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Zu Gast im Sumpf-Land

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Finnland, Norwegen – Juli 2004

Nachdem ich im Jahr zuvor innerhalb von 365 Tagen die Welt von Mainz aus alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln umrundet hatte, wollte ich nun unseren Planeten etwas langsamer bereisen als mit Bus und Bahn. Immer wieder hatte ich auf meiner Weltreise den Sitz in einer Rikscha oder einem Tuk-Tuk gegen den eigenen Sattel eingetauscht. Mit dem Rad auf Entdeckungsreise zu gehen, ist für mich der ideale Kompromiss zwischen Vorankommen und etwas am Wegrand Mitbekommen. Denn in einem Auto, einem Bus oder einem Zug ziehen Landschaften und Menschen durch die Scheibe getrennt an einem vorbei. Es existiert immer eine Innen- und eine Außenwelt, wobei erstere Mitmenschen mit einschließt, die eine Reise sehr unterhaltsam werden lassen können. Aber auf Dauer ist es mitunter auch ziemlich anstrengend, sich mit anderen Passagieren stunden- oder tagelang ein Abteil zu teilen und sich in einer Blechröhre fortzubewegen. Umgekehrt verhält es sich, wenn man zu Fuß unterwegs ist und nur eine Welt existiert, in der sich alles abspielt. Wanderungen sind etwas Grandioses, und auf vielen Reisen bin ich sehr gerne per Pedes unterwegs. Möchte ich aber innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne ein wenig mehr als ein paar Tagesmärsche „mitnehmen“, stellt das Rad das ideale Fortbewegungsmittel dar, das bestenfalls auch gleichzeitig meine einzige Begleitung ist.

Radreisen und Alleinreisen gehen bei mir Hand in Hand, denn beim Radfahren schwankt die ideale Geschwindigkeit von Mensch zu Mensch. Was dem einen zu langsam ist, kann für den anderen schon zu anstrengend sein. Von früheren Radreisen weiß ich, wovon ich spreche, und ich hatte bereits beide Positionen inne, die des Schnelleren und die des Langsameren. Aus diesem Umstand entstehen immer Stresssituationen für alle Mitradelnden. Ein weiterer Aspekt, der für das Radreisen sprach, war mein Überdruss am klassischen Alleinreisen mit dem Rucksack. Sicherlich hatte meine Weltreise im Jahr zuvor ihre Spuren hinterlassen. Ich hatte genug davon, jeden Tag jedem anderen Alleinreisenden meine Geschichte zu erzählen und die Geschichte meines Gegenübers anzuhören. Schließlich trennten wir uns oft schon nach wenigen Stunden, spätestens aber nach ein paar Tagen, und die nächste Begegnung ließ in den klassischen Hotspots der Backpacker, wie in Teilen Mittel- und Südamerikas, Süd- und Südostasiens sowie Australiens, nicht lange auf sich warten. Ganz anders war da Skandinavien mit seinen dünn besiedelten Landschaften, seinem vergleichsweise hohen Preisniveau und seinem relativ spärlich ausgebautem Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. Das war die ideale „Backpacker-Detox-Region“.

So flog ich nach elf Monaten Reiseabstinenz von Frankfurt nach Helsinki, um mit meinem Drahtesel Finnland und Nordnorwegen zu entdecken. Der Beginn der Tour war nicht wirklich schön. Dank der Kamera am Bugfahrwerk erkannte ich im Landeanflug auf die finnische Hauptstadt erst im letzten Moment die hell erleuchtete Landebahn, denn es regnete, und es war neblig.

Willkommen in Finnland! Wenigstens hatte mein Fahrrad den Flug gut überstanden. Aber kaum aus dem Flughafen herausgerollt, hatte ich ein großes Problem: Wie sollte ich auf die rund 20 Kilometer entfernte Landstraße gelangen? Der Flughafen war nur über Autobahnen und Schnellstraßen zu erreichen. Das Fahren auf Letzteren war ziemlich ätzend, da sie teilweise achtspurig ausgebaut waren. Dass das Radeln dort kein Vergnügen, aber sozusagen alternativlos war, schien die Autofahrer nicht zu interessieren, denn ich wurde ziemlich oft angehupt. Es ist als Autofahrer wirklich eine „prima“ Idee, das Recht des Stärkeren durch sinnloses Hupen zu bekräftigen. Was denken sich diese Menschen eigentlich? Dass ich jetzt in den nächsten See springe und mich für mein Fortbewegungsmittel schäme? Oder dass ich masochistische Züge habe und es genieße, im Regen auf einer „idyllischen“ Schnellstraße durch die Vororte Helsinkis zu radeln, um bei jedem Hupen einen wunderbaren Kick zu erhalten?

