Читать книгу Hans im Glück oder Die Reise in den Westen - Christoph Kleemann - Страница 7
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ОглавлениеEr stand vor dem Tresen im Dom-Hotel.
Ich habe ein Zimmer bestellt auf den Namen Weber.
Ein Blick in den Computer.
Vier Nächte?
Vier Nächte.
Sie waren ja schon lange nicht mehr bei uns. Es hat sich nicht viel geändert. Die Frühstückszeit wie immer von sieben bis zehn. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt. Zimmer 42 haben wir für Sie reserviert.
Damit reichte die Dame, dezenter geschminkt als Katharina, die Zimmerkarte herüber.
In seinem Zimmer blickte er einmal rundherum, registrierte das edle Mobiliar und die beiden Stiche aus dem 19. Jahrhundert, die Minibar und die digitale Begrüßung auf dem Bildschirm, den weichen, moosgrünen Teppichboden und die indirekte Beleuchtung über der Bettkante, warf einen Blick ins Bad und ließ sich, so wie er war, aufs Bett fallen. Angekommen!
Angekommen? Georg fiel wieder ins Grübeln. Bin ich schon einmal irgendwo angekommen? Bin ich nicht vielmehr eine Art Dauerreisender, immer unterwegs? Auf der Suche nach irgendetwas? Oder auf der Flucht vor etwas? Auf der Flucht vor jeder Art festen Gefüges, auf der Flucht vor fester Bindung, vor einer festen Ordnung, vor zu viel Alltag, vor verfestigten Ansichten? Muss man überhaupt irgendwo ankommen? Ist Ankommen nicht auch Stillstand und damit Ende, aus?
Er kannte so viele, die scheinbar angekommen sind und mit denen nichts mehr anzufangen war. Endstation Familie. Eingerichtet, abgeschottet. Suchte man jemanden unter den alten Weggefährten für eine Aufgabe, für eine zeitlich begrenzte Aktion, eine Arbeitsgruppe, einen Ausschuss – tut mir leid, mein Job, meine Kinder, mein Garten, mein Haus, meine Hüfte, mein Hund …
Ich will doch gar nicht ankommen, noch nicht. Und doch, im tiefsten Inneren, sehne ich mich schon danach, endlich einmal irgendwo anzukommen, einmal tiefe Geborgenheit zu erleben, zu irgendetwas mein zu sagen, eine Struktur zu haben, auf die ich mich verlassen kann. Ich komme mir vor wie ein Fisch, der, ständig auf Jagd nach Futter und selber als Futter gejagt, kurz auftaucht, um Luft zu schnappen und weiterzuschwimmen. Heute ist es diese, übermorgen eine andere, dann wieder meine Stadt oder mein Dorf. Und statt zu Hause einmal anzukommen, in meinem Dorf, wo ich seit Jahren wohne und wo mich kaum einer kennt, betrachte ich auch dieses immer nur als Zwischenstation. Aber zwischen was? Er legte sich auf die Seite und schlief ein.
Ein unbekanntes, nervendes Schnarren riss ihn aus einem flüchtigen Traum.
Hallo, hier ist Katharina, hörte er die geheimnisvoll rauchige Stimme. Ich wollte nur wissen, wann du morgen zu mir kommst. Ich würde dich zum Frühstück einladen, sagen wir halb zehn.
So spät?
Meinetwegen auch um neun. Aber früher bitte nicht.
Okay. Ich werde um neun bei dir klingeln. Bis dann.
So kurz wollte er gar nicht sein. Aber ihre Stimme rief in ihm ein Gefühl wach, dem er nicht nachgeben wollte. Der distanziertere Ton verlieh ihm mehr Sicherheit. Morgen müsste er auf der Hut sein.
Draußen war es dunkel geworden. Er zog sich eine andere Hose an, schlüpfte wieder in seine Lederjacke und rief ein Taxi. Er ließ sich zum Grater fahren, wo er ein freundliches Restaurant kannte.
Als er eine Viertelstunde später durch die Tür trat, stellte er beruhigt fest, nichts hatte sich geändert. Alles war so wie beim letzten Mal. Der Wirt begrüßte ihn freundlich, ohne dass abzulesen war, ob er ihn wiedererkannte. Erst als Georg in der hinteren Fensterecke, nahe dem Tresen, Platz nahm und der Wirt die Speisekarte brachte, sah er ein leises Flackern in seinen Augen, das ihn noch einmal besonders willkommen hieß.
Wieder einen doppelten Espresso als Erstes, fragte der Wirt. Damit war es klar.
Wie immer, antwortete Georg und musste lachen, als ihm der Wirt den Rücken wandte. Sechs oder sieben Jahre hatte er sich bestimmt nicht mehr hier blicken lassen.
Er schaute sich genauer im Raum um. Die dunkle Täfelung der Wände schien ihm noch dunkler, die Lautrecs darüber zahlreicher geworden und näher zusammengerückt. Das warme Licht aus den gläsernen, mattgelben Kelchen reichte gerade so aus, um noch lesen und schreiben zu können. Er zog aus seiner Jacke, die er über den Stuhl geworfen hatte, ein kleines Heftchen und einen winzigen, aber umso dickeren Kugelschreiber und notierte Ankommen. Das Stichwort wollte er in den nächsten Tagen noch einmal gedanklich durchkauen.
Zwei Tische weiter, aus einer Männerrunde, erscholl lautes Gelächter. Georg schaute hinüber. Sechs Männer, die meisten in dunklen Anzügen und weißen Hemden mit Krawatte, hoben ihre Weingläser und prosteten sich zu. Der Einzige, der kein weißes Hemd trug, drehte ihm den Rücken zu. Das Jackett hing über der Stuhllehne. Seine schwarzen Locken ließen in ihrer Mitte einen kleinen weißen Mond hervortreten. Er wandte sich um, sah in Georgs Ecke und drehte sich zurück. Im selben Moment wandte er sich blitzschnell noch einmal um und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Georg hin.
Georg? Bist du es?
Er sprang auf und kam an seinen Tisch. Georg stand auf und sagte: Carlo?
Na klar, was denkst du denn? Was machst du hier in unserer Stadt? Und dann auch noch in unserer Plaka?
Beide umarmten sich kurz, dann wurde Georg an den Nachbartisch entführt. Die anderen Herren erhoben sich der Reihe nach, indes Carlo ihnen Georg vorstellte: Das ist Georg Weber, einer der ganz wichtigen Leute aus der Stadt, in der wir Aufbauhilfe geleistet haben. Seinen Namen werden ja alle schon mal gehört haben. Er war sozusagen mein amtliches Gegenüber im Osten. Nimm bei uns Platz. Du bist natürlich mein Gast.
Dann schaute er in die Runde und erzählte, wie Georg das erste Mal hierher kam. Damals war er eben Stadtrat für Schule und Kultur geworden, durch den Runden Tisch.
Stellt euch vor, den alten SED-Stadtrat hatten die Revolutionäre fortgejagt. Das war – wann war das genau?
Anfang neunzig, sagte Georg.
Das war eine große Sache, fuhr Carlo fort. Der Georg musste ja die ganzen alten Mitarbeiter in seinem Ratsbereich übernehmen, die meisten SED.
Alle, warf Georg ein.
Und dann die Schuldirektoren und Kulturfunktionäre, kaum einer, der nicht der führenden Partei angehörte. Ihr könnt euch vorstellen, was für eine aussichtslose und doch irgendwie auch hoffnungsvolle Situation. Oder?
Na ja, du darfst nicht unterschlagen, dass mir zwei ausgesprochen kompetente Frauen zur Seite gestellt wurden. Die eine, eine erfahrene Pädagogin, wäre unter anderen Umständen selber Schuldirektorin oder Stadträtin geworden. Die andere eine ehemalige Dramaturgin vom Stadttheater, die aus politischen Gründen rausgeflogen war.
Aber trotzdem, sagte Carlo, wo hat es das schon gegeben! Das waren doch revolutionäre Vorgänge. So etwas kennen wir nur aus Büchern. Und du hattest doch keine Ahnung von Verwaltung, oder?
Keinen Schimmer, sagte Georg. Das bisschen, was ich von den Vorgängen in einem Rathaus verstand, verdanke ich der kurzen Zeit, die ich als Beobachter des Runden Tisches im Rathaus tätig war und den Sitzungen des Runden Tisches selber, wo alle wichtigen kulturpolitischen Entscheidungen diskutiert wurden.
Und haben die alten SED-Mitarbeiter Sie gelinkt, fragte einer der Männer, ein sehniger Typ mit hervorstehenden Backenknochen und einem Mund wie Udo Lindenberg.
Frieder Nauheim, erklärte Carlo, einer von uns.
Versucht haben sie es schon, sagte Georg. Aber einer in meinem Ressort, der erkannt hatte, dass die Zeit der führenden Partei abgelaufen ist, verhielt sich loyal und beriet mich gut. In einem vertraulichen Gespräch räumte er mir gegenüber ein, der Partei seien nicht nur schwere Fehler anzulasten, sie habe ihre Mitglieder geradezu charakterlich deformiert, indem sie jeden Ansatz von kritischem Mitdenken als parteischädigendes Verhalten denunziert habe. Herausgekommen sei eine ängstliche, angepasste und auf ihren kleinen Vorteil bedachte Gattung Mensch, mit der man eigentlich nichts mehr anfangen könne. Dieser Mann hat mir den Rücken freigehalten. Was sonst hinter meinem Rücken noch alles abgelaufen sein mag, werde ich wahrscheinlich nie erfahren.
Der Wirt nahm die Bestellung auf. Die Herren hatten sich auf Forelle geeinigt. Georg schloss sich ihnen an.
Und einen Weißen, sagte Carlo, für unseren Gast. Oder trinkst du lieber Roten? Georg bejahte.
Also noch eine Flasche von dem Roten bitte.
Und warum sind Sie nicht Stadtrat geblieben? Ein junger, straff gescheitelter Teilnehmer der Runde schaute ihn aus einem klugen Gesicht über den aufgestützten Ellenbogen herausfordernd an.
Das ist übrigens Faber Schmidt-Weirich, unser FDP-Vertreter im Kulturausschuss des Stadtparlaments.
Georg nickte ihm zu und sagte: Hätte ich mir denken können, gelbe Krawatte mit blauen Punkten, sozusagen Berufsbekleidung.
Sein Gegenüber griente: Da haben’s die Genossen von der SPD schwerer. Die müssen sich ihre rote Krawatte mit den Kommunisten teilen.
Die Herren lachten, und Carlo fügte hinzu: Bloß gut, dass wir uns nicht auf Farben festlegen lassen. Was sollte sonst unser Freund Heidenreich sagen. Der dürfte zu seinem Schwarzen ja nie die passende Krawatte tragen, um nicht den Eindruck zu vermitteln, die CDU trüge eben die deutsche Politik zu Grabe.
Der Angesprochene lachte ein bisschen zu heftig für den harmlosen Witz.
Aber nun zu Fabers Frage, nahm Carlo den Faden wieder auf und schaute Georg erwartungsvoll an.
Dass ich nicht Stadtrat geblieben bin, sagte Georg, hat einen ganz einfachen Grund: Es gab Wahlen, und ich gehörte keiner Partei an.
Und warum gehörten Sie keiner Partei an, bohrte der nach.
Ja, das werden die Herren wohl schwer nachvollziehen können. Ich bin in einem Staat herangewachsen, in dem es eigentlich nur eine Partei gab, die nicht nur die Macht, sondern auch die Wahrheit für sich beanspruchte. Die anderen zugelassenen Parteien führten ein Schattendasein, soweit sie sich nicht noch links von der SED zu profilieren versuchten. Für mich hat das Wort Partei vierzig Jahre lang einen unangenehmen Klang gehabt. Deshalb fand ich meine politische Heimat 1989 in den Bürgerbewegungen, vor allem im Neuen Forum. Freunde von mir sind sehr schnell in die frisch aus der Taufe gehobene SDP eingetreten, andere in die CDU oder Liberale Partei, als sich deren westliche Schwesterparteien um sie zu kümmern begannen. Ich fühlte mich am wohlsten unter den aktiven Parteilosen, die plötzlich – wie Pilze nach einem warmen Herbstregen aus der Erde schießen – von wer weiß woher bei uns auftauchten und mitmachen wollten, Menschen, die ich in unserer Stadt noch nie gesehen hatte und die so unverbraucht und ideenreich auftraten, dass es eine Freude war, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Da gab es keine Hierarchie und keine Ideologie, kein Postengerangel, kein – ach, vielleicht sollte ich hier lieber Schluss machen. Nicht dass sich jemand von Ihnen angegriffen fühlt.
