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Kapitel 1: Von der Bulimie zum ­Lernen – Eine Annäherung

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Wer sich an der Volkshochschule für einen Kurs »Einführung in den Buddhismus« anmeldet, erwartet – unter Umständen zu Recht – gut aufbereitetes Wissen über diese Religion vermittelt zu bekommen. Wenn am Gymnasium das Thema »Buddhismus« dran ist, geht es aber in erster Linie um etwas anderes. Hier haben Lehrpersonen nicht einfach die Aufgabe, ihre Schülerinnen und Schüler über den Buddhismus zu informieren oder sie in diese Religion einzuführen. Es ist auch nicht die Aufgabe einer Gymnasiallehrperson, ihren Schülerinnen und Schülern Mathematik beizubringen, sie physikalische und andere Gesetze auswendig lernen zu lassen oder sie auf das einzuschwören, was Goethe nun tatsächlich sagen wollte, als er dieses oder jenes Gedicht schrieb. Gymnasiale Bildung muss vielmehr darauf abzielen, dass die Schülerinnen und Schüler jene Kompetenzen entwickeln, durch die sie sich Themenwelten und andere Kulturgüter selbst erschließen können. Mit zunehmender Selbstständigkeit und Nachhaltigkeit sollen sie an Selbst- und Weltverfügung gewinnen, ihre Selbst- und Sozialkompetenzen entwickeln, kurz: sich bilden2. Das Ziel gymnasialer Bildung ist, dass Schülerinnen und Schüler fähig werden zu lernen, und zwar nicht »etwas« – sondern das Lernen selbst. Diese Formulierung ist weit davon entfernt, einem »Stricken ohne Wolle« das Wort zu reden, sprich den Unterrichtsstoff an den Rand oder sogar über ihn hinaus zu drängen. Der Lernbegriff, den ich in diesem Buch entfalte, geht allerdings mit Lerninhalten und Unterrichtsstoffen komplett anders um und weist ihnen einen völlig anderen Platz in der Bildungsbiografie eines jungen Menschen zu. In meinem Verständnis von Lernen ist das Ziel jeder schulischen Auseinandersetzung mit Wissensinhalten deren De- und Rekonstruktion und nicht länger deren unhinterfragtes und unverstandenes Aneignen und Wiedergeben (vgl. hierzu äußerst erhellend Reich 2010, 118-145). »Lernen« ist der rote Faden, der sich durch das Leben eines Menschen zieht, und das Gymnasium hätte die Aufgabe, diesen Prozess so zu organisieren und zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler eine lebendige und dynamische Beziehung zu diesem menschlichen Grundphänomen entwickeln. In Wirklichkeit halten gymnasiale Überzeugungen und Praktiken des Unterrichtens junge Menschen nach wie vor davon ab, lebendige und nachhaltige, selbst gesteuerte Formen des Lernens zu entwickeln. Gymnasien sind noch immer Weltmeister, wenn es darum geht, jungen Menschen das Lernen zu vermiesen. Warum und auf welche Weise dies bis heute geschieht und wie die Alternativen aussehen könnten, darum geht es in diesem Buch.

Im Gymnasium bilden sich während vieler Jahre die persönlichen Vorstellungen junger Menschen über das heraus, was Lernen ist. Sie entwickeln in diesen Jahren Einstellungen zum Phänomen des Lernens, die sie ein Leben lang begleiten werden und die ihre Beziehung zum Lernen prägen. Und weil man ihnen das, was sie im Gymnasium täglich tun, als »Lernen« verkauft, glauben sie irgendwann auch, dass das, was sie da tun, »Lernen« sei. Wenn dann alternative Formen des Lernens ins Spiel kommen, irritiert das zuerst einmal, wie die folgenden Rückmeldungen aus einer siebten Klassenstufe verdeutlichen:

»Ich habe in diesem Fach vor allem gelernt, dass man die guten Noten nicht nur mit Lernen macht, sondern man muss das Thema auch wirklich verstehen und logisches Denken anwenden.«

»Die Prüfungen waren wirklich schwierig, vor allem weil ich vorher immer nur Prüfungen hatte mit Auswendiglernen. Wir mussten nie denken. Das war sehr anders, aber nicht unmöglich. Ich habe gelernt, alles zu verstehen und dass Auswendiglernen nicht viel nützt in diesem Fach.«

»Ich habe gelernt, dass Wissen nicht nur durch Aufpassen in der Schule kommt, sondern auch vom Lernen, Verstehen und von Organisation. Am Anfang konnte ich nicht gut mit den Prüfungen umgehen, aber dann habe ich verstanden, dass man bei diesen Prüfungen viel verstehen muss.«