Irgendwann hörte es auf zu regnen und zu hupen, und wenig später fand ich sogar einen Fahrradweg neben der Straße. Nach ein paar Radfahr-Tagen konnte ich tatsächlich das Resümee ziehen, dass Finnland ein Radfahrerparadies ist, was Radwege anbetrifft. Diese befanden sich meist in gutem Zustand, und sie waren von der Straße getrennt. Außerdem boten sie genug Platz, um entspannt überholen zu können. Zum Überqueren der Straßen waren Unterführungen für Radler angelegt worden, so dass ich auf den Wegen tatsächlich schneller als auf der Straße vorankam, auf der der Verkehr mit Ampeln geregelt wurde.

Da ich erst um vier Uhr nachmittags in Helsinki startete und mir dennoch für den ersten Tag eine Distanz von fast 150 Kilometern vorgenommen hatte, war ich von der geographischen Lage meines Gastlands sehr angetan: Ich fuhr bis 23 Uhr durch die Gegend, ohne das Licht einschalten zu müssen, da es taghell war. Wer denkt, Finnland ist ein flaches Land, hat Recht. Doch leider ist jeder der 188.788 Seen auf einem anderen Höhenniveau entstanden, so dass das Fahren von See zu See alles andere als ein Kinderspiel war. Die kleinen Landstraßen erinnerten mich eher an Achterbahnen, denn ständig ging es für 150 Meter mit rund 15 Prozent Steigung steil bergan, ehe es dann sofort wieder mit einem ebenso großen Gefälle für eine kurze Distanz hinunter ging. Dieses Berg-und-Tal-Fahren bereitete mir ziemlich viel Spaß, da ich immer gleich Anlauf für den nächsten Hügel nehmen konnte. Mit der Zeit erkannte ich auch die kleinen Fallen wie Querrinnen oder Schlaglöcher, die es ab und zu gab und mir so das Fahren relativ wenige Probleme bereitete.

Wer Wald mag, wird Finnland lieben. Die ersten sechs Tage fuhr ich hauptsächlich zwischen Bäumen hindurch: mal dominierten Birken, mal Kiefern, dann wiederum hielten sich beide Arten die Waage. Gelegentlich überwog anderes Gehölz, aber immer fuhr ich durch Wald. Die ersten beiden Tage kam mir die Fahrt wie eine Reise durch einen grünen Tunnel vor. Später wurde das Landschaftsbild alle 100 Meter durch einen See ergänzt. Weiter nördlich passierte ich auch die ersten hohen Hügel, von denen ich die herrlichen Blicke auf die Seenplatte genoss. War ich an den ersten beiden Tagen noch relativ häufig auf Hauptstraßen angewiesen, die hauptsächlich von russischen Lkws und finnischen Holzlastern genutzt wurden, boten sich später kleine Sträßchen als Alternative an. Die LKWs waren mir aber gar nicht so unrecht, da ich von ihrem Sog erfasst wurde und dadurch immer wieder beschleunigen konnte. Auf den Seitenstraßen vermisste ich diesen Sog sogar ein wenig, hatte dafür aber die unberührte Natur für mich alleine. Die Distanzen zwischen den Siedlungen wurden in der Region Karelien immer größer.

