Читать книгу Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten - Christoph Gassmann - Страница 6
Einleitung
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« Il a le geste vif et appuyé, un peu trop précis, un peu trop rapide, il vient vers les consommateurs d’un pas un peu trop vif, il s’incline avec un peu trop d’empressement, sa voix, ses yeux expriment un intérêt un peu trop plein de sollicitude pour la commande du client, enfin le voilà qui revient, en essayant d’imiter dans sa démarche la rigueur inflexible d’on ne sait quel automate, tout en portant son plateau avec une sorte de témérité de funambule en le mettant dans un équilibre perpétuellement instable et perpétuellement rompu, qu’il rétablit d’un mouvement léger du bras et de la main. Toute sa conduite nous semble un jeu. (…) Il joue, il s’amuse. Mais à quoi joue-t-il ? Il ne faut pas l’observer longtemps pour s’en rendre compte : il joue à être garçon de café. »
Jean-Paul Sartre, L’être et le néant
Das Spiel, das Sartre hier mit distanziertem Blick seziert, ist nichts anderes als die Professionalität des Kellners, des garçon de café, der in seiner Aufgabe aufgeht und seinen Beruf verkörpert – wenigstens für die Dauer des Spiels.
Aber dieses Kellnerhandeln ist nicht bloss Rollenspiel, es ist durchaus Daseinsform. Und ausserdem verdunkelt Sartres kühle Skizze, dass jede Bewegung des Kellners mehr ist als eingeübte Fertigkeit, mehr und anderes als perfekter Ausdruck von Selbstverleugnung: In jeder Geste steckt Haltung, steckt in mühevoller Arbeit angeeignetes Wissen, das sich auch keineswegs nur auf die typischen Abläufe und Bewegungen beim Servieren bezieht, sondern ebenso auf die Karte der Getränke und Mahlzeiten, die Kaffeesorten oder die Zubereitung der angebotenen Speisen, den Charakter der Weine, auf die Traubensorten und Aromen, Struktur, Bukett und Abgang jedes Weins, auf die Eigenheiten der Kundschaft, ihre Gewohnheiten, die Behandlung, die sie von einer Bedienung erwarten. Der Kellner realisiert seine Vorstellung von perfekter Kellnerarbeit, er ist dabei nicht nur Tänzer und Akrobat, er ist auch Gedächtniskünstler, Menschenkenner, selbstverständlich Gastronom und vieles mehr. Analog ist die Coiffeuse nicht einfach eine, die Haare wäscht, schneidet oder färbt, als die wir sie uns vielleicht denken möchten, sondern auch Lebensberaterin und Laborantin, Gestalterin und Gesellschaftsdame, Kauffrau, Hautspezialistin, Psychologin und vieles mehr. Und der Lehrer wird irgendwo pendeln zwischen Einpeitscher und Entertainer, Löwenbändiger, Lerncoach und Lebensbegleiter – kein Wunder, dass Unterrichten als «unmöglicher Beruf» gehandelt wird.
Wir bewundern die Kunstfertigkeit der alten Schreiner, die ohne Schrauben, Leim und Nägel die wunderbarsten Schränke und Truhen herstellten: früher ein gewöhnlicher Bauernkasten, heute ein Sammlerstück, das vom erlesenen Geschmack des Besitzers zeugt.
Wir liegen alle gern bequem. Und wir wissen, was wir von einer Matratze oder einem Bettgestell erwarten: Komfort, genau nach unserem persönlichen Bedürfnis. Hochwertige, gesunde, dauerhafte, sorgfältig verarbeitete Materialien. Aber auch ästhetische Qualitäten.
Wir lassen uns auf die Wartelisten der Sterneköche setzen – eigentlich auch nicht mehr als «simple Köche», die aber die eingeschliffenen Routinen der unpersönlichen Qualitätsarbeit verlassen und sich auf das ungewisse, individuelle Terrain der Kunst vorgewagt haben.
Wir wünschen uns die beste Pflege, wenn wir krank sind, die beste Beratung in der Apotheke. Und die beste Pflege, die beste Beratung, das ist immer mehr als bloss das richtige Medikament gegen ein diagnostiziertes Leiden.
Die Chirurgin soll eine ruhige Hand und gute Nerven haben, aber auch akkurate Kenntnisse der menschlichen Anatomie. Was noch? Und was macht die professionelle Gipserin aus, den Tramführer, die Politikerin, den Verkäufer im Elektronikmarkt? Was dürfen wir von einer «professionellen Grabpflege» erwarten, die uns ein Friedhofgärtner auf seiner Website verspricht?