Da musst du nicht bange sein, griff Carlo ein, wir arbeiten heute in unseren Parteien auch mit Parteilosen zusammen, wir haben sogar schon einen parteilosen Stadtrat durchgekriegt. Dass die dich damals nicht als Parteilosen übernommen haben, verstehe ich immer noch nicht. Na ja, sagte Georg, sie haben mir ja ein Angebot gemacht. Der SPD-Vorsitzende suchte mich heim …
Hört, hört, mischte sich Schmidt-Weirig ein, wenn die SPD kommt, ist es wie eine Heimsuchung!
… Pardon, fuhr Georg fort, ich meine, er suchte mich auf und erklärte, man wolle, dass ich das Amt fortführe, für die SPD sozusagen. Als ich nach der Bedingung fragte, wurde mir unmissverständlich nahegelegt, dann auch bald Parteimitglied zu werden. Und das genau konnte ich nicht versprechen.
Georg schaute in die Runde und gewann den Eindruck, er habe Grenzland betreten. Carlo überspielte die plötzliche Stille mit einem Themenwechsel: Du bist jetzt Lehrer, habe ich gehört?
Auch das ist Vergangenheit, sagte Georg. Ein paar Jahre habe ich mich mit Religion und Philosophie an einem Privatgymnasium durchgeschlagen. Inzwischen leite ich die Landesstelle für Dokumentation, Information und Erforschung von Widerstand und Opposition in den drei Nordbezirken der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, kurz LIEWO.
Sag bloß, warf Carlo ein. So etwas gibt es? Der Name ist ja fast so unaussprechlich wie die offizielle Bezeichnung der sogenannten Gauck-Behörde.
Georg nickte: Mit der arbeiten wir zwangsläufig auch eng zusammen.
Und was macht ihr da so, wollte Carlo wissen.
Das ist eine längere Geschichte, sagte Georg. Als ich den Auftrag erhielt, mit zwei Mitarbeiterinnen und mit bescheidensten Mitteln eine solche Stelle aufzubauen, saßen wir in einem kleinen Büro, besaßen drei Schreibtische, einen Computer und drei leere Wandregale und fingen an, Dokumente zu sammeln.
Das heißt? Carlo zeigte sich ehrlich interessiert.
Die Programme und Aufrufe der Bürgerbewegungen zum Beispiel oder Protokolle der Sprecherräte und Fachgruppen. Ebenso alle Dokumente von Friedens- und Umweltgruppen aus den frühen Achtzigerjahren, darunter auch Flugblätter, Offene Briefe und interne Informationen. Später haben wir die Sammlung auch auf alles ausgedehnt, was uns an Samisdat in die Finger kam, im Ormig-Verfahren vervielfältigte Gedichte und Texte, Satirisches und investigative Dokumente, vor allem zu ökologischen Fragen. Aber auch die Plakate und Transparente der Demonstranten aus dem Herbst 89 befinden sich bei uns. Inzwischen gehören auch Materialien der 1989 sich wandelnden alten Parteien sowie der neuen, also SDP und DSU zu unserem Bestand.
Die Männer am Tisch horchten auf.
Haben die denn alles freiwillig rausgerückt, meldete sich einer aus dem Kreis zu Wort, ein blasser Mittdreißiger mit Stoppelhaaren und Schnauzbart.
Werner Bächlein, stellte ihn Carlo vor, einer unserer jungen Wilden aus der SPD-Fraktion. Ich könnte mir vorstellen, fuhr der fort, dass sich manche schwer damit getan haben.
Georg berichtete von den Schwierigkeiten, auf die er dabei gestoßen war. Die einen hatten ein Privatarchiv angelegt und hüteten es wie ihren Augapfel. Andere gaben an, alles aus dieser Zeit in Kartons verstaut zu haben, an die sie in nächster Zeit nicht herankämen. Viele hatten alles, was an jene Zeit erinnerte, längst geschreddert. Es gab auch solche, die Geld dafür haben wollten. Nach einer Aufbauphase von zwei Jahren sei aber doch eine beachtliche Sammlung zustande gekommen, die seitdem ständig nach hinten erweitert werde, bis in die frühen Fünfzigerjahre hinein. Inzwischen fülle allein das Archiv Herbst 89 einen ganzen Raum, andere Räume der zu einem stattlichen Institut angewachsenen Landesstelle beherbergten Dokumente zum 17. Juni 1953 im Norden der DDR, Materialien zum Thema kirchlicher Widerstand, zu Streiks in volkseigenen Betrieben, Papiere aus den Arbeitskreisen der ehemaligen Bausoldaten und Totalverweigerer, Reaktionen auf den Prager Frühling und den Einmarsch 1968, auf die KSZE-Tagung in Helsinki, Papiere zur Ausreisebewegung und vieles mehr.
Und was machen Sie mit all den Dokumenten – Alfred Heidenreich, unterbrach ihn Carlo mit einem Seitenblick zu Georg, CDU-Fraktion, wie du ja inzwischen mitgekriegt hast –, gehören die nicht eher in Ihr Landesarchiv?
Irgendwann werden sie dort eingegliedert werden, antwortete Georg. Die Landesstelle ist eine temporäre Einrichtung. Unsere jetzige Aufgabe ist es, möglichst lückenlos den Widerstand in den ehemaligen Nordbezirken zu dokumentieren, die Öffentlichkeit darüber zu informieren – für mich heißt das vor allem viel Vortragsarbeit – und den Medien sowie der Zeitgeschichtsforschung die Materialien zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus arbeiten wir mit uns bekannten Privatarchiven zusammen und vermitteln Kontakte für Doktoranden. Carlo wollte wissen, ob Georg denn auch mit Stasi-Unterlagen zu tun habe.
Das sei Angelegenheit der Gauck-Behörde, erklärte Georg, die die Stasi-Archive verwalte und für die gesetzlichen Zwecke aufbereite. Es komme aber vor, dass Betroffene Kopien ihrer eingesehenen Unterlagen der Landesstelle zur Verfügung stellen. Dann würden diese in einer gesonderten Abteilung aufbewahrt.
Wozu das? Einer aus der Männerrunde, ein korpulenter, gemütvoller Typ, der das Gespräch bisher interessiert verfolgt hatte und immer vor sich hin lächelte, vermochte darin keinen Sinn zu sehen.
Georg berichtete, die Landesstelle könne etwas, was die Gauck-Behörde nach ihrem gesetzlichen Auftrag nicht leisten könne, sie führe und protokolliere Gespräche sowohl mit Betroffenen, die unter staatlicher Repression gelitten haben, als auch mit ehemaligen Parteifunktionären und hauptamtlichen Stasimitarbeitern, soweit die dazu bereit seien. Auf diese Weise sichere sie eine Fülle von Insiderwissen und Spezialkenntnissen, die der Zeitgeschichtsforschung zugutekämen. Gelegentlich komme es sogar vor, dass sich Opfer und Täter, er sage lieber Betroffene und Verantwortliche, im Beisein seiner Mitarbeiter zu einer Gegenüberstellung bzw. zum Gespräch bereitfänden. Er hoffe, auf diese Weise könne die Landesstelle einen kleinen Beitrag zur innergesellschaftlichen Versöhnung leisten, auch wenn das nicht ihr Hauptzweck sei.
Heidenreich nahm noch einmal das Wort und erklärte, nach seiner unmaßgeblichen Meinung würde es langsam Zeit, nach vorn zu blicken und diese DDR-Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Es gebe so viele Gegenwartsprobleme, die alle Kraft und Ressourcen erforderten, dass man sich so viel Rückwärtsgewandtheit bald nicht mehr leisten könne, zumal sie unnötig Steuergelder verschlinge.
Damit entfachte er einen heftigen Wortwechsel, bei dem bald nicht mehr auseinanderzuhalten war, wer welche Meinung vertrat, weil einer dem anderen ins Wort fiel. Georg, der solche Auffassungen kannte, hörte von Verantwortung der SED-Funktionäre reden, von Unrecht, das benannt werden müsse und von Unrecht, dass auch heute geschehe, von Untersuchungshaftanstalten der Stasi und von der verschleppten Aufarbeitung der Nazizeit. – Bei uns gibt es auch Geheimdienste, hörte er einen sagen. – Denk mal an Guillaume und Willy Brandt, gab einer zurück. – Warst du mal in Hohenschönhausen? – Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. – Absolute Freiheit gibt es so wenig wie völlige Gerechtigkeit. – Alles muss einmal ein Ende haben.
Stichworte prallten an Georgs Ohren: IMs … verdeckte Ermittler … Stolpe … Bautzen … KGB … Putin … Schröder … Gazprom … Mossad … Vatikan … OSA …
Forelle, die Herren, sagte der Wirt und ließ eine Platte nach der anderen von seinem Arm auf den Tisch gleiten. Eine weitere Ladung Forelle folgte.
Guten Appetit die Herren. Noch Getränke gewünscht?
Und während der Wirt mit der Bestellung abzog, breitete sich genüssliches Schmatzen aus. Egon, bring mal zwei Teller für die Knochen, rief Carlo. Der Wirt brachte zwei fischförmige Grätenteller und stellte erneut je eine Flasche weißen und roten Wein auf den Tisch.
Als das Gespräch wieder anhob, ging es um die bevorstehende Stadtvertretersitzung und den Umgang mit der Linken. Georg lehnte sich zurück, genoss den fruchtigen Wein und beobachtete die Gestik der Männer. Ab und an wandte sich Carlo zu ihm und fragte etwas. Wie geht’s deiner Frau? Was macht Bernhard? Bist du demnächst wieder mal hier? Wir sollten mal einen Abend ausmachen, wo wir Zeit füreinander haben, so wie damals.
Es mochte zehn sein, als Carlo unvermittelt aufsprang und sagte: Meine Herren, die Sitzung ist beendet.
Die Männer lächelten müde, kannten den Spruch wohl schon. Man verabschiedete sich freundlich.
Carlo fragte Georg: Wo wohnst du?
Dom-Hotel!
Gute Wahl, sagte er und im Hinausgehen: Man sieht sich.
Den Gruß an seine Frau und den Dank für die Einladung schien er schon nicht mehr zu hören. Für einen Moment setzte sich Georg noch einmal nieder, goss sich den Rest aus der Rotweinflasche ein und zog erneut sein kleines Heft aus der Tasche. Irgendetwas wollte er aufschreiben, einen Gedanken aus dem Gespräch. Aber er hatte ihn vergessen. Er steckte sein Heft wieder ein, zog seine Lederjacke an, wand sich den Schal um den Hals, nahm seine Mütze in die Hand und verabschiedete sich von dem Wirt.
Der Grater lag unter einem dünnen Nebelschleier, der von der Weihe herüberzog und die Lichter vor den Lokalen mit einem glitzernden Hof umgab. Dazwischen bewegten sich schemenhaft Gestalten, wie in einem Schattenspiel.
Im Hotel angekommen, griff sich Georg im Vorbeigehen seinen Zimmerschlüssel, den die Nachtdame bei seinem Erscheinen in der Windfangtür umsichtig auf den Tresen gelegt hatte, und begab sich zum Fahrstuhl, der gerade offen stand. Ihm schien, er habe soeben erst den Knopf gedrückt, als die Etagenanzeige auf vier stehen blieb und die Glastür, begleitet von einem Klingelzeichen, fast geräuschlos in der verspiegelten Seitenwand verschwand. Der dicke Teppichbelag auf dem Flur schluckte jeden Schritt. Auch mit harten Sohlen und gewollt festem Auftreten würde er sein Zimmer erreichen, als ob er schliche. Er steckte seine Karte in den Schlitz des Türaufsatzes, ein leises Klicken, der Drücker senkte sich unter seiner Hand und öffnete die Tür. Im gleichen Moment sprang das Licht in Flur und Schlafraum an. Wie sympathisch, dachte er, kein Tasten nach einem Schalter, eine gute Erfindung für ängstliche Menschen wie ihn, die im Dunkeln misstrauisch werden. Er legte Jacke und Mütze ab und lümmelte sich vor den Fernseher. Aber alle Programme schienen sich verabredet zu haben, ihn mit Langeweile zu strafen. Er entschied sich für das Bett, konnte dann aber doch lange nicht einschlafen.
Bilder tauchten auf, angeregt von seiner morgigen Begegnung.
