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Prolog

Die Sturmglocke am Alten Markt bei der Rampe zur großen Flussbrücke hin war zum Bersten gefüllt. Die Fischer von der anderen Mainseite waren da und feierten lautstark nach dem langen Winter die bevorstehenden Ausfahrten. Ebenso Bauernburschen und Marktleute, die über Nacht in der Stadt blieben, um ihren Waren und sich den Brückenzoll des Bischofs zu ersparen. Für gewöhnlich war dies jedoch eine beliebte Wirtschaft der vielen Handwerksburschen und Arbeitsknechte in der Stadt, während Händler, Zunftherren, vornehme Bürger und adelige Herrschaften sowie Ratsmänner oder gar Domherren so gut wie nie an einen derart rauen Ort kamen wie diesen, Priesterschaft und Mönche der ungezählten Kirchen und Klöster Würzburgs, der ehrwürdigen Bischofsstadt am Main, schon gleich gar nicht. Dabei hatte der alte Kasten eine besondere Geschichte, die zu Würzburg gehörte wie der Dom, die gewaltige Brücke und die verdammte Bischofsburg oben auf dem Frauenberg. Hier nämlich, wo jetzt das Burschengesindel lärmte und die feisten Wirtsmägde sich dazwischen geschickt mit Bierhumpen und Weinkanne gegen Grabscherei und Püffe behaupteten, zugleich jedoch nicht mit ihren Reizen geizten, ja genau hier war es gewesen, wo einst der erste Rat der Stadt zusammengekommen war und nach einem großen Sieg der unermesslichen Gier des Fürstbischofs getrotzt hatte. Von dem jetzt schon fast verfallenen Türmchen über dem Dach hatte man die Glocke geläutet, wenn räuberisches Gesindel vom Fluss her kam, ein Feuer ausgebrochen war oder vom Bischofsberg herab Ungemach drohte; daher hatte der Hof seinen Namen Sturmglocke erhalten. Das war lange her, wohl über zweihundert Lenze und interessierte nunmehr weder die Wirtsleute noch das lärmende Gästevolk.

Josef saß am Ende einer langen, grob gezimmerten Bank inmitten der betriebsamen Schenke und betrank sich langsam, aber unaufhaltsam. Er starrte auf das Bier in seinem schon wieder halb geleerten Krug, in dem sich gerade so ein Mistviech von geflügeltem Insekt zu ertränken versuchte. Als nichts mehr zappelte, nahm er einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel voller Holzstaub den Mund ab. Verdammt und zugenäht, was dachte sich sein Meister eigentlich dabei, auf große Fahrt zu gehen und ihn mit der Arbeit für den Münnerstädter Altar alleine zu lassen. Auch wenn die wichtigen Figuren bereits in größter Kunstfertigkeit ausgeführt in der Werkstatt standen und die Zeichnungen für den Aufbau des Retabels im Detail schon verfertigt waren, er konnte es unmöglich schaffen. Schon gar nicht mit dieser Bande an Schnitzknechten und Lehrbuben, die er zur Verfügung hatte. Was glaubte der Meister eigentlich, das sich vollbringen ließe, Wunder vielleicht? Josef nahm einen weiteren Zug des Bieres und rief schon leicht lallend nach einer Magd für mehr. Ein ‚Hab Dich nich so, ich werd scho bei Dir vorbeikumma‘ drang von irgendwoher an sein Ohr. Und Maria, was glaubte die eigentlich, wer sie wiederum sei? Was Besseres vielleicht? Vornehm in gutem Tuch und mit einer empfindlichen Nase? Bestimmt nicht. Er hatte ihr nun schon lange genug den Hof gemacht, hatte ihr feine Worte gesagt, Arbeiten abgenommen, hatte ihr kleine Geschenke und sogar ungewöhnliche Blumen aus den Auen draußen vor der Stadt gebracht, aber hatte sie sich von ihm jemals zum Tanz oder zu einem der öffentlichen Spiele einladen lassen? Nein, nicht einmal über den Markt hatte er sie begleiten dürfen. Verdammte Magd, dachte er, sie hatte ihn überhaupt nicht verdient. Josef leerte seinen Krug in einem langen Zug gerade in dem Moment, als eine der drallen Wirtsmägde einen frisch abgefüllten vor ihm abstellte, während sie mit der anderen Hand mehrere Gefäße gleichzeitig an ihren Henkeln balancierend in die Höhe hielt. Josef starrte unvermittelt und wie tumb auf teilweise freiliegende Rundungen ihres üppigen Busens, dessen Schnürung zum Halskragen hin vollständig offen herunter hing.