An einem Tag radelte ich sagenhafte 75 Kilometer ohne ein Dorf zu passieren. Das war zwar ganz idyllisch, dafür musste ich auch kiloweise Pasta, Apfelsaft und Bananen mitschleppen. Wenn ich von Karelien schreibe, dann vom heutigen finnischen Teil, denn die andere Hälfte gehört zu Russland, und diese Situation ist bezeichnend für das ganze Land. Zunächst war Finnland eine schwedische Kolonie, dann wurde es russisch. Nachdem Lenin die Oktoberrevolution gestartet hatte, erklärte sich Finnland 1917 für selbständig und paktierte später mit den Nazis. Im zweiten Weltkrieg besetzte Russland Finnland und gab nach Kriegsende den Osten Finnlands nur teilweise zurück. Finnland war es untersagt, Mitglied der NATO oder der EU zu werden. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion trat Finnland der EU bei. Mittlerweile war das Land sogar Gründungsmitglied der Euro-Zone, was für mich natürlich ganz praktisch war. Und die finnischen Euro sahen echt schön aus.

Eine SMS zu verschicken, war hier wesentlich einfacher, als im Internetcafé E-Mails zu versenden. Alle 30 Kilometer hatte das NOKIA-Land einen Mast errichtet, so dass ich sogar noch in der ostfinnischen Einöde an der russischen Grenze Empfang hatte. Die Masten lohnten sich aber auch für die Finnen, denn 94 Prozent aller Haushalte besaßen bereits ein Handy. Wenn es in die Mökki (Ferienhaus) ging, dann hatte man immer noch Empfang. Das war kein Vergleich zu den Funklöchern und der niedrigen Nutzungsrate von Mobiltelefonen in Deutschland im Sommer 2004. Ein Klischee über die Finnen stimmte ebenfalls: Es gibt überall Saunen, die gerne genutzt werden. Auch Autofahren und Formel 1-Schauen waren Hobbies vieler Finnen. Es war ein gesellschaftliches Ereignis, in der Shell-Tankstelle einen Regen abzuwarten und gemeinsam mit lauter kleinen Kimmis, Mikkas und Kekes Formel 1 zu gucken. Ferner stellten die Tankstellen für mich den Rettungsanker schlechthin dar: Kavio (Kaffee) wurde immer frisch zubereitet, und er war sehr stark im Geschmack. Nebenan gab es meist einen Supermarkt und ein Restaurant. Eine Wohltat, wenn ich mal wieder völlig durchnässt in der Tanke ankam.

Eigentlich hatte ich anfangs relativ viel Glück mit dem Wetter, das sich aber auch immer sehr schnell änderte. Gerade hatte es angefangen, aus Kübeln zu regnen, und wenig später strahlte die Sonne schon wieder durch die Baumkronen – und umgekehrt. Finnland war immer für eine Überraschung gut. Auch die manchmal grimmig dreinblickenden Menschen waren sehr freundlich, wenn ich sie grüßte. Jedoch war nicht jeder des Englischen mächtig, so dass manchmal die Zeichensprache herhalten musste. Auch das Einkaufen war eine Sache für sich: Alles war auf Finnisch und auf Schwedisch angegeben. Trotz des hohen Verwandtschaftsgrades zwischen Schwedisch und Deutsch war ich mir nicht immer sicher, was ich so kaufte. Der vermeintliche „Frischkäse“ war keiner und schmeckte etwas komisch. Wenigstens das Wort für Bier (Olut) habe ich mir schnell merken können, sogar auf Finnisch.

Hinter Kuhmo in Mittelfinnland fing es mal wieder an zu regnen. Leider hörte es nicht mehr auf, so dass ich am nächsten Morgen meiner absoluten „Lieblingsbeschäftigung“ nachgehen durfte: Das nasse Zelt einpacken! Das machte halbwegs Spaß, wenn mich die ersten Sonnenstrahlen wach kitzelten. Doch an diesem Morgen regnete es unaufhörlich weiter. Im Laufe des Tages wurde ich richtig durchgewaschen: Von unten durch die Straße, von oben durch Petrus‘ Werk und von der Seite von den finnischen Holzlastern, die sich plötzlich wieder blicken ließen.

