Читать книгу Hasi - Christoph Straßer - Страница 9

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Mittwoch, 08. Oktober

Nach einem traumlosen Schlaf erwachte ich irgendwann gegen Vormittag auf meiner Couch. Ich hatte mir gestern, oder besser gesagt heute Nacht, einfach die Stiefel von den Füßen gezogen, mich auf das Sofa gelegt und im Fernsehen irgendeinen Müllfilm angesehen, vor dem ich dann nach wenigen Minuten bereits eingeschlafen war.

Ich richtete mich auf und streckte mich ausgiebig, wobei mir auffiel, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte. Überhaupt fühlte ich mich unausgeruht und verkatert, als hätte ich die ganze Nacht gezecht, dabei hatte ich nicht einen Tropfen Alkohol getrunken. Aus der Küche holte ich mir einen Kaffee, griff mir mein Handy und las desinteressiert die Nachrichten. Während ich geschlafen hatte, waren rund um die Welt Menschen belogen, betrogen, verprügelt, vergewaltigt und ermordet worden. Dazu Naturkatastrophen, Korruption, Börse, Wetter, Sport. Alles wie immer. Ich legte das Gerät aus der Hand und sah mich im Raum um, den ich zwar als Wohnzimmer bezeichnete, ihn aber mehr als Multifunktionsraum nutzte. Ich lebte hier, ich schlief hier, ich aß hier.

Die Küche diente nur dem Zweck, Besteck und Geschirr zu beherbergen und sich an sporadischen Besuchen meinerseits zu erfreuen.

Dem Schlafzimmer erging es ähnlich. Dort befanden sich zwar ein Bett und ein Kleiderschrank, aber beide Möbel nutzte ich nur sehr selten. Dementsprechend sah mein Wohnzimmer auch aus. Überall verteilt lagen Kleidungsstücke und irgendwelcher Krempel herum, den ich abgestellt und anschließend vergessen hatte.

Man konnte sagen, dass die Wohnung meine Persönlichkeit recht gut repräsentierte: charmant, ein bisschen chaotisch, aber mit jeder Menge ungenutztem Potential.

Im Laden musste ich erst in etwa zwei Stunden sein, also hatte ich noch Zeit für ein Frühstück. Ich leerte meine Tasse und ging in die Diele, um mir die Schuhe anzuziehen. Anschließend verließ ich die Wohnung und ging im Treppenhaus zu Fuß die beiden Etagen abwärts bis ins Erdgeschoss.

Dort angekommen sah ich durch die Glasscheibe, dass der Postbote draußen gerade dabei war, einige der Schreiben in die Briefkästen einzusortieren. Ich öffnete den meinen und nahm die beiden Umschläge in Empfang, die mir entgegengerutscht waren. Der erste Brief war tatsächlich für mich und enthielt irgendeinen Quatsch von meiner Bank.

Der zweite Brief war an einen Martin Koch adressiert, der womöglich einer meiner Nachbarn war, was ich aber bei diesem Bunker mit seinen 30 Mietparteien unmöglich sagen konnte. Ich riss die Tür auf und stand vor einem kleinen, dürren Männlein, das mich augenblicklich breit angrinste.

»Guten Tag.«

»Guten Tag am Arsch«, sagte ich und hielt dem Mann die beiden Briefumschläge ins Gesicht. »Kannst du das lesen? Für wen sind die Briefe?«

Der Typ kniff kurz die Augen zusammen und las.

»Ein Brief geht an Marco Haas, der andere an Martin Koch.«

»Entzückend. Und was machen die Dinger in ein und demselben Briefkasten? Soweit ich weiß, habe ich keinen Mitbewohner.«

Der Postbote lächelte verlegen.

»Das muss ein Irrtum sein, entschuldigen Sie.«

Ich lächelte und klopfte dem Mann auf die Schulter.

»Ach was, gar kein Problem. Wir sind doch alle nur Menschen.«

Ich machte einen Schritt vorwärts und trat gegen das klapprige, grüne Postfahrrad, das keinen halben Meter entfernt neben uns stand. Das Fahrrad kippte taumelnd seitwärts, hielt sich einen Moment in Schräglage und fiel schließlich um. Die Briefe, die sich in den großen Taschen vor dem Lenker und am Gepäckträger befanden, breiteten sich wie Fächer auf dem Bürgersteig aus.

