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2.

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Da war er also tatsächlich gefahren. Johannnes hätte dies damals – es sollte noch lange hin sein bis zu der Nacht, in der er den Pfarrer abholte – niemals für möglich gehalten. Agnes dagegen war gleich anderer Meinung gewesen. »Paß auf, der Franz, der ist zu allem fähig, der fährt bis nach Berlin, um dir eins auszuwischen«, hatte sie schon früher einmal gesagt. Und jetzt hatte er es tatsächlich getan. Johannes mußte, wenn er ehrlich war, zugeben, daß er sich in seiner Haut alles andere als wohl fühlte. Er wußte doch nicht, was so ein gestandener Pg in seiner grenzenlosen Verbohrtheit alles gegen ihn vorbringen würde, und, was ihn fast krank machte, war, daß er nicht die geringste Möglichkeit hatte, sich zu wehren. Wie oft würde er noch morgens in den Stall gehen und nach dem Vieh sehen können? Sollte dies nun bald für immer vorbei sein? Immer wieder las man schließlich in der Zeitung von Verhaftungen und Absetzungen: Kommunisten, Sozialdemokraten und manchmal sogar Leute des Zentrums und frühere Bürgermeister von Westerwälder Städten wurden verhaftet, Leute, die wichtige Posten bei Behörden und Sparkassen hatten, mußten gehen, und es war noch gar nicht so lange her, da hatte sogar der Landrat seinen Hut nehmen müssen. Johannes hatte nur immer gedacht – und eigentlich tat er das auch jetzt noch – daß jemand wie er viel zu unbedeutend war, als daß er der Führung ein Dorn im Auge sein konnte: er war weder ein hohes Tier noch hatte er jemals irgendeiner Partei angehört.

Wenn Franz ihn nur offen herausgefordert hätte, dann, ja dann würde er es ihm schon gezeigt haben! So wie damals im Steinbruch, als sie gewettet hatten, wer von ihnen es schneller zum Kipper bringen würde! Natürlich hatte der viel kräftigere Johannes gewonnen, und Franz war dies wohl von Anfang an klar gewesen, denn statt sich mit dem Hammer anzustrengen, hatte er den Kampf mit Worten vorgezogen und den Konkurrenten angeschwärzt, wo er nur konnte. Vergeblich allerdings, es hatte ihm am Ende wenig eingebracht, denn die Vorarbeiter waren sich einig gewesen, daß im Steinbruch der körperliche Einsatz mehr galt als alles geschliffene Reden. Auf große Worte hatte sich Franz jedoch schon immer verstanden, und mittlerweile war wohl leider seine Zeit gekommen: Johannes hatte ein wenig gebraucht, um zu verstehen, daß heute nicht mehr das zählte, was ein Mann in sich hatte, sondern das, was er von sich gab. Nein, sie beide, Franz und er, waren nun wirklich nicht die alten Freunde, zwischen die die Partei einen Keil getrieben hatte: sie hatten sich noch nie gemocht. Dabei hatte sein Widersacher anfangs, als die Nazis gerade das Zepter übernommen hatten, noch versucht, ihn auf die Probe zu stellen, war mehrfach mit Beschwerden bei ihm aufgetaucht, um zu sehen, wie er reagierte. Das letzte Mal war noch gar nicht so lange her. »Johannes, jetzt mußt du aber endlich etwas gegen den Herz unternehmen.« Wichtig und ohne Aufforderung hatte Franz sich gesetzt und sich beschwert, daß der Revierförster Herz die Parteigenossen ganz klar benachteilige: Bei kirchlichen Anlässen, zum Beispiel an Fronleichnam, gebe er frisches Grün und Tannen heraus, die Veranstaltungen der Partei müßten dagegen mit dem Abfall von den Bäumen, fast vermoderten abgebrochenen Zweigen geschmückt werden! Johannes hatte nur in sich hinein gelacht, sich vorgenommen, daß er zum Förster von nun an besonders freundlich sein wollte, und knapp geantwortet, daß sich ein Ortsbürgermeister um wichtigere Dinge zu kümmern hätte als um Tannenzweige. Franz war wieder wütend gegangen, vielleicht, so war es Johannes noch durch den Kopf gegangen, als er die Tür einmal mehr laut ins Schloß fallen hörte, vielleicht tat der andere aber auch nur so aufgeregt, denn allmählich mußte er doch wissen, daß er mit seinen Anschuldigungen hier nicht landen konnte.

»Der Unterdörfer ist nach Berlin zum Führer gefahren, der Franz, du weißt doch«, – wieder war die Buckel-Anna aufgeregt zur Tür hereingekommen, aufgeregt nach Luft schnappend, »du weißt es doch, der will dich ins KZ bringen.« Johannnes hatte dagestanden, als ob ihn der Schlag getroffen hätte. Nur Agnes, seine wunderbare Agnes, behielt die Ruhe: »Da muß er uns erst mal was können«, meinte sie nur, und Johannes fiel gleich auf, daß sie »uns« gesagt hatte. Wieder einmal erinnerte ihn die kleine Frau, die ihm seit so vielen Jahren zur Seite stand, an seine Mutter, die damals, in der schlimmen Zeit, auch nicht die Flinte ins Korn geworfen hatte, und heute, wo er oft genug in der Versuchung war, den Bürgermeisterposten aufzugeben, genauso wie Agnes zu ihm reden würde: »Jetzt gerade nicht. Zu jedem anderen Zeitpunkt, aber jetzt nicht! Du hast schließlich nichts Unrechtes getan!«

Nein, er würde niemals die Flinte ins Korn werfen, freiwillig jedenfalls nicht: Wie immer, wenn er Dampf ablassen mußte, so stürzte sich Johannes auch jetzt in die Landwirtschaft. Nur hier konnte er halbwegs vergessen, und es war ihm, als lasse er die Sorgen, die ihn vor allem der Kinder wegen quälten, einfach in der Stube zurück. Aufs Feld wollte er fahren, mit den beiden Kühen, die er vor den Wagen mit dem gewaltigen Jauchefaß spannen würde. Er liebte diese Arbeit, liebte den Geruch, der seiner Meinung nach nur solche, die von der Landwirtschaft nichts verstanden, zum Rümpfen ihrer vornehmen Nasen bringen konnte, und er liebte es auch, wieder einmal seine neuartige Jaucheanlage bedienen zu können, die schließlich sein ganzer Stolz war.

Wie lange hatte er an dieser Erfindung gebastelt! Hatte sich des Nachts sein Hirn zermartert, nur um den anderen wieder einmal ein kleines Stückchen voraus zu sein. Doch es hatte sich gelohnt – niemand in der ganzen Gegend besaß heute eine vergleichbare Anlage, deren Fortschrittlichkeit im Grunde doch nur auf einer ganz einfachen Idee beruhte: Johannes hatte nämlich Mist- und Jaucheanlage nicht in die ebene Erde gebaut, sondern dazu einen Hang hinter seinem Haus ausgewählt. Ein großer Vorteil war dabei, daß er das natürliche Gefälle ausnutzen konnte, um sein Jauchefaß zu füllen: Während die anderen Bauern, die er kannte, allesamt ihre Fässer mit handbetriebenen Pumpen füllen mußten, brauchte er lediglich einen Ablauf zu öffnen und die wenigen Minuten abzuwarten, bis sein Faß vollgelaufen war. Die Erfindung hatte jedoch noch einen weiteren Pluspunkt, der nach Ansicht des stolzen Erbauers mindestens ebenso hoch einzuschätzen war wie der erste: Statt nämlich wie üblich den Mist oberhalb der Jauchegrube zu lagern, war Johannes umgekehrt vorgegangen und hatte aufgrund der Hanglage beide Gruben in Stufenform errichtet, wobei in diesem Fall die für die Jauche etwas höher zu liegen kam. Das hatte den enormen Vorteil, daß die Flüssigkeit, die den Höchstpegel überstieg, durch einen Überlauf auf den Mist abfließen und ihn dadurch besonders deftig machen konnte. Durch die versetzte Lage der beiden Gruben war aber trotzdem für freien Zugriff auf eine jede von ihnen gesorgt.