Er wartet neben der Diesellok an der Treppe und sieht, wie sie sich mit einem riesigen Koffer aus dem Zug quält. Er will ihr zu Hilfe eilen, aber da steht sie schon auf dem Bahnsteig, entdeckt ihn und lacht ihm mit knallroten Lippen entgegen, dabei wischt sie sich mit einer theatralischen Geste den imaginären Schweiß von der Stirn. Jahrelang haben sie nichts voneinander gehört, allenfalls übereinander. Einmal kommt ein Foto: Katharina, auf der Treppe sitzend, neben einer blühenden Rose in ihrem kleinen verwilderten Gärtchen. Alles Gute zum Neuen Jahr! Er bedankt sich artig, aber den stillen Wink übersieht er. Dann eines Tages ein Anruf.
Hallo, Herr Weber, ich bin nächste Woche in Ihrer Stadt. Ich würde Sie gern mal wieder sehen. Mögen Sie?
Ja, er mag.
Wo werden Sie denn wohnen?
Ich habe mir ein Zimmer in der Westvorstadt gemietet. Vielleicht haben Sie ja Lust, mich vom Bahnhof abzuholen und da hinzufahren. Bei der Gelegenheit machen wir ein Treffen aus.
Nun steht er einer mehr als verlegenen Katharina Stein gegenüber, die mit einem Schwall von Nebensächlichkeiten ihre Aufregung wegzureden bemüht ist. In allem, was sie erzählt, findet er nichts, worauf er weiterführend reagieren könnte. Er nimmt sich des mächtigen Koffers an, zerrt ihn die Stufen herab und quält ihn auf der anderen Seite wieder hinauf. Sein Auto steht im Parkverbot direkt vor dem Bahnhof. Niemand nimmt Anstoß. Als er das Hauptgepäck in den Kofferraum gewuchtet und das übrige auf den Hintersitz geworfen hat und beide selber im Auto sitzen, schauen sie sich zum ersten Mal richtig in die Augen. Ihm stockt der Atem. Unter ihren dunklen Augenbrauen schauen ihn leuchtende, wasserblaue Augen wissend an. Er startet und bittet sie, sich anzuschnallen. Unterwegs macht er den Vorschlag, sie solle doch lediglich ihr Quartier inspizieren und ihren Koffer abstellen, dann wolle er sie gleich mit zu sich nehmen, wo er ein kleines Mittagessen vorbereitet habe. Sie ist einverstanden. An ihrem Quartier angekommen, besteht sie darauf, den Koffer allein ins Haus zu rollen. Er wartet im Wagen.
Nettes Zimmer, sagt sie, als sie wenige Minuten später wieder im Auto sitzt. Hier, das ist für Sie. Dabei reicht sie ihm ein Päckchen, das sich wie eine Pralinenschachtel anfühlt, in eine Art Packpapier gewickelt und mit einem Strick verschlossen. Neugierig schaut er sie an. Sie zuckt mit den Achseln.
Er öffnet die Wohnungstür und lässt sie als Erste eintreten. Wie in einen Tempel tritt sie über die Schwelle. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, als befürchte sie, auf etwas Heiliges zu treten. Ihr Blick wandert die Wand des langen Korridors mit den Bücherregalen entlang.
Wow, sagt sie. Das hätte ich nicht gedacht.
Dass es bei mir auch Bücher gibt, fragt er.
Nein, diese Ordnung! So müsste es bei mir einmal aussehen. Ich engagiere Sie für ein Wochenende zum Ordnen meiner Bibliothek.
Er willigt ein.
In der Küche stehen Pellkartoffeln und Spargel bereit. Beides hat sich auf der Platte und unter Folie einigermaßen warmgehalten. Aus dem Kühlschrank holt er den bereits auf einen Teller drapierten Schinken.
Oh, Spargel mit Schinken, das habe ich noch nie gegessen.
Sie werden sehen bzw. schmecken, wie gut das zueinanderpasst. Bei uns isst man das so. Sie können auch noch ein bisschen Hollandaise dazubekommen, allerdings nicht selbst gemacht.
Sie nimmt an seinem Küchentisch Platz und schaut sich ausgiebig um.
Hier gefällt es mir, sagt sie. Das viele Licht, der quadratische Raumschnitt, die Einrichtung – alles ganz nach meinem Geschmack. Und dann, als hätte sie sich zu weit vorgewagt, folgt eine etwas plumpe Einschränkung: Aber die postmoderne Wanduhr fällt für meine Begriffe etwas aus dem Rahmen.
So? Er schaut sie an. Sie weicht seinem Blick aus, greift zum Besteck und sagt, indem sie sich Kartoffeln auffüllt: Ich darf doch?
Sie essen schweigend, nur ab und an treffen sich ihre Blicke.
Und dann geschieht etwas Unerwartetes.
Ich schwitze, sagt sie, erhebt sich, fragt nach der Toilette und verschwindet. Als sie wieder heraustritt, scheint ihm, ihre Lippen seien soeben neu lackiert worden. Vor allem aber bemerkt er, dass durch ihre Bluse die Knospen ihrer Brüste deutlich hervorstechen.
Sie muss ihren Büstenhalter abgestreift haben, denkt er.
Sie nimmt wieder Platz und fragt provozierend: Und was gibt’s als Kompott?
Er steht auf und sagt: Ich bin auf alles vorbereitet.
Er will an ihr vorbei in die Kammer gehen, um sein letztes Glas Quitten zu holen.
Schlagsahne dafür steht bereits fertig im Kühlschrank. Da berührt er im Vorübergehen wie versehentlich mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckt zusammen und schaut zu ihm auf. Und dann geht alles in Sekundenschnelle. Sie erhebt sich und wölbt sich ihm entgegen, er nimmt ihren Kopf in die Hände und küsst sie auf Stirn und Wangen, dann auf den Mund. Sie öffnet ihre roten Lippen. Er dringt mit seiner Zunge in ihn ein und kämpft mit der ihren, indessen seine linke Hand ihre Brust ertastet und beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen. Ihre Hände wandern tiefer, fassen seinen Gürtel und zerren den Riemen aus der Schnalle. Er hört, wie sie den Reißverschluss nach unten zieht. Während er sie in Richtung seines Schlafzimmers schiebt, fallen Stück für Stück alle Sachen zu Boden, bis sich beide nackt auf sein Bett werfen und hitzig lieben. Sie stöhnt auf, lässt die Arme zur Seite sinken und schließt die Augen. Er sucht mit seinen Lippen ihre straffen Brüste und gleitet schließlich neben ihr aufs Laken. Wie lange sie so liegen bleiben, will er gar nicht wissen. Er nimmt nur wahr, dass es bereits zu dämmern beginnt, als sie erwachen und sich in ihrer Nacktheit gegenseitig betrachten. Sie juchzt auf, er lacht, und dann fällt sie über ihn her und lässt ihn so schnell nicht wieder los. Irgendwann sammeln sie ihre Garderobe wieder auf, die über den Gang verstreut liegt, und treffen sich im Bad wieder. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, machen sie sich fertig, steigen ins Auto und holen den Koffer aus dem Mietzimmer. Sie zahlt den Preis für die Woche, und er wuchtet noch einmal den riesigen Kasten in seinen Kofferraum. Diese Woche wird er ihr Gastgeber sein, was auch immer sie sonst noch im Schilde führt. Und sie scheint diese Lösung als die einzig denkbare zu betrachten. Es wird eine Flitterwoche ohne Hochzeit.
Den nächsten Tag fahren sie an die Ostsee und verbringen, nach seiner Erinnerung, den ganzen Tag am Strand, nahe des Gelben Moors. Früher galt der Platz als Geheimtipp für FKK-Bader, so geheim, dass sich die Reihe der hinter den Dünen lückenlos geparkten Autos über zwei Kilometer links und rechts des Schotterweges erstreckte. Nach dem Ende der DDR sorgt ein rühriger Stadtrat für konsequente Renaturierung im hinteren Strandbereich. Kein Auto kommt hier mehr hin. Stattdessen breiten sich über die Jahre hinweg wieder seltene Gräser und Sumpfpflanzen aus, sogar Orchideen sollen wieder zu finden sein. Der Anweg, der nun zu Fuß zurückgelegt werden muss, scheint den meisten Strandbesuchern zu beschwerlich. Während sich das Badevolk an anderen Stränden um zwei Quadratmeter Sand streitet, treffen sich am Gelben Moor nur vereinzelte Naturliebhaber und Tagesausflügler.
Sie sind allein am Strand – und es gibt den ersten Streit. Sie hat am Wasser einen Stein gefunden, den sie ihm überreicht.
Ist der nicht schön?
Na ja, sagt er, es geht, eigentlich nichts Besonderes.
Objektiv mag er recht haben. Diese Art Steine gibt es nahezu wie Sand am Meer, nur dass ihrer halt etwas größer ausfällt. Dass seine Besonderheit darin besteht, ihn von ihr geschenkt zu bekommen, versteht er nicht. Das kränkt sie. Ihm fällt ein, er hat ja noch nicht einmal ihr Geschenk ausgepackt, das sie ihm bei der Fahrt in seine Wohnung in die Hand drückte. Ein Gefühl von Scham meldet sich, das er nicht zulassen will und schnell wieder hinunterschluckt. Sie geht ein Stück allein hinter den Dünen entlang und bleibt lange für ihn unsichtbar. Als sie zurückkehrt, ist er eingeschlafen. Ihr Schatten weckt ihn auf.
Bist du öfter so ein Kotzbrocken, fragt sie.
Ja, sagt er. Und bist du öfter so schnell eingeschnappt?
Ja, sagt sie.
Einen Streit könnte man das eigentlich nicht nennen, wenn sich in den nächsten Wochen diese Szenen nicht wiederholten.
Nach dieser ersten Unstimmigkeit bewegen sie sich schnell wieder aufeinander zu. Friedlich, als wäre nichts geschehen, sitzen sie wenig später beieinander, essen ihren Picknickkorb leer, trinken Rotwein unter wolkenlosem Sommerhimmel und lieben sich. Später liegt sie schlafend und der Sonne abgewandt auf der Seite. Er sitzt hinter ihr im Sand und hält ihre Umrisse mit Zeichenkohle in einem Block fest, den er, außer seinem Notizbuch, manchmal bei sich führt. Was für ein Körper! Diese Frau möchte er in allen Lagen und Stellungen zeichnen.
Die Tage setzen sich auf ähnliche Weise fort. Theater und eine Bootsfahrt auf dem nahe gelegenen Brookensee, eine Wanderung in der Brookener Heide und ein Besuch des Klosters Melchen, ein Ausflug nach Litzenburg, das sie in Mecklenburg vermutet, obgleich es in Vorpommern liegt. Und immer wieder gibt es diese kleinen Störfeuer durch Unachtsamkeit. Die Kränkungen gehen jetzt tiefer, die Kommentare werden bissiger. Dazwischen Gespräche über Literatur und Politik, bei denen sie sich so nahe glauben, dass für Momente alles andere nebensächlich wird. Sie hat an ihr Geschenk nicht mehr gedacht. Er schnürt es am letzten Tag auf und findet in dem Papier eine Packung Sushi, die sich in den warmen Tagen zu einem stinkigen Brei verwandelt hat.
Eine lange Woche endet mit einem nötigen Abschied.
In den nächsten Monaten besuchen sie sich gegenseitig und telefonieren fast täglich miteinander.
Als er das erste Mal zu ihr kommt, findet er in der Tat eine Wohnung vor, die für einen Ordnungsfanatiker wie ihn eine Lebensaufgabe böte. Nicht weniger Zeit und Einsatz würde ihr kleiner Garten beanspruchen, wollte man diesen wieder begehbar oder gar genießbar machen. Nur ihre Küche lässt eine gewisse Grundordnung erkennen. Das tröstet ihn. Aber der nächste Streit lauert schon hinter den Türen ihrer Vorratsschränke. Als er nämlich den Frühstückstisch decken will, findet er fünf verschiedene Mischungen von Müsli vor, mit Dinkel und Gerstenflocken und Amaranth, dazu Trockenobst und jede Menge Kräutertees. Der Kühlschrank ergänzt die Tafel mit Bio-Joghurt, Ziegenkäse und Sojamilch. Statt Kirsch- oder Erdbeermarmelade stößt er auf Quittenmus mit Ingwer. Eier, Wurst und Schinken – Fehlanzeige. Seine hinterhältige Nachfrage, ob er auf einen Kaffee in ein Lokal gehen müsse, quittiert sie noch mit einem nachsichtigen Lächeln.