»So, da hast du eine kleine Sortierübung. Keine Bange, lesen ist nicht erforderlich.«

Der Postbote blickte entsetzt auf das Chaos, das sich vor ihm aufgetan hatte. Die Zornesröte schoss ihm augenblicklich ins Gesicht, und der Mann ballte die Fäuste, als er wieder zu mir sah. Im ersten Moment glaubte ich wirklich, dass er den Mumm haben würde, um tatsächlich auszuholen.

»Na komm, komm«, lachte ich.

Der Mann entspannte sich sofort wieder.

»Ich … ich werde Sie anzeigen!«

Was für ein Waschlappen. Ich wand mich ohne ein weiteres Wort ab und überquerte die Straße. Ich war bereits einige Meter entfernt, als ich den Briefträger noch immer fluchen hörte. Als ich mich noch einmal zu ihm herumdrehte, war er auf den Knien und sammelte die verstreuten Briefe ein. Ich konnte es nicht fassen.

Natürlich durfte man nicht zu viel von diesen Analphabeten erwarten, die sich für den Mindestlohn abstrampelten, um bei Wind und Wetter Post zu verteilen, die niemand mehr brauchte, da der wirklich wichtige Kram ohnehin per E-Mail verschickt wurde. Aber ich hatte angenommen, dass wenigstens so viel Würde und Stolz in diesem Typen steckte, dass er mehr herausbrachte, als eine kleine angedrohte Anzeige wegen … wegen was? Umschubsen eines Fahrrades? Lächerlich.

Ich erreichte die kleine Bäckerei und besorgte mir dort zwei belegte Brötchen, mit denen ich mich wieder auf den Rückweg nach Hause machte. Vor dem Haus angekommen sah ich, dass der Postbote inzwischen seinen Krempel zusammengeklaubt hatte und zwei Häuser weitergezogen war. In der Wohnung machte ich mir noch eine Tasse Kaffee, mit der ich schließlich mein Frühstück herunterspülte. Als ich den Vorhang beiseitezog und das Fenster öffnete, um zumindest ein wenig frische Luft hineinzulassen, blickte ich in die mir gegenüberliegende Wohnung auf der anderen Seite der schmalen Nebenstraße. Die Wohnung war zurzeit leer, da das Paar, das dort lebte, sich auf der Arbeit befand, wie ich vermutete. Was genau die beiden machten, wusste ich nicht, aber sie führten offensichtlich das, was man ein normales Leben nannte.

Morgens verließen sie das Haus und kehrten in aller Regel am Nachmittag zurück. Manchmal gab es auch freie Tage oder welche, an denen sie bereits nach wenigen Stunden wieder zu Hause waren. Dann saßen beide auf dem Sofa, aßen in der Küche zu Abend und sahen anschließend gemeinsam auf dem Sofa kuschelnd fern. Sehr idyllisch, wenn es nicht so widerlich eintönig und spießig wäre. Mein eigenes Leben, das mehr dem einer Fledermaus glich, war zwar nicht wesentlich aufregender, aber zumindest durfte ich mich rühmen, kein Anhänger der spießigen, deutschen Mittelschicht zu sein.

Ich legte mich zurück aufs Sofa. Minutenlang wälzte ich mich hin und her, konnte aber nicht in den Schlaf finden. Schließlich setzte ich mich genervt wieder auf und sah auf die Uhr: Im Sexshop musste ich erst in einer knappen Stunde sein. Wenn ich jetzt losfuhr, war ich etwas zu früh dran. Ich beschloss, mich trotzdem auf den Weg zu machen, denn weder konnte ich schlafen noch hatte ich Lust, mir irgendwelche Dokumentationen im Fernsehen anzusehen.

Im Flur zog ich mir Schuhe und Jacke an und verließ die Wohnung.



»Tag, Hasi«, begrüßte mich Rainer freundlich, als ich den Laden betrat. »Bist heute aber wieder früh dran.«

Mein Kollege saß auf dem Hocker hinter der Theke und war gerade damit beschäftigt, sich auf unserem tragbaren Blu-ray-Player einen Porno reinzuziehen. Ursprünglich war das Gerät beschafft worden, um reklamierte Scheiben überprüfen zu können, seit aber keine Blu-Rays oder DVDs mehr verliehen und so gut wie keine mehr verkauft wurden, hatte das Gerät seinen Zweck praktisch verloren. Abgesehen natürlich von dem, meinen debilen Arbeitskollegen zu erfreuen.

»Mach die Scheiße da aus. Und nenn mich nicht Hasi, zum tausendsten Mal«, sagte ich, ging um den Tresen herum und hing meine Jacke an den Haken.