Wie sehr erfüllte ihn diese Erfindung mit Stolz, und wie gerne zeigte er sie jedem, der nur halbwegs sein Interesse an einer Besichtigung bekundete! Nein, ihm, Johannes, konnte man wirklich nicht vorwerfen, daß er sich den Aufgaben der Zukunft verschloß, er war schon immer für den Fortschritt gewesen – nur seinem Einsatz hatte es Kleeberg zu verdanken, daß es weit und breit die einzige Sähmaschine besaß und seine Bauern mittlerweile bereits auf zwei Ringelwalzen zurückgreifen konnten, die den Boden besonders kleinkrumig machten und damit beste Voraussetzungen für eine gute Ernte schafften!

Als Johannes heute jedoch an seinem Jauchefaß lehnte, ließ selbst das sonst so beruhigende Geräusch der plätschernden Jauche nur wenige solcher angenehmen Gedanken aufkommen: dann rieben, als sicheres Zeichen, daß er alles andere als ruhig war, plötzlich sogar die Finger seiner linken Hand aneinander, und mit einemmal war da wieder, wie ein Busch, der die ganze Zeit über lediglich vom Frühnebel verdeckt worden war, Franz in seinem Kopf, klar und deutlich war da Franz und immer wieder Franz, der vielleicht gerade in diesem Moment mit den großmäuligen Brüdern in Berlin redete.

Auch seinem Widersacher aus dem Steinbruch hatte er vor einiger Zeit die neue Anlage gezeigt, und hier, so mußte er sich im nachhinein eingestehen, war es eigentlich nur darum gegangen, ihn zu ärgern und neidisch zu machen. Er konnte sich das leisten, hatte er immer gedacht, was sollte der kleine untersetzte Mann mit dem verbissenen Gesichtsausdruck und dem für die kurzen Beine viel zu großen Schritt ihm auch schon anhaben können? Johannes hatte sich gründlich getäuscht. Seit die Nazis an der Macht waren, hatte offenbar ein jeder die Möglichkeit, sich wichtig zu tun, wenn nur sein Mundwerk groß genug war. Und daß Franz gerade diese Voraussetzung erfüllte, das hätte Johannes eigentlich wissen müssen. Aber er hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte nicht glauben können, daß ein Mensch ihn so sehr haßte! Nur Agnes, die kluge Agnes, hatte ihn immer wieder vor Franz gewarnt: »Paß auf Johannes«, hatte sie zu ihm gesagt, »der Franz, der führt nichts Gutes im Schilde, der wird die Gunst der Stunde jetzt nutzen!« Und so war es auch Agnes gewesen, die seinerzeit, als Johannes der Gemeinde angeblich mehrere Holzpfähle gestohlen haben sollte, gleich seinen alten Gegner dahinter vermutete. Denn Franz war in Kleeberg binnen kürzester Zeit zum Sprachrohr des Ortsgruppenleiters Vollmer geworden, der es Johannes niemals verzeihen würde, daß er nicht gleich wie die anderen Bürgermeister in die Partei eingetreten war. Johannes war ein weißer Fleck auf der braunen Weste von Vollmer, und diesen wegzuwaschen, war dem ehrgeizigen Pg darum jeder Anlaß recht. So auch die Geschichte mit den Holzstangen, die ihm, wie sich später herausstellte, tatsächlich Franz zugetragen hatte. Verschwiegen hatte der gute Mann dabei nur, daß Johannes, bevor er die Pfähle schlug, der Gemeinde die gleiche Anzahl von Holzstangen aus seinem eigenen Bestand geliehen hatte, was er sich nun vom Förster schriftlich bestätigen ließ. Ein andermal sollte Johannes einem der beiden Gastwirte im Ort genehmigt haben, während der nationalsozialistischen Kundgebung am 1. Mai einen Tanz zu organisieren. Sicher, wenn er ihn nur gefragt hätte, Johannes wäre wahrscheinlich der letzte gewesen, der sein Anliegen abgelehnt hätte: allmählich begann ihm nämlich das immer gleiche Spiel bereits Spaß zu machen, doch hatte der Mann leider niemals bei ihm vorgesprochen. Trotzdem aber hatten sie den Ortsgruppenleiter gemeinsam davon zu überzeugen, daß alles nur Lug und Trug war, wobei der die Wahrheit wahrscheinlich von Anfang an kannte.

Und gerade weil er ihm immer wieder zeigte, daß er ihn im Visier hatte, mußte Vollmer eigentlich auch wissen, daß Johannes niemals ein Blankopapier unterschreiben würde, so wie diese Lebensbescheinigung, mit der er angeblich einer lieben Nachbarin einen Gefallen hatte tun wollen. Wieder einmal steckte Franz hinter der Intrige, der, dieses Mal, um jemanden ins Feld zu führen, dem man mehr glauben würde als ihm selbst, behauptet hatte, der ehemalige Bürgermeister Schuster habe die Angelegenheit aufgedeckt. Falsch eingeschätzt hatte er dabei nur das Verhältnis zwischen Johannes und seinem Vorgänger: Schuster wie auch die Nachbarin bescheinigten gerne, daß alles erstunken und erlogen war – auf Wunsch von Johannes natürlich wieder in höchst offizieller und schriftlicher Form, denn seiner Ansicht nach zählten mündliche Worte wenig in einer Zeit, in der schon hergelaufene österreichische Handwerksburschen etwas zu sagen hatten. Franz hatte also schon wieder eine empfindliche Schlappe erlitten, und Johannes verstand zu wenig von Psychologie, um wie Agnes gleich zu begreifen, daß die Gefahr, die von seinem Erzfeind ausging, dadurch nicht kleiner geworden war. »Wie steht er nun da vor den anderen Pgs, vor Vollmer?« machte sie aus ihrer Sorge keinen Hehl, »Franz wird die Scharte, die du ihm beigebracht hast, irgendwie auszuwetzen versuchen!« Und Agnes war klar gewesen, daß er dies nur tun konnte mit einer Aktion, die sämtliche Niederlagen mit einem Schlag wegwischen würde. Daß er allerdings gleich nach Berlin fahren würde, daran hatte auch sie nicht gedacht, und Johannes, der wußte, daß er sich bei der Arbeit auf dem Feld heute mächtig ins Zeug zu legen hatte, um die immer größer werdende Besorgnis vielleicht doch noch zu verdrängen, durfte ihr deshalb keinen Vorwurf machen.

Zwei Tage später war Franz wieder da. Erzählte solchen, von denen er wußte, daß sie es Johannes wiedererzählen würden, er wäre zwar nicht beim Führer, dafür aber bei Göring gewesen. Johannes´ Zeit wäre jetzt abgelaufen, dafür hätte er endlich gesorgt. Schon bald käme er da hin, wo sie alle hinsteckten, die das Maul zu weit aufrissen. Als Johannes von dem Gerede erfuhr, mußte er tatsächlich ein wenig schmunzeln: »So, dann komme ich also weg! Dann bestellt dem Franz doch mal, er kann mir das ruhig selber sagen. Jetzt, wo er gewonnen hat!« Da atmete auch Agnes erleichtert durch. Sicher, daran hätte sie gleich denken sollen: ein Mensch wie Franz würde es sich niemals nehmen lassen, seinen Erfolg Johannes persönlich ins Gesicht zu sagen. Es war ausgestanden, Franz hatte schon wieder – diesmal hoffentlich endgültig – verloren. Und in diesem Moment war es ihr völlig egal, ob er nun versuchte, diese Schlappe in einen Sieg umzumünzen.

Der Tag, der wie die letzten mit dunklen Wolken über den Gemütern begonnen hatte, er endete in einem kleinen Fest: am Abend gab es Eierkäse und Weißbrot, und wenngleich Agnes dazu schon ihren herrlichen Pfefferminztee gekocht hatte, der nur zu ganz besonderen Anlässen auf den Tisch kam, so gönnten sich Johannes und sie später, als die Kinder im Bett waren, außerdem noch ein Glas von ihrem selbstgemachten Johannisbeerwein, der eigentlich immer nur denen vorbehalten war, die – todtraurig, weil sie ein Aufgebot bestellten, das keineswegs nach ihrem Sinne war, oder überglücklich, weil sie endlich den ersehnten Stammhalter anmeldeten – auf der anderen Seite des schweren Schreibtisches hockten, an dem der Bürgermeister, der gleichzeitig auch Standesbeamter war, das jeweilige Ereignis urkundenwirksam machte.

