Читать книгу Hans im Glück oder Die Reise in den Westen - Christoph Kleemann - Страница 6
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ОглавлениеWie normal das heute ist. Man kauft ein Ticket, steigt in einen Zug und fährt, wohin man will. Vierzig Jahre lang haben wir davon geträumt.
Georg saß im Großraumwagen eines ICE, seine Tasche, zu hoch für das Gepäckfach über ihm, lag neben seinem Sitz auf dem Boden. Der Zug fuhr geräuschlos an, brachte das Gleislabyrinth des Bahnhofsgeländes aus Kreuzungen und Weichen schaukelnd und ruckend hinter sich und fand seine Strecke. Ruhig glitt er dahin, mit steigender Geschwindigkeit. Georg kippte die Rückenlehne nach hinten und schaute zum Fenster hinaus. Die letzten Vorortsiedlungen verloren sich am Horizont. Abgeerntete blassgelbe Felder und mattgrüne Weiden, von dunklen Waldfetzen durchbrochen, wie das scheckige Fell einer Hyäne. Rehe blickten auf und fraßen angstlos weiter. Schwärme von Möwen schneiten auf umgebrochene Äcker nieder. Masten flogen vorbei, an durchhängenden Kabeln aufgereiht. In regelmäßigen Abständen senkten sie sich ins Bild und hoben sich wieder an seinen Rand. Ein Kirchturm, von dunklen Dächern umstellt, stach wie ein Bleistift in den stumpfen, grauen Herbsthimmel. Es war Mittwoch, der 17. Oktober, und es war der achtzehnte Herbst seit dem beherzten Aufbruch, der jetzt friedliche Revolution hieß und den so viele nur noch Wende nannten.
Er wusste nicht mehr, was für ein Herbst jener Herbst 89 gewesen war, wie stürmisch oder still, wie kalt oder mild. Er erinnerte sich an kein leuchtendes Laub an den Bäumen, keinen blutroten Abendhimmel, kein tosendes, aufgewühltes Meer. Als Naturereignis schien dieser bedeutsame Herbst ausgefallen zu sein. Geblieben waren Erinnerungen an eine stürmische Zeit, an aufgewühlte Menschen mit leuchtenden Gesichtern, an verdächtige Stille um das nächtliche Hauptquartier und tosende Menschenaufläufe auf dem Weg dahin. Er sah das blutrote Gesicht des Stasi-Offiziers vor sich, der – flankiert von zwei bewaffneten Männern des Wachregiments – die Demonstranten durch ein Megafon aufforderte, den Platz zu verlassen und nach Hause zu gehen, andernfalls … Was andernfalls? Das Weitere ging unter im Gelächter der Tausenden, die soeben ihre Angst verloren vor Drohungen, zornigen Gesichtern und mausgrauen Uniformen. So war es beim ersten Mal. Eine Woche später traute sich kein Offizier mehr vor das Tor. Die Angst hatte die Besitzer gewechselt.
Wovor hatten sie Angst, die Männer da drinnen, hinter den vergitterten Fenstern? Vor den singenden, skandierenden, klatschenden Menschen, von denen keiner eine Waffe trug oder Steine auflas, wie bei manchen Demonstrationen in der neuen Zeit? Oder vor den eigenen Befehlsgebern, derer man sich inzwischen nicht mehr sicher sein konnte? Oder vor dem Wissen um Rechtsbeugung und Gesinnungsterror, vor dem eigenen Gewissen? Nein, das kaum. Das Gewissen kam in ihrem Wortschatz vermutlich gar nicht vor.
Georg war noch ein Kind, da beeindruckte er seine Hamburger Tante Susanne, als er erklärte, er möge den Herbst von allen Jahreszeiten am liebsten. Wie er denn darauf komme, wollte sie wissen, wo doch alle Kinder den Frühling liebten. Der Herbst habe die schöneren Farben, erklärte er, der Frühling sei ihm zu grell, das Grün steche in die Augen, die Frühlingsfarben seien ihm zu knallig. Außerdem liebe er es, wenn draußen alles langsam zur Ruhe komme. Das waren die Worte, mit denen ihm seine Mutter ihre besondere Vorliebe für den Herbst beschrieben hatte. Er plapperte sie nach, ohne deren Sinn verstanden zu haben, mit dem Erfolg, in den Augen seiner Tante Suse als besonders frühreif zu gelten. Schamhaft erinnerte er sich jener altklugen Attitüde, als er, in die Jahre gekommen, die Reize des Herbstes nun wirklich für sich zu entdecken begann. Das dunkle Gelb der Rudbeckien, die schweren Karmin-, Rubin- und Violetttöne der Astern, die leuchtenden Blätter des Amber, der sich stets als Erster zu verkleiden begann, die lodernden Flammen des Wilden Weins, der von Jahr zu Jahr das Haus fester umschloss. Dann kamen die Elstern, paarweise, schritten und hüpften mit wippenden Schwanzfedern das Revier ab, als müssten sie es vor dem hereinbrechenden Winter ein letztes Mal inspizieren und prüfen, ob ihre winterflüchtigen Geschwister den Garten geordnet hinterlassen hätten. Setzten die ersten Stürme ein, begann die von freundlichen Ritualen begleitete Hausinnenzeit.
Wochenends genoss er die blauen Stunden, die immer früher einsetzende Dämmerzeit, lag schon am Nachmittag im Sessel, schlürfte würzigen Tee und las oder schaute hinaus zu den Birken, die sich im Wind wanden und mit ihren wedelnden Zweigen das Gartenhaus peitschten.
In der Zeit, in der er vor Sonnenaufgang das Haus verlassen musste – Ariane konnte eine Stunde länger schlafen – und, manchmal lange nach ihr, im Dunkeln heimkehrte, roch es im Haus nach Paraffin. Überall standen Kerzen, schon Wochen vor Advent. Selbst wenn Georg bis weit in die Nacht im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe schrieb und las, teilte er den knappen Sauerstoff seines kleinen Arbeitszimmers mit dem letzten Stumpen einer Altarkerze, dessen flüssiges Wachs manchmal über den Rand des gläsernen Untersetzers lief und eine bleiche Spur in die rohe Holzplatte fraß.
Georg liebte diese Zeit, in der sich alles nach innen wandte, in der Natur da draußen wie auch in der eigenen Gedankenwelt. Die Zeit der stillen Stunden, die Zeit auch, in der Georg manchmal Worte fand für scheinbar Unaussprechliches und Bilder sah, die noch gemalt werden wollten.
Schließt er die Augen, kann er noch das Fauchen in den Schornsteinen hören, damals zu Hause, das durch die geschlossenen Türen der Kachelöfen dringt. Wenn das Brausen des Windes einsetzt, liegt auch schon all das schöne Laub wild zusammengefegt zwischen den Hecken, die den Garten von drei Seiten umgeben. An einem windstillen Nachmittag muss die letzte Gartenarbeit getan werden. Seine Schwester und er bekommen Laubrechen in die Hand, um die Blätter unter den Büschen wieder hervorzuholen und mitten auf der Wiese zu Haufen aufzutürmen, von wo sie der Vater mit einem dreirädrigen Karren in die hinterste Gartenecke fährt. Dort hat er einen Komposthaufen angelegt, der nun unter Laub begraben und mit einer Plane abgedeckt wird.
Die blauen Stunden bis zum ersten Schnee hocken Georg und seine Schwester oft eng an die Mutter gelehnt auf ihren kleinen Fußbänken und lassen sich in eine Welt entführen, in der es Zwerge und Feen, Riesen und Räuber, Drachen und Wölfe und vor allem Bauernjungen und Prinzessinnen oder Prinzen und Bauerntöchter gibt und in der sich ihre Mutter so gut auskennt, dass sie nie ein Buch braucht, um davon zu erzählen.
Der Herbst ist zu Ende, sobald der erste Schnee den Garten mit seinen Bäumen und Büschen und Gräsern zu verzaubern anfängt und den Zaunlatten kleine weiße Hüte aufsetzt. Dann verbringen die Kinder die Nachmittage im Freien, oft am nahe gelegenen Galgenberg, der hoch genug ist, dass man in Ketten rodeln kann. Einmal gerät eine Kette von vier aneinandergeknüpften Schlitten so ins Schleudern, dass die Schlitten kippen und sich überschlagen, während die Kinder lachend und schreiend durcheinanderpurzeln. Ein Junge aus der Nachbarschaft aber prallt gegen eine Platane, wo er hart aufschlägt, zwei Zähne verliert und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden muss. Von da ab gilt Schlittenverbot am Galgenberg, zumindest für Georg und seine Schwester.
Alle anderen kindlichen Wintererinnerungen schienen wie von einem schwarzen Loch aufgesogen. Die Herbstbilder vermochte er jederzeit abzurufen, so lebendig waren sie in ihm abgespeichert.
Eine Woche seines Jahresurlaubs blockierte Georg für den Herbst, und er nahm sie für sich allein in Anspruch. Manchmal suchte er eine Unterkunft im Elbsandsteingebirge oder im Vogtland, neuerdings auch mal in der Lüneburger Heide oder im Sauerland. Diesmal verbrachte er die letzte Septemberwoche im sächsischen Dreiländereck. Das Haus, eine ehemalige kirchliche Ausbildungsstätte, befand sich im oberen Teil eines Dorfes an der Grenze zu Tschechien.
Hier hatte er schon einmal zwei Urlaubswochen verbracht. Das war im Sommer 1968. Er kann sich genau erinnern.
Mit seinem klapprigen Motorroller knattert er sechsmal in vierzehn Tagen bis nach Prag und besucht tschechische Freunde, um mit ihnen die neue Freiheit zu feiern, die unter Dubček ins sozialistische Nachbarland eingezogen ist. Schon in der Kneipe hinter der Grenze, wo Georg haltmacht, um sich ein erstes Pilsener Urquell zu gönnen, vermag er das Andere zu spüren. Man diskutiert laut und euphorisch über die neue Lage, ohne die Geheimpolizei zu fürchten. Ein alter Mann am Tresen übersetzt für Georg jeden Satz. Ihr werdet auch bald frei sein, meint einer, euer Ulbricht ist doch überfällig. Man prostet sich zu: Vivat Dubček! Vivat Svoboda! und Nieder mit Ulbricht! Nieder mit Breshnew! Russen auf den Mond! In Prag kommt sich Georg wie im Westen vor. Die Stadt legt ihr Grau ab, kleidet sich bunt und hell. Das Schwerlastige und Verkniffene, das ihn bei früheren Besuchen so an die DDR erinnert hat, ist verschwunden. Ihm scheint, er begegne einer neuen Gattung Mensch, offen, zuversichtlich und selbstbewusst. Dann aber, eines Morgens, Georg liegt noch im Bett, schießen Düsenmaschinen über den Kamm in Richtung Tschechoslowakei. Dieser Mittwoch wird sich in sein Gedächtnis tief einbrennen. Mittwoch, der 21. August. Voller unguter Ahnungen springt er aus den Federn und läuft zum Fenster. Unten sammeln sich, schreiend und heftig gestikulierend, die Dorfbewohner. Eine Frau mit Tränen in den Augen erzählt ihm, schon am späten Abend des Vortages sei eine endlose Kette von Panzern der sogenannten Bruderländer dröhnend und kreischend durch das Unterdorf gestoben, habe das Grenztor niedergewalzt und Kurs auf Prag genommen. Ratlosigkeit, Wut und Verzweiflung zeichnen die Gesichter. Ein paar Tschechen aus den benachbarten Grenzdörfern kommen hinzu. Mit zornigem Blick fragen sie: Warum macht ihr alles kaputt? – Wir wollen das doch auch nicht, sagen die Einheimischen. Das sind doch immer die da oben. Einer bemerkt: Ihr Tschechen habt die Russen doch selber gerufen. Er muss zusehen, dass er unbeschadet nach Hause kommt. Der Bürgermeister lässt sich zwei Tage verleugnen und zeigt sich erst wieder, als die offizielle Lesart der Geschehnisse aus Berlin vorliegt. Aus der Traum, denkt Georg. Aus die Hoffnung, sein Land könne sich von dieser Variante des Sozialismus doch noch anstecken lassen!