„Das reicht für heute, Josef“, sagte sie, „du hast genug. Geh nach Haus und schlaf deinen Rausch aus. Erschaffe der Mutter Gottes etwas Besonderes.“

„Du meinst Maria Magdalena“, lallte Josef trübsinnig und griff nach dem frischen Krug, „nicht die heilige Jungfrau Maria, sondern die andere von den beiden, die Dirne unseres Heilands …“ Die Wirtsmagd hörte ihn nicht mehr, sie war bereits wieder im Trubel der Gastschenke verschwunden. Josef gönnte sich noch einen Schluck. „Ach Maria, …“

Zwei Bankreihen weiter, tiefer im Inneren des großen Schankraumes, der früher einmal den Versammlungen des Rates und auch gemeinsamen Treffen der Zunftoberen gedient hatte, saß eine Gruppe von Knechten und Gesellen beieinander, die noch lauter grölte als es die feiernden Mainfischer an diesem Abend ohnehin schon taten. Sie gehörten zur Werkstatt des Martin Lederer, einem angesehenen und gar gerühmten Bildschnitzer in Holz. Die dralle Magd mit den frech hervorquellenden Brüsten stellte dort gerade die übrigen Krüge ab, als sie von vielen Händen angefasst, lüstern gekniffen wurde und sich lautstark zur Wehr setzte.

„Nehmt bloß eure Drecksflossen von mir! Ich bin Schankmagd und keine Hure!“ Der Blick ging in Richtung der offenen Küche mit dem riesigen Herd und den Fässern für Wein und Bier, aber dort sah der beschäftigte Schankwirt ihre Blicke nicht und hörte auch ihr zusehends kreischendes Flehen nicht im Lärm der Schenke. Angestachelt von ihrer Widerborstigkeit machten sich die Männer grabschend nur umso mehr an ihr zu schaffen. Die Magd suchte sich loszumachen um fortzueilen, dabei riss der Stoff und die rechte Brust sprang heraus, quittiert von Gejohle und noch mehr Grabschern. Den Stoff mit der Hand über ihre Blöße zurückdrückend, schrie die Magd spitz auf, was den Wirt der Sturmglocke nun doch aufschrecken ließ sowie auch Josef aus seiner dumpfen Biergrübelei holte.

„Ihr da! Lasst die Gundel los! Die ist ein ordentliches Schankmädel, die tut nur ihre Arbeit.“ Josef stand aufrecht, aber leicht schwankend vor der Gruppe der Lederer-Gesellen und Knechte. Und nach einer kleinen Weile der Verblüffung fügte er noch an: „Wird’s bald oder muss ich nachhelfen?“

Ein Kerl wie ein Baum nahm seine Arme hinaus aus dem Gewirr von Gliedmaßen um die Schankmagd herum und erhob sich von der Bank, sodass er Josef mehr als einen Kopf überragend sich direkt vor diesem aufbaute.

„Wie war das? Was hast du gesagt? Bist du nicht der Geselle von diesem Meister Til, der unseren heimischen Meistern mit Ketzereien und Teufelswerk die besten Aufträge stiehlt. Du kommst gerade recht, … von Gott geschickt. Mit dir und deinem Meister wollten wir uns heute Nacht sowieso noch befassen.“

Josef verstand nicht. Der randvolle Bierhumpen traf ihn krachend ohne jede Vorwarnung, ließ seinen Wangenknochen splittern, als sei er nur ein brüchiges Stück trockenen Holzes und streckte ihn zu Boden. Josef versuchte hektisch zappelnd und kämpfend wieder auf die Beine zu kommen, aber es war zu spät.

Tilman und die Nackten

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