Franz kam auch in den nächsten Tagen nicht, Johannes hatte ihn also richtig eingeschätzt. Schade nur, daß sein Erzfeind nicht der einzige Parteigenosse in Kleeberg war. Sicher, damals bei der ersten Wahl waren es nur 19 Leute gewesen, die ihre Stimme der NSDAP gegeben hatten, was, davon war Johannes überzeugt, den Fanatiker Vollmer und die Gesellen, die ihn umgaben wie Fliegen die Kuhscheiße, sicher bis heute ärgerte.

Mittlerweile waren aber leider auch im Dorf viele organisiert, und Johannnes fand manchmal, daß es gar nicht schlecht war, daß sie die Wahlen abgeschafft hatten. Nicht daß er glaubte, die Kleeberger wären heute in ihrer Mehrzahl auf die Nazis hereingefallen, aber einige mehr als damals wären es wohl doch gewesen, die ihnen ihre Stimme gegeben hätten. Kein Wunder, entschuldigte ihr Bürgermeister diese Leute gleich trotzig, wenn man auch nichts anderes mehr hörte!

Besonders ärgerte es ihn, daß sie schon die Kinder und Jugendlichen einzuwickeln versuchten: Deutsches Jungvolk für die 10 bis 14jährigen, die richtige Hitler-Jugend für die 14 bis 18jährigen Jungen, für Mädchen gab es heute, wenn sie zwischen 10 und 14 Jahren alt waren, die Jungmädel und danach den »Bund Deutscher Mädel«. Johannes hörte es gar nicht gerne, wenn sein eigener Sohn mit sprühender Energie von seinen Erlebnissen aus den Gruppenstunden der HJ erzählte. Die Tochter war da anders, natürlich weil sie viel älter, fast schon eine junge Frau war, aber auch wegen ihrer Frömmigkeit. »Die ist katholischer als der Papst«, hatten Johannes und Agnes schon ein paarmal zueinander gesagt, als sie Irmgard wieder und wieder in die Kirche laufen sahen, und wäre ihnen dann nicht stets der junge Kaplan eingefallen, der immer diese Messen zelebrierte, an denen so auffallend viele junge Mädchen teilnahmen, dann hätten sie fast glauben mögen, was die Gertrud aus der Nachbarschaft immer prophezeite: »Die Irmgard, die geht einmal ins Kloster!«

Durch die Kirche, die natürlich nicht nur für Kleeberg da war, hatte das Mädchen aber vor allem den Vorteil, daß es viel mit Leuten aus den anderen Gemeinden zusammenkam und vieles, was dort vorging, eher wußte als ihre Eltern. »Sie haben dem Jupp, ihr wißt doch, den, der nach Rabenbach geheiratet hat, ein Schild um den Hals gehängt«, kam sie Tage, nachdem man glaubte, mit Franz sämtliche Pgs der Region niedergerungen zu haben, in die Stube gekeucht. »Natürlich kenne ich den Jupp«, sagte Agnes, »ein netter Junge, der uns als Kind schon oft auf dem Feld geholfen hat.«

»Ja, und genau dem Jupp haben sie ein Schild umgehängt. Und darauf steht: Ich bin ein Lump!«

»Jupp? Was soll der denn gemacht haben?« Johannes war noch nicht bereit, seiner Tochter zu glauben. »»Heil Moskau!« hat er gerufen, mit erhobener Faust, zwar im Suff, aber das ist denen doch egal!« Jetzt erinnerte sich Johannes wieder an so manches. Zum Beispiel, daran, daß Jupp damals, im Jahr, bevor der Österreicher an der Macht war, 1932, als die vielen Wahlen waren, Kundgebungen der KPD organisiert hatte. Kundgebungen, die auch in Kleeberg stattgefunden hatten und natürlich im schroffen Gegensatz zu denen gestanden hatten, die auch die Nazis bereits hier abhielten: wenigstens von den Ideen her waren sie unterschiedlich gewesen. Das Auftreten hatte Johannes an beiden nicht gemocht und sich wieder einmal bestärkt in seiner Meinung gesehen, daß man seinen Kopf niemals einer Partei verkaufen durfte.

Jupp war aber ein cleverer Bursche gewesen, der hatte sich ausgekannt, und wenn Johannes Zeit und Lust gehabt hätte, sich mit ihm anzulegen, er wäre ganz schön ins Schwitzen gekommen. Denn was dieser Jupp sagte, das hatte alles Hand und Fuß, er war sich seiner Sache völlig sicher, und Johannes war darum klar, daß er sein »Heil Moskau!« niemals bereuen würde und vielleicht sogar froh war für den Suff, der ihm endlich erlaubt hatte, es in Richtung der richtigen Adresse auszurufen. Denn der junge Starrkopf hatte ganz einfach damit rechnen müssen, daß sich in der Gaststätte, in der er sich mit einigen Gleichgesinnten getroffen hatte, auch solche befanden, die den Ruf an Vollmer weiterleiten würden.

»Wo ist er jetzt? Was machen sie mit ihm?« fragte Johannes seine Tochter. »Vollmer läßt ihn von SA-Männern durch alle Ortschaften der Ortsgruppe führen! In Rabenbach waren sie schon, nachher werden sie auch zu uns kommen!«

»So ein Lump!« empörte sich Johannes, »nicht Jupp, sondern Vollmer hätte man das Schild umhängen sollen!«

Was er da gesagt hatte, schien ihm zu gefallen, denn er wiederholte es noch mehrere Male, zu Hause, bei Nachbarn, die mittlerweile auch von der Sache erfahren hatten, und, sonst wäre er nicht Johannes gewesen, natürlich auch bei denen, die sich neugierig um den jungen Mann scharten, dem man tatsächlich ein Schild vor die Brust gehängt hatte mit der niederträchtigen, sorgfältig in großen Buchstaben gemalten Aufschrift, die allerdings so gar nicht zu dem hocherhobenen Haupt und dem stolzen Blick passen wollte, mit dem sein Träger die für Vollmers Geschmack viel zu kleine Menschenmenge musterte, die ihn umgab.

Johannes regte sich an diesem Tag mächtig auf, und er beschloß, dem Ortsgruppenleiter einmal so richtig die Meinung zu sagen. Agnes, die nicht weniger erregt, aber wie stets mehr beherrscht war, gelang es nur schwer, ihn zu beruhigen. »Sie werden ihm schon nichts tun!« und: »Denk doch auch mal an deine Familie«, redete sie immer wieder auf ihn ein und glaubte damit beinahe schon Erfolg zu haben, als nur Stunden später plötzlich ein Pg vor dem Haus auftauchte, den sie gleich als einen von Vollmers Wachhunden erkannte: »Sind Sie Frau Zimmermann?« fragte er sie und wartete nicht einmal ihr Nicken ab: »Dann richten Sie ihrem Mann aus, er möge zum Ortsgruppenleiter kommen. Morgen abend, 20.00 Uhr.« Mit einem schmissigen »Heil Hitler!« drehte er sich auch schon auf seinem Absatz herum und eilte von dannen.

Nun war es also soweit. Johannes wurde für seinen Dickschädel zur Rechenschaft gezogen: sie hatten Vollmer angetragen, was er gesagt hatte. Wahrscheinlich würde er verhaftet werden und sie mit den Kindern so, wie er es immer von seiner Mutter erzählt hatte, alleine dastehen. Agnes hätte die Nachricht am liebsten ihrem Mann verschwiegen, doch wußte sie, daß sie das nicht tun durfte. Vollmer würde die Angelegenheit niemals auf sich beruhen lassen, und Johannes nähme es ihr garantiert furchtbar übel, wenn sie für seine Person auch nur den Verdacht von Feigheit aufkommen ließe. Als sie ihm dann von der Vorladung berichtete, reagierte er selbstverständlich genau so, wie sie es erwartet hatte: »Na wunderbar, da kann ich ihm ja doch noch ins Gesicht sagen, was ich von ihm halte! Wurde auch höchste Zeit!«

»Bitte Johannes, reiß dich zusammen, der Vollmer sitzt am längeren Hebel!« flehte Agnes geradezu. »Das werden wir schon noch sehen«, brummte ihr Mann nur grimmig, wobei es ihm allmählich durchaus dämmerte, daß er nun vielleicht doch nicht mehr anders konnte, als die Dienste von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Gregor war nämlich ein netter Mensch, der in einem kleinen Städtchen, Hadamar, in der Nähe von Limburg wohnte; mit ihm konnte man wunderbar auf die Nazis schimpfen, und schließlich war er sein Cousin: letzteres war sein Bruder zwar auch, aber im Gegensatz zu Gregor war er ein gestandener Nazi, der es in dieser Gegend bis zum Ortsgruppenleiter gebracht hatte. Wohl nur aus der Position heraus war es ihm sogar möglich gewesen, die Freundschaft von Kreisleiter Schulz zu erwerben, und die, so betonte Gregor immer wieder, konnte man im Ernstfall leicht ausnutzen, denn sein Bruder war für ihn ein viel zu großer Wichtigtuer, als daß er sich eine Gelegenheit entgehen lassen würde, der Familie zu beweisen, was für ein einflußreicher Herr aus ihm geworden war.