Jahre später, der Sozialismus sowjetischer Prägung gibt sich erinnerungsresistent gegenüber allen gescheiterten Ausbruchsversuchen, besucht Georg einen kranken Freund im trostlos grauen Zittau. Am Nachmittag streift er noch einmal durch den leuchtenden Lausitzer Herbstwald, sammelt Maronen und Perlpilze, gerät auch mal versehentlich auf die tschechische Seite und findet unbemerkt zurück. Er genießt die tiefe Stille der fast unberührten Natur, wie sie nur noch in den Sperrgebieten und grenznahen Zonen zu finden ist. Nur ein Fuchs kreuzt seinen Weg. Von einer Erhebung schaut er nach Böhmen hinüber und meint, ein Bild Caspar David Friedrichs wiederzuerkennen.
Wo Georg auch immer seine herbstliche Urlaubswoche zubringt, am Abend sitzt er bei Kerzenschein in seinem Quartier und schreibt, wenn er nicht liest, in sein Tagebuch. Weniger die bescheidenen Tagesereignisse scheinen ihm wert, festgehalten zu werden, als vielmehr das, was sich von einem Herbst zum anderen ereignet hat. Er berichtet von seinen Reisen, unter denen schon lange keine Westreise mehr zu verzeichnen ist. Er erzählt von Besuchen, die ihn berührt haben, Besuchen auch aus dem anderen Deutschland. Er schreibt von literarischer Bückware, Büchern, die unter dem Ladentisch verkauft werden und die als Geheimtipp gelten, weil sie verschlüsselte Systemkritik enthalten. Manche der Autoren hat er lesen gehört. Eine, die dem Schriftstellerverband den Rücken gekehrt hat, lädt er in seine Gemeinde ein. So viele fremde Gesichter habe es in seiner Kirche nur Heiligabend gegeben, schreibt er in sein Tagebuch. Bewegende Theaterbesuche und Konzerte erwähnt er wie Naturereignisse und meteorologische Besonderheiten. Aber auch kleine, ganz persönliche Begebenheiten notiert er akribisch und unverdrossen in eines seiner unzähligen Oktavheftchen, die er jeweils mit einer Jahreszahl versieht. Manchmal mischen sich schwermütige Bilder aus elenden grauen November- und Dezemberwochen dazwischen.
Später, als es ihn in den Norden verschlägt, setzt er seine Gewohnheit fort und sucht sich für seine Herbstwoche Unterkünfte auf dem Darß, auf Rügen oder Usedom.
Einmal gelingt es ihm, eine Herbstwoche auf Hiddensee zuzubringen, in der Zeit, als die Insel bereits in das Verteidigungskonzept der DDR einbezogen ist.
Auch da trägt er sein kleines Heft bei sich und notiert Stichworte, die er abends im Krug bei einer Flasche Gamza in Sätze fasst.
An einem dieser Abende stehen zwei Männer hinter ihm und wollen wissen, was er da mache. Sie tragen keine Schlapphüte und keine Ledermäntel. Georg hält sie für neugierige Kneipengäste. Er schaut kurz auf und sagt: Ich schreibe.
Das sehen wir auch, sagt der eine und zückt einen Ausweis, zu knapp, als dass Georg erkennen kann, mit wem genau er es zu tun hat. Aber er versteht.
Kommen Sie mit, sagt der andere und führt Georg in einen kleinen Nebenraum. Dort nimmt er ihm sein Heft ab und beginnt darin zu blättern und zu lesen. Er winkt seinen Kollegen herbei und zeigt ihm etwas. Beide zwinkern sich zu und lachen. Dann machen sie wieder ein ernstes Gesicht und belehren ihn knapp und förmlich, er befinde sich im Grenzgebiet und solle sich strikt an die geltende Ordnung halten. Dazu gehöre auch, keinerlei Notizen über militärische Bewegungen oder Standorte auf der Insel zu machen und nach Einbruch der Dunkelheit den Strandbereich zu meiden. Man reicht ihm sein Heft zurück und wünscht ihm ansonsten noch einen angenehmen Abend.
Doch die Leichtigkeit des Abends kehrt nicht mehr zurück, auch an den folgenden Tagen nicht. Georgs Gedanken sind wie blockiert. Bemerkungen zur allgemeinen politischen Lage fanden bisher zwar selten Eingang in seine Tagebücher. Jetzt aber bekommt diese mehr zufällige Unterlassung Vorsatzcharakter, wird zu einer Art Eigenzensur und nimmt damit seinen Notizen ein Stück Authentizität.
Aber seine jährliche Herbstwoche bleibt ihm heilig. Sowohl Sabine als später auch Ariane tolerieren diesen Alleingang, wissen sie sich doch so für eine Woche seiner zwanghaften Ordnungsliebe enthoben, die nicht selten das häusliche Klima in eine mittlere Krise treibt.
Die Liaison mit Katharina allerdings hätte diese eine Herbstwoche beinahe nicht überstanden. Denn Katharina droht, sollte er allein losfahren, sich nie wieder blicken zu lassen. Dann aber findet er sie, als er zurückkehrt, in seiner Wohnung vor, aufgeräumter als diese selber und zärtlicher denn je.
Einmal vergisst Georg seine herbstliche Auszeit. Das ist 1989. In diesem Herbst ist alles anders.
Georg steht am Ausgang und befindet sich unter den Ersten, die hinaus ins Dunkel treten. Er sieht heitere Menschen, von Kerzen angestrahlt, die nach ihm aus dem Portal der Markuskirche quellen, Menschen, die sich verschwörerische Blicke zuwerfen, viele bekannte Gesichter darunter, aber auch neue. Fremde möchte er nicht sagen. Wer jetzt mitgeht, ist nicht mehr fremd.
Georg, hört er eine Stimme, hast du mal Streichhölzer?
Damit der Wind die ungeschützten Lichter nicht ausbläst, hat Georg, wie viele andere, seinem Licht eine Papiermanschette verpasst. Noch leuchtet seines.
Nein, sagt er, hab ich nicht. Aber du kannst dein Licht an meiner Kerze anzünden.
Ich wollt eine rauchen, sagt der junge Mann neben ihm.
Jetzt, wo es losgeht, fragt Georg.
Genau, sagt er, jetzt, weil es losgeht. Ich mag aber meinen Stummel nicht in eine Kerze halten.
Eine befreiende Anspannung liegt über der ersten Demonstration in seiner Stadt.
Sein Blick streift die dunkelblauen Anoraks mit dem roten Futter, die sich schon am Nachmittag in Zweier- und Dreiergruppen völlig unauffällig um die Kirche herum postiert haben, so zivil wie irgend möglich und darin wieder uniform.
Müsste man sich die Gestalten merken, die man in sie gesteckt hat? Wozu?
Aber das Gefühl an diesem ersten Mittwoch muss uns erhalten bleiben, darf niemals ganz verloren gehen, denkt er. Wer weiß, wofür wir es noch brauchen.
Jetzt fuhr Georg in den Westen.
Für ihn war es noch immer eine Westreise, obgleich sich die Spuren des DDR-Grenzregimes inzwischen verloren hatten. Wenn er am Schalter eine Fahrkarte in die alten Bundesländer löste, nannte er den Ort und fügte hinzu: im Westen. Meistens lächelte dann sein Gegenüber.
Manchmal aber trafen ihn auch böse Blicke. Und jedes Mal, wenn er sich der einstigen Grenze durch Deutschland näherte, kroch aus einer nicht lokalisierbaren Tiefe diese alte Angst in ihm empor, die ihm den Hals zuschnürte und ihn Glauben machte, gleich würde die Tür aufgerissen, zwei Uniformierte forderten seinen Pass und stellten unangenehme Fragen, und er brächte keinen ordentlichen Satz mehr heraus.
In den Neunzigerjahren war er oft mit dem Dienstwagen unterwegs. Dann stierte er schon lange vor der ehemaligen Grenze aus den Fenstern und bat den Fahrer, das Tempo zu drosseln. Er wollte sich vergewissern, dass die Grenze wirklich verschwunden ist. Dann aber wollte er auch wieder etwas entdecken, was an sie erinnerte.
Zwei Jahre ist es her, dass er das letzte Mal mit dem Zug in den Westen gefahren ist. Auch diesmal wieder möchte er den einstigen Grenzbahnhof nicht verpassen.
Seine Gedanken verharren im Herbst 89.
Als die erste Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz auftaucht, erschrickt er. Es kommt ihm wie Verrat vor. Eben waren wir uns noch einig: Wir sind das Volk, wir werden es euch zeigen, wir haben keine Angst mehr, wir bauen uns unsere Demokratie selber, wir jagen euch zum Teufel mit euern Wanzen und mit euern Panzern. Manche wollen sie in einen Zug sperren, der erst in Moskau wieder hält. Dann sind sie in ihrem Paradies. Wir brauchen nur eine Wirklichkeit, in der sich gerne leben lässt. Sein Bild vom Westen ist nicht vom Westbild beeinflusst. Wenn er gefragt wird, was hast du für ein Westbild, muss er antworten: Wir haben kein Fernsehen. Ich höre Radio. Das reicht mir. Er kennt weder Traumschiff noch Schwarzwaldklinik noch Denver Clan. Aber auch Aktuelle Kamera und Schwarzer Kanal sind ihm fremd.
In Westberlin lebt Tante Veronika, die Schwester seiner Mutter. Sie versorgt die Familie mit Kaffee und Literatur. Als Patentante – mit Bedacht für beide Geschwister erwählt – erfüllt sie kleinere, später auch größere Kinderwünsche und ist Ziel und Ausgangspunkt für alle Westreisen der Familie, vor der Mauer natürlich. Wenn sie zu Besuch kommt, schmuggelt sie gern einen SPIEGEL unter ihrer Diakonissentracht über die Grenze. Vitaminkapseln und Herzpräparate für den Vater mischt sie unter die Zuckereier im Osterpäckchen. Und über die Korrespondenz, die die Schwestern mit nahezu täglichen Eilbriefen hin und her pflegen, hält sie die Familie über die Tagespolitik auf dem Laufenden. Sein Vater nennt sie: Schwester für Politik und Zeitgeschichte.
Der Brandt wird einmal Kanzler werden, schreibt sie. Der Adenauer hat zwar mit den Franzosen Frieden geschlossen und die letzten Gefangenen aus Russland zurückgeholt. Aber er hat Angst vor den Russen. Angst ist kein guter Ratgeber. Der Brandt kennt das Leben in der geteilten Stadt und weiß, wie man mit den Russen umgeht. Der wächst in Bonn, glaub mir. Außerdem respektieren ihn die Ehrlichen unter den Kommunisten, weil er in Norwegen im Widerstand war …
Der Heinemann hat neulich gesagt, wir müssen endlich aufhören, immerfort auf Wachstum zu setzen. Irgendwann kippt unser Wohlstand um. Stattdessen sollten wir Reserven schaffen, damit der Sozialstaat noch hält, wenn sich die Dritte Welt emanzipiert. Wenn das man nicht schon zu spät ist! …
Ob euer Ulbricht noch lange zugucken wird, wie die Kirche in der Zone von der Westkirche unterstützt wird? Diese Atheisten warten doch nur auf eine Gelegenheit, der Kirche den Garaus zu machen.
Im Übrigen, wenn die Alliierten nicht in West-Berlin säßen, die würden nicht davor zurückschrecken, auch noch durch Berlin eine richtige Grenze zu ziehen …
Als Kind darf er manchmal, wenn sein Vater in Berlin zu tun hat, mitfahren, im Dienstauto, einem Mercedes 170 S. Der steht heute in einem sächsischen Verkehrsmuseum. Herr Friebel, fahr mal hundertzwanzig, drängelt er dann. Und Herr Friebel gibt Gas und saust an den anderen Autos vorbei. (Wenn seine Mutter mitreist, ruft sie gleich: Nicht so schnell, Herr Friebel, da wird einem ja ganz schlecht. Außerdem wollen wir doch heil ankommen.) Ihn bringt der Vater zu Tante Vero, während er seinen Amtsgeschäften nachgeht. Wenn er abends bei Tante Veronika eintrifft, ist Georg meistens schlecht, so viel Schokolade und Marzipan hat er gegessen. Jede Schwester in Tante Veronikas Krankenhaus will dem Neffen aus dem Osten etwas Gutes tun. Meist ist es zu viel des Guten.