Dazu wurde es recht kühl, und ich hatte eine Distanz von 132 Kilometern vor mir, die ich unbedingt durchstehen musste, da ich mich fernab der Hauptverkehrsstraßen fortbewegte. Auf diesen Hauptstraßen hätte Busverkehr bestanden, und ich wäre dort notfalls in den Bus eingestiegen. Doch ich hatte diese entlegene Strecke gewählt, um dem relativ dichten Verkehr Süd- und Mittelfinnlands zu entgehen. Nach 42 Kilometern erreichte ich das erste Dorf des Tages und fand gleich einen Tante-Emma-Laden. Dort gab es karelische Teigtaschen, die mich an Quiche Lorraine erinnerten und mich wieder aufbauten. Aber der Regen wurde stärker, und ich war immer noch 90 Kilometer von der nächsten Hauptstraße entfernt. Mittlerweile überholten mich ausschließlich Holzlaster und russische Autos, da Russland nur noch ein paar Kilometer entfernt war.

Nach weiteren 50 Kilometern Fahrt im Dauerregen überraschte mich Finnland mal wieder. Mitten in der Einöde gab es wieder einen Laden, und was für einen: Neben den üblichen Lebensmitteln lagen Kühlschränke, Mikrowellen und Lautsprecherboxen herum. Die Dorfjugend probierte die Boxen aus, und ich konnte es kaum fassen, dass es sogar Kreppel und Kaffee gab – dazu potthässliche gelbe und blaue Plastikstühle und eine Spiegelwand mit Tisch, an dem ich den bizarrsten Kreppelkaffee meines Lebens genoss. In dem Laden besaß ich plötzlich einen „Schatten“: Die Putzfrau lief ständig hinter mir her und wischte alles trocken, da ich klitschnass war und meine eigene finnische Seenplatte produzierte.

So gestärkt ging es auf die letzten 35 Kilometer durch den Landregen bis zum Campingplatz an der Hauptstraße. Dort angekommen, hatte ich großes Glück, denn ich verspürte keine große Lust auf eine Übernachtung im feuchten Zelt. Der Campingplatzbetreiber bot mir einen alten Ford Transit mit Heizung an. Dieses „erwärmende“ Angebot nahm ich dankend an. Damit war der Tag aber noch nicht zu Ende, denn abends musste ich meine Lebensmittelvorräte gegen einen besonderen Eindringling verteidigen: Plötzlich kam ein Esel um die Ecke und fraß ruckzuck alle Pfefferminzteebeutel samt Packung auf. Wenigstens hatte er anschließend einen erfrischend guten Atem, denn er leistete mir den gesamten verregneten Abend über nette Gesellschaft.

Am nächsten Morgen sah die Welt schon ganz anders aus: Strahlend blauer Himmel und Sonnenschein. So konnte ich gemütlich auf der Hauptstraße nach Norden weiterfahren. Es gab noch immer kaum Ortschaften, aber etwa alle 20 Kilometer tauchten Mini-Straßencafés auf, in denen es einmal sogar auf Holzfeuer gebackene Pfannkuchen mit Kompott aus selbst gepflückten Beeren gab. Über solche eher trivialen Dinge freute ich mich auf dieser Tour ganz besonders. Denn das ist das Wunderbare an solchen Reisen: Das gesamte Leben dreht sich lediglich um drei Fragen: Halte ich die Reise körperlich durch, halte das Rad durch, und halten wir gemeinsam das Wetter aus. Darum gab es während dieser Tour für mich auch nur drei Zustände: Radfahren, Nahrungsaufnahme, Schlafen. Das machte das Leben endlich mal einfach. Ist nicht unser Alltag oft zu kompliziert? Zu frühes Aufstehen, Hetze zur Arbeit oder zur Schule, schnell etwas einkaufen, die Frage, was man bloß abends oder am Wochenende machen soll, die Angst, etwas zu verpassen etc. Da hatte ich es im Vergleich ziemlich einfach. So kam ich tatsächlich auch mal gedanklich aus dem Alltag raus.

Nach insgesamt 1.248 Kilometern im Sattel erreichte ich an einem Sonntagmorgen den Polarkreis. Von nun an bewegte ich mich, geographisch gesehen, in der Arktis, doch so hatte ich mir arktische Temperaturen nicht vorgestellt: 30 Grad plus und Sonnenschein. Am Polarkreis geht am 21. Juni die Sonne nicht unter und am 21. Dezember nicht auf. In nördlicheren Gefilden dauern beide Zeiträume wesentlich länger als 24 Stunden an. So geht die Sonne am Inari-See im Juli um Viertel vor eins am Morgen unter und 30 Minuten später wieder auf. Diesen kurzen Nächten tragen die Kneipen Rechnung: Selbst im kleinsten Kaff waren sie bis mindestens drei Uhr morgens geöffnet, und sie veranstalteten häufig Karaoke. In Finnland war dies fast so beliebt wie in Korea. Ob es an der entfernten Verwandtschaft beider Sprachen lag?

