Читать книгу Geist & Leben 2/2017 - Christoph Benke - Страница 7

Оглавление

Hermann Kügler SJ | Mannheim

geb. 1952, Priester, Pastoralpsychologe, Leiter der Beratungsstelle „Offene Tür“ in Mannheim

hermann.kuegler@jesuiten.org

Für immer berufen?

Ein Diskussionsbeitrag aus ignatianischer Perspektive

Was ist eine „Berufung“? Die Deutungshoheit darüber hat längst nicht mehr nur die katholische Kirche. Inzwischen erfährt der Begriff eine höchst schillernde Verwendung. Er gehört ebenso zum Vokabular der Esoterik-Szene wie dem der „Lebenshilfe“, der christlichen Kirchen und verschiedener religiöser Bewegungen. Auch in der Arbeitswelt ist er angekommen. „Holz gestalten ist unsere Berufung“, behauptet eine größere Schreinerwerkstatt im süddeutschen Raum. Und ein Coach und Unternehmensberater bewirbt seine Seminare unter dem Titel „Lebe Deine Berufung!“ mit dem lobenswerten Anliegen, Leben und Arbeiten von Führungskräften mehr in Einklang zu bringen.

Im Folgenden beschränke ich mich auf die Perspektive der ignatianischen Spiritualität. Ich gehe von menschlichen Erfahrungen und Prozessen aus und will erörtern: Was ist eine Berufung und wozu werden Menschen berufen? Welchen Beitrag leistet die ignatianische Spiritualität zum Finden der eigenen Berufung? Und ist eine „unwandelbare“ Berufung wirklich unabänderlich oder ist es denkbar, dass Gott einen Menschen an einem veränderten Lebenspol neu zu einem anderen Lebensentwurf beruft?

Was ist eine Berufung?

Eine religiöse Berufung kann zunächst im weiteren Sinne verstanden werden als Antwort des glaubenden Menschen auf das Beziehungsangebot Gottes ihm gegenüber. Sie zeigt sich in einem an der christlichen Botschaft ausgerichteten Leben im Alltag. Sie legt Zeugnis dafür ab, das eigene Leben als Jünger(in) Jesu zu gestalten. Im engeren Sinne meint Berufung, den „Ruf“ nicht nur zur Nachfolge Jesu als sein(e) Jünger(in), sondern auch zur Nachahmung seiner Lebensweise in der Übernahme einer speziellen Lebensform und evtl. eines kirchlichen Amtes (Priester, Diakon, Ordensleben, Vita consecrata, vgl. GÜ 135).

Im Folgenden verstehe ich „Berufung“ in diesem doppelten Sinn und definiere sie als eine Lebenswahl, die ohne vernünftige Zweifel für mich vorzuziehen ist aus hauptsächlich „übernatürlichen“ Gründen. Bei einer „Berufung“ geht es also um mehrere Aspekte:

Eine Lebenswahl …

Bei der Überlegung, wie jemand seinen Urlaub verbringen will und ob er im Sommer eher in die Berge oder ans Meer fährt, würde man nicht von einer „Berufung“ sprechen, wohl aber bei der Frage, wie und mit wem jemand leben möchte oder welchen Beruf er oder sie ausüben mag. Dass in der Postmoderne der Beruf oft nur ein Job zum Broterwerb ist, kann hier nicht weiter erörtert werden.

Ohne vernünftige Zweifel …

Zweifel begleiten wohl jede Lebenswahl. Jemand ist sich nicht sicher: Kann ich das, schaffe ich das? Vernünftige Zweifel sind auch angesagt, wenn jemand z.B. feststellt, dass er einen Beruf oder eine Lebensform überwiegend aus inneren oder äußeren Zwängen gewählt hat. „Ich habe meiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen, in einen Orden einzutreten“: Eine solche Motivation würde man kaum als Berufung bezeichnen, und vernünftige Zweifel an ihrer Tragfähigkeit sind mehr als angebracht.