Apropos Schokolade. Er zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf und angelte nach der Schokoladentafel, die er sich eingesteckt hatte. Heute nur noch schwarz und bitter, von 75 Prozent aufwärts. Ein Stück, mehr nicht. Dafür waren die Stücken jetzt viermal so groß.
Langsam ließ er den Leckerbissen auf seiner Zunge schmelzen. Draußen fegte eben ein Kleinstadtbahnhof vorüber, zu schnell, als dass man den Ortsnamen hätte entziffern können.
Wo war ich eben? Westberlin, richtig.
Seinen letzten Besuch in Westberlin unternimmt er trampenderweise mit Ulrike, seiner zweiten Liebe, wenn man die erste mitrechnen darf. Die heißt Karin und teilt mit ihm die Schulbank von der ersten bis zur dritten Klasse, bleibt ihm aber treu, bis er in den Chor kommt. Dass sie sich aus den Augen verlieren, schreibt er sich später als sein Versäumnis zu. Sie lässt ihn noch Jahre später über seine Mutter grüßen.
Ulrike kann man nicht mehr eine Kinderliebe nennen, weil er inzwischen ausgesprochen männliche Gefühle in sich verspürt. In Westberlin gibt es 1960 eine große Expressionismus-Ausstellung. Da muss er hin. Und Ulrike, die sich mehr für Georg als für Literatur und Kunst interessiert, muss mit. Sie erhalten natürlich getrennte Zimmer auf unterschiedlichen Fluren im Christlichen Hospiz in der Albrechtstraße. Ulrike ist die Tochter eines Arztes und bekommt viermal so viel Taschengeld wie er. Sie bezahlt die Übernachtung. Er besitzt ein bisschen Westgeld und übernimmt die Eintrittskarten für die Expressionismus-Ausstellung und die Wurst am Bahnhof Zoo. Diesmal meidet er Tante Vero. So groß ihr Herz auch ist, er befürchtet, sie werde die Reise des Neffen seinen Eltern nicht verschweigen wollen. Das zu erwartende Donnerwetter würde nicht ausbleiben, erst recht nicht, wenn sein Vater erführe, dass sein Sohn in weiblicher Begleitung unterwegs war.
Georg kann nicht wissen, dass er seine Tante für Jahre nicht wiedersehen wird.
Nicht ganz unerwartet klopft es an seine Tür. Da steht Ulrike im Nachthemd und tut, als fröre sie. Er zieht sie ins Zimmer und nimmt sie mit in sein Bett. Sie schmiegt sich an ihn, und er spürt ihre straffen kleinen Brüste. Er küsst sie und streichelt sie halsabwärts, bis er ihren kleinen runden Po zu fassen kriegt. Dann streichelt er sie poaufwärts unter ihrem Nachthemd weiter. Und auf einmal geschieht es. Er erschrickt so, dass er die Hand hervorzieht und Abstand sucht. Es tut mir leid, stammelt er und weiß nicht, wohin mit sich. Sie scheint das nicht aus der Fassung zu bringen. Sie schlingt ihren rechten Arm um seinen Hals und schiebt sich auf ihn. Er aber stößt sie zurück und wendet sich ab vor Scham. Sie bleibt bei ihm, dicht an seinen Rücken gepresst. Vor Sonnenaufgang muss sie sich aus seinem Zimmer geschlichen haben. Er findet nur ihren Geruch noch vor.
Beim Frühstück kein Wort davon, stattdessen eifrige Anstrengungen, den Vormittag sinnvoll zuzuplanen. Und während sie auf den Stufen des Pergamonaltars ins Schwärmen gerät, denkt er immer nur: Das nächste Mal wird es besser werden. Aber es gibt kein nächstes Mal.
Er schaute zum Viererabteil über den Gang. Ein stoppelbärtiger junger Mann, die Ärmel halb aufgekrempelt, die oberen Hemdknöpfe offen, sodass die Wolle herausquoll, saß mit ernstem Gesicht an seinem Laptop wie in einem rollenden Büro. Immer wieder las er etwas, scrollte mit seiner rechten Hand rauf oder runter, schrieb mit flinken Fingern ein paar Zeilen, stellte die Ellenbogen auf, klemmte nachdenklich seinen Kopf zwischen die Hände und las erneut. Die junge Frau ihm schräg gegenüber krümelte eben die andere Hälfte der Tischplatte mit ihrem Kuchen voll. Jedes Mal, wenn sie abbiss, beugte sie sich über den Tisch. Ihr grün-weiß gestreifter Pullover und der Schoß ihres langen meergrünen Rockes waren ebenfalls schon voller Krümel. Durch ihre leicht verschmierte Brille schaute sie zu Georg hinüber und lächelte. Er lächelte zurück und fragte: Schmeckt’s?
Selbst gebacken, sagte sie, dabei blies sie weitere Krümel aus den Winkeln ihres vollgestopften Mundes. Sie zog die Stirn in Falten, was so viel heißen sollte wie Pardon, und wedelte die Krümel von Pullover und Rock auf den Boden.
Als er wieder zu ihr hinüberschaute, war der Platz aufgeräumt. Sie lümmelte in der Fensterecke, die Füße auf dem Nebensitz, und las.
Georg versank wieder in Gedanken.
Es ist ein sonniger Morgen. Wie immer steht er als Erster auf.
Eine Angewohnheit aus frühen Internatszeiten.
Achtzig Jungen auf vierzig Waschbecken. Wer da nicht schnell ist, muss warten. Und wer ein Becken erobert hat, lässt sich manchmal Zeit. Dann wird es für die anderen eng. Zur Morgenandacht müssen alle unten im Speiseraum sein.
Später genießt er die frühen Morgenstunden. Er gehört inzwischen zu den Oberen, ist Tischältester, Mentor von drei Fünftklässlern, besitzt einen eigenen illegalen Hausschlüssel und schläft schon längst nicht mehr im großen Schlafsaal mit den 40 Betten, sondern in einer Dachschräge, zusammen mit weiteren fünf Sechzehn- und Siebzehnjährigen. Wenn die anderen aufstehen, hat er sich schon rasiert.
An diesem Morgen steht er nackt auf einer Kuhweide bei Sparow und rekelt sich. Er läuft hinunter zum See und wirft sich ins kalte Wasser. Enten schrecken schreiend aus dem Röhricht auf. Winzige blassgrüne Fische schwärmen vor seinen Schwimmbewegungen davon. Mit kräftigen Zügen erreicht er die Mitte des Sees. Er dreht sich um, sieht, wie die Sonne über den Dächern des Dorfes aufsteigt und alle Dürftigkeit mit einem goldenen Schleier bedeckt. Er wendet. Als er nicht mehr weit vom Ufer entfernt ist, kommt ihm ein Kanon in den Sinn: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Und während er zurück ans Ufer watet, fängt er laut zu singen an. Aus einem der Zelte setzt eine zweite Stimme ein, dann, zaghaft, eine dritte, eine Oktave höher. Er steigt aus dem Wasser, schüttelt sich wie ein Hund, dass es aus seinem vollen Haarschopf spritzt, und hüpft in großen Sprüngen hügelan. Außer Atem, den Kanon mit gebrochenen Lauten fortführend, gelangt er zu seinem Zelt, greift sich ein Handtuch und verstummt. Seine Schwester und Daniel haben singend den Frühstückstisch zu decken begonnen. Ein halbes Mischbrot liegt auf dem vierpfähligen Brettergestell, das er gebaut hat, sein Hirschfänger, eine neue Dose Schmalzfleisch und Marmelade, die nach nichts außer süß schmeckt.
Nächste Woche ist es vorbei mit Bundeswehrreserven, sagt er. Da essen wir nicht mehr, was die Bundeswehr an den Osten abtritt, da essen wir wie die Bundeswehr, lauter gute Sachen: Schinken und französischen Käse und Sardinen und Oliven.
Er sucht eine Musik auf dem kleinen Kofferradio, aber überall wird gerade gesprochen.
Dann müssen wir halt warten, sagt er, und stellt den Ton lauter: … hat die DDR-Führung alle Übergänge nach Westberlin geschlossen …
Alle drei stehen wie erstarrt und schauen sich ratlos an.
Das kann nicht sein, sagt er.
Aber welchen Sender er auch einstellt, überall die gleiche Meldung: Berlin ist dicht.
Das werden sich die Alliierten nicht gefallen lassen, darin sind sie sich einig.
Dann sickern weitere Einzelheiten durch. Die S-Bahn nach Potsdam halte nicht mehr auf Westberliner Bahnhöfen. Alle in Westberlin arbeitenden und studierenden DDR-Bürger seien aufgerufen, sich bei den Behörden zu melden. An den Grenzzäunen, die die DDR über Nacht gezogen habe, stünden Kampfgruppen der Arbeiterklasse zum Schutz der sozialistischen Errungenschaften. Der RIAS berichtet, auf Westberliner Seite versammelten sich Tausende Menschen. Protestrufe, Tränen und Verzweiflung charakterisierten die Stimmung in der nun erst recht geteilten Stadt.
Und wenn nicht? Wenn die Amis nichts machen? Und Adenauer auch nicht? Dann werden wir den Westen nie wieder sehen.
Daniel ist noch blasser geworden, als er sonst schon aussieht. Mein Vater wohnt in Köln, sagt er leise. Und dann heult er los. Die haben mir meinen Vater schon einmal weggenommen, jammert er.
Sein Vater steht 1954 vor Gericht wegen angeblicher Industriespionage. Sie bringen ihn nach Waldheim. Nach fünf Jahren wird er in den Westen entlassen. Daniels Mutter lässt sich, nach massiven Drohungen, von ihm scheiden – und Daniel mit.
Diese Schweine! Diese Schweine! Diese Schweine!, schreit er über den See.
Daniel, zischt Georgs Schwester, nicht so laut!
Aber Daniel ist nicht zu bremsen, Schweine, Schweine, verfluchte Schweine!
Alles für das Wohl des Volkes, zitiert Georg bitter.
Und Tante Vero, flüstert seine Schwester. Wie sagen wir ihr jetzt, dass wir nächste Woche nicht kommen, vielleicht nie mehr?
Glaubst du, die hört keine Nachrichten, ausgerechnet Tante Vero? Sie wird das schon eher erfahren haben als wir.
Dabei kommt er sich sehr erwachsen vor, obgleich auch er mit den Tränen kämpft.
Nie wieder eine Westreise, murmelt er später. Wahrscheinlich auch nicht mit dem Chor.
Inzwischen fuhren die Leute zwischen Ost und West hin und her, als wäre das immer so gewesen. Die Jungen kannten es nicht anders. Die Alten schienen vergessen zu haben, wie es war, als sich dieses kleine komische Land mit einer scharfen Grenze eingeriegelt hatte und eine Enklave der Freiheit mitten in seinem Staatsgebiet dulden musste. Enklave der Freiheit, ein Paradoxon eigentlich. Aber es war ja so vieles paradox.
Er griff in die obere Außentasche seiner Lederjacke und zog Kopfhörer und MP3-Player heraus. Das Display zeigte: Bach, Cembalokonzert f-Moll, erster Satz. Georg schloss die Augen. Die Aufnahme war ihm vertraut. Er konnte sie genießen, auch wenn ihm die andere, die er auf CD besaß und die fast doppelt so schnell gespielt wurde, lieber war.
Interpretationen sind nicht nur musikalische Auffassungen, manchmal sind es Weltanschauungen, manchmal unversöhnliche, sagte er sich.