»Ja, ja, ja …«, maulte Rainer und schaltete das Gerät ab. »Mir war halt langweilig, außerdem hatte ich noch nicht mit dir gerechnet.«

»Ich schwöre dir, wenn ich hier irgendwann einmal reinspaziert komme und dich dabei erwische, wie du dir einen runterholst, reiß ich dir den Schwanz ab.«

Mein Kollege lachte ein bisschen zu laut.

»Als ob ich mir hier … also echt nicht«, sagte er dann mit deutlich geröteten Wangen.

Ich ließ es dabei bewenden.

Natürlich hatte ich absolut keine Lust darauf, Rainer hier mit heruntergelassener Hose zu erwischen, auf der anderen Seite fand ich die Idee, sich in einem Sexshop vor Langeweile einen runterzuholen, alles andere als abwegig. Ich selbst hatte auch schon sehr oft mit dem Gedanken gespielt, auch wenn es nie so weit gekommen war. Aber wahrscheinlich würde ich auch nichts sagen, wenn ich Rainer zu Schichtbeginn aus einer der Wichskabinen ziehen müsste, denn er war nur ein kleiner Idiot, der zufällig im selben Laden arbeitete wie ich. Technisch gesehen war ich noch nicht einmal sein Vorgesetzter, wir waren zumindest auf dem Papier gleichberechtigte Kollegen. Aber Leute wie Rainer ließen sich leicht dominieren und verlangten geradezu nach jemandem, der ihnen Anweisungen gab. Und den Gefallen tat ich meinem Kollegen nur allzu gern.

»War wohl nicht viel los heute, was?«, fragte ich nach einem Blick in die Kasse, in der sich nicht viel mehr befand als noch gestern Abend.

Mein Kollege schüttelte den Kopf.

»Nein, überhaupt nicht. Zwei Mädels waren hier und haben diese essbaren Slips gekauft für einen Junggesellinnen-Abschied. Und irgendwer hat ein paar alte DVDs gekauft. Ich hab dem nen Rabatt gegeben.«

»Was denn für einen Rabatt?«

»Der hat zehn Scheiben genommen, da hab ich gedacht, 30 Euro wären okay.«

Ich nickte. Wahrscheinlich konnten wir uns glücklich schätzen, dass es überhaupt noch einen Blöden gab, der 30 Euro für DVDs ausgab.

»Ich hab auch heute mit dem Chef telefoniert«, sagte Rainer dann, und ich horchte auf.

»Oha, wie kam er denn zu der Ehre?«

»Ich wollte ihn noch einmal fragen, wie es denn mit meiner Gehaltserhöhung aussieht. Es wird ja alles teurer, habe ich gesagt. Und das sollte sich ja irgendwo auch in meinem Einkommen niederschlagen.«

»Und?«, fragte ich. »Hat Kurt dir gesagt, wohin du dir die Schnapsidee schieben kannst?«

Rainer schaute betreten zu Boden.

»So ungefähr. Er sagte, dass die Zahlen aktuell nicht so gut seien und er sich keine Gehaltserhöhung leisten könne, so lange die nicht besser werden.«

Ich grinste. Wäre Rainer nicht so ein Idiot, könnte man ihn glatt als putzig bezeichnen. Als ein Besatzungsmitglied der Titanic hätte man ihm erzählen können, dass sofort eine Gehaltserhöhung für ihn drin wäre, wenn das Schiff aufhörte zu sinken. Und er würde in dem Fall brav an Deck warten, bis es so weit war.

Dieser Laden konnte praktisch jeden Tag geschlossen werden, da gab es keine besseren Zahlen, auf die zu warten es sich lohnte. Es gab hier seit Monaten nur noch schlechte sowie grauenhafte Tage. Im Grunde war meinem Kollegen dies auch vollkommen klar, aber er hatte einfach nicht den Mumm, sich entweder einen neuen, besser bezahlten Job zu suchen oder Kurt die Pistole auf die Brust zu setzen und ihm zu sagen, dass er kündigte, wenn er nicht sofort mehr Geld bekam.

»Aber lange kann der Chef mir das ja nicht mehr ausschlagen, ich frage schon seit vier Monaten danach.«

Mein Kollege begann zu quengeln, und das nervte mich tierisch. Ich winkte ihn mit zwei Fingern zu mir.