In Norden Finnlands befand ich mich öfters im Stau. Das lag nicht an den Autos, sondern an den Rentieren, die ich in ganz Nordfinnland traf. Sie nahmen auf den hupenden Autofahrer keine Rücksicht und blockierten die Straße, so lange sie Lust hatten. Lediglich vor mir als Radler hatten sie Angst, wahrscheinlich weil ich keinen Lärm machte.

Die meiste Zeit fuhr ich auch in Nordfinnland durch Wald. Lediglich kurz vor dem riesigen Inari-See lichtete er sich, und Moore prägten die Landschaft. Sie erinnerten mich an die auf meiner Weltreise im Jahr zuvor bereisten schottischen Highlands. Die Region nördlich des Polarkreises ist der Lebensraum der Sami, die früher Lappen genannt wurden. Sie sind die eigentlichen Ureinwohner Finnlands. Sie zogen es, als die Finnen aus dem Süden kamen, vor, ihr Nomadenleben im Norden weiterzuführen. Sie wurden lange Zeit wie so viele Minderheiten weltweit unterdrückt. Im 17. Jahrhundert wurden sie zwangschristianisiert und ihre Naturreligion verboten. Im zweiten Weltkrieg mussten die Deutschen 1944 nach der Niederlage gegen die Sowjets das Land verlassen und brannten alles nieder, so dass es heute kaum noch ein Gebäude in Lappland gibt, das aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg stammt. Dank der EU und dem finnischen Staat haben die Sami mittlerweile ein vergleichsweise gutes Leben, das sie hauptsächlich mit Rentierzucht bestreiten. Ihre Sprache ist als gleichberechtigt anerkannt, und sie haben ein eigenes Parlament.

Die Fahrt vom Inari-See in Richtung Nordwesten zur norwegischen Grenze brachte eine Neuerung mit: Wind! Da ich bisher ja eigentlich nur durch Wald gefahren war, hatte es keinen Gegen- oder Rückenwind gegeben, der einen Einfluss auf meine Geschwindigkeit hatte. Auf der Hochlandfläche von Sapmi (Lappland) hatte ich zum ersten Mal mit Gegenwind und Böen zu kämpfen. Gerade Seitenwindböen waren nicht gerade die angenehmsten Naturphänomene, da ich durch sie oft zur Straßenmitte „geweht“ wurde. Glücklicherweise verhielten sich die Autofahrer gegenüber Radlern im Großen und Ganzen sehr rücksichtsvoll, wenn ich mal die Spezies auf den Schnellstraßen am Flughafen Helsinki außen vor lasse: Ich wurde als Verkehrsteilnehmer wahrgenommen und respektiert und daher wurde im großen Sicherheitsabstand überholt und trotz Böen wurde ich nie geschnitten.

Die Fahrt über die Hochlandebene erweiterte mit einem Mal auch meinen Blickwinkel, der in den letzten Wochen lediglich drei Meter nach links und nach rechts bis an den Straßen- bzw. Waldrand gereicht hatte. Statt durch Wald radelte ich nun an Sümpfen und Mooren vorbei, die das Landschaftsbild bis zum kilometerweit entfernten Horizont dominierten. Endlich wurde der finnische Name für Finnland „Suomi“ Realität, denn es bedeutete nichts anderes als Sumpf. Finnland selbst kommt wahrscheinlich vom lateinischen „Fenia“ und bedeutet ebenfalls Sumpf.