Im Neubau des Eisenacher Bachhauses konnte man über Kopfhörer ein und dasselbe Stück unter neun verschiedenen Dirigenten miteinander vergleichen: ein musikalischer Streifzug durch hundert Jahre Musikgeschichte! Einige lagen so weit auseinander wie Peking und Paris. Georg besaß vier Aufnahmen der H-Moll-Messe. Besonders beim Credo, das durch seine klare Struktur zum Offenbarungseid jedes Chores werden kann, fiel ihm auf: Es gibt nicht die richtige oder falsche Interpretation. Wie sollte man auch anders seinen Glauben bekennen können als subjektiv? Ein Glaubensbekenntnis ist doch eine zutiefst persönliche Angelegenheit, intim wie ein Liebesgeständnis.
Als er in Eisenach den Meister ohne Perücke sieht, erschrickt er, muss aber zu der Büste immer wieder zurückkehren, bis sie ihm vertraut ist. Danach fühlt er sich seiner großen musikalischen Vorliebe um zwei Jahrhunderte näher.
Mit seiner Innenstimme summte Georg die großen Bögen mit und hoffte, die Stimmbänder würden seinem Befehl zu schweigen gehorchen. Nahezu unmerklich beschrieb seine rechte Hand in Auf- und Abbewegungen den Takt, die Kuppe des Zeigefingers auf den Daumen gelegt. Er schmolz dahin und kam nicht auf den Gedanken, schon mit dem nächsten Titel der Zufallswiedergabe aufgeschreckt zu werden, da schrie ihm bereits Grönemeyer seine Flüsternde Zeit ins Ohr. Er hatte das Lied schon so oft gehört, dass er inzwischen sogar den Text verstand. Die bildhaften und doch einfachen Sätze mochte er, mehr noch die eindringliche Stimme, die weniger mit Gesang als mit musikalischer Provokation zu tun zu haben schien.
Er stellte sich vor, er schrie mit Grönemeyers Stimme seiner Gemeinde im Gottesdienst das Evangelium entgegen. Er sah seine Herzdorfer Bauern vor sich, Herrn Ludwig, der meist schon beim Eingangslied schlief, den schwerhörigen Herrn Watzke, der immer freundlich lächelte und bei dem man nie wusste, was er wirklich mitbekommt, Frau Schreck, die ihn immer mit so erschreckend gläubigem Blick anschaute, dass er glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, und all die andern, er sah, wie sie auf einmal aufrecht in ihren Bänken saßen, verstört und mit spitzen Ohren, als ob das Jüngste Gericht über sie hereinbräche. So müsste man predigen, dachte er. Vielleicht war Johannes der Täufer so einer, mehr missionarischer Schreihals und Exorzist als Lehrmeister. Jesus stellte er sich stiller vor, bedachter, entschieden ja, aber nicht so apodiktisch.
Es folgten Reinhard Mey, Carlos Gardel, ein Satz aus der Frühlingssymphonie, Balulalow, Mercedes Sosa mit der Missa Creola, ein Mozart-Divertimento, Piazzolla und wieder Bach. Manchmal lief ein leichter Schauer über seine Schulterblätter die Arme entlang bis in seine Fingerspitzen, wenn er Bach hörte.
Was ist das, was mich nahezu alle Bach’schen Werke, von der Matthäuspassion bis zu den Motetten, von den großen Orgelwerken über die Cembalokonzerte bis hin zu den Cellosonaten als Steigerung dessen erleben lässt, was gemeinhin Musik genannt wird? Die Ordnung, beantwortete er sich selber seine Frage. Es ist die tiefe Ordnung in dieser musikalischen Unendlichkeit, die Klarheit in einer genial-fantastischen Vielfalt, seine überraschende Berechenbarkeit.
In Georgs Auto lagen immer CDs mit Bach’scher Musik, die seine Stimmung innerhalb weniger Takte aufhellen konnten. Mitunter versetzten sie ihn in eine Art blinder Euphorie, dass er weder bemerkte, wie er zu fest auf das Gaspedal trat noch den Blitzer am Straßenrand wahrnahm.
Freunde belächelten ihn manchmal dieser Schwärmerei wegen. Ariane tolerierte seinen Tick mit Milde und gönnte sich zum Ausgleich, wenn er nicht da war, eine donnernde Klangorgie aus Maffay, Lindenberg und Turner durch das ganze Haus.
Der Zug raste mitten durch einen Wald. Wenn Georg frontal durch die Scheibe sah, verschwamm dieser in wildem Flimmern, das die Augen schmerzte, wie bei einem zu schnell laufenden Film. Er musste im spitzen Winkel aus dem Fenster schauen und so Abstand gewinnen, um aus der verschmierten Ansicht wieder Wald werden zu lassen.
Im Mai 1979 erlebt Georg wider Erwarten seine erste Westreise nach dem Mauerbau. In Brüssel findet eine europaweite Kirchenkonferenz statt, zu der aus der DDR zwei Teilnehmer zu bestimmen sind. Die Konferenz hat den Ruf, linkslastig zu sein, weshalb den Behörden eine Teilnahme von DDR-Vertretern angeraten erscheint. Die Wahl fällt auf ihn und einen weiteren Kollegen, von dem er damals noch nicht wissen kann, dass der ihn zugleich im Auftrag der Staatssicherheit begleiten wird. Die Beschaffung der Pässe und Visa obliegt einer Abteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Als er eine Woche vor Reiseantritt nachfragt, wann er die Reisepapiere erhalten werde, bekommt er eine Antwort, wie er sie auf jeder polizeilichen Meldestelle erhalten würde: Warten Sie ab, Sie erhalten von uns Bescheid, ob und wann Sie den Pass bei uns abholen können. Bis dahin gedulden Sie sich, Herr Weber.
Auf die Nachfrage, wie lange vor Reiseantritt man denn erfahrungsgemäß damit rechnen könne, weil doch davon abhinge, wann er nach Berlin kommen müsse, wieder der barsche Ton: Wie gesagt, warten Sie ab. Wir können die Bearbeitung nicht beschleunigen.
Als er einen Tag vor dem vorgesehenen Reiseantritt erneut anklingelt, erkennt er die gleiche Stimme: Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen, Herr Weber.
Aber morgen Mittag soll ich doch schon fahren, wendet er ein.
Hören Sie auf, uns weiter zu bedrängen! Es liegt nicht in unserer Hand. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr in die Auguststraße und bringen Sie Zeit mit. Garantieren können wir Ihnen aber nichts, auch nicht, ob die Papiere überhaupt fertig werden.
Wenn ich das richtig verstehe, ist also noch gar nicht sicher, ob ich überhaupt fahren kann?
Ich sagte doch, wir können nichts garantieren!
Schikane, sagt er, als er den Hörer auflegt, wieder mal typisch! Da darf man nun schon einmal ins sogenannte kapitalistische Ausland fahren, weil es der Staat für opportun hält, und dann wird einem seine Abhängigkeit von den Behörden noch einmal unübersehbar eingebläut. Dieser Staat lässt keine Gelegenheit aus, seine Bürger zu demütigen. Kein Wunder, dass immer wieder Leute drüben bleiben, wenn sie einmal die Mauer und diesen ganzen Sicherheitswahn hinter sich haben.
Er nimmt noch den Abendzug und quartiert sich bei seiner Schwester ein, die darauf vorbereitet ist, um am Morgen pünktlich zur Stelle zu sein.
Nein, sagte die Dame, die auf sein Klopfen hin die Tür öffnet, Ihre Papiere sind noch nicht da. Wollen Sie warten?
Das also ist die Person, die zu der Telefonstimme gehört. Das Bild, das er sich von ihr gemacht hat, stimmt mit der Erscheinung überein. Er stellt sich die junge Frau in Polizeiuniform vor. Sie muss ihm ansehen, dass sie ihm unsympathisch ist.
Stimmt etwas nicht, fragt sie.
Doch, doch, sagt er. Alles stimmt.
Im Übrigen wolle er lieber warten, als ziellos und unruhig durch die Stadt zu schweifen und aller zwei Stunden erneut zu klopfen. Er nimmt in einem Vorraum Platz, in dem nur der Ikonenkalender aus dem Union-Verlag verrät, dass er sich nicht auf einer Polizeidienststelle befindet. Er zieht ein Buch aus der Tasche, Dorothee Sölle, Atheistisch an Gott glauben, und beginnt zu lesen.
Eine andere Tür öffnet sich.
Elisa?
Er springt auf, während sie ruhig mit ihrem leicht rudernden Gang auf ihn zukommt.
Ich hab gehört, du bist hier.
Georg und Elisa haben in Greifswald drei Jahre zusammen studiert. Seit seinem Wechsel nach Halle sind sie sich nie wieder begegnet.
Ich hatte keine Ahnung, dass du hier arbeitest. Bist du denn gar nicht Pastorin geworden? Doch, schon, sagt sie. Ich habe mir mit meinem Mann eine große Landgemeinde geteilt. Er eine volle Stelle, ich der Kinder wegen eine halbe. Seitdem mein Mann Pfarrer in Berlin ist, arbeite ich in dieser Kirchenbehörde und bin zuständig für die Vorbereitung theologischer Fachtagungen. Und du?
Georg berichtet von seiner ersten Gemeinde in Sachsen, von Sabine und den Töchtern, von seinem Wechsel in den Norden, und dabei denkt er: Wo ist nur der geheimnisvolle Glanz hin, den seine Erinnerung mit Elisas dunklen Augen verbindet?
Und nun darfst du reisen, fragt sie. Nach Belgien? Wie schön. Ich freu mich für dich.
Na ja, – Georg zögert – mir ist eben mitgeteilt worden, das sei alles noch ziemlich ungewiss. Ich werd gleich mal nachschauen. Sag mir noch, wie es dir gesundheitlich geht? Damals hattest du manchmal Depressionen, vor allem in den grauen Spätherbst- und Winterwochen, wenn sich die Sonne lange versteckt hielt.
Georg schaut sie erstaunt an: Das weißt du noch?
Elisa nickt.
Ganz los bin ich sie nicht, bekennt Georg, aber ich arbeite daran. Und wenn man mich jetzt für eine Woche aus diesem Staatsgefängnis entlassen würde, ginge es mir sogar sehr gut, obwohl die graue Zeit im Anmarsch ist.
Nicht so laut, zischt Elisa. Die Wände haben überall Ohren.
Ich denke, ich bin in einer Kirchenbehörde, flüstert er.
Das hat nichts zu sagen, flüstert sie zurück und schüttelt den Kopf über so viel Naivität. Wann sollst du reisen, fragt sie, jetzt wieder laut.
Heute Mittag, hat es geheißen.
Ich werd mal nachschauen, sagt sie erneut und verschwindet hinter der bewussten Tür. Schon wenige Minuten später winkt sie ihn in das Büro, wo er vor einem Tresen stehen bleibt. Auf einem der beiden Schreibtische dahinter türmt sich ein Stapel blauer Pässe. Sie greift nach dem obersten, in den mehrere Papiere geklemmt sind und reicht ihn Georg.
Das ist dein Pass, sagt sie. Darin findest du auch die Fahrkarte Berlin-Zoo – Brüssel und zurück sowie einen kleinen Stadtplan von Brüssel. Dein Zug fährt übrigens erst morgen. Wenn du willst, kannst du schon heute rübergehen. Hast du in Westberlin jemanden, wo du übernachten kannst?
Georg nickt.
Du bekommst 100 D-Mark Reisegeld. Das klingt viel, aber du wirst sehen, wie wenig das ist. Dabei schiebt sie eine Liste unter seine Hand, auf der ein blauer Geldschein mit einer Büroklammer befestigt ist und reicht ihm einen Stift.
Du musst mir hier Pass- und Geldempfang quittieren.