»Komm mal her, ich will dir was zeigen.«

Rainer kam zu mir. Ich stellte mich dicht vor ihn und blickte ihm in die Augen. Sein Blick wich mir aus.

»Nein, nein, nein«, grinste ich. »Guck mir in die Augen. Fixier meinen Blick.«

Tatsächlich gelang es Rainer, mich einige Sekunden, ohne Unterbrechung anzusehen.

»Cool. Und jetzt frag mich nach einer Gehaltserhöhung.«

»Was? Warum?«

»Tu es einfach.«

Rainer räusperte sich und atmete durch.

»Kann ich bitte … also, ich brauche eine Gehaltserhöhung.«

Ich schüttelte den Kopf und klopfte meinem Kollegen auf die Wange.

»Das ist hoffnungslos. Nicht einmal während der Dauer dieser kleinen Frage kannst du mir in die Augen sehen. Machen wir uns nix vor: Du bist eine Muschi, und Muschis kriegen keine Gehaltserhöhung.«

»Das zählt nicht, ich war nicht vorbereitet«, lachte Rainer.

»Ich finde das nicht halb so witzig wie du. Wenn du nicht einmal in der Lage bist, jemandem in die Augen zu sehen, wie willst du dann etwas von ihm fordern?«

»Aber ich kann Kurt ja schlecht am Telefon in die Augen gucken …«

Ich setzte mich auf den Hocker, der von Rainers Hintern noch unangenehm warm war, und blickte meinen Kollegen an, der nun völlig verloren im Laden stand und so wirkte, als wüsste er nichts mehr mit sich anzufangen.

Rainer war ein armer, unscheinbarer und völlig harmloser Tropf.

Klein, schmächtig, mit seltsamer Playmobil-Frisur und überhaupt absolut unscheinbar saß er hier seine Tage ab in der Hoffnung, irgendwann mehr zu verdienen als die erbärmlichen 1.100 Euro netto, die er jetzt bekam. Bei der Arbeit schien er immer dieselbe Jeanshose zu tragen, was mich gleichermaßen anekelte und faszinierte. Aber man konnte nicht behaupten, dass er ungebildet oder dumm war. Er war einfach nur ein Waschlappen.

Ob er schon immer ein Waschlappen gewesen war oder erst von irgendwem oder irgendwas dazu gemacht wurde, wusste ich nicht. Und es war mir auch völlig egal. Rainer war nur einer von vielen Idioten ohne guten Schulabschluss, die dazu keine gute Ausbildung abgeschlossen hatten, wenn überhaupt, und daher bis ans Ende ihrer Tage Jobs in irgendeinem Lager, bei einer Tankstelle, bei McDonald’s oder eben hier in diesem Laden machen mussten, um über die Runden zu kommen.

Ich betrachtete meinen Kollegen, der lediglich zwei oder drei Jahre jünger war als ich, inzwischen als eine Mischung aus Maskottchen und Haustier, und mit dieser Form der Beziehung kamen wir beide wunderbar zurecht.

»Ist denn sonst noch etwas gewesen?«, fragte ich schließlich.

Rainer schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht. Ach so, doch. Heute Morgen hat sich einer beschwert, dass es in den Videokabinen keine Filme mit Asiatinnen gäbe. Ich soll dich bitten, da mal was zu bestellen.«

»Da ist alles voll mit Asiatinnen, was soll der Quatsch?«

»Ja, aber keine richtigen Asiatinnen, nur so Frauen aus Vietnam oder von den Philippinen.«

»Ist ja wohl nicht meine Schuld, dass Japaner alles verpixeln und Chinesen ein Loch nur dann gern präsentieren, wenn’s von nem Kopfschuss stammt.«

Rainer grinste.

»Ich sollte es dir halt ausrichten.«

»Und das hast du getan. Herr im Himmel, ich frage mich, wann hier der erste Idiot hereinspaziert kommt und Eskimopornos sehen will.«

»Inuit«, sagte Rainer.

»Was?«

»Inuit«, wiederholte mein Kollege. »Eskimo ist ein eher veralteter Begriff. Deswegen sagt man Inuit, wenn man die kanadischen oder grönländischen Ureinwohner meint. Die aus Alaska bezeichnen sich selbst als Yupik und Inupiat.«

»Rainer?«

»Ja?«

»Geh nach Hause, bevor ich mich vergesse.«

»Alles klar, alles klar«, lachte Rainer und hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin schon weg. Dann wünsche ich dir eine ruhige Schicht.«

»Ja, ja …«, sagte ich und sah meinem Kollegen nach, wie er Richtung Ausgang ging. Kurz davor stoppte er und drehte sich noch einmal zu mir herum.