Für mich vorzuziehen …

Berufung ist etwas streng Individuelles. Daraus, dass ich mich zu einem bestimmten Lebensentwurf berufen erlebe, folgt nicht, dass gleiches für andere Menschen genauso gilt.

Aus „übernatürlichen“ Gründen …

Die „übernatürlichen“ Gründe sind diejenigen, die „die Leute“ nicht verstehen, weil sie sich auf Gott beziehen: Ein erfolgreicher Geschäftsführer eines international tätigen Unternehmens tritt in eine Ordensgemeinschaft ein. Seine Kolleg(inn)en reagieren mit völligem Unverständnis auf diesen Schritt. Eine ebenfalls erfolgreiche junge Frau legt nach zweijähriger Probezeit in einem Kloster die Ordensgelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam ab. Bei der anschließenden Feier zeigt sich, dass selbst viele ihrer nächsten Freunde und Verwandten diesen Schritt nicht nachvollziehen können.

Aus hauptsächlich „übernatürlichen“ Gründen …

Jede Lebenswahl kommt zustande aus einem Motivbündel, das sich speist aus der Ausrichtung des eigenen Lebens auf Werte und der Befriedigung eigener Bedürfnisse. Wenn eine Lebensform allerdings überwiegend gewählt wird, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen („ich möchte versorgt und beschäftigt sein“; „ich komme selbst mit dem Leben nicht zurecht und brauche jemanden, der mir sagt, wo es langgeht“; „ich suche einen Status, der mir soziale Anerkennung bietet“), wird man kaum von einer Berufung sprechen.

Wozu werden Menschen von Gott berufen?1

Erstens gibt es eine Berufung ins Leben: Im so genannten ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,26–31) ist zu lesen, dass Gott am sechsten Tag den Menschen geschaffen und gesehen hat, dass das „sehr gut“ war (Gen 1,31). Er hat ihn als Mann und Frau ins Leben gerufen und alles andere ihm „zu Füßen gelegt“. Jeder Mensch ist in seiner Einzigartigkeit von Gott gewünscht und gewollt: So sind wir Menschen ins Leben berufen.

Wer sein Leben als Berufung erlebt, vermag die eigenen Energien produktiv einzusetzen. Er/Sie kann viel und intensiv arbeiten, ohne sich vorrangig über die eigene Rolle und den Status in einer Hierarchie zu definieren. Wichtiger sind ihm/ihr bedeutungsvolle Beziehungen, verbunden mit einem tiefen Gefühl der Zugehörigkeit zu den Menschen, auf die er/sie sich verlassen kann.

Berufung ins Leben bedeutet auch, das eigene Leben als einen sinnvollen Dienst sehen zu können, geprägt von Hingabe an die eigene Aufgabe im Dienst an den Menschen. Solches Bestreben reicht weit über die eigene Selbstverwirklichung hinaus. Es zeigt sich im täglichen Leben in einer ausgeprägten Fähigkeit, das Leben organisieren zu können und Zeit und Energie für Arbeit, Studium, Hobbies, Freizeit gleichermaßen aufzuwenden. Es gelingt, das Leben im Kleinen wie im Großen zu strukturieren und sich nicht als Getriebene(r) zu erleben.

Menschen, die ihr Leben als Berufung erleben, sind vielseitig interessiert. Sie wenden Zeit und Kraft auf, ständig weiter zu lernen. Intellektuelles und spirituelles Wachstum gehen bei ihnen Hand in Hand. Sie sind in ihrem Körper zu Hause und fühlen sich darin wohl. Sie sind fähig, tiefe Freundschaften einzugehen.