Bevor er diese Beziehung in Anspruch nahm, wollte Johannes aber erst selbst ein ernstes Wort mit Vollmer reden – vielleicht war die Hilfe Gregors dann gar nicht mehr nötig. Er überlegte sich genau, was er sagen würde: »Herr Ortsgruppenleiter, wenn Sie meinen, daß man so mit Menschen umspringen darf, wie Sie das tun, dann muß ich diese Meinung ja nicht unbedingt teilen«, – dieser Satz gefiel ihm besonders gut, und er hatte auch lange suchen müssen, bis er die richtige Formulierung fand. Nicht nur über das, was sie mit Jupp gemacht hatten, würde er sich beschweren, oh nein, noch eine ganze Reihe von anderen Dingen würde er zur Sprache bringen, und wenn ihm dann noch Luft blieb, wollte er vielleicht auch die lächerlichen Intrigen von Franz aufs Tapet bringen.

Es kam jedoch alles ganz anders. Am nächsten Abend, Johannes war bereits dabei, die Karbidlampe seines Fahrrads zu füllen, um für die nächtliche Fahrt gerüstet zu sein, da kam Wilhelm zu ihm, der treue Wilhelm von nebenan, der zu den Leuten gehörte, die Johannes immer dann aufsuchte, wenn er einmal so richtig Dampf ablassen mußte: bei denen er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte und bei denen er, weil sie die Parteigenossen genauso wenig mochten wie er selbst, schon gar keine Angst haben mußte, daß sie ihn verrieten.

Als Wilhelm nach einer Viertelstunde nach Hause ging, hatte er ungewollt einen der wenigen Streits zwischen Agnes und Johannes vom Zaun gebrochen, die wirklich diese Bezeichnung verdienten, und es stand jetzt schon fest, daß sie an diesen selbst dann noch denken würden, wenn die Erinnerung die unangenehmen Dinge des Lebens weitgehend gestrichen hatte: In der Küche stand einsam Johannes, mit zorniger Miene zunächst; nach einer Weile setzte er sich, sein Gesichtsausdruck war immer noch sehr ernst, bis er sich dann ganz allmählich entspannte und schließlich sogar Platz ließ für ein stilles, nach innen gekehrtes Lächeln, das von niemandem gehört zu werden brauchte, weil es nur eine vollkommene Zufriedenheit ausdrückte, von der der eben noch so wütende Mann trotz aller Wirren um ihn herum plötzlich erfüllt war. Und zu verdanken hatte er dieses wohlige Gefühl natürlich niemand anderem als seiner Frau: Wie sehr hatte sie ihm heute abend den Kopf gewaschen!

Wie mit einem Schuljungen war sie mit ihm umgesprungen, und, je mehr Johannes nachdachte, so kam er immer deutlicher zu dem Ergebnis, daß sie – wie so oft – recht gehabt hatte. Er wäre tatsächlich kein guter Vater gewesen, vom Ehemann ganz zu schweigen, wenn er trotz Wilhelms Warnung zu Vollmer gefahren wäre. Wenn der tatsächlich eine Reihe von SA-Männern zusammenbestellt hatte, um ihn zu verprügeln, und es bestand kein Grund, an Wilhelms Worten zu zweifeln, dann mußte Johannes notgedrungen den kürzeren ziehen, und es war eigentlich Unsinn gewesen, wenn er sich nun, wo schon die Sachargumente nicht mehr zählten, allein auf seinen stattlichen Körperbau verlassen wollte.

Sicher, bei Prügeleien hatte er früher meist die Oberhand behalten, doch waren, wie Agnes natürlich richtig bemerkt hatte, seither Generationen vergangen, und Johannes, den sie damit eben noch bis ins Mark getroffen hatte, war heute nun wirklich fast ein alter Mann. Die Familie hatte an erster Stelle zu stehen, das hatte ihm Agnes eben klar gemacht, und wenn so ein sturer Basaltbrocken, wie er das ihrer Ansicht nach war, dies partout nicht begreifen wollte, dann mußte man ihm eben kräftig die Leviten lesen!

Trotz oder gerade wegen der Auseinandersetzung mit Agnes war Johannes von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt: Niemals hätte er es als junger Mann, dem die Schande anhing, die der Vater über die Familie gebrachte hatte, auch nur in seinen kühnsten Träumen gewagt, sich eine solche Frau auch nur zu wünschen: heute hatte er sie, hatte mit ihr zwei wohlgeratene Kinder und wollte das alles aufs Spiel setzen, nur um einem Menschen wie Vollmer zu zeigen, daß er kein Feigling war!

Und so gab er seiner wunderbaren Agnes im nachhinein, still natürlich, ohne daß sie jemals davon erfahren hätte, die Einwilligung, die er ihr vor wenigen Minuten noch versagt hatte, nämlich – das Bürgermeisteramt hatte damals noch kein eigenes Telefon – zur Post zu gehen, Vollmer anzurufen und ihm zu sagen, ihr Mann sei mit dem Fahrrad gestürzt und könne heute abend nicht kommen, genauso wie sie es gewollt hatte und nun eben ohne seine Zustimmung tat. Was Johannes jedoch seinerseits wieder nicht wußte, war, daß sie in dem kurzen Gespräch hinzufügte, es stehe dem Ortsgruppenleiter, sofern er dies wünsche und es ihm besonders eilig sei, selbstverständlich frei, den Bürgermeister in den nächsten Tagen zu Hause aufzusuchen! Dies war schon fast verwegen, doch sollte Vollmer – da vertrat die tapfere Frau genau die gleiche Meinung wie ihr Mann – nicht denken, daß sie sich vor ihm fürchteten. Nein, sie war sich ganz sicher: der Ortsgruppenleiter würde niemals auf ihren Vorschlag eingehen, denn beim Besuch im Bürgermeisteramt konnte er ja schließlich seine Kettenhunde nicht mitnehmen!

Doch Vollmer kam. Eines Tages, als Agnes alleine zu Hause war, stand er plötzlich in der Küche, mit gezogenem Säbel und einem Gesicht, das verriet, welche Mühe er sich machte, ihr Angst einzujagen. »Ist Ihr Mann da? Ich werde ihn jetzt verhaften, denn er hat einen Nationalsozialisten beleidigt!« schrie er sie mit seiner dünnen Fispelstimme an, wohl hoffend, daß er die kleine Frau dadurch gewaltig einschüchtern werde. Agnes jedoch blieb ihrerseits vollkommen ruhig, wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat sogar noch einen Schritt auf den Ortsgruppenleiter zu, um ihm dann nur die wenigen Sätze ins Gesicht zu schleudern: »Auch wenn Sie mit Säbel kommen, mir können Sie keine Angst einjagen. Mein Mann hat nichts Unrechtes getan, und Sie haben überhaupt kein Recht, ihn festzunehmen!« Wohl war es mehr die Entschlossenheit, mit der die kleine Frau so unerwartet auftrat, als die Tatsache, daß er plötzlich über das nachzudenken begann, was sie ihm so dreist auf den Kopf zu gesagt hatte, die Vollmer, der doch eigentlich die Überraschung auf seiner Seite geglaubt hatte, sich seiner Sache plötzlich gar nicht mehr so sicher sein ließ, ihn schließlich sogar in völlige Verwirrung versetzte, so daß er am Ende nurmehr imstande war hervorzubringen: »Ich habe doch nur einen Scherz machen wollen. Nichts für ungut.« Und dann ging er, ging ohne ein weiteres Wort, in die Flucht geschlagen von einer unbedeutenden kleinen Bäuerin: in dem Moment, als er durch die Haustür verschwunden war, spürte Agnes ein Zittern in ihren Gliedern, wie sie es nur als Kind einmal verspürt hatte, nämlich da, als sie in der Schule die Lösungen von Rechenaufgaben auf ihre Hand geschrieben und der Lehrer angekündigt hatte, er werde sie alle kontrollieren – doch war sie sich sicher, daß ihre Aufregung eben im Gegensatz zu damals, als man sie deshalb erwischt hatte, nicht nach außen gedrungen war, denn sonst wäre der Ortsgruppenleiter, der mächtige Vollmer, der doch nur gekommen war, weil er wußte, daß Johannes nicht zu Hause war, nicht so ohne weiteres vor ihr davongelaufen.