»Hast du eigentlich meinen USB-Stick in den Müll geworfen?«

»Den mit den super Kackliedern aus dem scheiß Radio? Nein, warum?«

»Na ja, weil der im Papierkorb lag.«

Ich lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Ist mir ein schleierhaftes Rätsel.«

»Tja, dann …«, sagte Rainer und schnappte seine Tasche. »Dann mach ich mich mal auf den Heimweg.«

»Tu das.«

Rainer ging aus dem Shop, und auf einem der Monitore konnte ich erkennen, wie er das Gebäude verließ. Auf nach Hause zur Katze und dem Ein-Zimmer-Apartment mit Kochnische.

»Inuit …«, murmelte ich. »So ein Quatsch.«

Jetzt hatten sogar schon die Schneeaffen eine politisch korrekte Bezeichnung. Aber es passte zu Rainer, sich für so einen Unfug zu interessieren. Wenn man sich ausschließlich mit Bus und Bahn fortbewegte, wie es Penner, Studenten, Greta-Jünger und eben Rainer taten, dann hatte man viel Zeit, um sich mit derlei Krempel zu befassen. Aus dem Fenster zu starren war eben nicht besonders aufregend.

Ich drehte eine kleine Runde durch den Shop, in dem es totenstill war. Rainer hatte den Lärm, den er als Musik bezeichnete, entweder gar nicht erst ein- oder kurz vor meiner Ankunft ausgeschaltet. So oder so war es mir nur recht. Ich lehnte mich an eine Säule, an der billige Kunstlederpeitschen und andere Kinkerlitzchen aufgehängt wurden und auf Käufer warteten, die nie kamen.

Ich zog den Brief für meinen mir unbekannten Nachbarn Martin Koch aus der Tasche und öffnete ihn. Dem armen Kerl verweigerte man für einige Monate ein Drittel seines Hartz IV-Satzes, da er seinen Job selbst gekündigt und sich so selbstverschuldet in die Hilfebedürftigkeit begeben hatte, wie es in dem Schreiben hieß. Der Spinner konnte froh sein, wenn er überhaupt noch etwas bekam. Das Recht auf freie Berufswahl und das Handaufhalten beim Steuerzahler passten nun einmal nicht zusammen. Wäre es so leicht, hätte ich bereits vor Jahren ein entspanntes Leben auf der Couch meinem Jetzigen vorgezogen. Ich ging zur Theke, beugte mich über sie und warf das zerknüllte Schreiben in den Abfalleimer. Der gute Martin würde schon noch früh genug von seinem Glück erfahren, spätestens, wenn er am Automaten Geld abheben wollte, das er gar nicht besaß.

Ich hockte mich auf die Theke und legte den Kopf in den Nacken. Langsam wurde ich etwas munterer, auch wenn ich mich im Angesicht von sieben Stunden absoluter Zeitverschwendung nicht darüber freuen konnte. Aber mir war irgendwann aufgefallen, dass es mir hier in diesem Laden am besten ging, natürlich in rein körperlicher Hinsicht. Draußen in der richtigen Welt hatten alle Termine und ständig die Uhr im Auge. Jeder war pausenlos auf dem Weg irgendwohin. Zur Arbeit, nach Hause, zum Sport, zum Friseur, zum Supermarkt, zur Kneipe, zu Freunden … Alle waren unterwegs. Immer. Nur hier drin schien die Zeit still zu stehen. In einer Wüste, die nicht aus Sand, sondern aus Zeitpartikeln bestand, wirkte dieser Sexshop wie eine Oase. Aber wenn er einen erst einmal in den Fängen hatte, dann entpuppte sich diese Oase sehr schnell als eine Gruft. Hier bewegte sich gar nichts, überhaupt nicht. Und hier schien auch niemals die Sonne.

Dass ich mich ausgerechnet hier am wohlsten fühlte, gab mir zu denken. Vielleicht verwandelte ich mich gerade in eine Art Reptil, das immer dann am zufriedensten war, wenn man es auf einen Stein unter Kunstlicht legte. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Unter Kunstlicht befand ich mich tatsächlich pausenlos, viel künstlicher als unter den unsagbar billigen Neonröhren ging es praktisch gar nicht.