Zweitens gibt es eine Berufung zur Erkenntnis, dass „Jesus Christus der Herr“ ist. Die Judenchristen in der frühen Kirche waren überzeugt: Jesus ist der „Messias“, der verheißene Retter, auf den ihre Vorfahren gehofft hatten. Von dieser Berufung erzählt das Matthäusevangelium. Die Griechen und Römer, die nicht Juden waren, aber dann getauft und Christen wurden, teilten diese Vorstellung so nicht. Im Philipperbrief ruft Paulus der Gemeinde ein frühchristliches Kirchenlied ins Gedächtnis: „Jesus Christus ist der Herr“, hieß dessen Kehrvers. Das verstanden die Philipper: „Herr“ ist nicht der römische Kaiser und nicht sein Statthalter, sondern der Gekreuzigte und Auferstandene.

Jesus nachzufolgen und ihn nachzuahmen bedeutet, an ihn zu glauben, auf ihn seine Hoffnung zu setzen und ihn zu lieben. Es bedeutet zu erfassen, dass Jesus Christus nicht nur der Abglanz eines fernen transzendenten Gottes ist, der über der Häuptern der Gläubigen thront – vergleichbar einem romanischen Mosaik oder Fresko in der Kuppel über dem Altar einer mittelalterlichen Kirche, sondern dass er sich in die Schöpfung inkarniert hat als das „Wort, das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14). Er hat sich an einem geschichtlich fassbaren Ort als ein „Du“ und „Gegenüber“ gezeigt. Dort haben wir ihn „mit unseren Augen gesehen und mit unseren Händen angefasst“ (1 Joh 1,1).

Drittens gibt es eine Berufung in die Kirche: Nicht jede(r), der/die glaubt, dass in Jesus Gott begegnet, erlebt sich als in-die-Kirche-Berufene(r). Ganz im Gegenteil: manche haben so verzerrte Wahrnehmungen der real existierenden Kirche, geprägt durch Missbrauchs- und Finanzskandale, dass Taufe und Eingliederung in die Kirche keine Option für sie sind. Gern sagen die Katholik(inn)en mit dem II. Vatikanischen Konzil: Kirche – das ist das Volk Gottes auf dem Weg. Aber es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass viele Menschen die Kirche ganz anders wahrnehmen. Sie stellt sich ihnen vielleicht nur als Körperschaft des öffentlichen Rechtes dar, die reich und wohlhabend ist und mit Sonderprivilegien ausgestattet ihre Angestellten „auf Linie“ hält. Dazu erleben sie sich nicht berufen.

Zu erfassen, dass „Jesus Christus der Herr ist“, wird im Verständnis katholischer Theologie so realisiert, dass man Jünger(in) Jesu in der Kirche ist, die als real existierende Kirche immer casta meretrix ist, wie die Kirchenväter sagten, die „keusche Dirne“. Sie ist zugleich Volk Gottes auf dem Weg wie eine Ansammlung von Menschen, die auf vielen Ebenen immer wieder kläglich versagen und deren Strukturen immer wieder der Reform bedürfen.

Berufung in die Kirche bedeutet, zu erfassen und daran zu glauben, dass in dieser real existierenden Kirche Gottes Wort weitergegeben wird und die Sakramente als Zeichen des Heiles begegnen, und dass dies nicht etwas Beliebiges und rein Kontingentes ist, sondern dass so und nicht anders die „Sache Jesu weiter geht“.

Viertens gibt es eine Berufung in eine Lebensform in der Kirche: Leben ist immer konkret. Um Jünger(in) Jesu zu sein, wollen Werte und Ideale praktisch gelebt werden. In der kirchlichen Tradition sah man dafür die Lebensentwürfe Ehe und Ordensstand und die Möglichkeit, in der Nachfolge Jesu als Einsiedler oder „gottgeweihte Jungfrau“ allein zu leben. Es kann hier unberücksichtigt bleiben, inwiefern ein konkreter Mensch eine spezielle Lebensform bewusst wählt oder inwiefern er sie zunächst als vom Schicksal – oder von Gott – auferlegt erlebt mit der Herausforderung, sie innerlich zu akzeptieren und zu gestalten. In allen drei Lebensformen geht es darum, mit Gott verbunden zu sein, Jesus nachzufolgen und tätige Nächstenliebe zu üben.