Das wär’s, sagt sie und hat es auf einmal eilig. Als sie ihm die Hand gibt, macht sie mit der Linken eine Geste zur Tür in den Nachbarraum hin, die er so deutet: Tut mir leid, dass dir meine Mitarbeiterin die Papiere noch nicht geben wollte. Wer jeden Tag Pässe organisieren muss und selber nie fahren darf, nimmt allmählich die Umgangsformen der Volkspolizei an. Als er sich auf der Straße wiederfindet, weiß er nicht mehr, ob er sich bei ihr bedankt hat. Alles ist so ungewohnt und aufregend. Denn auf einmal ist die Mauer weg. Für ihn zumindest. Was er da in seiner Innentasche weiß, ist so etwas wie ein Lottogewinn. Manche riskieren ihr Leben dafür. Jetzt würde er am liebsten in ein Café gehen, einen Mokka bestellen, seinen Pass auspacken und seine Fahrkarte streicheln, den Stadtplan von Brüssel studieren und sich in Ruhe auf die neue Situation einstellen. Denn jetzt ist er – zumindest für eine knappe Woche – reiseberechtigt. Andererseits befürchtet er, irgendetwas könnte doch noch dazwischen kommen, das ihn am Übergang in den Westen hindert, ein Polizeikommando, das ihn kurz vor der Grenze einsammelt, ein Geheimer, der ihm seinen Pass wieder abnimmt.
Er begibt sich auf schnellstem Wege zum Bahnhof Friedrichstraße, holt sein Köfferchen aus dem Schließfach und wendet sich nach links, legt die hundert Meter bis zum Eingang der Grenzübergangsstelle zurück, die im Volksmund Tränenpalast genannt wird, und befindet sich am Beginn eines Ganges, dessen linke, durch ein Geländer getrennte Hälfte von Menschen mit Taschen und Koffern verstopft ist, während die rechte nahezu unbenutzt scheint. Ein Grenzer fordert seinen Pass. Georg greift in seine Innentasche und reicht ihm die Papiere, ohne die Fahrkarte herauszunehmen.
Dienstreisender, fragt der Grenzer.
Ja, sagt Georg.
Rechts, bitte.
So kann er an all den Menschen vorüber bis zu einem Schalter gehen, an dem er anzuhalten hat.
Papiere, sagt ein Grenzbeamter durch den Fensterschlitz. Diesmal reicht Georg nur den Pass hinüber. Der Pass verschwindet unter einem Tresen und bleibt für eine Weile unsichtbar. Währenddessen hat Georg Gelegenheit, sich umzusehen. Er entdeckt den Spiegel über sich, dann eine Kamera an der Wand.
Sie wollen nach Belgien?
Ja, sagt Georg.
Aus der Tiefe des Tresens holt der Grenzer einen Telefonhörer hervor und wählt offenbar eine Nummer, auch wenn von dem Apparat selber nichts zu sehen ist. Georg hört seinen Namen. Alles andere versteht er nicht. Stimmt etwas nicht, fragt er sich. Kommt jetzt dessen Vorgesetzter, um mir zu erklären, dass meine Reise nicht stattfinden werde? Es dauert.
In Ordnung, sagt der Grenzer zu irgendwem am anderen Ende und legt auf. Irgendwann liegt der Pass wieder auf dem Tresen.
Gute Reise, sagt er.
Georg fühlt sich wie ein Bergsteiger, der soeben auf dem Gipfel angekommen ist. In solchen Momenten werden alle Menschen Brüder. Er würde dem Grenzer am liebsten einen Kuss geben. Aber wofür? Dafür, dass der seiner Pflicht nachkommt, einen Reiseberechtigten durch die Sperre zu winken? Dafür, dass er – entgegen aller Grenzgewohnheit, wie Georg später noch feststellen wird – Gute Reise gesagt hat? Es gibt eine Art von Dankbarkeit, die etwas Hündisches hat, weil sie das Ergebnis von permanenter Demütigung ist. Vor der muss ich mich hüten, schießt es Georg durch den Kopf.
Der nächste Beamte holt ihn auch schnell wieder auf den Boden zurück: Halt! Führen Sie etwas mit sich, was den Zollbestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik unterliegt?
Ich glaube nicht, sagt Georg unsicher. Außer meinen persönlichen Dingen habe ich lediglich zwei Schallplatten und ein Buch bei mir, die als Geschenk gedacht sind.
Einen entsprechenden Zettel hat er ausgefüllt und reicht ihn hinüber.
Was für ein Buch?
Brecht, Gedichte.
Verschwinden Sie, scheint die Geste zu heißen, mit der ihn der Zöllner wortlos weiterwinkt. Und nun? Was kommt als Nächstes? Ein Gang, Kabinentüren, eine Ecke, eine Treppe hinauf – und er steht auf dem Bahnsteig, den man mit einer Stahlwand von den Bahnsteigen für den Ostberliner Verkehr abgetrennt hat. Eigentlich ist er schon fast im Westen, auch wenn er territorial gesehen auf Ostberliner Boden steht, die Ost-Berliner S-Bahn vor der Nase. Der Zug steht mit offenen Türen vor ihm. Menschen steigen ein, junge Leute mit Plastiktüten und Umhängetaschen, Tagesbesucher, die ihr zwangsgetauschtes Geld in Form von Büchern wieder mit hinübernehmen, andere mit Koffern und Taschen, Rentner, die zwar keinen Anspruch auf Westreisen besitzen, aber doch in der Regel fahren dürfen, da ihr Verbleiben im Westen ökonomisch nicht als Verlust zu Buche schlägt: frei werdende Wohnung, eingesparte Sozialleistungen, langsam aussterbende bürgerliche Ansichten und Traditionen. Auf diesem Bahnsteig mischt sich wieder, was im Tränenpalast sorgfältig getrennt worden ist.
Er steigt ein. Und als sich die Türen schließen, fährt er in die Freiheit oder was er dafür hält. Und keine Mauer hält ihn mehr auf.
Lehrter Stadtbahnhof. Gott, wie der aussieht! Eine verlassene, schwarzgraue Halle, von seinen Schwesterbahnhöfen im Osten nicht zu unterscheiden. Nur ein zerschrammter Vivil-Automat verrät, dass man sich im anderen Teil der Stadt befindet. Die S-Bahn verlangsamt ihre Fahrt, hält und fährt wieder an, ohne dass jemand zugestiegen ist. Bellevue. Eine alte Frau quält sich mit ihrem großen Koffer hinaus, zwei Männer, eine Zeitung unter dem Arm, kommen in den Wagen. Tiergarten. Der Zug füllt sich. Dann Bahnhof-Zoo. Das ist nun unübersehbar der Westen. Auf dem Bahnsteig emsiger Betrieb. Frauen und Männer, die ihre Verwandten aus dem Osten abholen und sich schluchzend in den Armen liegen, Geschäftsreisende mit eckigen, schwarzen Lederkoffern, junge Leute mit verwegenen Frisuren und auffälliger Garderobe. Aber ihm scheint, auffällig nur für ihn. Die Menschen hasten aneinander vorbei, treppauf und treppab, ohne einander gewahr zu werden. Unten in der Halle wendet er sich an einen Beamten mit roter Mütze, der in seinem feinen dunklen Jackett, dem weißen Hemd mit der blaurot gestreiften Krawatte und seiner frisch gebügelten Hose aussieht, als müsse er wenigstens Bahnhofsvorsteher sein. Auch das Bahnpersonal unterscheidet sich von dem auf der anderen Seite. Ob er ihm sagen könne, wie er nach Halensee komme.
Aber gern, sagt der und nennt ihm die weitere S-Bahn-Verbindung über Westkreuz. Dabei trifft ihn ein Blick, der leichte Irritation erkennen lässt und heißen kann: so jung und schon im Westen? Georg schämt sich. Man sieht ihm den Osten an, obwohl er sich einen schicken neuen Mantel gekauft hat.
Er hätte auch einfach weiterfahren können. Nun muss er die Treppe wieder hinaufsteigen, um die nächste Bahn zu nehmen. Dazu durchquert er noch einmal die Halle, vorbei an verlockenden Imbissständen und einem Blumenladen, der überquillt von seiner blühenden Pracht, und das im Herbst, wo auf seiner Seite der Mauer außer Chrysanthemen und Alpenveilchen nichts zu haben ist. In einer Ecke hockt eine Gruppe Jugendlicher auf dem Boden, Flaschen, Zigaretten, eine Wasserlache. Einer, mit strähnigen, verklebten Haaren und dicken Ohrringen, schaut kurz auf, vernebelter Blick, und sagt: Gaff nich so!
Das gibt es im Osten auch. Aber die Trapo räumt sie unbarmherzig weg, wohin auch immer. Man erzählt sich, manchmal würden sie zwangsgeschoren und eingelocht. Er hält das für übertrieben.
In Halensee verlässt er über eine steile Treppe den tiefer gelegenen Bahnhof. Oben angekommen, setzen sich seine Füße wie von selber in Bewegung. Wie oft ist er diesen Weg schon gegangen, als Kind, als Jugendlicher? Caspar-Theyß-Straße, Martin-Luther-Krankenhaus. Tante Vero hat keine Ahnung, dass er kommt. Er würde vor ihrer Tür mit dem Schild „Fürsorgeschwester“ stehen und klopfen. Sie würde mit ihrer hellen, klaren Stimme Herein rufen. Und dann würde sie Nein rufen und aufspringen. Wie kommst du hierher? Und dann würde er erzählen. Und sie würde sich für diesen Tag abmelden. Und dann würden sie in ihre kleine Wohnung gehen – und er könnte endlich ankommen im Westen. Denn bisher ist alles noch ein Traum.
Und so geschieht es. Er klopft, hört ihre Stimme und dann ihr überraschtes Nein! Wie kommst du hierher?
Mein Neffe ist ganz überraschend gekommen, sagt sie der Oberin, die drei Türen weiter sitzt. Sie heißt ihn willkommen, bittet beide Platz zu nehmen, stellt eine kleine Schale mit winzigen Schokoladentäfelchen vor ihn hin und erkundigt sich nach dem Anlass seiner Reise.
Wunderbar, sagt sie, wunderbar, dass die Sie haben fahren lassen. Einfach wunderbar. Ihre Tante freut sich ja so. Wie lange dürfen Sie denn in Westberlin bleiben?
Er sagt, er müsse am nächsten Mittag den Zug nach Brüssel nehmen.
Na, dann haben Sie ja gar nicht viel Zeit füreinander. Da will ich Sie nicht länger aufhalten.
Natürlich, Schwester Veronika, haben Sie frei, bis Ihr Neffe wieder fährt. Ich werde Schwester Wally mit der Fürsorge beauftragen. Und Ihnen wünsche ich jetzt schöne Stunden mit Ihrer Tante.
Halt, ruft sie, als sich beide erheben, ich hab da noch etwas für Sie. Sie zieht eine Schublade ihres Schreibtisches auf, entnimmt etwas und steckt ihm ihre geschlossene Linke kurz in die Manteltasche. Für unterwegs. Sie werden es brauchen, sagt sie, gibt ihm die Rechte und schiebt beide freundlich zur Tür hinaus.
Sie gehen hinauf in ihre Wohnung, die genau genommen aus einem Zimmer besteht, das sie mit einer spanischen Wand in einen Wohn- und einen Schlafteil getrennt hat.
Mein Georg, so eine Überraschung, sagt sie immer wieder.
Im Nu zaubert sie ein kleines Mittagessen, stellt Kartoffelsalat vor ihn hin, macht Würstchen warm auf ihrer kleinen Kochplatte, holt das Meißner aus dem Schrank und das gute Besteck, das Georg noch von früher kennt, schiebt einen Obstkorb mit Äpfeln, Apfelsinen und Bananen zu ihm hin und sagt: Iss, du hast seit heute Morgen bestimmt noch nichts gegessen. Und dann gehen wir in die Stadt.
Das sagt sie immer, wenn sie ihren Krankenhauskomplex verlässt, obgleich der nicht außerhalb der Stadt liegt.