Nach vielen, meist wunderschönen und oft sonnigen Radel-Tagen hatte ich den 1.720 Kilometer langen „Sumpf“ durchquert und mit Norwegen wieder „festen Boden“ unter den Füßen. Kaum im Land der Fjorde angekommen, ging es auch schon steil bergan auf eine karge Hochfläche. In kleinen Senken wuchsen die letzten Kiefern und Birken. Da es sagenhafte 25 Grad im Schatten waren und die Sonne mittlerweile 24 Stunden am Tag schien, kam ich mir eher wie am Mittelmeer vor. Diese warmen Tage in der Polarregion waren im Landesinneren von Nordnorwegen im Sommer durchaus normal. Allerdings wird es im Winter auch minus 45 Grad kalt. Durch die klare Luft waren die Berge des Eismeeres zu sehen, obwohl sie noch fast 100 Kilometer entfernt waren. Je weiter ich nach Norden fuhr, desto weniger Bäumchen säumten den Weg.

Neben Fjorden ist Lachs etwas, wofür Norwegen sicherlich bekannt ist. Lakselv (norwegisch Lachsfluss) war der erste Ort, den ich nach 74 Kilometern passierte, seit ich den Grenzort Karasjok auf meinem Weg zum Eismeer verlassen hatte. Das Dorf machte seinem Namen alle Ehre. Auf dem Dorffest räucherten die Fischer den frisch gefangenen Lachs direkt auf der Gasse, und für 3,50 Euro gab es eine Riesenportion Filet auf den Teller.

Bisher war diese Radtour recht reibungslos verlaufen, doch kurz vor meinem Ziel wurde ich vor ein besonderes Problem gestellt: Da Norweger in Sachen Straßenbau sicherlich die fortschrittlichsten Zeitgenossen auf unserem Planeten sind, bauten sie in diesem inselreichen Land zuhauf Brücken, steile Straßen und leider auch Tunnels. Ein paar hundert Meter durch einen abgasverseuchten Tunnel zu radeln war ja noch in Ordnung, aber wie sah es mit einem fast sieben Kilometer langen Tunnel aus, der 212 Meter unter der Meeresoberfläche verlief und extrem eng war? Offiziell war die Durchfahrt durch den so genannten „Nordkapptunnellen“ für Radler ohnehin verboten – doch das hieß in Norwegen nicht sonderlich viel. Da ich niemanden getroffen hatte, der dieses stinkende Abenteuer per Velo durchgestanden hat, musste ich eine Alternative finden. Diese bestand, nach meiner ersten mobilen Internet-Recherche überhaupt, darin, eine kleine Nebenstraße für 100 Kilometer zu nehmen und dann mit dem Postschiff auf die Nordkapinsel Magerøya zu fahren.

Leider legte das Schiff nur einmal täglich ab, und dies morgens um Viertel vor zehn. Als ich die Recherche beendet hatte, war es bereits Abend geworden. Da ich irgendwann einmal wieder zu Hause ankommen musste, blieb mir nicht viel anderes übrig, als nach 128 gefahrenen Kilometern abends noch schnell die fehlenden 100 Kilometer zum Fährhafen zurückzulegen. Aber gibt es etwas Schöneres, als freitags um Mitternacht bei Sonnenschein eine kurvenreiche kleine Straße auf der kein Auto fuhr von Fjord zu Fjord entlang zu radeln? Fünf Kilometer vor dem Dorf, es gab auf den 100 Kilometern sonst keines dazwischen, stellte ich mein Zelt neben der Straße auf. Es störte ja ohnehin niemanden, dank des „Jedermansrechts“ in Skandinavien. Dieses besagt, dass sich jeder auf öffentlichem Land zu jeder Zeit aufhalten darf – dies schloss das Zelten glücklicherweise ein. Mit 228 Kilometern in den Beinen und einem aus Finnland importierten Dosenbier im Kopf schlummerte ich sofort ein.

Die Fahrt mit dem Postschiff, das zwischen Bergen im Südwesten Norwegens und Kirkenes an der Grenze zu Russland im Nordosten des Landes pendelt, war äußerst angenehm. Das Rad wurde im Frachtraum deponiert, und ich hielt mich im Bordrestaurant am Kaffee fest, während an mir die Felsenkulisse der Eismeerküste vorüberzog. Nach zwei Stunden Fahrt war ich in Honningsvåg, dem Hauptort der Nordkap-insel, angekommen. Nach weiteren 34 Kilometern extrem bergiger Straße hatte ich das Ziel meiner Reise erreicht: Vom Nordkapfelsen aus blickte ich bei strahlendem Sonnenschein auf das ruhig daliegende Eismeer hinaus. Ich hatte jetzt den nördlichsten mit dem Rad anfahrbaren Punkt Europas erreicht – allerdings endet Europa nicht am Nordkap, wenn man Spitzbergen, das 1.200 Kilometer weiter nördlich liegt, zum europäischen Kontinent dazuzählt. 2.016 Kilometer lagen seit meiner Abfahrt zwei Wochen zuvor hinter mir und ich dachte, das Ganze war ja bis auf den einen Regentag in Mittelfinnland ganz einfach gewesen...doch man sollte nie den Tag vor dem Abend loben.