Fehlte lediglich ein Stein. Ein Stein hatte in meinem Leben bisher noch keine Rolle gespielt. Aber das konnte ja noch werden.

Eine Bewegung auf einem der Monitore neben mir riss mich aus meinen Gedanken. Ich beugte mich ein Stück nach hinten, um besser sehen zu können, und blickte direkt in Dustins feistes Gesicht, das breit in die Kamera grinste. Was machte der denn hier?, dachte ich.

Für gewöhnlich kam er bereits vormittags, sodass ich ihn praktisch nie zu sehen bekam. Dustin erschien hier neuerdings einmal in der Woche, um die Videokabinen zu leeren. Im Gegensatz zu Rainer und mir befreite er die Dinger aber nicht von Sperma und Taschentüchern, nein, Dustin holte das Geld. Normalerweise war das eine Aufgabe, die Kurt niemandem übertrug und gewissenhaft selbst erledigte, da ihm das Kabinengeld heilig war und er niemanden auch nur einen Blick darauf werfen ließ. Warum ihn neuerdings sein hässlicher Neffe vertreten durfte, wusste ich nicht.

Ich beobachtete auf dem kleinen Bildschirm, wie Dustin sorgsam die Tresore, die sich im Innern der Kabinen befanden, öffnete und das Papiergeld in eine silberne Geldbombe legte, während er die Münzen in einen alten Stoffbeutel rasseln ließ, auf dem noch in verblassten schwarzen Lettern Deutsche Bundespost zu erkennen war. Als Dustin nach einigen Minuten den letzten Tresor wieder geschlossen hatte, zwinkerte er noch einmal der Kamera zu, verschwand aus dem Gebäude und somit aus meinem Blickfeld.

Das dicke Schwein. Wenn ich mit 10.000 Euro oder mehr unter dem Arm durch die Gegend fahren könnte, hätte ich wahrscheinlich genauso gute Laune. Das war immerhin eine Menge Geld und lief dazu noch vollständig an der Steuer vorbei. Wer wusste schon, wie viel Geld so eine Wichskabine machte? Der Fiskus ganz sicher nicht, und mein Chef würde es ihm auch nicht verraten.

Seit ich hier arbeitete, und das waren inzwischen beinahe fünf Jahre, hatten die Läden bereits dreimal den Besitzer gewechselt. Meinen Arbeitsvertrag hatte ich bei einem kleinen, alten Wichtel namens Johnny unterschrieben. Johnny hieß eigentlich Hans-Werner, aber da ihn alle Johnny nannten, sollte ich es ebenso machen. Dieser Typ war noch einer von der alten Garde gewesen, der Anfang der 80er Jahre durch Videotheken und Sexshops reichgeworden war. Als er irgendwann merkte, dass eine Erfindung namens Internet ihm in nicht allzu ferner Zukunft Ärger machen würde, stieß er die Läden alle vollständig ab. Die drei Sexshops erwarb ein Typ namens Michael. Und genauso einfallsreich wie seine Eltern bei der Namensgebung waren, so clever war Michi in kaufmännischen Dingen. Seine erste Idee war gewesen, die Videokabinen abzuschaffen, weil er sie ekelhaft fand.

Viel lieber hätte er stil- und geschmackvolle Erotik-Boutiquen aus den Läden gemacht. Ich musste mit einigem Nachdruck auf ihn einreden, bis er endlich begriff, dass zumindest in dem Laden, in dem ich arbeitete, nur gehirnamputierte Neandertaler einkauften und das Einzige, was noch ein bisschen Geld abwarf, eben jene ekelhaften Videokabinen waren.

Glücklicherweise wurde Michi einige Tage nach Übernahme der Geschäfte von einem Auto angefahren und war körperlich derart im Arsch, dass er aufgrund seiner Erwerbsunfähigkeit die Läden gleich wieder verkaufen musste. Mit riesigen Verlusten, versteht sich. Vor zwei Jahren dann übernahm Kurt die Läden. Er war ein Chef, wie man ihn sich gar nicht besser wünschen könnte: Er hielt sich aus allem heraus, schien nichts verändern zu wollen und machte sich nicht einmal die Mühe, sich bei Rainer und mir vorzustellen. Seit er den Laden übernommen hatte, habe ich ihn nur drei- oder viermal persönlich getroffen.

