Читать книгу Blau Rot Grün - Hinter den Kulissen eines Machtwechsels - Christoph Bumb - Страница 6
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Als Xavier Bettel und Etienne Schneider am 4. Dezember 2013 als Premier und Vize-Premier vereidigt wurden, lag noch ein Hauch mehr Geschichte in der Luft als bei früheren Regierungsantritten. Den beiden Führungsfiguren der neuen Koalition war ihre Aufregung und das Bewusstsein um diesen historischen Moment förmlich anzusehen. Mit Bettel und Schneider war eine neue Politikergeneration am Gipfel der Macht angekommen. Dieser Moment war allerdings nur der Höhepunkt einer ganzen Episode, die sich im Rückblick als wahrhaft historisch herausstellen sollte. Der Vereidigung der neuen Regierung ging nämlich eine weit zurückverfolgbare Vorgeschichte voraus. Die Dreierkoalition aus DP, LSAP und Déi Gréng kam nicht aus dem Nichts und wurde auch nicht erst im Wahlkampf 2013 geboren. Blau-Rot-Grün war das Ergebnis einer Mischung aus dem unaufhaltbaren Wandel der luxemburgischen Gesellschaft, der Schwäche und allmählichen Abnutzung des bisher regierenden politischen Personals und nicht zuletzt den ausgesprochenen Machtambitionen der an dieser neuen Koalition beteiligten Akteure.
Xavier Bettel steht symbolisch für diese neue Politikergeneration: jung, dynamisch, unverbraucht, voller Tatendrang. Gemeinsam mit Etienne Schneider sollte er eine neue Ära in der luxemburgischen Politik einleiten. „Die Fenster ganz weit aufreißen“ lautete ihre Devise. Das taten sie dann auch. Ihre angekündigte Politik der Erneuerung erschien aber auch nur deshalb so neu und erfrischend, weil die Vorgängerregierungen das regelmäßige Lüften der Staatskammern versäumt hatten. DP, LSAP und Déi Gréng wollten die große Volkspartei CSV, in ihren Augen der Bremsklotz jeglichen politischen Wandels, ausnahmsweise von der Regierung ausschließen. Dazu mussten sie aber zuerst mit Jean-Claude Juncker die Inkarnation der luxemburgischen Politik der vergangenen Jahrzehnte aus dem Amt drängen. Um dieses Kunststück zu vollbringen, bedienten sie sich ganz tief aus der machtpolitischen Trickkiste. Ihr Weg an die Schalthebel der Macht erscheint demnach im Rückblick und aufgrund der Aussagen zahlreicher Weggefährten auch nicht ganz so gradlinig und aufrichtig, wie es die Macher dieser Koalition seit ihrem Aufstieg glauben machen wollen.
Blau-Rot-Grün war auch nicht in erster Linie die Folge eines gewollten, jahrelang gereiften und dann von den drei Parteien politisch artikulierten Gesellschaftsprojekts, sondern vielmehr das ganz nüchterne Resultat eines überfälligen Generationswechsels in der luxemburgischen Politik. Mit der jahrelang schwelenden Krise der „großen“ Koalition aus CSV und LSAP und damit dem schleichenden Ende der Juncker-Ära bot sich einer neuen Riege von Politikern die wohl einmalige Chance, einen grundlegenden politischen Wandel im Land herbeizuführen. Dabei wollten Bettel, Schneider und Co. wie alle Politiker auf der ganzen Welt zunächst einmal an die Macht, um an der Macht zu sein. Erst im Nachhinein und auf der Grundlage ihres gesteigerten politischen Einflusses definierten sie das blau-rot-grüne Projekt.
Ohne Zweifel hat die Dreierkoalition aber schon allein durch den Griff nach der Macht etwas bewirkt. Was in anderen Ländern der demokratische Normalfall ist, mutet bei uns in Luxemburg wie eine kleine Revolution an: ein wahrhaftiger Regierungswechsel. Doch letztlich war es mehr als das. Was sich nach den Wahlen vom 20. Oktober 2013 in Luxemburg abspielte, war mehr als nur ein Auswechseln des politischen Personals. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde das Land von einer blau-rot-grünen Koalition geführt. Erst zum zweiten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es nicht von der CSV regiert. Und zum ersten Mal überhaupt waren Déi Gréng an einer Regierungskoalition beteiligt. Der Machtwechsel war demnach ein Präzedenzfall, durch den sich das ganze politische System nachhaltig wandeln könnte. Eine Regierung ohne, ja gegen die CSV ist nicht länger eine Wunschvorstellung des fortschrittlichen Lagers, sondern schlichte Realität. Allein das, also die Normalisierung der politischen Landschaft in Luxemburg, ist das große Verdienst von Blau-Rot-Grün.
Gleichzeitig ist diese „revolutionäre Normalität“ der Grund, warum sich die im Zuge des Machtwechsels unterlegene CSV und deren Anhänger so lange und so stur weigerten, die neue Realität anzuerkennen. Den alten Machthabern wurde erst nach und nach bewusst, dass sie nicht mehr unerlässlich sind. Dass sie nicht mehr die unbedingte Voraussetzung zur Erlangung der Macht im Staat darstellen. Dass sie ihre Politik und ihr Verhalten mittelfristig wohl oder übel ändern müssen, wenn sie an dieser neuen Machtkonstellation etwas ändern wollen. Das Zustandekommen der neuen Regierung sowie die ersten Monate ihrer Amtszeit haben jedoch gezeigt: Mit dem Machtwechsel hat ein Wandel der ganzen Parteienlandschaft eingesetzt, auf den sich nicht nur die CSV, sondern alle politischen Akteure im Land erst noch einstellen müssen.