Es ist schwer, wenn nicht gar unmöglich, alle Eigenschaften zu benennen und zu beschreiben, an die wir in all diesen Fällen denken, wenn wir das Wort «professionell» verwenden. Und doch wissen wir oder haben es zumindest im Gefühl, was wir von kompetenten Berufsleuten erwarten.
Auf der andern Seite: Hingeschustert! Liederliches Gestümper, Schlamperei, Pfusch, Murks! Geschluder! Geschmiere! Flickschusterei! Einfach unprofessionell!
Wir haben für unsachgemäss ausgeführte Arbeit eine ganze Palette von Begriffen und können «Pfusch» ohne Weiteres erkennen, selbst wenn wir vom guten Handwerk vielleicht wenig Ahnung haben.
Wir schätzen die Qualität von Produkten und die Professionalität gelieferter Arbeit. Aber der Weg dahin, die Berufsbildung – jedenfalls die Grundbildung in den handwerklichen, den gewerblichen, den industriellen und Dienstleistungsberufen – geniesst nicht mehr das Ansehen, das solcher Wertschätzung entspricht. Eltern, zumindest aus der Mittelschicht, fallen fast in Ohnmacht, wenn es ihre Kinder nicht an die Maturitätsschule schaffen (oder es nicht dahin schaffen wollen). Und ihre Vertreter, die gerne unterstellen, eine Erhöhung der Maturandenzahlen könnte die Bildungssegregation und Chancenungerechtigkeit beseitigen (berechtigte Anliegen), bringen die Berufslehre unterschwellig mit Illettrismus in Verbindung: «Die grosse Mehrheit der Jugendlichen, die mit ihrer Berufsbildung und Berufsarbeit zum Teil schon weit vor dem zwanzigsten Lebensjahr beginnt, bezahlt dafür nicht selten den Preis einer bloss rudimentären Bildung», behauptet Philipp Sarasin von der Uni Zürich. Da werden, möchten wir behaupten, die Ansprüche und Anforderungen unterschätzt, die viele Berufslehren an die Jugendlichen stellen, nicht erst seit jüngst (ein Bekannter von mir, ein bekannter Strafverteidiger, erzählt, dass er in seinen Prüfungsträumen, aus denen er heute noch schweissgebadet erwacht, noch einmal die LAP als Hochbauzeichner absolviert, nicht etwa die Anwaltsprüfung). Und es werden die Möglichkeiten unterschlagen, die eine Berufslehre heute bietet, zumal wenn man sie mit einer Berufsmaturität verbindet.
Es gab und gibt auch die anderen Stimmen. Die von Rudolf Strahm, nach dem die Schweiz dem dualen System seine tiefe Jugendarbeitslosigkeitsquoten verdankt, aber auch ganz allgemein ihren hohen Lebensstandard. Der darin ein Rezept vermutet, das in anderen Staaten weltweit wirtschaftliche Probleme lösen könnte, und der das System deshalb exportieren möchte. Der 2014 wieder eindringlich vor der Akademisierungsfalle warnt, in die unser Bildungssystem geraten könnte.
Oder auch die des Philosophen und Publizisten Ludwig Hasler: «Jugendlichen kann vielleicht nichts Besseres passieren als eine ordentliche Berufslehre. Als Polymechaniker, als Landschaftsgärtnerin, als Bäcker-Konditor sind sie garantiert gefragte Leute. Fachkräfte braucht das Land, und wer gebraucht wird, kippt nicht so schnell ins Burnout. Und falls sie die Lust auf Bildung packt: Wir leben in der Schweiz, dem Land mit der sensationellen Berufsbildung.» Derselbe Hasler, an anderer Stelle: «Berufsbildung ist Bildung mit Hand und Fuss», wobei er leider den Kopf vergisst, der an einer Berufsausbildung durchaus beteiligt ist.
Im Jahr 2014 war allerdings ohnehin alles etwas anders: Zum zehnjährigen Jubiläum des Berufsbildungsgesetzes dekretierte der Bund ein Jahr der Berufsbildung, mit vielerlei Initiativen und Veranstaltungen. Erstmals wurden die schweizerischen Berufsmeisterschaften am selben Ort durchgeführt: fünf Tage, siebzig Meisterschaften, tausend Wettkämpferinnen und Wettkämpfer und hundertfünfzigtausend begeisterte Besucherinnen und Besucher auf dem Bernexpo-Areal. Das Schweizer Farbfernsehen strahlte die Doku-Reihe «Mini Lehr und ich» aus, deren fünf Protagonistinnen und Protagonisten, die Lehrlinge Giuliano Casini, Pferdesportsattler, Tobias Schubiger, Gleisbauer, Dentalassistentin Sophie Wiedmer, Detailhandelsfachfrau Luanda Krasniqi und Bäcker-Konditor Norman Hunziker, fast ein wenig zu Kultfiguren wurden: Freizeit-Model Luanda Krasniqi verdankt der Reihe eine Schlagzeile im «Blick», einen Platz unter den «Maxim Hot 100» und einen Auftritt vor tausend Berufsfachschullehrerinnen und -lehrern im Albisgüetli. Und der Geleisebauer Schubiger eine junge Liebe.