Zum ersten Mal, als er schon über einen Monat offiziell der Besitzer war. Ich hatte auf einem der Monitore einen bulligen Kerl mittleren Alters entdeckt, der sich an den Tresoren der Videokabinen zu schaffen machte. Aus dem Personalraum hatte ich mir den Baseballschläger geholt, der dort schon seit Jahren gestanden hatte, und war damit in der Hand in den Gang mit den Kabinen gestürmt. Als ich vor dem Kerl stand, der gerade dabei gewesen war, mit dem Schlüssel einen weiteren Tresor zu öffnen, riet ich ihm dringend, mir das Ding zu geben und sich zu verpissen, wenn er nicht wollte, dass der Schläger auf seinem Schädel Polka tanzte. Der Kerl hatte mich völlig unbeeindruckt angesehen und dann gesagt, dass sein Name Kurt war, ihm der Laden gehörte und ich mich jetzt besser verziehen sollte, wenn ich nicht wollte, dass der Schläger in meinem Arsch Polka tanzte. Die Art, wie Kurt das gesagt hatte, ließ mich keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung zweifeln.

Wie auch Dustin heute, so hatte Kurt in aller Seelenruhe die Tresore geleert, behutsam das Geld verstaut und war dann ohne ein weiteres Wort verschwunden. Seit dieser ersten Begegnung mit Kurt wusste ich, dass er nicht zu den Leuten gehörte, die sich verarschen ließen. Sympathischer wurde er mir auch deshalb, da ich auf meiner folgenden Gehaltsabrechnung feststellte, dass ich plötzlich 200 Euro mehr verdiente. Ich hatte damals beschlossen, Rainer von meiner monetären Sonderbehandlung nichts zu erzählen, was sich in Anbetracht der jüngsten Bettelorgien meines Kollegen als weise herausstellte. Kurt war für mich also in jeder Hinsicht der ideale Vorgesetzte.

Über ihn kursierten die merkwürdigsten Gerüchte, die meisten von ihnen wurden von irgendwelchen betrunkenen Idioten kolportiert, die sich spätabends hier hinein verirrten. Eine dieser Legenden besagte, dass Kurt früher einmal im Rotlichtmilieu tätig gewesen war. Und nachdem er aus irgendwelchen Gründen plötzlich keine Lust mehr dazu gehabt hatte, war er auf die Idee gekommen, sich drei Sexshops zu kaufen. Natürlich glaubte ich diesen Blödsinn nicht eine Sekunde. Wer um alles in der Welt würde sich mit drei abgehalfterten Shops zufriedengeben, wenn er die Einnahmen eines oder mehrerer Bordelle haben konnte?

Nachdem Dustin verschwunden war, schaute ich nach, wie es den Kabinen ergangen war. Rainer hatte ganze Arbeit geleistet. In jeder einzelnen von ihnen roch es angenehm nach Putzmittel, an keinem der Monitore klebte Sperma, und auch die Sitze selbst und die Fußböden waren makellos. Ich war zufrieden. Wenn die Schicht schon so begann, dass ich bewaffnet mit Glasreiniger und Einmalhandschuhen das Sperma von irgendwelchen Taxifahrern von den Scheiben wischen musste, weil sie entweder nur im Stehen wichsten oder die Scheibe mit voller Absicht versauten, dann würde der folgende Abend meist auch nicht viel besser. So aber fing die Schicht äußerst entspannt an. Ich schaltete die kleine Stereoanlage an und wartete, mit welchen wundervollen Klängen Rainers USB-Stick bestückt worden war.

Nach wenigen Sekunden begann Welcome To The Jungle von Guns’n’Roses und ich musste lächeln. Rainer hasste diese Band, so wie er beinahe jede Band hasste, die ihre Gitarre länger als 30 Sekunden pro Song nutzte. Er war am glücklichsten, wenn er seichten Plastik-Pop aus dem Radio hören konnte. Mit dem USB-Stick hatte er mir also einen Gefallen getan. Wie nett. Ich drehte die Anlage lauter, denn auf den Musikgeschmack meiner Kunden brauchte ich keine Rücksicht zu nehmen. Zum einen gab es sowieso kaum Kunden, zum anderen waren Leute, die ein Geschäft betraten, um dort etwas zu erwerben, das sie sich oder ihren Liebsten in den Hintern schieben wollten, in der Regel nicht dazu aufgelegt, mit dem Verkäufer über dessen Musikgeschmack zu streiten.