Als er aber sagt: Ihr Grünen ernährt euch wohl nur noch wie die Hühner, statt von Hühnern, wird sie scharf.
Und ihr Ossis habt euern Demokratiemangel wohl vierzig Jahre lang mit Schweinefleisch kompensiert? Das war doch das Einzige, wofür ihr vor 1989 mal auf die Straße gegangen seid, oder?
Frau Doktor haben Politik studiert, gibt er zurück. Dann müssten Frau Doktor wissen, dass es am 17. Juni 1953 nicht um Schweinefleisch, sondern um erhöhte Normen, mehr Demokratie und Abzug der Russen ging. Im Übrigen ist für Fleisch in der DDR niemand auf die Straße gegangen. Allerdings hat es immer mal Unruhe in den Betrieben gegeben, wenn über längere Zeit nur Dauerwurst im Angebot war oder im Gemüseladen nichts als Weiß- und Rotkohl.
Aber als euch der Bohnenkaffee gestrichen wurde, da gab’s doch ordentlich Zoff, wendet sie ein.
Das stimmt allerdings, sagt er. Zwar haben sie sich nicht getraut, den Bohnenkaffee gänzlich abzuschaffen. Aber die unerträgliche Mixtur aus Bohnenkaffee und Ersatzkaffee (bei uns sprach man von 50 Prozent Kaffeesatz mit 50 Prozent Kaffeeersatz) hat tatsächlich Massenproteste ausgelöst. Und wenn ich bei dir jetzt ebenfalls nur irgend so ein Surrogat angeboten bekomme, gehe auch ich auf die Straße bzw. über die Straße in die nächste Kneipe, eingeschnappte Wessifrau.
Sie kommt auf ihn zu, lacht und küsst ihn.
Ihr Ossis seid einfach zu blöd, in einer wohlgeordneten Küche einen Espressoautomaten zu erkennen. Espresso ist übrigens viel gesünder als dein Filterkaffee.
Warum sagst du das nicht gleich? Für einen Espresso lasse ich mich auch auf dein Hühnerfutter ein, brummt er und stellt die Biobutter, den Biohonig und das Bioerdnussmus auf den Tisch.
Aber Vegetarier seid ihr doch wohl alle, muss er sie noch einmal kitzeln.
Nein, schreit sie, sind wir nicht, ich jedenfalls nicht. Bei mir gibt es meistens Schinken – Biorinderschinken, unterbricht er sie.
– nein, Schweineschinken, luftgetrocknet. Aber der ist alle, verstehst du? Und die Eier auch. Später ist er es, der die Wessi-Ossi-Masche bedient. Sie unterhalten sich über die allgemeine Stimmung in der letzten Phase der DDR.
Hast du eigentlich irgendwann unter der Mangelwirtschaft eures Systems gelitten, fragt sie ihn.
Nein, antwortet er wahrheitsgemäß. Wir hatten zwar nie viel Geld und hätten es uns nie leisten können, die allgemeinen Versorgungsmängel über einen Einkauf in Delikat- und Exquisitläden auszugleichen. Aber wir hatten immer Westverbindungen. Kaffee z. B. haben wir nie kaufen müssen. Außerdem erhielten wir als kirchliche Mitarbeiter jährlich eine bestimmte Summe Westgeld, über die wir frei verfügen konnten.
Hat das euer Wirtschaftsboss – wie hieß er doch gleich? Stoph?
Mittag!
Mittag hieß der? Na gut, hat das der Mittag denn geduldet?
Also zum einen war der wahrscheinlich froh, dass eine ganze Menge Leute Westverbindungen hatte, weil das die DDR-Wirtschaft erheblich entlastete und manchmal auch kräftig Devisen ins Land schwemmte, über Genex und Intershop und so. Zum anderen, Frau Doktor, scheint mir das typisch Wessi zu sein, dass ihr nicht mal die Namen der Hauptgangster kennt, weil euch die DDR nicht wirklich interessiert hat. Bei euch wurde nur immer gefaselt von Wiedervereinigung und Schwestern und Brüdern im Osten. In Wahrheit ging euch der Alltag im Osten doch am Allerwertesten vorbei. Wenn du bei uns durchschnittlich gebildete Leute gefragt hättest, wer in der Bundesrepublik gerade Postminister ist, sie hätten es gewusst.
Sie schweigt. Dann sagt sie: Mag sein, dass du recht hast. Der Gedanke an eine Wiedervereinigung wurde ja vor allem von den Konservativen hochgehalten. An eine Realisierung hat weder von denen noch von der SPD einer geglaubt, fürchte ich. Aber Kurt Schumacher!
Ja, mein Gott, wann war das? Und was die Schwestern und Brüder angeht, sei mal ganz vorsichtig. In deiner Firma, ich meine in der Kirche, verbergen sich unter dieser familiären Floskel ja auch allerhand Unbarmherzigkeiten. Oder?
Jetzt schweigt er und denkt, wie recht sie hat.
Georg verließ sein Bett und goss sich ein Glas Wasser ein. Der Platz zwischen Bahnhof und Hotel lag in einem milchigen Licht, die Glaskörper der Laternen umgab ein neblig gelber Hof. Ein Taxi lag vor dem Bahnhofseingang auf Lauer. Sonst kein Mensch weit und breit. Georg legte sich wieder hin.
In die kurze Zeit ihrer Zuneigung fällt auch die Einladung des Bundespräsidenten zum letzten Sommerfest in Bonn. Georg fragt Katharina, ob sie mitkommen wolle. Na klar, sagt sie, an deiner Seite immer. Sie ahnt noch nicht, wie kurz dieses immer währen wird. Es ist ein warmer Sommerabend, als sie sich in die Schlange einreihen, die eine Schleuse zum Garten der Villa Hammerschmidt passieren muss. Man zeigt die Einladung, die zwei Damen mit einer Anmeldungsliste vergleichen, wird einer kleinen optischen Inspektion unterzogen und befindet sich in einem weiträumigen Gelände, das mit Bühnen und Partyzelten, Freiluftcafés und Ruheplätzen reichlich ausgestattet ist. Sie bleiben eng beieinander, um in dem unerwarteten Menschengewühl nicht verloren zu gehen. Je weiter sie aber in den Park hinein gelangen, desto mehr lichtet sich das Gelände von Besuchern. Er glaubt noch immer, der Bundespräsident werde sein Fest persönlich eröffnen, mit einer launigen Rede vielleicht, begleitet von einer musikalischen Darbietung, wenigstens mit einem persönlichen Willkommensgruß. Aber nichts dergleichen. Irgendwann bemerken sie, dass die Gäste sich bereits Tische und Bänke gesucht haben, um sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Sie stellen sich an einem Tresen an, lassen sich Kassler und Sauerkraut (Katharina: Kassler!) auffüllen und nehmen zwischen anderen sommerlich-festlich gekleideten Damen und Herren Platz. Es ist nicht schwer zu erraten, woher die meisten stammen. Ihr rheinischer Tonfall verrät, der bisherige Dienstort des Bundespräsidenten muss überproportional vertreten sein. Eine Weile hören sie schweigend dem Gespräch der anderen zu, die sich offenbar kennen.
Man wertet soeben mit vollem Mund und unter heftigem Geproste die deutsche Vereinigung aus. Wenn man gewusst hätte, was das alles kosten würde, hätte man besser Abstand davon genommen. Die Mauer habe doch auch ihr Gutes gehabt. Es habe einem ja an nichts gefehlt. An den Ostdeutschen am allerwenigsten, wirft ein molliger Typ ein, der gewiss als Ministerialdirigent oder so etwas seine Brötchen verdient.
Die Bemerkung löst Heiterkeit aus und stachelt offenbar zu weiteren Eskapaden an. Die kleinen Honeckers kämen ja jetzt alle her und wollten ihr Stück vom großen Kuchen. Hätten sie mal den eigenen nicht so lange anbrennen lassen. Lachen.
Man sieht ja, was die Ostdeutschen, die der Alte in die Politik gehievt hat, zuwege gebracht haben! Lachen. Ortleb, Pohl, de Maizière! Lachen. Und dann Krause! Lautes Lachen. Und sein Ziehkind Merkel!
Vorsicht, Vorsicht, die werden wir so schnell nicht wieder los, sagt einer in das Gelächter hinein. Für einen Moment ebbt das Lachen ab.
Also ich kenn auch einen, bemerkt einer der Herren, der mal eine Klasse übersprungen hat. Aber der war einfach gut in der Schule. Die Zonis wollen gleich vom KZ ins Paradies. Jetzt hält es Georg nicht länger. Entschuldigung, mischt er sich ein, ich bin auch so ein Zoni, lediglich dass ich nicht aus dem KZ komme und auch nicht ins Paradies geraten bin.
Katharina stößt ihn mit dem Knie an. Der Mollige funkelt ihn an, steht auf und holt sich neues Essen, andere schließen sich ihm an, kehren aber nicht an den Tisch zurück. Zwei Damen reagieren bestürzt. Nein, so sei das natürlich nicht gemeint gewesen. Sie wüssten schon, dass es auch im Osten anständige und fleißige Leute gäbe. Aber sie hätten doch den Eindruck, dass der Anschluss den Westen überfordere. Immerhin habe die Bundesrepublik auch ihre Probleme.
Zu der wir inzwischen seit einigen Jahren dazugehören, wirft Georg ein.
Natürlich, ja. Wo kommen Sie denn her.
Er nennt den Namen seiner Stadt.
Ach, das ist ja interessant. Liegt die nicht irgendwo im Norden?
Er bejaht und hat den Eindruck, beide Damen freuen sich ihrer vorzüglichen Geografiekenntnisse.
Dann entschuldigen sie sich, sie müssten leider noch an einer anderen Stelle des Parks Freunde abpassen. Die anderen folgen ihnen.
So ist das, wenn man mit der Tür ins Haus fällt, sagt Katharina, am Ende sitzt man alleine da.
Siehst du, und so ist das, wenn man sich alles gefallen lässt, sagt er, am Ende sitzt man alleine da. Er steht auf und lässt sie allein am Tisch zurück.
Nach wenigen Metern hat sie ihn wieder eingeholt und hängt sich an seinen Arm.
Mann, warum bist du nur so empfindlich?
Frau, warum bist du nur so unempfindlich, antwortet er. Damit ist das Thema abgetan.
Politiker, deren Namen sie aus der Zeitung, deren Gesicht sie aus dem Fernsehen kennen, laufen ihnen über den Weg, der Finanzminister und der Umweltminister, Parteivorsitzende und Fraktionssprecher, daneben Moderatoren und Schauspieler. Alles, was man so Persönlichkeiten nennt, scheint an diesem Abend Ausgang zu haben.
An einer Wegbiegung stoßen sie auf Petkau und seine Frau. Georg kennt beide aus oppositionellen Gruppen, die sich in den Achtzigerjahren innerhalb der Kirche gesammelt haben. Petkau ist ein ideenreicher und streitbarer Kopf, der vor Enthusiasmus schnell erglühen kann, aber ebenso schnell erkaltet. Was Georg an Spontaneität fehlt, fehlt Petkau an Kontinuität. Von daher hätten sich beide gut ergänzen können, aber eine Rivalität, die gelegentlich aufblitzt, treibt sie mit der Zeit auseinander.
Katharina kennt Petkau aus dem Herbst 89, wo sie ihn einmal interviewt hat. Als sie sich jetzt gegenüberstehen, entspinnt sich zwischen den beiden ein Dialog, der so auf Petkau zugeschnitten ist, dass sich Georg schnell überflüssig vorkommt. Ein einziges Mal versucht er sich einzumischen, wird aber von ihr barsch zum Schweigen gebracht, sodass er sich unbemerkt entfernt.
Viel später, es ist schon lange dunkel, findet sie ihn mehr zufällig im Kreis einer Gruppe Friedensbewegter aus DDR-Zeiten. Sie setzt sich leise dazu und tastet nach seiner Hand. Er tut, als bemerke er sie nicht. Nach einer Weile gibt er dem stillen Werben nach, rückt näher an sie heran und erklärt seinen Kollegen: Das ist Katharina.
Nachts im Hotelzimmer werden sie sich schnell wieder einig.
Habe ich eigentlich ihre Briefe noch? Er überlegte, wo er sie aufbewahrt haben könnte. Zwei, drei Monate lang gingen nahezu täglich Briefe hin und her.