Oft, wenn der Frühaufsteher Johannes an warmen Sommermorgen, die eigentlich noch gar nicht richtig hereingebrochen waren, die Kühe einspannte und aufs Kartoffel- oder Runkelrübenfeld fuhr, um die Pflanzen vom Unkraut zu befreien – er meinte immer ihre Freude darüber zu spüren, daß er ihnen so beim Wachsen half – dann vergaß er manchmal für einen kurzen Augenblick all das, was zur Zeit in der Welt vorsichging, genoß es, die frische, vom Tau noch feuchte Luft in die Lungen zu saugen, sah den Rehen zu, die am Waldrand ästen und sich nicht im geringsten an dem in der Ferne vorüberfahrenden Wagen störten, beobachtete manchen Fuchs, wie er nach einem Raubzug in seine Höhle schlich – einmal hatte er sogar einen Dachs beim Mausen gesehen – und ließ, wenn er spürte, daß es ihm trotz dieser Idylle nicht ganz gelingen wollte, die dunklen Wolken zu vertreiben, die momentan Zeit anscheinend sein ganzes Denken fest in ihrem Griff hatten, seine Gedanken einfach in die Vergangenheit schweifen, um sich hier die Zuversicht zu holen, die er heute oft nur vorgab zu besitzen: Er war schon ein ehrgeiziger Junge gewesen, damals, mit seinen vierzehn Jahren, als er begonnen hatte, Geld zu verdienen. Johannes mußte schmunzeln, wenn er daran dachte, wie zuversichtlich er einmal aufgebrochen war, die Welt zu erobern! Nein, er wollte sich niemals unterkriegen lassen, hatte er sich wieder und wieder gesagt, und das, was ein anderer konnte, konnte er schon lange. Und so machte ihm auch später, als er zum Mann gereift war, die schwere Arbeit unter Tage fast gar nichts aus. Wie auch? Johannes besaß schließlich einen stattlichen Körper, wog in seinen besten Zeiten gut zwei Zentner und war überzeugt, daß er es an Körperkraft sicherlich mit einem jungen Ochsen aufnehmen konnte.

In der Grube war das allerdings ein wenig anders, da das Essen hier so gut nicht war und der Körper doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde. Johannes war aber stolz darauf, daß er die harte Arbeit so gut wegstecken konnte. Dabei hatten ihn viele vor dieser Maloche, wie sie es hier nannten, gewarnt. Menschen gingen vor die Hunde, selbst Kinder würden ausgenutzt, und was man ihm nicht noch alles gesagt hatte. Er jedenfalls hatte seinerzeit, als die Nachricht zu ihm gedrungen war, daß die großen Reviere im Ruhrgebiet nach wie vor Leute suchten, nicht gezögert, sich auf den Weg zu machen. Was hatte er auch zu verlieren? Schwester und Mutter waren tot, die eine, seine kleine Katt, wie er sie immer genannt hatte, vor ein paar Jahren fast wie ein Tier krepiert, wobei keiner wußte, ob es nun der Hunger war, der ihrem Leben letztlich ein Ende bereitet hatte, oder die Schwindsucht, gegen die sie ihrer Schwäche wegen kaum mehr anzukämpfen vermocht hatte. Es war nämlich die Zeit, als gerade die Armut bei ihnen eingezogen war und an ihrem Inneren zu nagen begonnen hatte wie ein Geschwür, das sehr wohl weiß, wann seine Zeit gekommen ist, und ganz genau gespürt hatte, daß der Familie, deren Ernährer nach seinen am Ende immer länger gewordenen Reisen schließlich ganz fortgeblieben war, damit sämtliche Grundlagen genommen waren, sich erfolgreich gegen jeglichen Angriff von außen zu wehren. Kein Wunder war es darum auch, daß – gerade mal fünfzig Jahre alt war sie geworden! – schließlich auch Mutter gestorben war: einerseits an ihrem Gram, andererseits an der Verzweiflung darüber, daß wegen der Schande, die ihr Mann über sie gebracht hatte, kaum jemand bereit gewesen war, der verarmten Familie ein wenig unter die Arme zu greifen. Johannes hatte damals am eigenen Leib erfahren, wie sich die Armut anfühlte: wie seine durchlöcherten und verspeckten Kleider, die schon längst auf der Haut juckten wie eine ganze Kompanie Ameisen; und er hatte auch erfahren, wie Armut schmeckte: genau wie das Stück Brot nämlich, das er in der Familie seines besten Freundes Matz gestohlen hatte, um den größten Hunger zu stillen, nachdem er bei den kargen Mahlzeiten zu Hause immer vorgab, schon satt zu sein, damit nur die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern halbwegs satt zu essen bekamen. Und als ob das alles nicht schon genug gewesen war, hatte Johannes es dann auch noch selbst gespürt, wie es war, wenn der Tod nach einem verlangte, denn ihm steckte plötzlich der Knochenfraß im Bein. Wie er am Ende dann gesund wurde, wußte er nicht mehr genau, glaubte nur, daß es eigentlich nur seinem eisernen Willen, nicht aber den Ärzten, deren Kunst sie sich in dieser Zeit sowieso kaum einmal hatten leisten können, zuzuschreiben war. Ein Gutes hatte die Krankheit vielleicht sogar gehabt, denn Johannes konnte wegen ihr das letzte Schuljahr nicht besuchen und war darum noch früher in der Lage gewesen, sich voll und ganz auf die Landwirtschaft zu konzentrieren, die die Mutter unmöglich alleine bewältigen konnte.

Er hatte stets geholfen, so gut er eben konnte, doch war er, als der Vater fortging, leider selbst noch ein Kind. Rasch merkte er, daß auch die Arbeit im Steinbruch, die er doch so zuversichtlich angegangen war, mehr an seinen Kräften zehrte, als er dies Mutter gegenüber zugeben konnte, und als junger Mann bereute er manches Mal seinen Ehrgeiz, der ihn nicht einfach nur Kaffeekoch hatte bleiben lassen – eine Mark Lohn am Tag war ihm zu wenig gewesen – sondern ihn angespornt hatte, es so schnell wie möglich bis zum Steinbrecher zu bringen. Außerdem hatte er täglich gut zwei Stunden zur Arbeit und noch längere zwei wieder nach Hause laufen müssen, wobei er diese zusätzliche Anstrengung kaum beachtet hätte, wenn sie nicht mit dem ungehörigen Zeitaufwand verbunden gewesen wäre, der ihm kaum mehr Luft gelassen hatte, sich am Abend um den Hof zu kümmern. Ohne die Unterstützung der Mutter hätte er es damals nie geschafft! Noch heute dachte Johannes nur voller Dankbarkeit an diese Frau zurück: Den ganzen Tag hatte sie geschuftet und sich geplagt, versucht, noch weiteres Land zu pachten, die Pacht mit Buttergeld bezahlt, das Land dann aber doch wieder verkaufen müssen, um die Hausschulden zu bezahlen, denn der Vater hatte niemals auch nur einen Pfennig Unterhalt geschickt! Es war, was selbst Franziska, die ihm noch verbliebene Schwester begriffen hatte, ihr gemeinsamer Ehrgeiz gewesen, das Haus zu halten, das wegen seiner für die damalige Zeit so ungewöhnlichen Größe im Dorf nur das »Schloß« genannt wurde, und sie hatten es am Ende auch geschafft! Daß die Mutter hierfür aber ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht hatte und dann, als feststand, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, von ihnen gegangen war, hatte Johannes geradezu verzweifeln lassen und die langsam aufgekommene Freude über den Erfolg schon im Keim erstickt.