Hier liegt ein Hund begraben. Für viele Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bedeutet »lernen« auswendig lernen, es bedeutet überwiegend bulimieartiges Einwerfen und unverdautes Ausspucken von Informationen. Von den Wissensinhalten, die in den Lehrplänen festgehalten sind und im Unterricht vermittelt werden sollen, bleibt nach Jahren, ja meist schon nach ein paar Monaten oder Tagen so gut wie nichts mehr übrig – jedenfalls kein annähernd kohärentes Wissen. »Lange vor der Schwelle zum kognitiven und lebenspraktischen Transfer versagt die Schule bei der Herstellung von Nachhaltigkeit. Und deswegen kann natürlich auch von Kumulation und Ganzheitlichkeit nicht die Rede sein. […] Das nachhaltige Wissensresiduum beträgt im Durchschnitt höchstens 1 Prozent des von den Lehrplänen intendierten Lehrstoffes« (Städtler 2010, S. 37). Für die Schüler reicht es deshalb völlig aus, so Thomas Städtler, »dass das Wissen kurzfristig reproduziert wird, wobei für die [höchste, d. Verf.] Note 1 meist großes, ja bisweilen absurd hohes Faktenwissen und operationales Können nötig sind, danach aber kann man es sofort wieder vergessen. Ja, man tut als Schüler sogar gut daran, ansonsten müsste einem angesichts der Stoffmassen der Lehrpläne mit der Zeit geradezu schwindlig werden!« (a. a. O., S. 39). Und der Autor resümiert: »So gut wie das gesamte schulische Lernen ist Bulimie-Lernen. Nach den Prüfungen wird das meiste sofort vergessen. Das nachhaltige Wissensresiduum ist minimal. […] Jedoch verbleibt auch keine Essenz, im Gegenteil: Gerade das Elementare und Fundamentale geht verloren in einer Überfülle von Faktenwissen. Es verbleiben nur Wissensfetzen, mit denen man manchmal Eindruck schinden und manche täuschen kann, die aber bei ganz direkten Fragen, gemäß dem Minimax-Prinzip, sofort in ihrem Elend erkennbar werden« (ebd.).

Von dieser Erfahrung berichten mir Gymnasialschülerinnen und Gymnasialschüler häufig. Ein Schüler der Klassenstufe 11 beschreibt sie in seinem Feedback am Ende des Semesters so:

Die herkömmlichen Unterrichtsmethoden führten dazu, »dass man fast einschläft, während die Lehrperson vorne ›vorgekautes Wissen ausspuckt‹, welches wir dann für die Prüfung auswendig lernen müssen/dürfen/sollen. Für mich ist bei einem solchen Lernprozess der Lernerfolg sehr gering, da man dann nach dem ›Rauskotzen‹ (Prüfung) sowieso wieder alles vergisst.«

Dabei melden bereits Jugendliche der jüngeren Jahrgangsstufen eindeutig zurück, was sie beim lebendigen Lernen unterstützt und was nicht:

»Was mir wirklich hilft beim Lernen im Unterricht ist, dass es nicht ums Auswendigüben geht, sondern um das Verstehen.« (Klassenstufe 7)

»Was ich besonders gut fand, war, dass wir hier nicht Sachen zum Auswendiglernen gehabt haben, sondern zum Verstehen.« (Klassenstufe 8)

»Die Tests gehen nicht darum, alles auswendig zu lernen, sondern auch vom Material was man hat, zu reflektieren! Das war neu für mich, und ich fand es auch gut so.« (Klassenstufe 8)

Der Philosoph Peter Sloterdijk bringt die Erfahrung vieler Gymnasialschülerinnen und -schüler in einem Interview so auf den Punkt: »Die Schule ist ein Herd der Langeweile und wird von Berufslangweilern betrieben, die die kindliche Intelligenz verleimen, verkleben und beleidigen. Viele erholen sich nie davon.« Die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, lautet: »Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der Übertragung von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch« (Sloterdijk 2001).

Und in einem Interview mit Reinhard Kahl stellt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Edelstein eine entsprechende Hypothese dazu auf: »Lehrende« haben kaum professionelles, reflexives Wissen, nicht mal gute Hypothesen darüber, was Lernen für die Lernenden bedeutet. Folglich präsentieren sie ständig Fakten, statt Schülern das Lernen beizubringen. Bei allem, was wir heute über die Bildungslandschaft zwischen Pisa und Erfurt diskutieren, wird das größte Problem vorsichtig und scheu ausgespart. Das sind die Lehrer. Wir haben keine professionellen Lehrer. Sie sind über Fachwissen Professionalisierte, nicht über Professionswissen. Und genau das ist falsch. Natürlich sollen Lehrer in ihren Fächern kompetent sein. Es ist aber irrelevant, ob sie gute Physiker oder Historiker im universitären Sinne sind. Sie müssten hervorragende Physiker, Historiker oder Philologen sein im Blick auf diese Mediationstätigkeit, im Blick auf die Ermöglichung von Lernen. Sie können als Fachleute des Fachwissens nichts zu dessen Mehrung beitragen. Aber sie können das Wissen darüber vermehren, wie Lernen verläuft. Ihre diagnostische Inkompetenz ist freilich unglaublich« (Edelstein/Kahl 2003, S. 26).

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