Du wirst sehen wollen, was sich in den vielen Jahren, die du nicht herkommen durftest, alles verändert hat. Ich zeig dir das ICC, unser neues Kongresszentrum, fast so spektakulär wie damals die Interbau, du erinnerst dich, mit dem Corbusier-Haus und der Schwangeren Auster? Und dann gehen wir ins Café Kranzler. Und wenn du Lust hast, können wir uns noch die Uro-Waller-Ausstellung ansehen, moderne Kunst, die sie bei euch nie zeigen werden. Und heute Abend könnten wir ins Kino gehen. In einem Kino am Kurfürstendamm spielen sie einen Film über einen französischen Maler. Das wird dich interessieren. Wart mal, der heißt – sie denkt lange nach, – ich glaube mit B – nein, ich komm nicht auf seinen Namen.
Meine herrliche, unternehmungslustige und spontane Tante, so ganz anders als meine Mutter, dachte Georg, obgleich sie Zwillinge sind. Waren.
Eines aber wundert ihn. So unternehmungslustig sie auch ist, so wenig hat sich in ihrem Zimmer verändert. Alles deckt sich mit seiner Erinnerung. Das für den kleinen Raum viel zu große Heidebild mit der flirrenden Sommerluft über dem Sandweg, das Sofa darunter mit der genoppten Webdecke und den bayerischen Kissen, der kleine Kirschbaumtisch mit seinen nach außen gewölbten Beinen, die Meißner Flechtschale darauf, die immer mit Apfelsinen und Bananen gefüllt ist, soweit er denken kann. Selbst die winzige Kochnische weist keine Neuerungen auf. Auch der Milchkochtopf, den Georgs Eltern ihr einmal mitgegeben haben, lebt noch. Die geschwungene Deckenlampe mit den drei kerzenförmigen Glühbirnen, von denen eine aus Sparsamkeitsgründen immer locker gedreht sein muss. Der Kirschbaumschrank mit dem geschliffenen Glas in den Türen zeigt das gute Geschirr und die alten Porzellanfiguren, die er nicht in die Hand nehmen durfte. Nicht einmal ein neues Radio hat sie sich geleistet. In ihrer Schlafzimmerhälfte ist auch alles beim Alten geblieben. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, seine Tante Vero könnte gar kein eigenes Leben führen. Lebt sie vielleicht nur für ihre Familie im Osten, für Sophie, ihre Zwillingsschwester und Johannes, Georgs Vater, für die beiden Kinder und deren oft unbescheidene Wünsche? Kann ein Mensch sich selber so unwichtig werden, dass ihm keine eigenen Bedürfnisse mehr anzuspüren sind? Kann einem das eigene Zuhause so nebensächlich werden, dass man in zwanzig Jahren kein Möbelstück umstellt, nicht ein einziges neues Bild aufhängt, ja sogar den Zimmergeruch konserviert zu haben scheint? Selbst das kleine Transparent mit den sorgsam ausgeschnittenen Gänseblümchen, das er ihr, vielleicht als Achtjähriger, einmal gebastelt hat, hängt noch verblichen in ihrem Fenster.
Ein Anflug schlechten oder doch wenigstens aufgerührten Gewissens sucht ihn heim.
Darf ich bitte Ihre Fahrkarte sehen?
Neben Georg stand ein junger Mann und schaute freundlich und ohne Anzeichen von Ungeduld auf ihn herab. Er hatte ihn nicht kommen hören, so wie alles in diesem Zug gedämpft vonstattenging. Auch die Gespräche der Mitreisenden drangen nur wie ein durch Watte gefiltertes Brummen an sein Ohr. Damals, im Osten, schien es einem Schaffner Vergnügen zu bereiten, so unbarmherzig wie möglich die Reisenden aus Schlaf oder Gedankenwelt zu reißen. Die Fahrkarten, hörte man es schon vom Gang her. Öffnete er die Abteiltür, wiederholte er seine Aufforderung, obwohl die meisten Fahrgäste ihren Schein bereits in der Hand hielten. Wie angenehm diese verhaltene Variante, fand Georg.
Wie es bisher aussieht, werden Sie ihr Reiseziel pünktlich erreichen, sagte der Beamte. Achten Sie am besten auf die Durchsage.
Georg nickte.
Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Weiterreise. Damit reichte er die Fahrkarte zurück und verschwand so leise, wie er gekommen war.
Georg nahm seinen Erinnerungsfaden wieder auf.
Diese Schizophrenie! Du sitzt in einem Interzonenzug und fährst von Westberlin nach Westdeutschland, mitten durch die DDR. So ein Zug ist wie rollendes exterritoriales Gelände. Klar, wenn sie wollen, können sie dich auch hier noch rausholen. Aber der Zug hält ja, wenn nichts Besonderes vorliegt, erst wieder an der Grenze.
Georg sitzt zusammen mit einer jungen Frau im Abteil, die emsig strickt und dabei aus dem Fenster schaut. Manchmal wirft sie einen neugierigen Blick zu ihm hinüber, aber sie sagt nichts. Georg holt das Buch aus dem kleinen Koffer, das ihm eine Westberliner Kollegin, zusammen mit der neuesten Nummer des SPIEGEL, mitgegeben hat, als sie ihn auf dem Bahnhof abpasst.
Tolles Buch, musst du lesen, sagt sie. Ist eben erschienen. Bei euch wird das nie rauskommen, dazu ist es zu heiß.
Collin, steht auf dem Deckel. Stefan Heym. Er liest den Klappentext. Seine Ohren beginnen zu glühen. Kann ich das hier einfach lesen? Ich sitze zwar in einem internationalen Reisezug, aber noch befinde ich mich im Osten, wo das Buch garantiert verboten ist. Wenn jetzt einer von den DDR-Grenzern ins Abteil käme, was wäre ich dann? DDR-Bürger auf DDR-Territorium, wo das Buch bestimmt nicht gelesen werden darf? Reisekader auf dem Weg in den Westen, wo das Buch herumliegt, lesbar auch für mich? Für eine Woche aus der gesellschaftlichen Haftung für staatsfeindliche Umtriebe Entlassener? Und wenn die Frau gegenüber …?
Da spricht sie ihn an: Wie weit sind Sie schon mit Lesen?
Ich hab noch gar nicht angefangen, antwortet Georg.
Na, da machen Sie sich mal auf was gefasst. Ein wahnsinniges Buch, sag ich Ihnen. Ich hab’s grad gelesen. Glaubt man nicht, was die da drüben alles anstellen.
Sie meinen: bei uns drüben?, fragt Georg. Also hier. Wir sind ja noch in der DDR. Ach, Sie kommen aus dem Osten, will sie wissen.
Ja, sagt Georg und hält sich zurück.
Wieso dürfen Sie dann in den Westen fahren?
Ich habe die Genehmigung, an einer kirchlichen Tagung in Belgien teilzunehmen. So was geht?, fragt sie.
Georg nickt: Manchmal ja.
Mehr will sie nicht wissen. Sie wendet sich wieder ihrer Strickarbeit zu, und Georg beginnt zu lesen.
Irgendwann fragt sie ihn ganz unvermittelt: Sind Sie verheiratet?
Er bejaht.
Und warum tragen Sie keinen Ring?
Weil er nicht mehr passt, lacht Georg.
Blöde Ausrede, sagt sie und schaut ihn feindselig an. Seltsam, dass Männern, wenn sie zu einer Tagung fahren, immer der Ring nicht mehr passt.
Quatsch, sagt er. Meine Frau trägt auch keinen mehr.
Ja, ja, murmelt sie und wendet sich wieder ab.
Für einen Moment glaubt Georg, soeben sei der Magdeburger Dom vorbeigehuscht. Er liest weiter und nimmt sich vor, sein Gegenüber mit Ignoranz zu strafen.
Und dann verpasst er doch, rechtzeitig sein Buch im Koffer zu verstecken. Die Tür wird aufgerissen. Zwei Männer, grünlich graue Uniform mit grünem Ärmelband, die Hose im Stiefel, verlangen die Papiere. Georg klappt das Buch zu und legt es neben sich in die Fensterecke, aufs Gesicht natürlich. Er spürt, wie er rot wird. Als er dem einen seinen Pass reicht, schaut der andere unter die Sitzbänke und fragt nach dem Gepäck. Die junge Frau muss kurz aufstehen. Ihr Strickzeug fällt einem der Grenzer vor die Füße. Sie bückt sich, um es aufzuheben. Dabei rutscht ihr weiter Pullover nach oben und legt ihren Rücken und die Rückseite ihres BHs frei. Die beiden schauen sich an und verziehen den Mund.
Wem gehört die Zeitschrift, fragt der eine, und zeigt auf das Gepäcknetz.
Georg fällt ein, dass er den SPIEGEL da abgelegt hat.
Er zuckt mit den Schultern. Und da ihn die Frau auch nicht für sich reklamiert, nimmt ihn einer der Grenzer mit. Kein Gruß. Die Tür knallt ins Schloss.
Na, fröhliche Lektüre, Genossen, denkt Georg. Bloß gut, dass auch ich ihn geschenkt bekommen habe.
Der Zug war zum Stehen gekommen. Tiefgraue Wolken hingen über dem Land. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Scheiben, die sich in irrenden Rinnsalen vereinten und wieder auseinanderflossen. Georg malte sich aus, welches Bild es ergäbe, zöge er deren nervös zuckende Zickzackbewegungen mit einem schwarzen Edding auf der Fensterinnenseite nach. Vor seinen Augen entstand ein Miró, ein Hartung, der sich zu einem Jackson Pollock entwickelte.
Eine Diesellok schleppte eine Kette von Tankwagen an seinem Fenster vorbei. Reflexartig zählte er die Spiegelbilder, die ihm jeder vorübergleitende Tank bescherte. Fünfunddreißig Mal Georg im Spiegel. Dann zog sein Zug langsam wieder an.
Er erinnert sich an die Schulklasse, die in Köln zusteigt, junge Damen allesamt, Abiturientinnen, wie sich herausstellt. Fünf von ihnen kommen in sein Abteil, das die Strickerin inzwischen verlassen hat. Die andern verteilen sich auf die Nachbarabteile. Man nimmt keine Notiz von ihm. Georg gewöhnt sich an den Krach und das ständige Auf- und Zurollen der Tür und liest weiter in seinem Collin.
An der Grenze zu Belgien wird er dann doch noch für die Damen interessant. Zwei Beamte öffnen das Abteil und bitten um die Reisepapiere. Die Damen machen sich über ihre Handtaschen her und ziehen ihre Personalausweise hervor. Als er seinen blauen Pass hinüberreicht, ist plötzlich Stille im Abteil. Erschrockene Blicke fliegen hin und her, erst recht, als einer der Beamten, der ein dickes Buch unter den Arm geklemmt hält, mit Georgs Pass aus dem Blickfeld verschwindet. Die Damen schauen, als glaubten sie, Augenzeugen der Überführung eines gesuchten Verbrechers zu werden. Amüsiert guckt indessen der andere in die Runde und reicht, nachdem sein Kollege wieder im Türrahmen erscheint, Georg den Pass zurück.
Gute Weiterreise, meine Damen, sagt er, und Ihnen auch.
Kaum ist die Tür geschlossen, fallen die Damen über Georg her, was das denn zu bedeuten habe.
Wieso haben Sie nicht so einen Ausweis wie wir?
Weil ich nicht von hier bin, antwortet er.
Woher sind Sie denn, wollen die Damen wissen.
Georg will es ihnen nicht so leicht machen und sagt nicht: aus der DDR. Er nennt auch nicht den Ort, in dem er wohnt, er sagt: Die nächstgrößere Stadt heißt Schwerin.
Schwerin? Schwerin? Wo liegt das? In Bayern?
Dann hätte ich so einen Ausweis wie Sie, sagt Georg und lässt sie weiter raten.
Schließlich fragt eine der Abiturientinnen, deren kleines, spitznasiges Gesicht aus einem wilden Lockengewühl, ähnlich einer aufgeplatzten Seegrasmatratze, hervorschaut: In Polen?
Er lächelt. Sie sind Abiturientinnen und haben noch nie etwas von Schwerin gehört? Es liegt gar nicht so weit von Hamburg weg. Dazwischen allerdings befindet sich eine scharfe Grenze. Ach in der Zone, bemerkt eine andere enttäuscht.