Im Ordensleben geht es darüber hinaus – idealtypisch gesagt – darum, Jesus nicht nur nachzufolgen, sondern ihn auch in dieser Lebensweise nachzuahmen. Heute ist schlicht zur Kenntnis zu nehmen, dass viele Menschen, die von Herzen gern in der Kirche leben, keine dieser Berufungen in sich spüren. Man spreche Pfarrer auf ihre Erfahrungen mit Trau-Gesprächen an: Dass heiratswillige Paare ihre künftige Ehe als Berufung sehen, ist keine Selbstverständlichkeit.

Fünftens schließlich gibt es eine Berufung zur Beständigkeit in der gewählten Lebensform. Die Erfahrung zeigt: Auch wer mit klarem Bewusstsein und in voller Freiheit eine Lebenswahl vor Gott getroffen hat, kann nicht davon ausgehen, dass sie ihn/sie ein Leben lang tragen wird. „Wenn das Wasser in einem Aquarium verdunstet ist und die Fische tot auf dem Trockenen liegen, werden sie nicht wieder lebendig, wenn man Wasser nachgießt“, sagt ein Mann nach dem Scheitern seiner Ehe. Er war weder dumm noch bösartig, noch nahm er die Dinge auf die leichte Schulter. Vielmehr kam etwas, was einmal wundervoll und passend war, zum Ende; die Kräfte waren nicht da, um es wieder zum Leben zu erwecken. Für Priester, die ihr Amt aufgegeben haben, gilt Vergleichbares. Ist es wirklich so sicher, dass jede(r), der/die in eine Lebensform in der Kirche berufen ist, auch berufen ist zur „Beharrlichkeit“ in dieser Lebensform?

Gelegentlich hört man: Wenn es eine Berufung in die Ehe oder in das Ordensleben hinein gibt, kann Gott dann nicht auch wieder aus der Ehe oder dem Ordensleben hinaus und in eine neue Lebenskonzeption hinein berufen? Den Menschen, die solches ernsthaft diskutieren – was ja nicht zuerst eine akademische, sondern eine lebenspraktische und oft mit erheblichem Leidensdruck verbundene Fragestellung ist –, darf nicht gleich die Ernsthaftigkeit abgesprochen und unterstellt werden, sie würden für eigene „ungeordneten Anhänglichkeiten“ nur eine spirituelle Rechtfertigung suchen.

Wie findet man seine Berufung?

Im Exerzitienbuch beschreibt Ignatius von Loyola diesen Mechanismus so: Statt sich auf Gott auszurichten und zu fragen, was Gottes Einladung an einen selber sei, würden manche Menschen wollen, dass „Gott dorthin komme, wo man selber will“ (GÜ 154 und 155). Und weiter: „Es gibt die einen Dinge, die unter unveränderbare Wahl fallen, wie es Priestertum, Ehe usw. sind. Es gibt andere Dinge, die unter veränderbare Wahl fallen, wie es sind: Pfründen nehmen oder sie lassen, zeitliche Güter nehmen oder sie abweisen“ (GÜ 171).

Ignatius ist nach dem Textbefund des Exerzitienbuches sehr streng: Wer eine Lebensentscheidung getroffen hat, möge sie beibehalten, auch wenn er den Eindruck bekommen hat, sie sei schlecht (in seiner Sprache: „ungeordnet“) getroffen worden. „Bei der unveränderbaren Wahl, wenn man bereits einmal eine Wahl getroffen hat, gibt es nichts mehr zu erwählen, weil man die Bindung nicht lösen kann; so ist etwa Ehe, Priestertum usw.“ (GÜ 172). Aber auch Ignatius scheint die Möglichkeit, eine „unabänderliche Lebensentscheidung“ zu revidieren, nicht gänzlich auszuschließen. Denn nach den Satzungen des Jesuitenordens sind die ersten Gelübde (Armut, Gehorsam, Keuschheit) der jungen Jesuiten zwar „ewig“, die Gesellschaft Jesu bindet sich aber erst nach den Letzten Gelübden ihrerseits definitiv an ihre Mitglieder.2