Er erinnerte sich nur zu genau: am Totenbett der Mutter hatte er sich so gefühlt wie damals als Kind, als er sich im Wald verirrt hatte. Drei oder vier Jahre alt mußte er gewesen sein, war von zu Hause fortgelaufen, weil der Vater mit ihm geschimpft hatte. Niemals mehr würde er wiederkommen, hatte er sich vorgenommen, höchstens wenn sich die Eltern vor Traurigkeit die Augen ausweinten, dann würde er vielleicht mit sich reden lassen. Und dann stand er plötzlich alleine, mitten im Wald, und wußte nicht, wo er war und was er machen sollte. Johannes hatte immer geglaubt, daß man sich nur an Tatsachen, nicht aber an Gefühle erinnern konnte. In dem Moment, als Mutter tot war, begriff er, daß er sich geirrt hatte, denn plötzlich war er wieder der kleine Junge, der gottverlassen auf der Welt war und verzweifelt nach jemandem suchte, der ihn an die Hand nahm und aus dem dichten Wald herausführte. Damals waren es Leute aus dem Nachbarort gewesen, die ihn heimgebracht hatten, nachdem er, worauf er sehr stolz war, sie selbst dazu in die Lage versetzt hatte, denn er hatte ihnen auf die Frage, wem er denn sei, die Auskunft »dem Zimmermanns Alfons« gegeben. Heute würde es dagegen nicht so leicht sein, sich helfen zu lassen, und anders als damals würde seine Traurigkeit auch nicht mit dem Trocknen der Tränen verflogen sein, deren es, schon Franziskas wegen, jetzt erst gar keine geben durfte.

Es war Johannes gleichgültig gewesen, daß mit einemmal plötzlich der ganze Besitz ihm gehört hatte, daß er ab jetzt der Hausherr sein sollte, da er im Gegensatz zu seiner Schwester bereits volljährig war, und schon gar nicht wäre ihm der Gedanke gekommen, aus diesem Umstand irgendwelchen Nutzen zu ziehen: Wie selbstverständlich, so daß es der entsprechenden Bitte der sterbenden Mutter gar nicht bedurft hätte, teilte er schon jetzt den Besitz mit Franziska, schnitt in Gedanken bereits jedes Stück Land, das nach dem Gesetz nun ihm gehörte, gerade einmal in der Mitte durch und verwaltete den Besitz der Schwester lediglich, bis sie das 21. Lebensjahr vollendet hatte.

Vielleicht weil er in den wenigen glücklichen Jahren ebenfalls frühmorgens mit ihm hinausgefahren war, fiel ihm jetzt der Vater ein: ein großer Mann, mindestens zwei Meter, hatte er als Kind geglaubt, mit stolzen Zügen, die nur manchmal streng sein konnten, dann aber sehr streng, wie damals, bei der Sache mit Berta. Und Johannes hatte genau das Gesicht vor Augen, mit dem sein Vater es immer genossen hatte, wenn die Leute mit neidischen Blicken sein großes Haus musterten, das Schloß, in dem er selbst als der Schloßherr residierte.

Einige von ihnen mußten sich bestimmt gefreut haben, als sie von der Familientragödie hörten, die sich wenig später abgespielt hatte: Er war eben ein Bruder Leichtfuß, der Vater, der alles stehenließ für eine andere und selbst das stolze Anwesen, an dem ihm doch so viel gelegen war, einfach dem Lauf der Zeit übergab. So jedenfalls hatte Mutter immer versucht zu erklären, warum alles so kommen mußte, wie es gekommen war, und der Vater heute mit seiner neuen Frau in Holland wohnte.

Einmal noch, kurz nach dem Tod der Mutter, hatte Johannes ihn wiedergesehen. Einesteils, das mußte er ja zugeben, hatte er sich schon auf den in einem Brief umständlich angekündigten Besuch gefreut, andererseits war es, wenn dies überhaupt jemals der Fall sein würde, doch noch lange nicht an der Zeit, das zu vergessen, was der Vater der Familie angetan hatte, und wenn er dann daran dachte, was der eigentliche Grund für sein Kommen war, nämlich die Sterbeurkunde der Mutter zu holen, damit er in Holland erneut heiraten konnte, dann platzte Johannes noch heute fast der Kragen. Und die Begegnung war dann auch entsprechend frostig verlaufen: ein kurzer Händedruck, wenige Belanglosigkeiten, die ausgetauscht wurden, nicht ein einziges Wort des Bedauerns auf der Seite des Vaters, nicht ein einziges Anzeichen für den Wunsch nach Verständigung im versteinerten Gesicht von Johannes und dann endlich die Frage, mit der die innere Kluft geradezu gewaltsam ans Tageslicht gezerrt wurde: »Du Johannes, kann ich vielleicht heute nacht hier schlafen? Du weißt doch, ich habe im Dorf niemand anderen mehr!« Johannes hatte diese Unverfrorenheit fast die Sprache verschlagen, zum Glück aber nur fast, denn wie er sich nach all den Jahren noch sicher war, hatte ihm der Herrgott damals genau die richtigen Worte in den Mund gelegt: »Du kannst hier schlafen, oben, in dem Zimmer, in dem Mutter gestorben ist«, hatte er nur geantwortet und sich überhaupt nicht gewundert, es schon gar nicht bedauert, daß der Vater daraufhin wortlos abgezogen war und sich ein Nachtquartier im nahegelegenen Kloster gesucht hatte. Nach dieser Begegnung waren sich Vater und Sohn nie wieder begegnet.

Johannes hatte sich wegen der schlimmen Erfahrungen eines ganz fest vorgenommen, nämlich sein Leben von Anfang an in geordnete Bahnen zu lenken: Schwer arbeiten wollte er, für die Familie dasein und vielleicht irgendwann einmal das wiedergutmachen, was sein Erzeuger – er bemühte sich, in seinen Gedanken nur diese Bezeichnung vorkommen zu lassen – an ihnen allen verbrochen hatte. Und denen im Dorf würde er es sowieso noch zeigen!

Es war gegen sieben Uhr, als Johannes an diesem schönen Sommermorgen vom Feld und seiner Reise in die Vergangenheit nach Hause kam: nachdenklich war er, wortkarg, schlürfte stumm den Kaffee, den seine fleißige Frau schon für sie beide gekocht hatte, obwohl sie noch gar nicht so lange mit dem Melken fertig sein konnte. »Na, hast wohl wieder simuliert, Johannes?« Mit einer Antwort rechnete Agnes offenbar nicht, denn sie schien sehr beschäftigt: tauchte nur wieder ein Stück ihres Brotes in die Untertasse, in die sie, damit er schneller kalt wurde, ein wenig Kaffee gegossen hatte, und wartete geduldig, bis es sich mit der braunen Flüssigkeit vollgesogen hatte. Ja, er hatte wieder simuliert, wie gut sie ihn doch kannte, dachte Johannes, und es war ihm fast so, als hätte er dies laut gesagt. Simulieren tat er auch noch, als er nach dem Frühstück die Kühe fütterte, und es war klar, daß ihn seine Gedanken noch eine ganze Weile gefangen halten würden: so wie ein nächtlicher Traum, der manchmal noch bei Tage ein unsichtbares Netz über einen warf.

Kleeberg war ein Dorf von gerade einmal vierhundert Einwohnern. Hier passierte nicht viel, was vor allem auf die Abge-schiedenheit des Ortes zurückzuführen war. Abgeschieden war er zum einen deshalb, weil er inmitten der Mittelgebirgsland-schaft des Westerwaldes lag und von mehreren für diese Gegend recht stattlichen Erhebungen umgeben war, zum anderen aber auch schon darum, weil die nächste größere Stadt viele Kilometer entfernt war – die Kreisstadt, die man zu Fuß erreichen konnte, durfte in diesem Zusammenhang nicht zählen, denn sie war kaum mehr als ein großes Dorf. Das Jahrhundert, in dem die Industrie ihren Siegeszug angetreten hatte, schien an Kleeberg spurlos vorübergegangen zu sein: seine Einwohner lebten fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wer hier geboren war, den bewegten meist nur ganz besondere Umstände dazu, sein Leben oder auch nur eine gewisse Zeit davon in einer anderen Gegend zu verbringen.