Zum Glück bleiben weitere Fragen nach Reisegrund und Reiseerlaubnis aus.
Georg gönnt sich einen Seitenblick in die offene Handtasche seiner Nachbarin. Wie immer, konstatiert er, Lippenstift, Taschentücher, Zigaretten, Portemonnaie, ein Stift … Er hätte Lust, darin zu kramen. Schon als Kind hat er die Taschen von zu Besuch weilenden Tanten mit Begeisterung durchstöbert. Meist fand sich etwas Außergewöhnliches, ein Talisman, ein besonderer Anhänger, Fotos, Papiere mit bedeutungsvollen oder geheimnisvollen Schriftzeichen, kleine Süßigkeiten, manchmal auch etwas, dessen Entdeckung peinliche Zwischenfälle ausgelöst hat.
Georg horchte auf. Er erkannte die leicht verfremdete Stimme des Schaffners wieder, die die bevorstehende Ankunft auf dem Hauptbahnhof der nächsten Stadt bekannt gab.
Als der Zug in die weite Halle einfuhr und die Türen geöffnet wurden, plärrten unverständliche Lautsprecheransagen in den Wagen hinein. Der Laptopmann von gegenüber hatte blitzschnell sein Gerät in einer Tasche verstaut und befand sich, während er sich mit einem Arm in seinen Mantel zwängte, bereits im Gang. Andere Insassen des Wagens drängten sich an den Ausgängen und schoben einander nach und nach auf den Bahnsteig. Neue Fahrgäste stiegen zu. Ein junger Mann mit Rucksack und einer schweren Tasche quetschte sich, nach links und rechts schauend und die Ziffern der Sitzplätze prüfend, an ihm vorbei, nicht ohne ihm in einer heftigen Wendung das Untergestell seines Rucksacks an den Kopf zu schlagen.
Danke auch, sagte Georg.
Sorry, hörte er es hinter sich.
Die Krümelfrau, jetzt Alleinerbin eines Viererabteils, begann sich auszubreiten. Sie legte ihr Buch ab, stellte eine Wasserflasche auf die Tischplatte und zerrte aus ihrer Tasche einen Spiralblock mit Kästchenpapier und einen dicken Kugelschreiber. Sie schaute zu ihm hinüber, lächelte zufrieden und begann mit ruhiger Hand, Seite um Seite vollzuschreiben.
Damals, inmitten dieses gackernden Harems, war an Schreiben nicht zu denken.
Aber dann, noch bevor der Zug in den Brüsseler Central-Bahnhof einfährt, stehen die Damen aus Köln in ihren Mänteln, die Frisuren gerichtet und das Handgepäck geschultert, im Gang. Nur die Seegrasmatratze schaut noch einmal ins Abteil zurück und hebt die Hand, ehe alle aus dem Zug stürzen und sich, auf dem Bahnsteig angekommen, in die Arme fallen, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen.
Georg weiß, der Zug fährt nicht weiter. Er nimmt sich Zeit, seine Sachen zusammenzusuchen. Die Apfelsinenschalen von Tante Veros Obstbeutel verschwinden im Behälter neben dem kleinen Klapptisch, der Collin in der Seitentasche seines Reiseköfferchens. Er schlingt seinen Schal um den Hals, fährt in seinen Mantel, setzt seine Mütze auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und schnappt sein Gepäck. Als er auf dem Bahnsteig steht, ist weit und breit kein Mensch zu sehen.
Reisen. Georg begann zu grübeln. Warum verlässt jemand den Ort, wo er alles zum Leben Nötige hat: ein Bett, in dem er gut schlafen kann, eine Küche, in der er sich zurechtfindet, ein Fenster, wo irgendwann am Tag die Sonne verweilt, den Ort, wo ihm Musik und Bücher griffbereit zur Verfügung stehen? Warum begibt sich jemand woandershin, wo es vielleicht viel zu heiß ist oder dauernd regnet, wo es viel zu laut zugeht, auch noch in fremder Sprache, wo man ein zu kurzes Bett vorfindet, seltsame Speisen verzehren muss und wo die Sehnsucht nach dem Vertrauten stündlich steigt?
Reise ich eigentlich aus Neugier? Oder ist es eher eine Sucht, die mich von Zeit zu Zeit die Koffer packen lässt?
Ariane spottete manchmal schon, es sei wohl wieder so weit, dass er Abstand suchen müsse. Vielleicht auch ein Reflex, nach vierzig Jahren Reiseeinschränkung, wobei ich ja schon zu denen gehöre, die bereits vor dem Mauerfall eine Ahnung von der Welt hinter der Grenze bekamen.
Mauerfall? Inzwischen zum irreführenden Terminus technicus wie Wende geworden. Als ob es sich um eine alte, brüchige Mauer gehandelt habe und nicht um eine tödlich-gefährliche Betonwand, mit Stacheldraht und Panzersperren und Hundelauf und Wachtürmen und Scheinwerfern und schießbereiten Patrouillen … So etwas fällt nicht einfach ein. Wenn es da nicht innerhalb des ummauerten Gebietes einen Aufstand gegeben hätte! Wollen Begriffe wie Mauerfall und Wende vergessen machen, dass wir eingesperrt waren und dass wir selber etwas für unsere Befreiung getan haben?
Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Da waren sich die propagandistisch geschulten SED-Funktionäre und der Verfasser des 37. Psalms einmal einig. Der Harz sei doch auch sehr schön, und man wandere dort auf den Spuren bedeutender Vordenker der sozialistischen Gesellschaft. Dass Goethe, Heine und viele andere den ganzen Harz bereisen, auf den Brocken wandern, Goslar und Bad Harzburg, was später zum Westen gehörte, besuchen konnten, blieb unerwähnt. Nein, wir hätten doch genug Abwechslung und Naturschönheiten im eigenen Lande: das Vogtland mit seiner hügeligen Weite, die Lausitz mit Bieleboh und Czorneboh, den Spreewald, der über Wasserstraßen verfüge wie Venedig, die Mecklenburger Seenplatte mit ihren Zeltplätzen, die Ostsee von Boltenhagen bis Usedom und den Fernsehturm in Berlin. Solle man das doch alles erst einmal richtig kennenlernen, ehe man in die Ferne strebe. Wer seine Heimat nicht kennt, ist überall ein Fremder.
Er erinnerte sich, manche getroffen zu haben, die das plausibel fanden.
Die alte Frau von Neuendorf auf Hiddensee fiel ihm ein, die der Pfarrer einmal gefragt hatte, ob sie denn in ihren 85 Jahren auch einmal verreist sei. Ja, hatte sie geantwortet, einmal. Und wo waren Sie da, wollte er wissen. In Kloster, sagte sie, dem keine acht Kilometer entfernten Dorf im Norden der Insel.
Wollten sie uns nicht so haben, so bedürfnislos? War es nicht gerade das, was ihn immer gestört und empört hatte? Dieser sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat war zu einer Insel in der Brandung feindlicher Mächte geschrumpft, zu denen spätestens seit 1980 auch Polen zu gehören schien, ab 1985 sogar die Sowjetunion. Bewegte man sich innerhalb dieses abgegrenzten Gebietes, und das möglichst vorschriftsmäßig, konnte man seinen kleinen Freiraum zur Welt erklären. Die Inselmentalität steckte an und entwickelte eine Art Schicksalsgemeinschaft: wir gegen die böse Welt. (Es gab Leute, die, obwohl sie nicht in der Partei waren, allen Ernstes behaupteten, Wojtyla sei einzig und allein zum Papst gewählt worden, damit er den Kommunismus besiege und Gorbatschow sei ein Lakai des amerikanischen Imperialismus und römischen Klerikalismus. Das klang nach Propagandafloskeln wie Volk ohne Raum oder jüdisch-bolschewistische Verschwörung, mit denen die Nazis gesunden Menschenverstand infizierten.)
Warum bin ich auf diese Art Propaganda nie hereingefallen, fragte sich Georg. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit bemächtigte sich seiner, nicht in einer Funktionärsfamilie aufgewachsen zu sein, sondern in einem Elternhaus, das eine weltbürgerliche Prägung besaß, wo außer den Grenzen des Anstands und der – allerdings nicht sehr weitherzig verstandenen – Zehn Gebote keine Grenzen Gültigkeit zu haben schienen, geistige schon gar nicht. Vielleicht, sagte er sich, bin ich auch durch die Chorreisen auf den Geschmack grenzüberschreitender Bedürfnisse gekommen.
Da hieß es irgendwann einmal, zurzeit werde eine Konzertreise nach Spanien vorbereitet. Madrid, Sevilla, Cordoba, Granada, Zaragoza, Barcelona waren Städte, mit denen er Bilder aus dem vielbändigen Lexikon seines Vaters verband. Nächtelang träumte er sich durch die großen Städte am Mittelmeer und im Landesinneren, durchstreifte endlose Apfelsinenhaine, besuchte den Prado und die Alhambra und erweckte zum Leben, was er gelesen hatte – bis zu dem grausamen Erwachen, als das ganze Vorhaben am Veto der ausschlaggebenden Genehmigungs- bzw. Verhinderungsbehörde der DDR scheiterte. Die Furcht, ein Teil der älteren Chormitglieder könnte sich unmittelbar vor der Rückreise heimlich absetzen, hatte wohl den Ausschlag gegeben. Etwas aber blieb zurück in ihm, ein sanft gewecktes Sehnen nach Süden und Sonne und Exotik, was alles zusammen Freiheit hieß, und nach grenzenloser Kunst, ein Sehnen, das nie mehr verschwinden sollte, das in seinem Unbewussten ankerte und sein Traumleben immer wieder kaleidoskopartig beflügelte – bis er 1980 zum ersten Mal das Mittelmeer sah, und das gleich sechs Stunden lang.
Georg seufzte in sich hinein. Wie viele mögen in diesen 40 Jahren der Selbstisolation von der Welt da draußen geträumt haben? Oder wäre es leichter zu fragen: wer nicht? Träumten nicht auch die, die von der bösen Welt jenseits der Grenzen sprachen und dieses manchmal lächerliche Ländchen bis aufs Blut verteidigen zu wollen vorgaben, träumten nicht auch sie manchmal von eben dieser verbotenen Welt und bissen im Traum, der ja der Kontrolle des Bewusstseins entzogen war, in die Frucht vom Baum der Erkenntnis, die ihnen von einer nackten Frau gereicht wurde, um dann schweißgebadet zu erwachen und einen Tag mit eingezogenem Schwanz herumzulaufen in der stillen Hoffnung, diese Untat würde den Göttern ihres kleinen Paradieses und seinen Racheengeln entgangen sein?
Er wollte nicht nur von Reisen träumen können, er wollte reisen können. Zum Beispiel mit dem Zug durch Europa, was heute ein Genuss wäre. Damals konnte Zug fahren eine Strafe sein. Aber nicht das Reisen um jeden Preis – heute würde man sagen für jeden Preis – glaubte er einfordern zu müssen, sondern die Freiheit dazu. Allein das Reisenkönnen würde vielen den Alltag in der DDR, über den die herrschende Partei ihre Ideologie wie das Netz eines Vogelstellers gebreitet hatte, das sie mehr und mehr zusammenzog, erträglicher machen. So blieb dem Gros der Sehnsüchtigen, die das letzte Risiko nicht eingehen wollten, nur die tägliche virtuelle Flucht in den Westen, seitdem der Empfang der gegnerischen Fernsehsender toleriert wurde.
Georg schaute auf und lächelte. Der Zug raste erneut durch ein Regengebiet. Das Wasser klatschte an die Scheiben und verwischte jede noch so dürftige Aussicht.
Wer sollte da nicht vom Mittelmeer träumen, seufzte er in sich hinein.
Aber da war noch etwas anderes, das ihn seit seiner ersten Westreise nach dem Mauerbau nicht mehr losgelassen hatte. Es war die Erfahrung der Außenansicht.