Eigentlich wollte ich vom Nordkap aus via Tromsø und Oslo nach Frankfurt fliegen. Per Zufall erfuhr ich, dass das Radar am Flughafen Nordkap seit einer Woche kaputt wäre. Das Ersatzteil sollte irgendwann aus Oslo kommen, doch bis dahin blieb der Flughafen geschlossen. Die Fluggesellschaft Widerøe, die hier oben mit kleinen Propellermaschinen verkehrte, setzte daher zweimal täglich einen Bus ins dreieinhalb Stunden entfernte Hammerfest ein, wie ich in einem Internetcafé herausbekam. Der Flughafen war, bis auf ein verirrtes japanisches Ehepaar, ausgestorben und es gab niemanden, der uns hätte Auskunft geben können. Eigentlich wollte ich erst am Folgetag die Heimreise antreten, fuhr aber schnurstracks zum Campingplatz, packte meine Sachen und radelte zum Flughafen zurück. Irgendwann kam ein Angestellter in Jeans und T-Shirt und meinte, der Bus käme gleich. Als er schließlich da war, wurde mein Rad eingeladen und, statt zu fliegen, rollten wir los. Weit kamen wir zunächst nicht, da es so heiß war und Rentiere schlaue Tiere sind. Um sich vor der Sonne zu schützen, lungerten sie in großer Zahl am schattigen Tunneleingang herum und blockierten ihn. Auf Hupen reagierten diese Wesen mit vollkommener Ignoranz, so dass der Busfahrer aussteigen musste und, wie von der Tarantel gestochen, laut brüllend in die Herde rannte.

So hatte wohl einmal ein Wikingerüberfall ausgesehen. Das Gebrülle und Herumlaufen verfehlte seine Wirkung am Ende nicht, und weiter ging es zum Flughafen Hammerfest, wo wir direkt, ohne jegliche Sicherheitskontrolle, ins Flugzeug nach Tromsø verfrachtet wurden. Nach einer ungeplanten Übernachtung flog ich von dort am nächsten Nachmittag nach Oslo. Leider hatte mein Rad diesen Flug nicht heil überstanden. Das gesamte Hinterrad war völlig verzogen, so als wäre eine ganze Meute Wikinger mit ihren Booten drüber gerudert, und ich konnte das Rad nicht mehr bewegen. Außerdem war auch der letzte Flug nach Frankfurt gerade gestartet.

Also stellte ich das Rad in der Gepäckaufbewahrung ab und danach schlug ich mich in die Büsche vom Oslo Airport. Denn der Flughafen liegt 50 Kilometer nördlich der norwegischen Hauptstadt, und in Norwegen herrscht ja das „Jedermannsrecht“. Nicht nur in Finnland sondern auch rund um den Oslo Airport gab es genug Wald. Mit meinen Radtaschen beladen, schlug ich hinter dem Frachtgebäude mein Zelt auf. Leider herrschte hier kein Nachtflugverbot, und so verbrachte ich eine mehr oder weniger unruhige Nacht. Morgens packte ich das Zelt ein und ging zu Fuß zum Flughafen zurück. Nach einer erfrischenden Dusche holte ich mein Rad ab, checkte ein und verließ schließlich das wunderschöne Skandinavien. Ein paar Stunden später hielt mein Radhändler in Mainz einen großen Reparaturauftrag in seinen Händen, der wenige Tage später von der Airline ohne zu zögern bezahlt wurde. Und nur wenige Monate später stand schon die nächste Radtour an, dieses Mal in Süd-Ost-Asien…

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