Der Auffassung, dass es „unveränderbare Wahlen“ gibt und man sie auch treffen kann, ist sicher zuzustimmen: Wer ein Kind zeugt oder auf die Welt bringt, schafft eine nicht mehr aus der Welt zu zaubernde Realität. Fraglich ist jedoch, ob die von Ignatius angeführten Beispiele zeit- und kulturübergreifend überzeugen können, wobei gewiss die Sicht der kirchlichen Tradition zu bedenken ist: Wer das Eheversprechen oder die Ordensprofess ablegt, begibt sich in einen Zustand, der irreversibel ist. Stefan Kiechle gibt zu bedenken, dass diese strenge Haltung deswegen nicht so rigoros durchzuhalten ist, weil in manchen Kontexten das Festhalten an einer einmal getroffenen Lebensentscheidung in so unerträgliche Situationen führen kann, dass der Verbleib in ihr unmenschlich und unzumutbar ist.3 Kann man – etwas naiv ausgedrückt – Gott vorschreiben, wozu er beruft? Das hieße, zu klein von ihm zu denken, der immer „größer ist als unser Herz“ (1 Joh 3,20). Das Kriterium für die Echtheit einer neuen Berufung wird stets sein: Führt sie in einen größeren Dienst an den Menschen und in eine noch stärkere Verbundenheit und in eine tiefere Liebesbeziehung zu Gott und den Menschen?

Im Übungsweg der Exerzitien ist die zweite Woche der Ort, um die eigenen Berufung zu suchen und zu finden. Dieses „Suchen und Finden des Willens Gottes“, d.h. die Entdeckung der eigenen Berufung, geschieht nach Franz Meures idealtypisch so: In Verbindung mit der Betrachtung des Lebens Jesu kommt im betenden Menschen ein Klärungsprozess in Gang, in dem er „aus einer persönlichen Vertrautheit mit Christus heraus die von ihm erlebten inneren und äußeren Bewegungen und Antriebe daraufhin überprüft, ob sie mehr zu Gott hinführen oder eher von ihm weg, um so zu Entscheidungen fähig zu werden, welchen Weg er vor Gott gehen soll“.4

Es geht in der zweiten Exerzitienwoche also darum, sich auf den Weg Jesu zu machen, in den täglichen Betrachtungen gleichsam zusammen mit ihm durch sein (i.e.: Jesu) Leben zu gehen, und die für das eigene Leben bestimmende Gestalt der Nachfolge Jesu – die eigene Berufung – zu finden. Inhaltlich steht neben der zentralen Betrachtung vom „Ruf des Königs“ das Leben Jesu von der Menschwerdung bis zum Einzug nach Jerusalem im Mittelpunkt. Die für die 30-tägigen Exerzitien entscheidenden Betrachtungen über die Wahl einer Lebensform liegen in der Mitte der zweiten Woche.

Mit der Wahl einer Lebensform oder dem Blick auf die Neugestaltung des bisherigen Lebens sind die Exerzitien aber noch nicht zu Ende. Für einen glaubenden Menschen wird die Ordnung oder Neuordnung seines Lebens hineingenommen in das zentrale Geheimnis des Lebens Jesu, um von dort seine weitere Bestätigung und Vertiefung zu finden: in das Geheimnis von Tod und Auferstehung. Darum geht es in der dritten und vierten Exerzitienwoche.