Katharina tut etwas, was er zuvor noch nicht erlebt hat und was er selber nicht zu können glaubt: Sie liefert sich ihm aus. Binnen weniger Wochen erfährt er mehr über sie, als er je von sich preiszugeben bereit wäre. Sie gewährt ihm Einblicke in ihr Seelenleben, lässt ihn teilhaben an ihren Selbstzweifeln und vertraut ihm manches an, was Frauen üblicherweise nur Frauen mitteilen.
Georg freut sich zunächst über so viel Offenheit und versucht, seinerseits, sich vorsichtig zu öffnen, erzählt von seinen Ängsten und seiner Schwermut, gesteht auch einmal Irrtümer ein, die er früher nie zugegeben hätte. Aber sobald sie darauf eingeht, zieht er sich sofort wieder zurück, als handle es sich um ein Missverständnis. Er weiß nicht, was von ihm bleibt, wenn sich das Bild, das sich andere von ihm machen sollen, langsam auflöst. Er fürchtet eine Blöße, die an düstere Kindheitserlebnisse erinnert.
Mit sicherem Instinkt spürt sie seine Weigerung, mehr von sich preiszugeben. Doch je mehr sie ihn durch ihre beichtartigen Offenbarungen zu locken versucht, desto mehr verschließt er sich wieder. Katharina greift zu einem anderen Mittel: Sie bestätigt ihn, schreibt ihm, worum sie ihn beneide und was sie an ihm bewundere. Aber sie weckt damit Georgs Misstrauen. Als sie anfängt, Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen, fühlt sich Georg vereinnahmt und bremst mit vielen Argumenten ihre Fantasie. Noch einmal lehnt sie sich weit aus dem Fenster, als sie ihm ihre Liebe gesteht und behauptet, sich ihn aus ihrem Leben nicht mehr wegdenken zu wollen. Statt die Arme auszubreiten und sie aufzufangen, was seinem innersten Sehnen entspricht, lässt er sie los. Er hört sie förmlich aufs Pflaster aufschlagen. Aber er dreht sich nicht um und geht davon.
Ihr Brief endet: Mein lieber Georg, Du hast in mir etwas geweckt, das ich verschüttet glaubte. Seit ich Dich besser kenne, fange ich an, mich besser kennenzulernen. Ich weiß, und das habe ich noch keinem gesagt, ich liebe Dich. So wie Du bist. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben. Meine Ironie, die Dir manchmal zu schaffen macht, ist nur Ausdruck meiner tiefen Unsicherheit. Aber in Deiner Nähe wachse ich, werde ich sicherer und weicher. Ich will Dich nicht entzaubern, allenfalls verzaubern, wenn das geht, und das bis zu meinem Ende. Katharina
Sein Brief endet: So wenig, wie Pilatus wusste, was Wahrheit ist, weiß ich, was Liebe ist. Mir geht das alles zu schnell. Ich brauche eine Auszeit, ehe ich weiß, was ich wirklich brauche. Sei mir nicht böse. Georg.
Sie schreibt nicht wieder, ruft nicht wieder an.
Er auch nicht.
Als sie sich zwei Jahre später bei einem Podiumsgespräch zum Herbst 1989 in seiner Stadt wieder begegnen, verabreden sie sich in einem Café. Das Gespräch holpert so dahin. Sein Versuch, den Faden noch einmal aufzunehmen, misslingt. Sie wehrt ab: Lass sein. Am Abend sitzt er mit Teilnehmern des Podiums in einem Weinlokal. Irgendwann gesellt sich Katharina dazu, und er wundert sich, dass sie fast alle persönlich zu kennen scheint. Für sie ist er nur noch einer unter den anderen.
Das Handy klingelte bzw. sang eine programmierte Kunstmelodie. Ariane wollte wissen, ob er gut angekommen sei und was er bisher gemacht habe.
Und das mitten in der Nacht, fragte er.
Ich bin eben vom Kino zurückgekommen. Wir haben noch eine Weile in einer Kneipe gehockt.
Er erzählte von seiner Begegnung im Grater und erfand Grüße von Carlo. Weitere Einzelheiten wollte er auf den nächsten Abend verschoben wissen.
Dann schlief er doch noch ein.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, wo er sich befand, als ihn das Schnarren des Zimmertelefons aus flachen Morgenträumen riss. Mit halb geöffneten Augen tastete er nach dem Hörer. Ja?
Sie wollten geweckt werden. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Tag.
Danke, sagte er, aber da war der Hörer schon aufgelegt, oder es handelte sich um einen automatischen Weckruf. Mit einer Seitwärtsrolle drehte er sich aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Er kniff die Augen zusammen. Die Sonne stand genau auf seinem Fenster. Er reckte sich. Was für ein Morgen, jauchzte er. Warum nicht immer so. Er vergewisserte sich mit einem Blick auf die Armbanduhr, dass es tatsächlich eben acht gewesen war. Die Zeit würde ausreichen, sich in aller Ruhe fertig zu machen. Rasieren war erst in zwei Tagen wieder dran. Frühstücken würde er bei ihr. Also duschen, anziehen, Tasche greifen und los. Er könnte sich sogar noch einen kleinen Umweg leisten, um im Blumenkasten einen kleinen Strauß Teerosen zu ergattern. Oder würde sie das als anbiedernde Geste deuten? Dann eben Reformhaus, ein Glas Ghee ist vielleicht unverdächtiger.
Können Sie das ein bisschen nett einwickeln?
Wie bitte? Einwickeln? Sie meinen in Geschenkpapier? Nein, so etwas haben wir nicht, ist auch noch nie verlangt worden.
Dann eben jetzt zum ersten Mal, beharrte er.
Ich kann Ihnen nur einfaches Seidenpapier anbieten.
Gut, wenigstens das, sagte er. Vielleicht haben Sie noch ein Band, mit dem sie es zusammenbinden können.
Tut mir leid, ich habe nur Klebstreifen.
Während sie das Glas in Seidenpapier einschlug, schaute er sich im Laden um. Die Wohlgeordnetheit weithin farbloser Gegenstände passte zu dem matten Apothekengeruch. Reformhäusern haftet meist eine sterile Langeweile an, als läge über ihnen der Hauch eines lustfreien und biederen Gesundheitswahns, stellte er fest. Die blasse Dame, die ihn bediente, sah in ihrem grau-oliven Strickzeug aus, als gehöre sie zum Inventar. Ganz anders die Atmosphäre in den Bio-Läden, in denen er seit drei Jahren verkehrte. Hier pulsierte das Leben. Junge Mütter mit kleinen Kindern, auch Väter, Studenten, interessante Typen oft, Menschen, die nicht die Vitalität von Knäckebrot ausstrahlten, sondern bewusstes und befreites Dasein. Da gab es Sitzecken, wo man einen Espresso trinken oder ein Bio-Würstchen vertilgen konnte, pralle Obst- und Gemüsestände, eine Spielecke für die Kleinen, und die eben nicht in der Ecke.
Er stellte sich vor, er würde die Reformdame jetzt um einen Espresso bitten. Einen Espresso, würde sie sagen, wir führen nur Zichorienkaffee, und zubereiten müssen Sie sich den schon zu Hause.
Sie schob ihm ihr farbloses Ergebnis hinüber.
Er zahlte und sagte Ciao. Eine Antwort unterblieb.
Fünf nach neun öffnete Katharina, ungeschminkt, die Tür.
Hans Georg Weber, pünktlich wie immer, sagte sie, was Bewunderung und Ironie sein konnte.
Komm rein, leg ab. Du weißt ja, wie du in die Küche kommst. Ich geh schon vor.
Damit verschwand sie im Halbkeller. Er kam ihr die dunkle Treppe nach. Seine Augen mussten sich auf Zwielicht einstellen, kaum dass er die Küche betrat. Er schaute sich um, es hatte sich nichts verändert: Das Sandgrau des Küchenschrankes, der bis zu der niedrigen Decke reichte, war vielleicht weiter nachgedunkelt, das grüne Riffelglas in seinen Türen fiel stärker ins Auge, als ihm erinnerlich war, die Kacheln des Fußbodens hatten den Farbton von Klinkern angenommen, die grün gestrichene Stirnwand gegenüber dem einzigen Fenster zeigte über dem Herd dunkle Wrasenspuren. Das konnte auch alles schon so gewesen sein, als er das letzte Mal hier saß. Auch aus dem immer vollen Abwaschbecken quoll wieder das Geschirr der letzten Tage. Dann aber sahen seine überraschten Augen etwas, womit er bestimmt nicht gerechnet hätte. Auf dem für Katharinas Verhältnisse sorgfältig gedeckten Tisch mit einer etwas löcherigen grauweißen Decke, mit brennender Kerze und einem Strauß geschnittener Alpenveilchen, standen all die Dinge, derer er sich seit drei Jahren enthielt: Lachsschinken und fetter Camembert, Erdbeermarmelade und Griebenschmalz, Leberwurst und Weizenbrötchen. Er musste lachen.
Das hätte ich dir vielleicht vorher sagen müssen.
Was?
Dass ich inzwischen zum Bio-Freak mutiert bin.
Du?
Ja, ich. Ich habe seit Jahren immer mal Probleme im Oberbauch. Meine Hausärztin hat mir geraten, meine Ernährung umzustellen. Inzwischen ist das für mich ganz selbstverständlich. Ich habe mich schon auf deinen Bio-Frühstückstisch gefreut. Das tut mir jetzt leid.
Ja, allerdings, das ist doof, sagte sie. Es hat mich schon einige Überwindung gekostet, das Zeug zu kaufen. Aber ich habe neuerdings einen Studenten zur Untermiete. Ich glaube, bei dem werde ich das alles wieder los. Räumen wir’s also wieder weg.
Und damit begann sie, den Tisch von allem gesundheitsschädigenden Unrat zu befreien und alles zusammen in einer großen Dose im Kühlschrank zu verstecken. Dafür kamen jetzt die bei ihr üblichen Alternativen zum Vorschein: Ziegenkäse, Quittenmus, Tomaten-Pfeffer-Paste und Akazienhonig. Das Ghee, das er ihr mitgebracht hatte, durfte stehen bleiben.
Möchtest du vielleicht ein Ei, Bio natürlich.
Er bejahte.
Sieht doch auch ganz gut aus, sagte er und freute sich, als sie auch noch Dinkelbrötchen vom Vortag aus einer Tüte zauberte.
Sie schaute ihn lange an, ehe sie fragte: Wie geht es dir?
Danke, sagte er, außer diesen gelegentlichen Beschwerden im Oberbauch geht es mir ganz gut.
Du wolltest nicht, dass ich zu dir komme, obwohl ich ja eigentlich ein Anliegen hatte. Sollte ich deine Frau nicht kennenlernen?
Er überlegte einen Moment. Nein, ich glaube, dagegen hätte ich nichts. Ich vermute allerdings, dass ihr euch schwer anfreunden würdet, nicht, weil sie nicht von dir wüsste, auch nicht, weil sie von dir weiß, sondern weil sie in mancherlei Hinsicht so ähnlich ist wie du. Und wie, glaubst du zu wissen, bin ich?
Zumindest habe ich Erinnerungen daran, wie du warst oder, sagen wir es vorsichtiger, wie ich dich wahrgenommen habe.
Eben, unterstrich sie die Differenzierung, wahrgenommen. Aber lassen wir das. Warum wolltest du lieber zu mir kommen?
Weil ich ohnehin eine Reise hierher geplant hatte, die weitere Besuche beinhaltet.
Dienstlich?
Nein, eigentlich nicht, sagte er. Ich will hier meinen alten Schulfreund besuchen, aus meiner Dresdner Zeit, ins Colonni-Museum gehen – du erinnerst dich vielleicht an meinen Expressionismusspleen – und ein paar von euern herrlichen Antiquariaten durchstöbern. So, so, einen alten Schulfreund, bemerkte sie. Nicht vielleicht eine alte Schulfreundin? Und wenn schon, gab er zurück. Muss ich dir denn alles verraten? Erklär du mir lieber einmal, was genau du mit mir vorhast.
Gut, wir können ja, während wir essen, schon ein bisschen anfangen. Ich plane also ein Buch über die Wende in deiner Stadt. Und dafür brauche ich einiges an Hintergrundwissen, wofür ich dich um Mithilfe bitte.
Ach so, das soll also gar kein Interview werden, wie ich dich am Telefon verstand, eher soll ich dich mit Fakten spicken?
Na, so ist das nicht. Ich hab ja schon allerhand zusammen, habe alle möglichen Dokumentationen dazu gelesen, Zeitungsartikel gesammelt, Interviews mit Akteuren, Vorträge, auch deine natürlich. Aber manches erschließt sich mir nicht ganz.