1981 kommt er ins Gespräch mit einem Dozenten der Technischen Universität in Dresden, der gerade von einem Kongress in Kopenhagen zurückgekehrt ist und sagt, jetzt könne er verstehen, warum die DDR-Führung die Leute nicht in westliche Länder fahren lasse. Keiner würde wiederkommen.
Wieso, fragt Georg zurück, Sie sind doch auch wiedergekommen?
Ja gut, sagt er, bei ihm sei das etwas anderes, er habe Familie und einen tollen Beruf und Haus und Garten.
Und Georg erwidert: Jeder hat etwas, das er nicht gern aufgeben würde. Die meisten haben Familie, Eltern oder Kinder, die sie nicht im Stich lassen wollen, oder gute Freunde, Sportkameraden oder Chorsänger, ihre Arbeitsstelle mitsamt den Kollegen und eine Wohnung, die sie sich nach ihrem Geschmack und von ihrem eigenen Vermögen eingerichtet haben. So etwas gibt man doch nicht einfach auf. Wer weiß, dass er jederzeit wieder reisen darf, kommt auch wieder zurück. Im Übrigen habe er in Belgien hinter all dem Glanz und Reichtum auch mitbekommen, wie manche Menschen um ihre Existenz kämpfen müssten. In einer grenzfreien Welt könne ja jeder selber entscheiden, ob er der Grundsicherung in der DDR den Vorzug geben wolle zu dem Preis von Mangelwirtschaft und geistiger Enge oder der westlichen Freiheit zum Preis sozialer Unsicherheit. Er glaube, die meisten kämen wieder. Der Dozent schüttelt heftig mit dem Kopf und zeiht ihn töricht und naiv. Wenn die DDR das zuließe, wäre sie bald nicht mehr die DDR.
Na und, sagt Georg.
Da bricht sein Gegenüber das Gespräch ab.
Das Lästige beim Reisen sind die Reisenden selber, beschloss er für sich, als er eben erneut von einem Rucksack getroffen wurde.
Danke, sagte Georg, Sie könnten etwas umsichtiger mit Ihrem Gepäck umgehen.
Der junge Mann wandte sich um: Sorry, tut mir leid.
Georg sah in zwei freundliche, unschuldige Kinderaugen in einem bärtigen Gesicht.
Während, nach kurzem Halt irgendwo, der Zug wieder anfuhr, schlief Georg ein.
Eine braunlederne Umhängetasche locker über die Schulter geworfen, betritt er in seinem schwarzen Cordanzug mit den Jeansknöpfen, schüchtern und neugierig zugleich, den Raum, in dem bereits die Tagungsteilnehmer und -teilnehmerinnen versammelt sind. Alle sind rot gekleidet, rote Hosen, rote Röcke, rote Sakkos, rote Blusen, rote Krawatten, rote Socken, rote Schuhe. Und alle schauen ihn an als wollten sie sagen, hier gehörst du nicht her. Einer ruft: Ist das der Heini aus der DDR! Georg geht unsicher zum Podium und erklärt der Tagungsleiterin – roter Pullover, rote Jeans, rote Socken, rote Hackenschuhe – sein Zug habe Verspätung gehabt. Sie wendet sich um und schaut ihm direkt ins Gesicht. Ach, du bist das, sagt sie und schüttelt den Kopf, wobei ihre sorgfältig gelegten Locken durcheinandergewirbelt werden. Ihre grünen Augen und ihr spöttischer roter Mund dagegen sagen etwas anderes, das er wie eine geheimnisvolle Einladung empfindet. Plötzlich verwandelt sich ihr Gesicht. Eine Frau mit chinesischen Gesichtszügen schaut ihn durchdringend an, die eben noch blonden Locken sind zu kurzen, strähnigen, pechschwarzen Fransen mutiert. Mit einem riesigen Pinsel tupft sie fremde Schriftzeichen auf ein Papier, reicht es ihm und sagt etwas, das wie Ming Xiahung klingt, es könnte aber auch Mao Zedong oder Deng Xiaoping heißen. Die Tür springt auf, und zwei chinesische Polizisten fragen ihn in unverfälschtem Sächsisch, ob er der Vogel aus der DDR sei. Als er bejaht, legen sie ihm Handschellen an und zerren ihn aus dem Raum. Im Hintergrund hört er die Tagungsteilnehmer begeistert auf die Tische trommeln. Draußen vor der Tür spricht der eine Polizist chinesisch, der andere übersetzt für ihn, und diesmal akzentfrei hochdeutsch, sie hätten den Auftrag, sein Herz der Parteiführung zu überbringen, aber es müsse noch warm sein und schlagen. Gäbe er ihnen die 100 D-Mark seiner Tante und die 100 der Oberin vom Krankenhaus dazu, würden sie ihn laufen lassen und ein Katzenherz abliefern. Er fasst in seine Innentaschen, findet aber nur Papiertaschentücher vor. Auch in seinen Hosentaschen – nichts als Papiertaschentücher. Bleiben noch die Außentaschen der Jeansjacke, und auch da nichts als Papiertaschentücher. Er will laut aufschreien: Das kann nicht sein, man hat mich bestohlen …!
Er wachte auf, mit der rechten Hand in der Innentasche seiner Lederjacke kramend.
Suchen Sie etwas, fragte lächelnd die Krümelfrau über den Gang hinweg.
Ja, das heißt nein, das heißt doch, ich …
Sie müssen geträumt haben, sagte die Frau. Und eben haben Sie wie wild alle Ihre Taschen durchsucht, als ob Ihnen etwas verloren gegangen wäre. Blöder Traum?
Blöder Traum, bestätigte er, während er in der anderen Innentasche sein Portemonnaie fand, herauszog und prüfte, ob seine EC-Karte noch vorhanden sei. Lächelnd steckte er es zurück, schüttelte den Kopf und sagte zu ihr hinüber noch einmal: Wirklich, ein blöder Traum.
Ein elektronisches Klangzeichen, dem Gongschlag im Kino nicht unähnlich, kündigte eine Lautsprecheransage an. In wenigen Minuten erreiche der Zug den Bahnhof, den Georg als Zielbahnhof gelöst hatte. Man bedanke sich für das Vertrauen in die Deutsche Bahn, hoffe, alle seien mit dem Begleitservice zufrieden gewesen, man wünsche einen guten Aufenthalt und freue sich, wenn die Deutsche Bahn die Reisenden, die jetzt den Zug verließen, demnächst erneut an Bord begrüßen dürfe.
Georg grinste. Dieses Eisenbahntheater gab es damals bei uns nicht. Der mangelnde Komfort der Züge hätte es auch kaum gerechtfertigt. Aber von A nach B kam man auch ohne Zugbegleitservice, ohne den Reisesegen der Deutschen Bahn und ohne Anleihe aus dem Seefahrtsvokabular. Und wenn es sich um einen D-Zug handelte, konnte es damals sogar vorkommen, man fand einen respektablen Speisewagen vor mit einer Küche, in der noch richtig gekocht wurde.
Der Zug drosselte die Geschwindigkeit und kam wenig später zum Stehen. Die Krümelfrau steckte ihr Buch in die Tasche, erhob sich, zog sich eine lange Patchworkjacke aus verschiedenfarbigen Lederstreifen über und setzte sich eine blaurot geflammte Filzmütze so tief ins Gesicht, dass sie ihre Brille wieder richten musste. Sie fahren weiter, fragte die Krümelfrau.
Nein, sagte Georg, ich steige nur gern als Letzter aus.
Na denn tschüss, sagte sie und lächelte ihn an.
Er erwiderte den Gruß, fuhr in seine schwarze Lederjacke, legte sich den Schal um den Hals und setzte seine Leninmütze auf. Dann griff er seine Tasche und ging langsam zum Ausgang. Er verließ den Wagen so, dass er gerade noch den hereinstürmenden Neureisenden zuvorkam. Die große Bahnhofshalle sah sauberer aus als der Bahnhof in seiner Stadt. Elektrokarren fuhren surrend an ihm vorbei, ein Fahrrad, von einem jungen Mann geschoben, streifte ihn.
Sorry, wie immer. Eine Gruppe junger Leute stand heftig diskutierend beieinander, ehe sie wie ein Schwarm aufgeschreckter Tauben zu einem anderen Bahnsteig flog.
Er ging zum Haupteingang und hielt die Nase in die Luft. Syb, sein holländischer Freund, hatte ihm einmal gesagt, immer, wenn er neu in eine Stadt komme, erkunde er zuerst mit der Nase, wonach sie rieche. Das sei mitunter ein treffenderes Alleinstellungsmerkmal als der Blick auf den Bahnhofsvorplatz oder ein hoher Kirchturm und helfe zugleich anzukommen. Er hatte diese Angewohnheit übernommen und inzwischen zu einer gewissen Perfektion gebracht.
Es roch, wie in jeder Stadt, zuerst nach Abgasen, vor allem Diesel. Dann aber tat sich ein anderer Geruch hervor, den er aus seiner Kindheit kannte. Er konnte ihn nicht identifizieren, war sich aber sicher, Wölkchen davon in seinem Geruchsgedächtnis gespeichert zu haben, etwas säuerlich und dumpf, aber durchaus angenehm. Es würde ihm sicher noch einfallen. Niemand erwartete ihn hier, zumindest nicht auf dem Bahnhof. Das war einmal anders, vor bald zehn Jahren.
Wenn er Katharina besucht, eine Journalistin, die er schon seit 1990 kennt, in die er sich aber sieben Jahre später verliebt, steht sie am Ende des Bahnsteigs und lächelt ihm mit kräftig geschminkten Lippen entgegen. Dann verlangsamt er seinen Schritt, dreht sich mehrfach um, schaut umher, als sähe er sie nicht. Dann stürzt er auf sie zu, lässt kurz vor ihr sein Gepäck fallen, breitet die Arme und fällt ihr um den Hals. Mehrfach dreht er sich mit ihr um die eigene Achse. So theatralisch die Geste auf Umstehende wirken muss, so sehr bringt sie doch seine wirkliche Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck. Dann folgen lange, saftige Küsse. Diese Lippen! Auch wenn sie beide danach ganz verschmiert aussehen und sich gegenseitig mit Papiertaschentüchern bearbeiten müssen, ehe sie sich ins Stadtgewimmel wagen, jedes Mal schlägt sein Herz dabei wie bei einem verletzten Vogel. Dann greift er nach seiner Tasche, nimmt sie in die linke Hand und legt den rechten Arm um ihre Taille, bis sie vor ihrer Tür stehen bleiben.
Die Jahre zuvor – Georg nimmt eine leitende Aufgabe in der Stadtverwaltung wahr – hat er hier oft dienstlich zu tun. Mitarbeiter der hiesigen Stadtverwaltung unterstützen den Aufbau der Selbstverwaltung in seiner Stadt. Auf diese Weise lernt er hier nach und nach alle namhaften Hotels kennen und weiß deren Annehmlichkeiten zu schätzen. An die fünfzehn Mal mag er schon hier gewesen sein, ohne Katharina zu begegnen. Er hätte auch nicht gewusst, wo er sie fände noch einen Anlass gehabt, sich bei ihr zu melden. Das heißt, einmal sieht er sie doch. Untergebracht im Hotel Drei Linden, schlendert er am Abend noch einmal zum Bahnhof, um sich die neue ZEIT zu kaufen. Da steht sie, mitten im Weg, mit dem Rücken zu ihm und in inniger Umarmung mit einem Typen, den er der autonomen Szene zurechnen würde. Wenn ihm nicht eine ihrer typischen Kopfbewegungen verriete, dass sie es wirklich ist, würde er seiner Wahrnehmung misstrauen. Er schleicht sich seitwärts an den beiden vorbei. Als er aus dem Zeitungsladen wieder heraustritt, sind beide verschwunden. Später erzählt er ihr davon und erfährt, dass ihr damaliger Freund, ein grüner Stadtvertreter, sich damals endgültig verabschiedet hat. Sie habe nie wieder etwas von ihm gehört.