Die dritte Woche ist inhaltlich bestimmt durch die Betrachtung des „für mich“ leidenden und sterbenden Christus. Diese Übungen dienen – idealtypisch – der Vertiefung und Festigung der in der zweiten Woche getroffenen Lebenswahl. Kreuz und Leid, im Licht der Auferstehung betrachtet, schenken Kraft zum Annehmen und damit zum Verändern, zur Heilung und Fruchtbarkeit. In der vierten Woche werden die Geheimnisse der Auferstehung und Himmelfahrt Christi meditiert. Diese Woche bildet den hellen Abschluss des Weges, den der/die Beter(in) im Auf und Ab der eigenen inneren Bewegungen zurückgelegt hat.

Ist es nun das Bessere, mit Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn stets die verzichtvollere und schmerzvollere Alternative zu wählen? In der spirituellen Tradition wurde diese Frage oft bejaht. Bisweilen sprach man von der „Kreuzesliebe“, wo es doch eigentlich um die Liebe zum Gekreuzigten geht. Kiechle zeigt in einer Analyse des Exerzitienbuches, dass in den Texten zur Lebenswahl das Kreuz nicht vorkommt. Man soll keineswegs das Schwerere und Endsagungsvollere wählen. Kriterien für Ignatius sind ausschließlich „Trost“ und „Frucht“.5

Trost – so Kiechle – ist zu verstehen als ein „Leben in Fülle“ in Beziehung mit sich, mit den Menschen und mit Gott, eine innere Zufriedenheit und Kohärenz. Das zweite Kriterium einer guten Lebenswahl, „Frucht“, meint alles, was den Menschen in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen lässt. Diese beiden Kriterien durchdringen sich gegenseitig: Was mir zu Trost und Wachstum verhilft, wird auch für andere fruchtbar sein und umgekehrt. Bei mehreren guten Alternativen ist für Ignatius das wichtigste Kriterium das magis: Was lässt mehr Trost und Frucht erwarten?

Allein um des Reiches Gottes, also um etwas Gutes willen, folgten die Jünger Jesus nach: „Das Kreuz soll man ‚nur‘ zu tragen bereit sein – wenn Gott es so will.“6 Bei einer Lebensentscheidung intendiert man nicht Leiden und Verzicht, aber man ist bereit, es zu ertragen, wenn es auf einen zukommt. Auch Jesus am Ölberg hat das Kreuz nicht angestrebt, sondern im Gegenteil Gott gebeten, diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, allerdings mit dem Zusatz: „aber nicht, was ich will, sondern was Du willst, soll geschehen“ (Mk 14,36 parr).

Ein in der Nachfolge Jesu zugemutetes Kreuz kann, wenn es angenommen wird, eine große Kraft entfalten. Dafür ist das Kreuz Christi das beste Beispiel. Aber wenn ein zugemutetes Kreuz im Ganzen und auf die Dauer nur lähmt und quält und Leben abtötet, dann ist es nicht heilbringend, sondern zerstörerisch. Man wird es bekämpfen oder wenigstens ihm ausweichen müssen.

Veränderung einer „unveränderbaren“ Berufung?

Was aber, wenn eine Situation unerträglich geworden ist und vielleicht auch die Menschenwürde beschädigt oder die Gerechtigkeit massiv verletzt wurde? Wenn die eigene Identität sich so massiv verändert hat, dass der andere, um in der Bindung zu bleiben, seine Identität massiv verbiegen müsste? Was für Paare gilt, trifft analog auch für einzelne Ordensangehörige im Bezug auf ihre Gemeinschaft zu.

Die Entscheidung, die seinerzeit eine wertorientierte Lebensform getragen hat, kann in einer veränderten Situation nicht mehr gelebt werden. Nach gründlicher und ehrlicher Prüfung stellt jemand fest: Obwohl er sich redlich gemüht hat, sein „Kreuz zu tragen“, erweist sich die getroffene Lebenswahl im Ganzen und auf die Dauer als trostlos und unfruchtbar.

Was wären für solche Krisensituationen die Kriterien, die zur Klarheit verhelfen, ob und wann eine bereits getroffene Lebenswahl sinnvollerweise revidiert werden darf oder sogar muss? Was spricht für die Echtheit einer neuen Berufung und wie unterscheidet sie sich von einer Neuorientierung, die nur aus einem Affekt heraus oder aus subjektiv erlebter Trostlosigkeit getroffen wurde?