Bei Johannes hatte es diese außergewöhnlichen Verhältnisse gegeben: er war als junger Mann eine ganze Weile gezwungen gewesen, sein geliebtes Kleeberg zu verlassen, da damals gerade die großen Gruben im Ruhrgebiet gute Verdienstmöglichkeiten versprachen. Johannes hatte sich Arbeit in einem Kohlebergwerk in der Nähe von Essen gesucht, und, weil man dort mehr verdiente, später sogar als Eisengießer am Hochofen gearbeitet. Trotzdem, eine gute Zeit war dies für ihn nicht gewesen, zu verbunden war auch Johannes mit seinem Heimatdorf, und er war froh, als er genug Geld beisammen hatte, um dem Ruhrpott endgültig den Rücken kehren zu können. Landwirt – für ihn war das der freieste, unabhängigste und schönste Beruf, den es geben konnte, und den würde er nun bis an sein Lebensende ausüben. Dabei machte es ihm überhaupt nichts aus, wenn er dies lange Zeit wieder nur in den Abendstunden tun konnte, denn, um seine Existenz dauerhaft zu sichern, war er am Tage dazu gezwungen, in den Steinbrüchen, von denen es in Kleebergs Umgebung genügend gab, oder beim Bahnbau sein Geld zu verdienen. Und Schikanen, wie er sich sie in seiner Jugend gelegentlich hatte gefallen lassen müssen, war er heute schon gar nicht mehr ausgesetzt: zu rasch bemerkten alle den Feuereifer, mit dem er seinen großen Körper zu immer größeren Leistungen antrieb, seinen Ehrgeiz, der ihn im Steinbruch schnell vom einfachen Steinbrecher zum besserbezahlten Kipper aufsteigen ließ, der mit wenigen geschickten Hammerschlägen schon wieder einen Pflasterstein fertiggestellt hatte, wenn sein Nachbar noch mitten bei der Arbeit war.

Und so kam es, daß es Johannes und die Zeit langsam schafften, den Makel, der ihm anhing, aus der Erinnerung der Leute zu streichen und er die Vergangenheit vor ihnen schließlich abstreifte wie eine Haut, die keiner mehr brauchte. Daß er selbst das, was damals geschehen war, niemals vergessen würde, brauchte er sich nicht einmal zu schwören, denn er dachte schon, ohne es zu wollen, oft genug an die tote Schwester und die Mutter, die ihr wenig später nachgestorben war. Und immer dann fiel ihm natürlich auch der Vater ein, und er nahm sich wieder und wieder vor, nicht so zu werden wie er, jedenfalls wie er gewesen sein mußte, als er sie im Stich gelassen hatte. »Ein Mann muß immer zu dem stehen können, was er tut!« – das war Johannes´ Lebensregel geworden, denn er führte sich immer, wenn es darauf ankam, vor Augen, wie der Vater damals verlegen zu Boden geschaut hatte, als er vom Sohn aufgefordert worden war, im Sterbezimmer seiner Frau zu übernachten.

Johannes konnte zu dem stehen, was er tat, zu allem, auch damals, 1930, als er sich zum Bürgermeister von Kleeberg wählen ließ. Sicher, er hatte immer davon geträumt, im Dorf eine Rolle zu spielen, doch wäre er deshalb niemals auf den Gedanken gekommen, seinen Vorgänger, den er äußerst schätzte und den er bei der Wahl auch unterstützt hatte, ablösen zu wollen. Erst als er richtig gedrängt worden war, und das sogar von demjenigen, der gerade noch für eine neue Amtszeit kandidiert hatte, jetzt aber wegen der Begünstigung eines Verwandten ins Zwielicht geraten war, da hatte er den Widerstand aufgegeben und die Entscheidung des Rates angenommen. Johannes selbst hatte sich freilich nicht gewählt – dies mochten andere tun, ihm selbst wäre es anrüchig erschienen.

´33 hatten dann bereits die Nazis die Macht übernommen, wovon man aber in Kleeberg – wenigstens am Anfang – zum Glück noch wenig merkte. Hier schnitt die NSDAP bei sämtlichen Wahlen, die sie noch zuließ, nicht besonders gut ab: Johannes prägte sich die Ergebnisse so ein, daß er sie auch Jahre später, als selbst der Krieg längst der Vergangenheit angehörte, noch stolz Besuchern aus der Stadt präsentierten konnte, die meinten, besonders in Gegenden, die ihrer Ansicht nach durch eine dicke Bretterwand von der zivilisierten Welt abgetrennt waren, hätten die Nazis einen ungebremsten Zulauf verzeichnen können. Gerade hier aber verfügte man über eine solche Bremse, und diese sah Johannes darin, daß in katholischen Dörfern, wie auch Kleeberg eines war, die Nazis niemals ein leichtes Spiel hatten, da die Partei der Katholiken nun einmal das Zentrum war: Noch bei der letzten Reichstagswahl vom 5. März 1933 hatte es in Kleeberg mit 62,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erhalten, und wenn das Zentrum bei der Wahl zum Kreistag eine Woche später von der NSDAP um einen Sitz überflügelt wurde, so lag das für Johannes nur an den vielen evangelischen Ortschaften in dieser Region.

Sie hatten jetzt schon eine ganze Weile Ruhe vor den Parteigenossen: eigentlich war die Geschichte mit dem Pfarrer der letzte Angriff der hiesigen Nationalsozialisten gewesen, und Johannes hoffte, daß dies auch so bliebe. Franz war scheinbar verstummt, und Vollmer mußte sich viel zu sehr schämen, um Johannes und seine Agnes ein weiteres Mal herauszufordern. Meinten sie jedenfalls, und langsam glaubten die beiden bereits, das Leben verlaufe wieder normal, so wie damals, bevor alles anders geworden war, wenn dann nicht der Tag gekommen wäre, an dem Johannes aus heiterem Himmel zu Kreisleiter Schulz bestellt wurde. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was der von ihm wollen konnte, höchstens daß jetzt er statt Vollmer versuchen würde, ihn endlich zum Eintritt in die Partei zu überreden. Bestimmt war es so, redete sich Johannes ein, und er sah sich einmal mehr in der Meinung bestätigt, daß es falsch gewesen war, am Ende doch die Hilfe von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Aber sie hatten ihm ja keine Ruhe gelassen, Agnes nicht, die Gesinnungsgenossen aus dem Dorf nicht und auch Gregor nicht, der, als er ihm von den letzten Vorfällen erzählt hatte, geradezu mit Worten auf ihn eingehämmert hatte, er solle das Angebot doch endlich annehmen. »Du weißt ja noch gar nicht, was aus Deutschland geworden ist. Bei uns gibt es Dinge, die kann man sich kaum vorstellen«, war dabei einer der geheimnisvollen Sätze, die er in letzter Zeit so oft von sich gab, und Johannes, der der Meinung war, er könne diese Aussage ohnehin nicht weiter belegen, hatte auch nicht weiter nachgefragt, dann aber, damit nicht noch mehr auf ihn eingeredet wurde, zu Gregor gesagt, er könne jetzt mit seinem Bruder sprechen.

Nach dem, was Gregor immer über ihn erzählte, hatte der dem Kreisleiter dann aber bestimmt nicht die Wahrheit berichtet, sondern wahrscheinlich alles mit Mißverständnissen zu erklären versucht, so daß Johannes jetzt als hundertprozentiger Nazi dastand, der nur niemals als solcher erkannt worden war. Ihm war das Ganze äußerst unangenehm, und es wäre ihm jedenfalls sehr viel besser gegangen, wenn er jetzt schon gewußt hätte, wie gering letztlich der Einfluß von Gregors Bruder war!