Zwar ist der Böllerlärm inzwischen verstummt, die Berufsbildung wird wieder etwas in den Hintergrund rücken. Aber sie wird weiter Thema bleiben, nicht zuletzt, weil in einigen Branchen, darunter wichtigen, auch zukunftsmächtigen Wirtschaftszweigen wie Technik, Informatik, Pflege, in naher Zukunft ein Fachkräftemangel droht – oder schon Tatsache ist. Nach Jahren der Lehrstellenknappheit können nicht mehr alle Lehrstellen mit geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten besetzt werden. Vor allem die leistungsstarken Jugendlichen kommen den Betrieben zunehmend abhanden, in der Tat entscheiden sich viele heute für den gymnasialen Weg.
So stehen Bildungspolitik und -forschung vor neuen Herausforderungen: Welche Reformen sind unabdingbar, damit das schweizerische Berufsbildungssystem auch die Aufgaben der Zukunft meistern kann? Wie lassen sich zum Beispiel die Übergänge zwischen obligatorischer Schule und Berufsbildung, wie liesse sich der Einstieg in die Arbeitswelt noch besser gestalten? Welche Möglichkeiten gibt es für Erwachsene, die ohne Sekundarstufe-II-Abschluss im Arbeitsleben stehen, eine solche Qualifikation nachträglich zu erwerben? Das Thema ist auch aus sozialpolitischer Perspektive von einiger Brisanz: Fehlende Bildung ist nachweislich ein Armutsrisiko, vor allem vor dem Hintergrund steigender Anforderungen in der Arbeitswelt.
In all den Debatten – und soweit ich sehe, auch in der Forschung – kommt eine Seite bisher kaum angemessen zu Wort – neben den Auszubildenden die eigentlichen Helden des Berufsbildungsalltags, die das System tragen und prägen: die Lehrpersonen und Ausbildner/innen an allen drei Lernorten.
Insofern betritt diese Publikation nahezu unbekanntes Territorium: Sechzehn Berufsbildungsprofis geben im persönlichen Gespräch Auskunft über ihren Werdegang, ihren Ausbildungsalltag, ihre Ziele, Positionen, Visionen und Träume.
Das erste Gespräch, das mit Mine Dal, fand im Dezember 2010 statt, das letzte, mit Sandra Jungo, im Februar 2014. Die Gespräche dauerten zwischen anderthalb und dreieinhalb Stunden; die Abschriften durchliefen einen Prozess mehrfacher Verdichtung und «Rekomposition». Einzelne Interviewpartnerinnen und -partner kenne ich seit Jahren, was das vertraute Du erklärt, andere habe ich auf Anregung von Kolleginnen und Kollegen extra für dieses Projekt kontaktiert.
Ziel war von Anfang an eine möglichst bunte Mischung: Berufsfachschullehrpersonen, haupt- und nebenamtliche betriebliche Ausbildnerinnen und Ausbildner aus verschiedenen Berufen und Branchen und unterschiedlichen Alters, üK-Leiterinnen und -Leiter; Menschen mit einer etwas ungewöhnlichen Geschichte oder einem speziellen Hintergrund, einem ungewöhnlichen Zugang, Affinität zu Jugendfragen und zur Berufsbildung, kritischem Blick, Begeisterung und Lebenserfahrung. Männer und Frauen. Schweizerinnen und Schweizer, Ausländerinnen und Ausländer.
Ausgangspunkt war jeweils derselbe lockere Fragenkatalog, aber die Gespräche sollten jederzeit offen bleiben, sollten abschweifen dürfen. Die Interviewpartnerinnen und -partner sollen ihre eigenen Akzente setzen können. Uniformität war nicht angestrebt, weder der Form noch der Inhalte. Auch Queres, Abweichendes, auch Scheitern sollte seinen Platz haben – im Zentrum stand immer die Persönlichkeit der interviewten Person.