Kiechle weist darauf hin: „Hat man früher aus einem traditionellen Ordensdenken heraus allzu oft ein starres Beharren im Gewählten gefordert, was bisweilen, eben weil zerbrochene Beziehungen nicht gelöst wurden, zu unsäglichem Leiden führte, so neigt man heute im Gegenteil dazu, allzu schnell die eingegangenen Bindungen zu lösen, ohne ausreichend zu bedenken, welchen Schaden und welche Verletzungen zerbrochene Beziehungen bewirken können“.7 Ganz ähnlich argumentiert Josef Schuster: „Eine einmal getroffene Lebensentscheidung kann sich im Laufe der Zeit als ein Irrtum herausstellen, der verschuldet oder unverschuldet sein kann. Wenn eine solche Entscheidung nicht mehr ‚saniert‘ werden kann, dann sollte sie auch revidiert werden können.“8

Sich vor Gott die Frage nach einer neuen Berufung zu stellen und sich dabei an den Kriterien von „Trost“ und „Frucht“ zu orientieren, ist also etwas ziemlich anderes und mehr als nur die Güterabwägung zwischen zwei Übeln mit dem Ziel, das geringere zu wählen. Denn was eine Berufung wirklich ist, begreift man eigentlich erst, wenn man erfasst, dass es dabei um die Beziehung zu Gott geht. Vertieft eine neue Lebenswahl die Beziehung zu Gott oder führt sie zu einer Verflachung? Lässt sie einen Menschen in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen? Eine neue Berufung wird ohne echte Sehnsucht danach wohl kaum geschenkt werden. Michel de Certeau SJ macht darauf aufmerksam, dass die ignatianische Vorgehensweise diese Sehnsucht erfordert, also dass jemand, der vor einer Lebensentscheidung steht und seine einmalige und einzigartige Berufung sucht und dazu Exerzitien machen möchte, wirklich von einer Sehnsucht auf der Suche nach der zu fällenden Entscheidung getrieben wird. Die Funktion des „Prinzips und Fundaments“ der Exerzitien besteht darin, dem „Sehnen einen Raum zu eröffnen“.9

Das Gegenteil wäre: Es könnte ja sein, dass jemand auf dem Standpunkt stünde: „Ich suche mal nach dem Willen Gottes, und wenn ich ihn dann gefunden habe, dann schaue ich noch mal neu, ob er mir passt und ob ich ihn dann realisieren will.“ So ein Vorgehen wäre Spielerei. Mit dem Suchen muss auch der Wunsch verbunden sein, das Gefundene dann zu realisieren. In der Phase des Exerzitienprozesses, in der jemand seine Berufung sucht, ist – idealtypisch – das eigene persönliche Gottesbild soweit gereinigt und geklärt, dass jemanden die Frage nach seiner Berufung nicht – nur – in Angst und Schrecken versetzt, sondern dass ihn das Verlangen antreibt, sie auch zu suchen und zu finden. Das angenommene Gottesbild der zweiten Exerzitienwoche ist das Gottesbild Jesu.

Deswegen ist es für Ignatius so wichtig: So lange jemand nicht mit den Verletzungen seiner Vergangenheit ausgesöhnt ist und seine zwischenmenschlichen Beziehungen nicht einigermaßen geklärt hat, soll er nicht in die Wahlüberlegungen der zweiten Exerzitienwoche eingeführt werden. „Für den, der Übungen in der ersten Woche nimmt, ist es nützlich, gar nichts von dem zu wissen, was er in der zweiten Woche tun soll. Vielmehr soll er sich in der erste Woche so mühen, um das zu erreichen, was er sucht, wie wenn er in der zweiten Woche nichts Gutes zu finden hoffte“ (GÜ 11).