Dann tu mir einen Gefallen, unterbrach er sie, und rede bitte nicht von Wende, auch in deinem Buch nicht. Das ist der unwürdigste und entstellendste Begriff für den Herbst 1989. Nicht nur, weil er angeblich von Egon Krenz für die Taschenspielertricks verwendet worden ist, mit denen die SED versucht hat, eine Verjüngungskur vorzutäuschen, um ihre Macht zu retten. Wende ist keine geeignete Bezeichnung für einen innergesellschaftlichen Prozess, in dem ein Volk erwacht und in kürzester Frist das Gesetz des Handelns an sich reißt.
O, das klingt sehr pathetisch, warf Katharina ein. War es denn so? Oder ist das eine nachträgliche Idealisierung? Du musst mir als Journalistin solche Fragen zugestehen. Ich höre nämlich jetzt immer die Rede von einer friedlichen Revolution, von der ich nicht weiß, ob es sie wirklich gab.
Etwas Revolutionäres wirst du den Vorgängen von 1989 doch nicht völlig absprechen wollen, entgegnete er.
Mag sein, dass auch Revolutionäres dabei war. Aber eine Revolution? Ihr habt die Mächtigen doch gar nicht vom Thron gestoßen. Ihr habt den Thron erzittern lassen, das ja. Aber die SED hatte Gelegenheit, sich unter Krenz und Modrow, wenn auch mit politischen Leichtgewichten, noch einmal neu zu generieren. Als Luther vor bald 500 Jahren gegen die Ablasspraxis zu Felde zog, hat auch keiner von Reformation gesprochen. Ich vermute, der Begriff wurde dem Ganzen erst viel später verpasst. Mir scheint es ein bisschen vorschnell, kaum, dass der Herbst 1989 in die deutsche Vereinigung gemündet ist, von einer friedlichen Revolution zu sprechen. Feiern sich da vielleicht die Akteure von damals selber und die Akteure der Einheit gleich mit?
Ich stimme dir sogar zu. Ich verwende den Begriff Revolution für das, was da passierte, auch nicht gern, zumal das Ergebnis, die deutsche Vereinigung, nichts davon erkennen lässt, dass sie das Kind einer Revolution ist.
Katharina sah ihn gespannt an.
Du erinnerst dich? Bonn 1995, oder war es 1996?
Katharina nickte: O ja, ich erinnere mich.
Trotz aller Demokratie hätte es ja auf westlicher Seite genügend Anlass gegeben, ebenfalls in sich zu gehen, alte Vorstellungen und Fehlentwicklungen über den Haufen zu werfen und Gesellschaftskritik zu üben.
Jetzt huschte ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht: Woran denkst du da?
An die föderale Bildungspolitik zum Beispiel mit ihren Verwerfungen und Ausgrenzungen, an die Mängel bei der Kinderbetreuung, die westliche Arroganz, die vergessen macht, wem der Westen die günstigeren Voraussetzungen für seine Entwicklung verdankt und mit der jetzt ostdeutsche Arbeitnehmer schlechtergestellt werden, als sei die mangelnde Produktivität der DDR eine östliche Charaktereigenschaft und nicht Ausdruck eines verfehlten staatlichen Wirtschaftssystems. Oder die sozialpolitische Überheblichkeit, mit der alle Strukturen der DDR erst einmal plattgemacht wurden, ehe man erkannte, dass manche von ihnen – befreite man sie aus den ideologischen Bandagen – durchaus zukunftsfähig gewesen wären. Das würde ich sogar im Blick auf das ostdeutsche Schulsystem und die Kinderbetreuung sagen. Also, ich bitte dich, empörte sie sich, das Schulsystem der DDR wäre doch nun wirklich das Letzte, was man als Beispiel anführen dürfte. Du hast dich doch selber immer über diese, wenn ich dich zitieren darf, ideologischen Spalierobstplantagen aufgeregt. Und eure Kitas? – Ich sage nur: Töpfchen!
Ja, ja, das Töpfchen. Daran macht ihr alles fest. Man, Katharina, ich bin doch kein Ignorant. Dass diese verdammte Ideologie das DDR-Volk mit der Zeit geistig eingeengt und vernebelt hat, steht für mich außer Frage. Natürlich musste die ideologische Klammer, die dieses Monstrum DDR notdürftig zusammengehalten hat, erst einmal zerbrochen werden. Aber dann wäre es doch dran gewesen, mit Sachverstand und vorurteilsfrei zu prüfen, was vielleicht wenigstens vom Ansatz her tragfähig wäre.
Die Kitas auch?
Auch die Kitas. Klar waren die Kindereinrichtungen ebenfalls ideologisch ausgerichtet, kommunistische Gedenktage, Vorgaben für Militärspielzeug, Tag der Volksarmee und so. Dieser ganze Mummenschanz aus der Erziehungsretorte von Frau Honecker gehörte auf den Müllhaufen der Geschichte. Was meinst du, warum wir unsere Kinder in keine Kindereinrichtung geschickt haben! Aber die Kitas als solche in Verruf zu bringen, um Jahre später festzustellen, dass Kitas unverzichtbar und vielleicht gar flächendeckend einzuführen seien, erinnert doch an die Bürger von Schilda.
Manchmal muss man eben etwas erst zerschlagen, weil es mit schlimmen Auswüchsen verbunden ist, ehe man es neu erstehen lassen kann.
Jetzt wirst du pathetisch, sagte er. Vielleicht gibt es das sogar. Aber ich wollte ja noch einen zweiten Punkt nennen, warum die deutsche Einheit mir kein Ergebnis einer Revolution zu sein scheint.
Weil ihr sie gar nicht wolltet, warf sie ein.
Er widersprach ihr. Das ist so nicht richtig. Ich glaube, die meisten wollten sie schon, nur nicht so schnell.
Wieso, wunderte sie sich. Wenn ich etwas will, bin ich doch froh, wenn ich es so schnell wie möglich erreiche. Oder?
Nicht unbedingt, gab er zu bedenken. Dann würden alle, die einen Gipfel erreichen wollen, nur noch mit der Seilbahn nach oben fahren. Wie viel glücklicher wird der auf dem Gipfel sein, der ihn aus eigener Kraft erklommen hat. Für den ist der Gipfel Krönung eines Erlebens, in das er sich mit seiner ganzen Person hineingegeben hat. Er ist gelaufen, geklettert, hat geschwitzt oder gefroren, ist vielleicht auch mal ausgerutscht, hat verweilt, wunderbare Aussichten und neue Blickwinkel kennengelernt, ist Menschen und Tieren begegnet, hat die Berge im Sonnenlicht und im Schatten gesehen, vielleicht abenteuerliche Übernachtungen auf sich genommen, Blasen an den Füßen bekommen, gejubelt und geflucht, nachgedacht über Leben und Tod.
Was für ein schönes Bild, schwärmte sie, Georg Weber, du bist ein halber Dichter.
Ja, ja, gab er zurück, ich weiß, aber eben nur ein halber. Ich wollte immer mal etwas ganz sein. Nur ehe du mich jetzt bemitleidest, lass mich das noch zu Ende bringen. Wir wollten damals die DDR demokratisieren. Ja, du hast richtig gehört: die DDR demokratisieren. Ich weiß, das klingt mehr als utopisch. Aber die Zeichen standen nicht schlecht. Die SED war mit ihrem Latein am Ende. Die Stasi entmachtet. Neuwahlen, die ersten richtigen, standen an. Ich hätte mir gewünscht, der Westen hätte geblockt und gesagt: Macht erst mal eure Hausaufgaben. Und dann lasst uns sehen, wie kompatibel wir sind. Wir unterstützen euch auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie und fördern eure Wirtschaft.
Du bist und bleibst ein Träumer, sagte sie. Du weißt doch selber, dass das nie gegangen wäre. Eure Wirtschaft lag am Boden, eure Städte sahen aus wie nach einem Krieg, die Russen waren im Land, die Führungselite war unbrauchbar geworden. Wie sollte das gehen?
Ich weiß, ich weiß, sagte Georg, stand auf und stellte seine Tasse unter den Espressoautomaten.
Er wandte sich zu Katharina um: Ich habe das immer wieder gehört, die Sterne, um es im Mystischen zu belassen, hätten für die deutsche Vereinigung vielleicht nie wieder so günstig gestanden. Ich habe da meine Zweifel. Das klingt eher wie die Schutzbehauptung derer, die es schnell hinter sich bringen wollten. Wie fertig die Wirtschaft war, darüber streiten sich noch heute die Fachleute. Wenn ihr die Treuhand nicht den Rest gegeben hätte, sondern eine ähnliche Instanz eine gezielte Privatisierung im Interesse einer noch bestehenden DDR vollzogen hätte, hätten vielleicht manche wirtschaftlichen und sozialen Folgen in Grenzen gehalten werden können.
Hätte, hätte, hätte! Politik hält sich an das Machbare, nicht das Wünschenswerte, warf sie ein. Georg drückte auf den Knopf und wartete das Geräusch des Mahlwerks ab, ehe er einlenkte: Okay, wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht ist das der Pfarrer in mir, der immer das bessere Menschsein erhofft. Angenommen, wir hätten – wieder hätten! – wir hätten die Chance gehabt, demokratische Strukturen in der DDR selber zu schaffen, das Bildungswesen selber zu entideologisieren, die vielen Aktiven des heißen Herbstes in politische Verantwortung einzubinden, wären wir da nicht ein Stück weiter in unserer Staatsbürgerlichkeit? So sind uns die Strukturen des Westens ungeprüft übergeholfen worden, die Westparteien haben die Ostparteien geschluckt, die Westfirmen haben das, was von Ostfirmen übrig war, gefressen, die Posten sind an die gefallen, die Posten brauchten und die Bürgerbewegten haben sich wieder in Nischen verkrochen.
Sie schaute ihn skeptisch an: Etwas zugespitzt, würde ich sagen.
Er nahm seine Tasse und kehrte an den Tisch zurück.
Mag sein. Aber all die Unarten, die auch in einer Demokratie ihre Chance bekommen wie Postenschacherei, wie soziale Kälte und Geldgier, haben sich so quasi strukturell mit implantieren lassen.
Er nahm einen Schluck und setzte die Tasse wieder ab.
Das also ist das andere, was mich daran zweifeln lässt, eine ostdeutsche Revolution habe zur deutschen Einheit geführt: das sichtbare Ergebnis. Haben wir denn irgendetwas bekommen, was auch nur den Ruch eines revolutionären Prozesses hat? Sind wir nicht einfach auf den bequemen und durchgesessenen Polstern der Wohlstandsgesellschaft gelandet, wo es ein klares Oben und Unten gibt und wo grundlegende und nötige gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit erstickt werden, in einer Freiheit, die nahezu alles toleriert und deshalb nichts mehr ernsthaft wagt?
Jetzt idealisierst du aber euern herbstlichen Aufbruch und dämonisierst den Westen, wandte Katharina ein.
Vielleicht, gab Georg zu. Aber 1989 ging es allein um die Gesellschaft, nicht um persönliches Fortkommen. Auch 1990 stand bei allen Entscheidungen im kommunalen Bereich das Gemeinwohl noch an erster Stelle. Heute scheint Politik vor allem der Durchsetzung von Partikularinteressen zu dienen. Stichwort: Lobbyismus. Aber ich sehe, wir verzetteln uns. Vielleicht solltest du jetzt lieber einmal dein Anliegen näher umreißen.
Sie schaute ihn nachdenklich an, dann nickte sie, stand auf, holte eine Mappe, aus der ein Berg beschriebener Zettel quoll, und nahm wieder auf ihrem zerschrammten Küchenstuhl Platz.
Mit einer Armbewegung wischte sie das Frühstücksgeschirr beiseite, packte die Mappe auf den Tisch und schlug sie auf. Typisch Katharina, dachte er, als er die kreuz und quer bekritzelten Seiten sah, assoziative Arbeitsweise. So könnte er nicht arbeiten. Bei ihm hatte alles seine Ordnung. Papiere wurden vollgeschrieben, nummeriert und einander zugeordnet. Dazu liebte er es, auf seine Schrift angesprochen zu werden, die so akkurat wie winzig war, dass eine handgeschriebene DIN-A-4-Seite etwa vier Maschinenseiten ergab. Katharina brauchte Stöße von Papier für einen einzigen Aufsatz, sammelte und notierte scheinbar orientierungslos Fakten, Gedanken und Zitate, skizzierte Grobentwürfe mit dicken Stiften auf große Bögen, von denen die Papierkörbe in ihrer Wohnung nahezu barsten, und kam dennoch zum guten Ende. So hatte sie ihre Doktorarbeit geschrieben, so waren inzwischen drei, vier zeitgeschichtliche Fachbücher entstanden, so würde sie auch dieses neue Vorhaben, dessen Zielrichtung er gleich erfahren sollte, bewältigen. Er dagegen hatte noch nie etwas zustande gebracht, das länger als fünf Seiten war: Vorworte, Grußadressen, kleinere Beiträge.
