebte Jeremy bei seinem berühmten Bruder in London und führte dessen Geschäfte.
Man feierte Douglas’ dreißigsten Geburtstag und das Erscheinen seines neuen Buches, The Waltz. Ursprünglich hatte er es Chloroform nennen wollen, doch dem hatte der Verleger widersprochen. «Aha», sagte Douglas, dann versank er erneut in jene aparte Starre, hinter welcher viele Genie vermuteten, manche Dämonisches und Jeremy nichts als unsinnigen, qualvollen Trotz. Wie ein Pharao thronte Douglas in seinem Sessel, vielleicht schon einbalsamiert; blass, hager, das Gesicht gefroren in einem abwesenden Lächeln. Sein blauschwarzes Haar hing ordentlich über der Lehne, eine glatte, glänzende Fläche. Neben ihm auf einem Tischchen stand das übliche Glas Milch; der gefeierte Autor von Thirst ernährte sich fast ausschließlich von Milch – denn Blut, wie er sagte, verdaue sein reizbarer Magen nur zu besonderen Anlässen.
Jeremy betrachtete angewidert die Tänzer. Sie tanzten den Deutschen und nur den Deutschen, jene wilde und kunstlose und gesundheitswidrige Kreiselei. Fortescues neues Buch trug seinen Titel nicht von ungefähr, denn der ewige Walzer war ein Markenzeichen seiner Feste. Nichts sonst machte die Gäste so schwindelig. Nichts sonst stimmte sie so poetisch. Douglas Fortescue hatte keinen Zugriff mehr zu Gerichtsprotokollen, darum musste er zusehen, dass er sich die nötige Raserei anderweitig beschaffte; eigenen Wahnsinn zu bedichten war er nach wie vor nicht gewillt.
Er hielt Hof in einem Palais, weißer Marmor, griechische Friese, im Treppenhaus Sphinxen, die Leihgabe eines Mäzens. Der Blick ging auf den Regent’s Park und auf die Menagerie der Zoologischen Gesellschaft; in Jeremys Augen ein überaus passender Nachbar. Er hasste London. Er hasste Douglas’ Beruf und seinen eigenen Anteil daran. Sein ältester Sohn ging zur Schule in Harrow, die Kleinen waren in Yorkshire bei einer braven Frau in Pension; den Dichterhaushalt am Regent’s Park wollte Jeremy seinen Kindern ersparen. Seit sieben Jahren verwaltete er Douglas’ Vermögen, dessen Herkunft er nicht gutheißen konnte, das aber schließlich auch Harrow und die Pension der Kinder finanzierte, und ebenfalls Jeremys schöne Kutsche, worin er Besuche machte bei Verlegern, Banken und allerlei großzügigen Freunden der Kunst. «Oh wie gut», sagte Douglas, «dass ich dich habe.»
Jeremy trommelte mit zwei Fingern auf den Beistelltisch, störrisch gegen den Walzertakt. Sachte vibrierte Douglas’ Milch. In den Ecken und Nischen, ein wenig abgewandt, schnüffelten Gäste an ihren Taschentüchern, beseligt schwankend; der ganze Saal duftete ein wenig nach Chloroform, dem süßen amerikanischen Gift. «Halte deine Finger still, Jeremy Darling», bat Douglas leise, «denn sonst verscheuchst du meine Muse und wir sind bald beide bankrott.» Jeremy schnaubte. Douglas lächelte still vor sich hin.
Etwa zehn Personen, den Bruder mit eingeschlossen, pflegte Douglas Fortescue «Darling» zu nennen. Jeremy als Einziger genoss dieses Privileg immer; die Übrigen wurden Favoriten für eine Saison. Meist waren es junge Männer, trinkfest, tanzfest und mit Talent zu diversen Delirien, Söhne aus gutem Haus; auf Letzteres legte Douglas großen Wert. Er betrachtete seine Lieblinge still, und still nahm er auf, was sie sprachen, was sie fühlten, genossen, erlitten. Ihre Bilder verblichen, wenn andere an ihre Stelle traten; ihre Worte wurden, zurechtgefeilt zu reimloser Schönheit, mit großem Gewinn publiziert. Der Wahnsinn, welcher dem Gastwirt aus Huddersfield von Natur aus zur Verfügung gestanden hatte, stammte im Falle der Londoner Lieblinge aus Flaschen und Dosen. Auch hier wechselten die Neigungen mit der Saison. Vor dem Chloroform war der Absinth. Vor dem Absinth das Laudanum. Vor dem Laudanum Arsenik, doch nur ein paar Wochen lang; es gab einen Unfall und Douglas verbot es.
Davor schluckte man Colours. Douglas sehnte sich noch immer danach zurück, und hätte ihn das Sprechen nicht so sehr geschmerzt, er wäre versucht gewesen es wieder in Mode zu bringen. Colours war ein Gebräu aus Stechapfel und Belladonna in Brandy, zufällig kreiert im Zuge eines botanischen Experiments. Douglas selbst hatte es Colours getauft. Man sah Farben, so vernahm er, wenn man die Mixtur verzehrte, und obendrein Pflanzen, Tiere, Landschaft und allerlei Ungeheuerliches, zuweilen charmant, zuweilen grotesk, bald zerfließend und wabernd und dann wieder so handfest, dass man glaubte, man könne es greifen. Einem jungen Mann namens Donnie, dessen Name dem Dichter ausnahmsweise im Gedächtnis geblieben war, hatten ein paar Schlucke Colours eine ganze Flusslandschaft beschert, welche auf einen Schlag die schöne weiße Marmortreppe in Fortescues Palais verdrängte: verschlungene Vegetation, schwarze staubige Tiere und in der Mitte einen verschlammten Strom voller Treibgut, Schlangen und Rosen, träge, bedrohlich, milchkaffeebraun unter einem gelb gefleckten und viel zu großen Himmel. Der Junge namens Donnie hatte seinen Acheron lautstark besungen. Dann war er in Ohnmacht gefallen und man hatte ihn zu Bett gebracht. Der Dichter Fortescue hatte kopfschüttelnd an seiner Milch genippt und dann rasch ein Buch geschrieben, seinen zweiten Erfolg nach Thirst. Die Kritik verschluckte sich auf das Merkwürdigste an Fortescues braunem Fluss. Man zankte in London, Paris und New York. Der Autor schwieg, oder er seufzte: «Farben, nur Farben.» Man druckte bald die zweite und dritte Auflage. Das Buch hieß Colours, wie die Arznei.