Certeau ist weiter überzeugt: Es gibt „kein Christenleben, in dem eines Tages nicht auch eine ‚Agonie‘, ein Kampf mit Gott, auszutragen wäre. Es gibt da keine Entscheidung, die für Gott getroffen wurde und die eines Tages nicht an Gott selbst Anstoß nehmen würde. Das kann ein Trauerfall, eine Krankheit, ein Ereignis, eine lähmende Schwäche, ein schwer wiegender Absturz usw. sein – und schon ist die Sicherheit in Frage gestellt, die wir meinten, bei Gott und in seinem Willen gefunden zu haben“.10 Eigentlich sei es „normal“, dass jemand, der eine Entscheidung getroffen und seine Berufung gefunden hat, nach der Wahl mehr oder weniger stark von Versuchungen geplagt wird.11 Und selbst der Frömmste hat keine Sicherheit, dass er im Leben nicht – irdisch betrachtet – scheitern kann.12

Kann eine neue Lebenswahl eine neue Berufung sein? Eine Auffassung, die das Ordensleben für spirituell „höherwertiger“ ansieht als ein Leben in Beziehung, würde sagen: Nur wer aus dem „Stand der Gebote“, also der Ehe, in den Ordensstand als den „Stand der evangelischen Vollkommenheit“ (so die Wortwahl in GÜ 135) wechselt, folgt einer echten Berufung. Der umgekehrte Schritt stünde unter dem Verdacht, „ungeordneten Anhänglichkeiten“ zu folgen. Aus ignatianischer Perspektive wird das entscheidende Kriterium sein – auch wenn eine neue Lebenswahl nicht in der Linie der ursprünglich getroffenen liegt, sondern eine andere Lebensoption beinhaltet – : Führt eine neue Lebenswahl aus der Dynamik der zweiten Exerzitienwoche durch das „Tor“ in die Dynamik der dritten und vierten Exerzitienwoche oder führt sie davon weg? Wer dieses Tor durchschreitet, sucht für sein künftiges Leben gerade nicht den bequemeren und leichteren Weg. Sondern er/sie will sich mehr Jesus Christus angleichen, „da er ja der Weg ist, der die Menschen zum Leben führt“.13 Er/Sie ist mehr willens und bereit, dem Wort Jesu zu folgen: „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10,39 parr).

1 Für die folgenden Überlegungen bin ich P. Lutz Müller SJ, Essen, dankbar.

2 Vgl. J. Schuster, Überlegungen zur unabänderlichen Lebenswahl, in: KorrSpirEx 109 (2016), 11–20, hier: 12–13.

3 S. Kiechle, Kriterien der Lebensentscheidung, in: M. Schambeck / W. Schaupp (Hrsg.), Lebensentscheidung – Projekt auf Zeit oder Bindung auf Dauer? Würzburg 2004, 173–187.

4 F. Meures, Was heißt Unterscheidung der Geister?, in: Ordenskorrespondenz 31 (1990), 272–291, hier: 278.

5 S. Kiechle, Kriterien der Lebensentscheidung, 184–187. [s. Anm. 3]

6 Ebd. 184.

7 Ebd. 186.

8 J. Schuster, Überlegungen, 20 [s. Anm. 2].

9 M. de Certeau, Der Sehnsucht Raum geben. Oder das Fundament der Geistlichen Übungen, in: GuL (2016), 92–101, hier: 94.

10 M. de Certeau, Die Tage nach der Entscheidung. Die Bestätigung im geistlichen Leben, Teil I, in: GuL (2016), 317–327, hier: 321.

11 Ebd., 318.

12 Vgl. H. Kügler, Scheitern. Psychologisch-spirituelle Bewältigungsversuche. Würzburg 2009.

13 Ignatius von Loyola, Satzungen der Gesellschaft Jesu, in: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übersetzt von P. Knauer SJ. Würzburg 1998, 101.

Geist & Leben 2/2017

Подняться наверх