Katharina schlug die Beine übereinander, stellte ihren rechten Ellenbogen auf den Tisch, legte ihren Kopf schräg in ihre rechte Hand und schaute verstohlen zu ihm.
Los geht’s?
Mach’s nicht so spannend, sagte er.
Also, wie gesagt, ich schreibe ein Buch über den Herbst 1989 in den Städten des Nordostens. Ich will natürlich nicht wieder all die Fakten zusammentragen, die schon zehnmal veröffentlicht sind. Ich will etwas erzählen von euern Zielen, Hoffnungen, Erwartungen, die euch damals getrieben haben. Dabei interessieren mich weniger die Programme und Grundsatzerklärungen, die in deiner Landesstelle gesammelt werden, mehr die internen Debatten, die nicht protokollierten Positionen der einzelnen Protagonisten.
Du erwartest also, dass ich sozusagen unser Innenleben bloßlege, soweit ich mich überhaupt erinnern kann, warf er ein.
Du wirst dich doch wohl erinnern, was du damals dachtest und wolltest. Und von einigen anderen, denen wenigstens, mit denen du dich am meisten gestritten hast, auch.
Wieso glaubst du, dass ich mich mit anderen gestritten habe, fragte er.
Weil ich dich kenne?
Ach, guck mal an! Jetzt glaubst du, mich zu kennen?
Du hast es mir damals selber erzählt. Zum Beispiel, dass du zu denen gehörtest, die schon im Herbst 1989 die alten SED-Spitzenfunktionäre austauschen wollten. Oder dass du, als die Stasi entmachtet wurde, deren Akten lieber von einer Bürgerwache als von der Polizei schützen lassen wolltest.
Ja, das stimmt.
Gut, dann bleiben wir gleich an diesem Punkt: Bürgerwache. Wie hattet ihr euch das vorgestellt?
Die Polizei war gefügiges Organ der Staatsmacht.
Ist das nicht immer ihr Job, unterbrach sie ihn.
Ja, schon. Aber im Herbst 1989 machten sich manche von uns kurzzeitig Hoffnung, sie würde sich auf unsere Seite schlagen. Anlass dazu hätte es gegeben.
Nämlich?
Zum einen hatte die Polizei ziemlichen Rochus auf die Stasi, weil die sie die Drecksarbeit machen ließ: schön in Uniform Streife gehen, Stadien absichern, Fahrzeuge und Personen kontrollieren, Genehmigungen erteilen, vor allem verweigern, Hausbewohner ausfragen usw., während die Stasi in Zivil sich das herauspickte, was für sie operativ interessant war. Die Stasi spielte sich ja als eigenständiges Untersuchungsorgan auf und konnte jederzeit polizeiliche Aufgaben, selbst bei laufenden Ermittlungen, an sich ziehen. Der Dumme, vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung, war immer die Polizei.
Diogenes, flüsterte sie und schaute zur offenen Küchentür.
Er wandte sich um und erblickte eine langhaarige weiße Katze, die im Türrahmen stehen blieb und erstaunt zu ihm aufschaute, ehe sie, so lautlos, wie sie gekommen war, den Raum durchquerte und sich auf eine silberne Schale vor dem Spültisch zubewegte, auf der eine bräunliche Masse lag.
Diogenes heißt sie?
So hat sie mein Student getauft, als er das verschreckte Tier in einer Tonne fand und mitbrachte.
Dann tritt ihr mal nicht zu sehr in die Sonne, sagte er.
Heiße ich Alexander, fragte sie zurück und nahm den Faden ihres Gesprächs wieder auf: Und der andere Grund?
Weil die Polizei innerhalb ihrer eigenen Reihen eine Politische Abteilung besaß, die – wie die Stasi – mit geheimdienstlichen Methoden ermittelte und Inoffizielle Mitarbeiter führte, vor denen sich der einzelne Vopo auch nicht sicher fühlen konnte.
Ich verstehe, sagte Katharina. Dabei machte sie sich auf immer neuen Blättern mit fliegender Schrift Notizen. Das also war der Grund?
Daraus schlossen etliche von uns, fuhr er fort, die Polizei werde im Kampf gegen die Stasi nicht uns, sondern Partei für uns ergreifen.
Und? Wenn ich richtig gelesen habe, hat sie das ja auch gemacht.
Dem Anschein nach, ja. Aber nach den Prügelorgien von Dresden und Berlin konnte sich jeder denken, dass das eher ein taktisches Manöver zur Rettung der eigenen Haut war. Tatsächlich sind auch unter Polizeischutz noch immer Akten aus dem Stasi-Archiv verschwunden. Deshalb wünschten einige von uns, zu denen auch ich gehörte, eine aus Bürgerbewegten rekrutierte Wachmannschaft.
Bewaffnet?
Bewaffnet, allerdings. Es waren ja noch viele Waffen in Umlauf, von alten Stasi-Leuten und SED-Funktionären, die ab einer bestimmten Position über eine Pistole verfügten. Vor einer wehrlosen Wachmannschaft, fürchteten wir, würden sie keinen Respekt haben.
Und das du als alter Pazifist, fragte Katharina mit spöttischem Unterton.
Ich weiß, ich weiß. Viele von uns waren Pazifisten. Deshalb haben wir ja unsere Demonstrationen unter dem Motto Keine Gewalt durchgeführt, damit potenzielle Gewalttäter, von welcher Seite auch immer, nicht zum Zuge kämen.
Eine Wachmannschaft aus der Bürgerbewegung heraus wäre einem großen Zugeständnis gleichgekommen, für bekennende Pazifisten quasi ein Opfer zugunsten der historischen Wahrheit. Dieses Archiv musste, so wie es war, erhalten bleiben. Ich war fest davon überzeugt, der Polizei die sensiblen personenbezogenen Unterlagen anzuvertrauen, käme einer Aktenvernichtung à la Mielke gleich, nur mit anderem Etikett. Im Übrigen waren wir ja nicht alle Wehrdienstverweigerer. Die meisten von uns konnten mit einer Waffe umgehen, Gediente also, die erst die Volksarmee zu Pazifisten gemacht hatte.
Offensichtlich hat aber die polizeiliche Bewachung in den ersten Tagen und Nächten eine Aktenvernichtung im großen Stil verhindert. Kann man das so sagen?
Richtig, gab er zu. Heute bin ich froh, damals überstimmt worden zu sein. Wer weiß, falls es überhaupt dazu gekommen wäre, welche Überraschungen wir dann erlebt hätten. Wir waren uns ja auch nicht aller unserer Mitstreiter und Mitstreiterinnen sicher. Aber du wolltest ja von mit hören, worüber wir gestritten haben.
So ist es, sagte sie und verteilte weitere Notizzettel über den Tisch.
Dann ging es um die Frage der Absetzung alter SED-Funktionäre und eventuelle Interimsbesetzungen, um den Streit über die Kaderabteilungen in den Volkseigenen Betrieben, um die ersten Gespräche zwischen Volksarmee und Bürgerbewegungen, die umstritten blieben und um die Neutralisierung der Medien und Parteizeitungen sowie erneut um die Frage einer schnellen oder verzögerten Wiedervereinigung.
Katharina musste inzwischen bestimmt an die dreißig Blatt Papier mit Notizen versehen haben.
Mehrmals mahlte die Espressomaschine krachend und knirschend Bohnen und ergoss befreit grunzend ihr braunes Gebräu in Katharinas dünnwandige Goldrandtässchen, die so winzige Henkel haben, dass man sie von Puppentassen kaum unterscheiden kann.
Die Mittagszeit war schon lange vorüber. Er fühlte sich nicht müde, aber matt. Er mochte nicht mehr reden, nicht mehr nachdenken müssen. Er verspürte das Bedürfnis, eine Stunde an die Luft zu gehen. Sie wollte sich ihm anschließen, aber er lehnte ab. Er brauche eine Stunde für sich, sagte er. Sie quittierte diese Deutlichkeit mit dem ihm bekannten Blick, der Trotz und Kränkung vereinigte und dann eben nicht! zu sagen schien.
Er zog bereits seine Jacke an, wand sich den Schal um den Hals und nahm seinen Lenin vom Haken, in Erwartung eines neuen Angebots.
Da gab sie sich einen Ruck, schaute ihn an und erklärte mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete: Du gehst jetzt und machst, was du willst. Ich habe auch zu tun. Heute Abend, sagen wir 20 Uhr, hole ich dich vom Hotel ab und lade dich zum Abendessen ein. Mhm, machte er.
Ich verspreche dir auch, ich bringe meine Mappe nicht mit. Vielleicht erzählen wir uns ein bisschen von den anderen Dingen des Lebens.
Gut, sagte er. Du denkst dir ein Lokal aus?
Natürlich, sagte sie.
Als er die Stufen hinabsprang, hörte er die Haustür ins Schloss fallen.
Georg brauchte Abstand. Die physische Nähe zu Katharina weckte in ihm Gefühle, die er verloren glaubte. Es bestand wohl keine Gefahr einer erneuten inneren Annäherung, obwohl er auch das nicht völlig ausschließen konnte. Was er aber klarer als je zuvor wahrnahm, er war mit dieser Ost-West-Beziehung, die so abrupt und glanzlos geendet hatte, noch nicht ganz fertig. Dieselben Wechselbäder zwischen Faszination und Ernüchterung schienen ihn heimzusuchen, kaum dass er ihr Haus betrat. Gerüche, noch immer vertraut, Blicke durch halb geöffnete Türen, geheimnisvolle Winkel, der Teppich, auf dem sie ihn mit dem Larousse zu erschlagen versuchte, weil er behauptete, ihr Französisch höre sich chinesisch an. Immer wieder hatte er sie anschauen müssen, während vor seinem inneren Auge Bilder zu Leben erweckt wurden, die sein Unbewusstes sorgsam aufbewahrte. Ihr schmaler, weißer Hals, den er in jener Zeit wer weiß wie oft geküsst hatte und den er sich meist erst erobern musste. Nur selten gönnte sie ihm den freien Anblick dieses sanft aus den Schultern wachsenden Kelches, auf dem ein langer, schmaler Kopf ruhte, da sie ihr dunkelbraunes Haar meist offen trug. Heute hatte sie es nach hinten gebunden und mit mehreren Hornklammern festgesteckt. Er sah ihre weichen und seltsamerweise ungeschminkten Lippen, an deren kaum merklichen Verformungen er noch immer ablesen konnte, was in ihrem Kopf vor sich ging, ihre gerade Nase, deren Flügel leicht zu beben begannen, wenn sie sich aufregte, aber auch wenn sie etwas als lustig empfand, ihre wasserblauen Augen, die einen festnageln konnten, bis eine Frage endgültig geklärt war und ihr versöhnliches Grübchen in der linken Wange. Aber während er sie anschaute, sah er zugleich die zornige, die ungerechte und jeder Logik zuwider argumentierende, verletzende und verletzen wollende Katharina. Dann wurde der Mund zum Strich, die Nase zum Horn, die Augen stießen Blitze hervor und die Ohrläppchen glühten. Es kam ihm vor, als sei ihre Beziehung so stehen geblieben, wie sie endete. Weder seine Affäre mit Petra, der Nachtigall von Magdeburg, noch seine inzwischen in ruhigeres Fahrwasser geratene Beziehung mit Ariane, schien daran gerührt zu haben. Das erschreckte ihn.
Er schlug eine Straße ein, die zur Weihe führte. Die Häuser zu beiden Seiten standen in einer Front, und nur ein schmaler Bürgersteig trennte sie von der kaum befahrenen Straße. Niedrige Fenster luden ein, Blicke in fremde Wohnstuben zu werfen, soweit nicht Stores und knallige Kunstblumengestecke die Sicht versperrten. Ein alter Mann saß seitlich in einem Fensterwinkel, eine karierte Decke über den Schoß gebreitet, und schaute freundlich zur Straße hin. Georg hätte ihn gar nicht wahrgenommen, wenn ihm nicht eine winkende Hand hinter der Scheibe Bewegung signalisiert hätte, derer er sich erst bewusst wurde, als er bereits vorüber war.