«Hübsch», sagte Douglas Fortescue, wenn er seine Lieblinge leben sah und dichten hörte. «Aha», sagte er, wenn ihm Jeremy die Buchhaltung vorlegte, «und du liebst mich noch immer nicht, mein guter Bruder?» Douglas erwartete keine Antwort. Er lachte sein klirrendes Lachen. Die Welt glitt ab an Douglas Fortescue wie Regentropfen an seiner Rauchglasbrille, und wenn Jeremy schnaubte oder wenn die Burschen so hübsch den Walzer tanzten und sogar wenn sich ein überreiztes Fräulein vergaß und ihm seine Liebe antrug, seine Ehre, seine Mitgift oder auch seine Halsschlagader: Douglas Fortescue berührte all dies nicht mehr als die ewigen Schreie der Pfauen, die Tag und Nacht aus den Gehegen der Zoologischen Gesellschaft zu ihm herüberklangen.
Schneller und schneller ging der Walzer. Die Musiker waren erschöpft, und je erschöpfter sie waren, desto wilder fiedelten sie und desto wilder kreisten die Tänzer, im Dreischritt um und um, die gut geölte Spieluhr des Douglas Fortescue. Alles war wie gewohnt an seinem dreißigsten Geburtstag, der Walzer, die Milch, Jeremys Laune, die schwatzhaften Jünglinge aus gutem Haus. Auch die Spitzel waren altbekannt. Sie erschienen zu all seinen Festen und auch sonst, wenn man nur mit einigen handverlesenen Lieblingen im Salon saß; schlecht gekleidete Kerle, ausgesandt von besorgten Vätern oder von Scotland Yard.
Seit acht Jahren lauerte man darauf, den Dichter endlich zu ertappen. Ein Rezensent von Thirst hatte ihn einst Fatal Fortescue getauft und der Name war hängen geblieben, doch niemand, weder die Väter noch die Polizei noch Jeremy, wurde je Zeuge auch nur der geringsten Unziemlichkeit. Grüne Augen, schwarzes Haar, Mundfaulheit und eine Vorliebe für Trauerkleidung waren nicht strafbar; auch Belladonna und Laudanum nicht. Nie fand man Fortescue im Streit. Nie erlaubte er sich Liebeshändel oder Duelle. Zähneknirschend brütete Scotland Yard über seinen Gedichten, in der Hoffnung, ihm hier auf die Schliche zu kommen; doch auch auf dem Papier fand man nichts, was Fatal Fortescues Sünden verraten hätte.
«Gib mir den Pudel, Darling», bat Douglas den Sohn des Lord Warrington, gut in Hörweite von Lord Warringtons Spitzel. Lord Warringtons Sohn hob den Pudel auf und setzte ihn auf Douglas’ Schoß. «Danke», sagte der Dichter. Der Liebling kniete noch neben seinem Sessel. Douglas streckte die Hand aus und kraulte Lord Warringtons Sohn einen Augenblick lang hinter dem Ohr. Dann wechselte er seufzend zum Pudel. Lord Warringtons Sohn kicherte. Douglas kraulte den Pudel und schenkte Lord Warringtons Spitzel ein langes müdes Lächeln. Es war ebenfalls nicht strafbar, Lord Warringtons chloroformiertes Nesthäkchen hinter dem Ohr zu kraulen; dessen war sich Douglas Fortescue gewiss.
«Was tust du mit den Burschen?», fragte Jeremy Jahr um Jahr.
«Oh», sagte Douglas immer wieder, «ich trinke nur ihr vergiftetes Blut.»
«Gib mir eine Antwort», rief Jeremy. Douglas gähnte. «Nichts, Jeremy. Ich tue nichts mit ihnen. Ich schaue sie an, und sollte ich mich gerade freundlich fühlen, so denke ich mir bisweilen meinen Teil.»
«Was denkst du?», fragte Jeremy.
«Nichts, Darling. Wer behauptet, dass ich mich je freundlich fühle?»
Und so endete dieses immer gleiche Gespräch.
Nun war Douglas Fortescue dreißig Jahre alt und sein siebentes Buch war erschienen. Man veranstaltete ihm zu Ehren ein kleines Feuerwerk im Regent’s Park. Die Pfauen und Affen schrien in der Menagerie um die Wette. «Ein Prosit», sagte Douglas, «auf mich und die neue Zeit und die arbeitsteilige Dichtkunst.» Er stieß an, Milch gegen Champagner, mit Lord Warringtons Sohn; auf dessen Träumen beruhte The Waltz.
«Das geht nicht gut aus», flüsterte Jeremy, als man wieder im Haus war und weiter den Deutschen tanzte, wie man ihn tanzte seit Jahren.
«Nicht gut?», fragte Douglas. «Aha. Nun denn.»