Vier Jahre sind eine lange Zeit, in der sich vieles verändern kann. Zum grössten Teil waren die Gespräche aber kaum an der unmittelbaren Aktualität ausgerichtet, die Protokolle liefern so zwar nur Momentaufnahmen, die aber über den Augenblick des Gesprächs hinaus Aussagekraft behalten. Das hat auch die Überprüfung gezeigt: Mit fast allen Interviewten habe ich mich im Sommer 2014 noch einmal getroffen, alle haben die Protokolle aus der Distanz noch einmal gelesen, kommentiert und berichtigt, zum kleinen Teil ergänzt. Bei den Nachfolgetreffen sind auch die meisten Bilder entstanden.
Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner war zwar nicht willkürlich, aber auch nicht repräsentativ. Wichtige Branchen fehlen, die Banken zum Beispiel oder die Tourismusindustrie. Das Bauhauptgewerbe ist nur am Rande Thema. Die Metallindustrie hingegen ist deutlich übervertreten, was sich insofern gut trifft, als in den Berufen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie die Nachwuchsprobleme heute besonders ausgeprägt sind.
Vertreten sind aber alle drei Lernorte: die Betriebe, vom Kleingewerbe bis zum internationalen Konzern; der schulische Bereich, von der Berufsfachschule bis zur Fachhochschule; aber auch der «dritte Lernort», die Ausbildungs- und Kurszentren. Das Spektrum der Berufe, die zur Sprache kommen, reicht vom Kaufmännischen und Verkauf über das Baugewerbe, die Berufe der Maschinen-, Elektronik- und Metallindustrie und der Pharmabranche bis zur Pflegefachperson und zur Hebamme. Trotz mangelnder Repräsentativität ergibt sich so vielleicht doch ein guter Querschnitt durch die Welt der schweizerischen Berufsbildung. Auch die eingeschränkte Auswahl liess zu, dass wichtige Fragen des schweizerischen Berufsbildungssystems im Gespräch zumindest gestreift wurden.
Ohnehin ist das System ja viel komplexer, als die Rede von der dualen Berufsbildung unterstellt. Er habe viele Jahre gebraucht, um sich in dieser Welt einigermassen orientieren zu können, meinte Emil Wettstein, einer der Doyens der schweizerischen Berufsbildung, bei seiner Verabschiedung als Dozent an der Universität Zürich vor einigen Jahren. Und dass das System so komplex ist, leuchtet unmittelbar ein: Auch die Arbeitswelt ist schliesslich komplex: Es gibt zum Beispiel rund 230 vom Bund anerkannte Lehrberufe – von Agrarpraktiker/in EBA bis Zweiradmechaniker/in EFZ der Fachrichtungen Fahrräder oder Kleinmotorräder. Und die betriebliche Grundbildung, die «Betriebslehre» ist bekanntlich nur eine Form von beruflicher Bildung, es gibt eine lange Reihe anderer Formen: Lehrwerkstätten, Lehren mit Basisjahr, mit degressivem Schulanteil, von der «höheren Berufsbildung», der «akademischen Berufsbildung» zu schweigen.
Mehr als punktuelle Einblicke in dieses komplexe System sind aus Gesprächsprotokollen nicht zu erwarten. Wer sich genauer informieren will, sei hier deshalb auf die systematische Literatur verwiesen, etwa auf die hep-Publikation von Emil Wettstein, Evi Schmid und Philipp Gonon («Berufsbildung in der Schweiz») oder auf die Bücher von Rudolf Strahm.
Einige Begriffe und Kürzel werden aber in einem Glossar im Anhang erklärt, soweit es für ein Verständnis bestimmter Passagen in den Gesprächen nützlich schien. Dort finden sich auch ein paar weitere Literaturhinweise.
Ohne Hilfe und Unterstützung hätte ich diese Publikation niemals zu Ende gebracht. Besonderer Dank gebührt:
-Andreas Schubiger und Christoph Städeli fürs Knüpfen von Erstkontakten;
-der PH Zürich, namentlich Claudio Caduff, Markus Maurer und Christoph Städeli für Ermunterung, sanften Druck, Feedback auf eine frühere Fassung der Texte und zahlreiche Anregungen;
-Brigitt Thambiah und Sunanda Mathis für die Hilfe beim Erfassen der Gesprächsprotokolle;
-Susanne Gentsch vom hep verlag und Ilka Mathis dafür, dass sie ihren Finger auf wunde Punkte und heikle Stellen gelegt haben;
-Laura Dal Ben und Christoph Settele von pooldesign und dem hep-Team für die sorgfältige Gestaltung;
-aber vor allem meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für die Zeit, die sie für dieses Projekt geopfert haben, und ihre unendliche Geduld.
Christoph Gassmann
März 2015