Als wenig später dann Schulz im »Braunen Haus«, dem Sitz der Kreisleitung, zu ihm sprach, wußte Johannes nicht, was er von ihm halten sollte, denn der hohe Parteigenosse hielt dermaßen mit seiner Meinung hinter dem Berg, daß nicht einmal zu ahnen war, was er umgekehrt über Johannes dachte. »Der Pg Weber aus Kleeberg war bei mir. Können Sie sich denken, was der von mir wollte?« Nein, Johannes hatte nicht einmal eine Vermutung, zu wenig hatte er sich immer aus Weber gemacht, der, obwohl Mitglied der SA, bisher auch kein Interesse an seiner Person gezeigt hatte. Nun kam es dafür um so geballter: Johannes sollte doch tatsächlich beim Bürgermeister des Dorfes, aus dem Weber stammte, schlecht über den Kreisleiter gesprochen haben! Natürlich, so war das nun einmal bei Gerüchten, konnte ihm Schulz nicht sagen, was der SA-Mann denn nun genau dort erzählt hatte, nur halt eben schlecht sollte es gewesen sein. Offensichtlich aber glaubte der Kreisleiter Webers Lügenmärchen mehr als Johannes´ Beteuerungen, noch niemals mit dem Lorbacher Bürgermeister gesprochen zu haben. Das stimmte übrigens sogar: er kannte den Mann wirklich nicht, denn sein Dorf lag nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft von Kleeberg, und was er hier hin und wieder über die Partei und ihre Streiter geäußert hatte, war im Moment schließlich nicht gefragt. Er habe schon mehrere Geschichten über Johannes erhalten, die ihm allesamt nicht gefallen hätten, meinte Schulz nur, aber jetzt wolle er endlich wissen, woran er mit ihm sei. »Weber soll sich seine Äußerungen in Lorbach schriftlich bestätigen lassen, habe ich ihm gesagt. Sollte er damit keinen Erfolg haben, Sie dasselbe aber für ihre Aussage schaffen, dann will ich die Sache auf sich beruhen lassen!« Mit diesem Angebot entließ der Kreisleiter Johannes, und der wußte, daß er wieder einmal auf der Kippe stand. Sollte Weber tatsächlich erreichen, daß der Kollege seine Aussage unterschrieb, dann war es vorbei mit ihm, und die Kleeberger Pgs hatten endlich ihr Ziel erreicht!

Höchste Eile war geboten, denn wenn es auch eher unwahrscheinlich war, so mußte man doch die Chance nutzen, Weber in Lorbach zuvorzukommen. Wer wußte schließlich, mit was für Argumenten der dem dortigen Kollegen einheizte, denn irgendeinen Trumpf mußte er ja doch im Ärmel haben, sonst hätte er schließlich nicht eine so absurde Behauptung aufstellen können. Johannes trat die wenigen Kilometer bis nach Hause in die Pedale, wie er es eigentlich nur damals, kurz vor dem Krieg, getan hatte, als er, nach wochenlangen heimlichen Übungsstunden auf einem Feldweg, im Dorf stolz seine Fahrkünste auf einem der seinerzeit noch seltenen Gefährte gezeigt hatte, die heute nicht mehr wegzudenken und fast schon wieder überholt waren.

Nach Lorbach würde es ihm mit dem Fahrrad heute aber zu lange dauern, für diese Strecke mußte er Wilhelm fragen, damit der ihn mit seinem Motorrad chauffierte. Hoffentlich war der gute Nachbar nur zu Hause, denn bei einem so schönen Wetter wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn er auf dem Feld war. Zum Glück war diese Befürchtungen jedoch umsonst – Wilhelm war gerade heimgekommen, und als Johannes ihm von seinem Gespräch mit dem Kreisleiter erzählte, ließ er, wie es sich für einen guten Freund gehörte, sofort alles stehen und liegen und warf seine Maschine an. War er wirklich zu gutgläubig? grübelte Johannes auf der Fahrt. Wilhelm hatte das jedenfalls schon immer behauptet, nicht nur eben wieder. Aber wie konnte er dem Weber auch etwas Böses unterstellen? Außer daß er sich in der Partei hervortat, was ja heute bei vielen, die seit einigen Jahren nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein schienen, der Fall war, hatte Johannes ihn immer für einen rechtschaffenen Mann gehalten!

Und er würde auch weiter so denken, so lange jedenfalls, bis er felsenfest davon überzeugt war, daß Weber ihm tatsächlich am Zeug flicken wollte. Der Kreisleiter konnte ihm viel erzählen, ganz davon abgesehen, daß etwas Zwietracht in dem Dorf, das als einziges in der ganzen Gegend einen parteilosen Bürgermeister hatte, seiner Sache gewiß nicht schaden konnte.

Während ihm der Fahrtwind angenehm erfrischend ins Gesicht blies, mußte Johannes unwillkürlich an einige der Sätze seiner Mutter denken, die sie ihm in ihren letzten Stunden hastig, eben wie jemand, der weiß, daß er keine Zeit mehr hat, mit auf den Weg gegeben hatte: »Du mußt immer an das Gute im Menschen glauben, Johannes, versprich´ mir das! Der liebe Gott hat jeden Menschen gut erschaffen. Wenn er es dann nicht bleibt, dann kann er einem nur leid tun, denn er hat eine große Gabe verschenkt.«

Nein, Johannes nahm sich fest vor, auch weiter nur an das Gute im Menschen zu glauben: bisher war es ihm nicht schwer gefallen, den Rat der Mutter zu beherzigen, warum sollte sich das nun plötzlich ändern? Er war Optimist, und das galt auch für das, was er von den Leuten dachte. Lieber wollte er selbst enttäuscht werden, als auch nur Gefahr laufen, einem anderen von vornherein Unrecht zu tun. Den Schmerz in sich selbst konnte man wieder gutmachen, über den, den man anderen zufügte, hatte man dagegen keinerlei Gewalt mehr. Weisheiten seiner Mutter, die auch heute, nach all den Jahren, nichts von ihrer Gültigkeit verloren hatten.

Der Lorbacher Bürgermeister, ein Herr Jung, wußte von nichts. Weber war also noch nicht bei ihm gewesen. Sicher, er kannte den Mann von früher, ließ zwar, wie das in dieser Zeit nun einmal war, nicht durchblicken, was er über ihn dachte, doch erklärte er sich gleich bereit, seine Unterschrift unter ein rasch aufgesetztes Papier zu setzen, in dem festgehalten war, daß er bis jetzt noch niemals ein Wort mit Johannes gewechselt hatte. Zum Abschied beeilte er sich noch, ihnen zu versichern, daß er in nichts hineingezogen werden wolle, und fügte dabei so auffällig ein »von niemandem« hinzu, daß Johannes sich genötigt sah, ihn zu beruhigen, er brauche sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. Schließlich habe er nur einen wahren Sachverhalt bestätigt, mit Gesprächen an »übergeordneter Stelle« müsse er deswegen ganz bestimmt nicht rechnen.

Als er wenig später mit Wilhelm alleine war, atmete Johannes erst einmal tief durch. »Was soll das jetzt gewesen sein? Wollten die mich vielleicht nur auf die Probe stellen?« meinte er unschlüssig, worauf Wilhelm um so fester entgegnete: »Wart´ ab, der Weber kommt schon noch. Er kann ja durch irgendwas aufgehalten worden sein, was weißt denn du?«

»Ach was, jetzt kommt der nicht mehr. Wenn der schon vor mir bei Schulz war, und das kann ja schon gestern oder vorgestern gewesen sein, dann hätte er es auch schaffen müssen, vor mir in Lorbach zu sein!«

»Wart´ ab, Johannes, wart´ ab!« sagte Wilhelm nur wieder sicher. Auf dem Heimweg machten die beiden dann die für Johannes so enttäuschende Feststellung, daß der Nachbar, obwohl ihm dem alten Freund gegenüber zwanzig Jahre an Lebenserfahrung fehlten, mit seiner Einschätzung recht behalten sollte: Kurz nach dem Ortsausgang von Lorbach kam ihnen auf seinem Fahrrad der SA-Mann Weber entgegen: sichtlich angestrengt und schwitzend, sie beide keines Blickes würdigend, stur nur auf den Boden stierend, so daß jetzt auch Johannes begriff, daß er endlich die bittere Pille schlucken mußte, die ihm sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen gerade wieder einmal eingebracht hatte.

Basaltbrocken

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