Das Jahr 2013 wird ohne Zweifel als Schlüsseljahr in die politische Geschichte des Landes eingehen. Mit dem Machtwechsel hin zu Blau-Rot-Grün ging dabei eine in dieser Form nie da gewesene Spaltung der Bevölkerung einher. Lange waren die politischen Fronten nicht mehr so verhärtet. Nie zuvor rief wohl allein der Antritt einer Regierung so gespaltene Reaktionen im Volk hervor wie im Fall des Kabinetts Bettel-Schneider-Braz. Nie zuvor wurde aber auch so viel über Politik gesprochen und gestritten wie in den ersten Monaten der Amtszeit von Blau-Rot-Grün. Mit der Zeit beruhigten sich die Gemüter zwar etwas, doch die Spaltung der Gesellschaft in leidenschaftliche Befürworter und gnadenlose Gegner dessen, was in diesen wahrlich historischen Monaten des Jahres 2013 geschah, wird die politische Landschaft wohl noch lange prägen.
In diesem Sinn kommt der Regierungswechsel von 2013 durchaus einem kleinen politischen Erdbeben gleich. Die neue Koalition übernahm das Ruder in einem Land, dessen Bürger den Ruf eines mehrheitlich konservativen und konsensorientierten Volkes genießen. Die Tradition des politisch-sozialen Konsenses reichte so weit, dass die Beteiligung der CSV an der Regierung quasi in den Stein der alten Festungsmauern gemeißelt war. Niemand wagte es, diese Regel in Frage zu stellen. Das erste Mal, zwischen 1974 und 1979, war der Machtwechsel noch im weitgehenden Einverständnis mit der stärksten Partei im Land vollzogen worden. Dieses Mal wurde der Weg des Konsenses jedoch vollends verlassen. Die Dreierkoalition wurde gegen den Willen der CSV und ihres Übervaters Jean-Claude Juncker geschmiedet. Eine Regierung ohne die CSV – das war die eigentliche Raison d’être von Blau-Rot-Grün. Es war aber auch eine Tatsache, deren Bewertung die Bevölkerung bis heute nachhaltig spaltet.
Laut ihrem Regierungsprogramm wollte die neue blau-rot-grüne Koalition den politischen Wandel verkörpern, nach dem die Bürger des Landes streben würden. Bald stellte sich aber heraus, dass die neuen Machthaber nicht nur progressiv und nach vorne gerichtet regierten, sondern auch immer wieder in den Rückspiegel schauten. Manche Regierungen treten mit dem hehren Ziel an, das Land zu vereinen und die politisch zerstrittenen Lager zu versöhnen. Bei Blau-Rot-Grün war es von Anfang an das Gegenteil. In den ersten Monaten ihrer Amtszeit gingen Xavier Bettel, Etienne Schneider und Co. keiner Kontroverse aus dem Weg. Als seien einige ihrer Protagonisten noch dauerhaft im Oppositionsmodus verhaftet, suchte die Koalition ständig die Auseinandersetzung mit ihren erklärten politischen Gegnern. Entgegen anfänglichen Ankündigungen entwickelte Blau-Rot-Grün in den folgenden Monaten im Zusammenspiel mit einer verbitterten CSV-Opposition geradezu Spaß an der Spaltung.
Gleichzeitig setzten die Neukoalitionäre aber erste politische Akzente. Sie führten einerseits das verbleibende Programm der Vorgängerregierung zu Ende. Sie brachten aber auch eigene, neue Reformen auf den Weg, die ihr Grundverständnis von progressiver Politik und Modernisierung widerspiegelten. Sie machten sofort ernst mit ihrem Programm. Dabei brachen sie mit ihrer forschen Art, Politik zu machen, mutwillig und bewusst mit der Tradition des Konsenses im Land. Doch auf die ersten Reformerfolge folgten schnell die ersten Pannen. Letztlich zeigte man sich aber auch lernfähig. Mit der Gewöhnung an die Regierungsmacht verflüchtigte sich jedoch nach und nach der anfängliche Elan der selbst ernannten Modernisierer. Nach knapp zwei Jahren an der Macht haben sie zwar einiges auf den Weg gebracht, aber noch wenig erreicht. Zudem sind sie laut Umfragen schon unbeliebter, als es ihre Vorgänger je waren. Dem blau-rot-grünen Experiment droht damit ein jähes Ende.
Für eine inhaltliche Bestandsaufnahme von Blau-Rot-Grün ist es jedoch definitiv noch zu früh. Dieses Buch soll auch keine vorläufige Bilanz der Regierungsarbeit von DP, LSAP und Déi Gréng sein. Es ist lediglich der Versuch, das Zustandekommen und die ersten Schritte dieser für Luxemburg so neuartigen Koalition zu rekonstruieren, analytisch einzuordnen und so die Geschichte des dadurch vollzogenen Machtwechsels mit etwas zeitlichem Abstand zu erzählen. Dabei beruhen die folgenden Kapitel einerseits auf chronologisch geordneten, journalistisch recherchierten und damit für jeden Leser nachvollziehbaren Fakten sowie andererseits auf einer Reihe von nur zum Zweck dieses Buches geführten Gesprächen mit den Hauptakteuren dieser Zeit. Die meisten dieser „Zeitzeugen“ erzählten erfrischend frei und offen von ihren Erlebnissen. Einige wollten allerdings in ihrer inhaltlichen Offenheit lieber anonym bleiben. In jedem Fall haben die Recherchen zu diesem Buch gezeigt, dass die Geschichte des Machtwechsels des Jahres 2013 bisher noch nicht erzählt wurde – zumindest nicht die ganze Geschichte.