Die Weihe floss ruhig dahin. Die nach dem letzten Hochwasser aufgeschütteten Dämme zeigten noch immer erst spärlichen Bewuchs zum Wasser hin. Georg folgte dem Verlauf des Flusses. Zwei Achter zerhackten mit zackigen Kommandos die Luft, als sie gegen den Strom an ihm vorüberrauschten. Eine Zille glitt still neben ihm her und schob gurgelnd ihre Bugwellen an den Fuß des Dammes. Ihr folgte mit leisem Tuckern eine weitere, auf deren Achterdeck Pfeife rauchend ein glatzköpfiger Mann am Steuer stand. Eine Frau hängte Wäsche auf die Leine, die von seinem Ruderstuhl bis achtern gespannt war. Auch eine Form, sein Fernweh zu stillen, dachte Georg, immer auf dem Wasser, von Basel nach Dordrecht oder von Riesa nach Hamburg oder von Passau nach Bratislava. Er stellte sich dieses scheinbar zwanglose Schippern auf Europas Wasserstraßen romantisch vor, obwohl die Beschwernisse des Schifferalltags nicht außerhalb seines Vorstellungsvermögens lagen. Natürlich würde es Lade- und Löschtermine geben, Frachtbriefe und anderen Bürokram, nervige Enge in der Kajüte, falls es eine solche überhaupt gäbe, schlechte Sicht bei Nebel und Regen, unruhige Nächte und Gefahren bei Flussengen, Niedrigwasser oder Eisgang. Aber der Blick vom Wasser auf die Landschaften müsste all das aufwiegen, Auen und Weinberge, Felsen und Burgen, Stadtbilder und unberührte Natur. Ganz noch in Gedanken hob er die Hand und winkte. Niemand winkte zurück. In der Ferne sah er Hemden auf einer unsichtbaren Leine flattern.
Solche Gedanken sind ihm nicht neu.
Er sitzt auf den Elbwiesen, den Blick zur Hofkirche und Brühlschen Terrasse gewandt, das Japanische Palais im Rücken. Die Sonne senkt sich eben über Friedrichstadt, als ihn mit dunklen, schweren Schlägen das Geläut der Kreuzkirche erfasst. Die vertraute Fremdheit der bronzenen Klänge bannt ihn an seinen Platz. Mit geringfügiger Verspätung gesellen sich die Glocken der Kathedrale hinzu, andere fallen ein; und als die Dreikönigskirche in seinem Rücken ihr Lied anstimmt, bebt sein Herz, und seine Arme, mit denen er die angewinkelten Beine umschließt, vibrieren. Muss dieses Tosen in den Lüften nicht auch einen Atheisten ergreifen, denkt er und weiß zugleich, dass im Rathaus darüber beraten wird, wie man das Kirchengeläut untersagen könne. Angeblich liegen hinreichend Beschwerden von Werktätigen vor, die sich dadurch gestört fühlen, weil sie in Schichten arbeiten oder Glockengeläut für ein Relikt aus Zeiten religiöser Volksverdummung halten.
In dem Moment tuckert eine Zille vorüber. Ein Mann auf Deck hält die Hände an die Ohren, als wolle er diese bombastische Begrüßung in sich speichern und mit nach Hamburg nehmen. Nimm mich mit in den Westen, ruft Georg: Nimm mich mit!
Er kann ihn nicht hören. Und es ist gut, dass auch kein anderer Georgs Ruf verstehen kann.
Polternd trieb eben ein rostiges Fass flussabwärts, schlug auf die Steine am Ufer, riss sich wieder los und krachte wenige Meter weiter erneut aufs Gestein. Georg stellte sich vor, eine Hand reckte sich aus dem Fass zum Ufer und eine knorrige Stimme riefe: Boätheite! Boätheite! Dann erschiene das greise Haupt des Diogenes am Tonnenrand und ängstliche Augen suchten den Horizont nach Hilfe ab. Und Georg würde hinzuspringen und rufen: Erchomai! Erchomai! Dann wäre sein Griechisch auch schon bald am Ende.
Er schaute noch einmal zum Fluss hinab. Das Fass war kopflos weiter getrieben. In der Ferne glaubte er die Türme von St. Severin in Nahstedt zu sehen. Er nahm den nächsten Weg zurück zur Stadtmitte und lief, wie er erst jetzt bemerkte, direkt auf den Dom zu. Schon von Weitem sah er die Markisen der Marktstände. Und noch etwas erkannte er, das ihn Schlimmstes befürchten ließ. Wenn er jetzt nicht in eine Seitengasse auswiche, geriete er direkt in die Falle. Eine dichte Menschenmauer verriet, neben dem Markttreiben würde auch Straßentheater anzutreffen sein. Georg liebte Straßentheater in jedweder Gestalt seit Kindertagen. Aber diese Liebe hatte sich in den letzten Jahren zu einer verhängnisvollen Wechselbeziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn er sich in den Kreis der Zuschauer einreihte, wurde ausgerechnet er in die Mitte gezerrt und zum Mitspiel genötigt. Die ersten Male fand er das noch amüsant, doch der kleine Kitzel verlor sich bald.
In Münchens Neuhauser Straße zum Beispiel muss er einem Wildfremden seine Umhängetasche anvertrauen, um, zusammen mit einer Zuschauerin, an einer kleinen Kriminalkomödie teilzunehmen, die ein muskulöser, schrill schreiender Amerikaner vorgibt. Auf seine knappen Anweisungen hin soll zuerst die Frau ihn, dann Georg sie und schließlich der Amerikaner Georg erschießen. Das Lustige daran ist weniger das Spiel als die Art, die einzelnen Schritte – amerikanisch-englisch natürlich – zu kommentieren. Die Lachsalven aus dem Publikum verraten ihm, der nur die Hälfte versteht, das Spiel kommt an – und – im Westen ist Englisch keine wirkliche Fremdsprache mehr. Am Ende jedenfalls liegen alle drei ohne zu atmen auf dem Asphalt, bis sie der Applaus wieder zu Leben erweckt. Georg freut sich über Münchens sprichwörtliche Sauberkeit; denn er trägt seine neue Hose und das neue Jackett erst den zweiten Tag. Und die Konferenz, die er heimlich besuchen will, beginnt erst morgen. Offiziell befindet er sich zum 75. Geburtstag seiner Tante Vero in Westberlin. Ein andermal muss er, in die Mitte gerufen, einem Jongleur, der auf seinem Einrad mit ständigem Vorwärts- und Rückwärtstreten sein Gleichgewicht zu halten sucht, erst zwei, dann eine dritte, dann eine vierte Keule zuwerfen. Dass Georg, als dieser ihm abschließend die Keulen zurückwirft, nicht eine einzige fängt, soll der allgemeinen Belustigung dienen, auf seine Kosten, wie er findet. Eine Frau in der ersten Reihe, in der einen Hand eine Bratwurst, in der anderen einen Bierbecher, lacht so laut und hässlich, dass sich Georg noch einmal bückt und ihr eine Keule zuwirft. Verblüfft, wie sie ist, lässt sie ihre Wurst und ihren Becher fallen, um die Keule zu fassen, was ihr ebenso wenig gelingt. Lächelnd bahnt sich Georg einen Weg durch die Zuschauer.
Nach dem Vorfall in Hamburg hält er sich bedeckt. Georg befindet sich auf einer Städtereise durch Norddeutschland, wie sie in den Neunzigern häufig angeboten werden. Mit einem Lehrerehepaar aus Stendal, das im Bus hinter ihm sitzt, kommt er in diesen Tagen viel ins Gespräch. In Hamburg schlendert er mit Urte und Karsten, so heißen sie, durch die Stadt. Dabei erzählt er ihnen von seinem Missgeschick mit Straßentheater. Belustigt und etwas ungläubig hören sie ihm zu, während sie zum Rathaus gelangen. Auf dem Vorplatz hat ein Jongleur mit diversen Utensilien eine kreisrunde Fläche markiert, um die sich ein Menschengürtel bildet. Alles starrt gebannt auf den jungen Mann, der, auf dem Einrad sitzend und mit den Beinen strampelnd, diesmal rote Bälle in die Luft wirft. Kaum sind sie herangetreten, hören sie eine krächzende Stimme: He, Sie, Sie da! Der Zeigefinger des Jongleurs richtet sich auf Georg. Kommen Sie doch bitte hier in den Kreis. Ich brauche einen tapferen Mann, der mir jetzt meine Fackeln zuwirft. Georg schaut flehentlich zu Karsten und bittet ihn statt seiner in die Mitte zu treten. Der aber lehnt ab. Da blickt Georg auf seine Uhr und ruft zurück: Tut mir leid, ich muss weiter. Die drei drehen ab und schlagen sich in eine Nebenstraße. Georg wischt sich den Schweiß von der Stirn. Unglaublich, sagt Urte. Der hatte genau wieder dich auf dem Kieker. Georg antwortet: Allmählich macht mir das Angst.
Georg verspürte eine unwiderstehliche Neugier in sich und trat von hinten an die Menschenmenge heran. Als er sah, dass es sich um fünf Frauen handelte, die in farbenprächtigen Leggins und eng anliegendem Regenbogendress artistische Figuren bildeten, sich ineinander verknoteten und wieder lösten, eine Brücke übereinander bauten und sich dabei gegeneinander drehten und schließlich einen Turm bildeten, bei dem die oberste einen Handstand auf den Schultern der mittleren vollführte, schlängelte er sich beruhigt in die zweite Reihe, um besser sehen zu können. Die Frauen lösten ihren Turm auf, die oberen sprangen zu Boden, alle fünf stellten sich nebeneinander auf und verneigten sich artig. Kaum war der Applaus verebbt, hörte er eine Frauenstimme: Junger Mann, würden Sie bitte einmal herkommen?
Georg wandte sich um, aber hinter ihm stand kein Mann.
Nein, Sie, rief die Frau, und zeigte auf ihn.
Da ergriff Georg die Flucht und stürzte davon. Nie wieder, schwor er sich, nie wieder würde er … Aber er kannte sich gut genug, um kein Gelübde abzulegen.
Als er um eine Ecke bog, sah er die gläserne Kuppel des Bahnhofs und wusste, gleich würde er sein Hotelzimmer erreicht haben. Er wollte nur noch Ruhe, Ruhe, sonst nichts.
Er legte sich auf sein Bett und versuchte abzuschalten. Aber wie meist, wenn er ein starkes Ruhebedürfnis verspürte, verfiel er ins Grübeln.
Buddhisten wird nachgesagt, sie könnten ihre Gedanken zum Stillstand bringen, bis nichts mehr denkt, nur noch Leere ist.
Wenn ich das doch jetzt könnte, stöhnte er.
Er nahm eine tiefe Unzufriedenheit in sich wahr, ohne diese begründen zu können. Jetzt läge er gern zu Hause in seinem bergenden Ledersessel.
Was will ich in dieser Stadt, die so viel Vergangenheit aufwirbelt? Musste ich hierher kommen? Hat es mich mehr gezogen oder getrieben? Es ist schon seltsam: Kaum bin ich daheim, wächst in mir ein unwiderstehliches Fernweh, ein Sehnen nach Fremdheit und Abenteuer, nach Leben in Anonymität und zugleich nach neuer, geheimnisvoller Kommunikation, nach fremden Gerüchen und Genüssen, nach fremden Betten und ziellosem Wandern, nach grenzenloser Freiheit. Und kaum bin ich unterwegs, erscheint mir mein Zuhause in einem verklärten Licht, sehne ich mich nach Geborgenheit und Vertrautheit, nach der Stimme Arianes und ihrer Haut, nach meinem Arbeitszimmer mit dem weiten Blick in den Garten, nach meinem Bett und meiner Staffelei, nach Mittagsruhe bei Amselgesang unter der großen Birke.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Als er erwachte, fühlte er sich, als habe er auf einem Nagelbrett gelegen. Draußen war es dunkel geworden. Der matte Schein der Straßenbeleuchtung zeichnete ein überdimensionales Fensterkreuz an die Zimmerdecke. Er stand auf und schlurfte zum Bad, wo er sich händeweise kaltes Wasser ins Gesicht schüttete. Als er in den Spiegel schaute, sah er ein besorgtes, zerknittertes Gesicht. Er rieb sich die Falten weg und wandte sich ab, ehe sie zurückkehrten. Dann straffte er sich, zog seine Jacke über und verließ das Zimmer.