Da ich heute auf dem Hocker noch genügen Zeit verbringen würde, wanderte ich lustlos durch den Laden und griff mir hier und da irgendwelche Artikel, die wir zum Verkauf anboten. Das meiste von diesem Zeug war wirklich ziemlicher Krempel, den man in besserer Qualität oder zumindest günstiger im Netz bekam. Aber so lange es noch Leute gab, die das nicht wussten oder sich nicht dafür interessierten, bestand immer die Möglichkeit, dass sich einer von ihnen hier hinein verirrte, weswegen ich im Shop tatsächlich gelegentlich Staub wischte. Zwar nur halbherzig mit einem alten Lappen, immerhin war ich keine Putzfrau, aber doch gewissenhaft genug, dass man nicht behaupten konnte, dass der Shop im Dreck versank. Den Eindruck, den die Regale und Verpackungen vermittelten, ließ aber darauf schließen, dass Rainer heute schon fleißig gewischt hatte. Jetzt musste ich mir also eine neue Beschäftigung suchen.

Das Kichern einer Frau holte mich aus meinen Gedanken. Ich blickte zum Eingang, wo gerade zwei potentielle Kundinnen den Shop betraten. Ich schätzte beide auf Anfang zwanzig, und eine von ihnen schien bester Laune zu sein, während die andere wohl nur zur Begleitung diente und nicht so recht wusste, was sie hier drin eigentlich sollte. Schön, damit waren wir dann schon zu zweit. Kaum hatten die beiden Mädels den Laden betreten, blieben sie stehen und blickten sich um.

Die Bessergelaunte, eine dralle Brünette in einem bunten Wollkleid, ließ ihren Blick neugierig umherschweifen, während das andere Mädchen, eine Blondine, deren Haarfarbe am Haaransatz deutlich herausgewachsen war, gelangweilt zu mir hinübersah.

»Ach da!«, quiekte die Brünette schließlich und hielt in großen Schritten auf das Regal mit den Vibratoren zu.

Die Blonde trottete lustlos hinterher. Die Frau im Kleid griff sofort nach einer Schachtel, in der sich einer der Auflegevibratoren befand. Sie wog das Päckchen in den Händen, betrachtete die Abbildungen und stellte es zurück an seinen Platz.

»Wenn ich euch helfen kann, einfach melden«, rief ich den Frauen freundlich zu.

Sofort nahm die Frau den Karton wieder aus dem Regal und hielt es mir entgegen.

»Der hier ist aber nicht zum Einführen, oder?«

Ich gesellte mich zu der Frau und ihrer griesgrämigen Freundin und nahm der Brünetten lächelnd die Schachtel aus der Hand.

»Nein, der ist nur zum Auflegen. Der massiert den Kitzler und die Schamlippen. Natürlich kann man den auch einführen, aber das hängt dann eher vom persönlichen Ehrgeiz ab.«

Die Frau kicherte, sodass ihr Busen im BH ordentlich herumhüpfte. Ihre Freundin bekam ebenfalls Farbe im Gesicht, jedoch schien sie eher peinlich berührt zu sein.

»Suchst du denn etwas zu Einführen?«, fragte ich und lächelte so, wie es aufmerksame und service-orientierte Verkäufer taten.

Ich wollte die Kleine schließlich nicht verschrecken, auch wenn ich so langsam das Gefühl bekam, dass sie ein ziemlich versautes Biest war.

»Etwas zum Einführen ist doch immer gut«, grinste die Frau und blickte mich mit ihren stahlblauen Augen beinahe herausfordernd an.

»Da hast du natürlich recht«, sagte ich und reichte ihr einen weiteren hochwertigen Vibrator. Das Modell war aus rosafarbenem Latex gefertigt und hatte zudem eine elegante und ansprechende Form. So etwas verkauften wir nur selten, da es meist Männer waren, die hier für ihre Frauen oder Freundinnen einkauften.

Das Resultat war dann, dass sie schnell und verschämt einen Plastikknüppel aus China für zehn Euro kauften, der möglichst nicht größer als ihr eigener Schwanz war. Zu Hause wanderten diese Teile dann natürlich umgehend in den Müll, denn keine Frau würde sich diesen nach Industriegummi stinkenden Ungetümen freiwillig nähern. Ich packte den Vibrator aus und legte ihn ihr in die Hand.

»Und der hat sofort Körpertemperatur und ist dazu kuschelweich, zumindest außenrum.«

»Ich mag es lieber hart«, sagte die Frau und leckte sich über die Lippen.

»Dann hast du damit die beste Wahl getroffen. Ich habe noch keine Beschwerden darüber bekommen. Du kannst ihn gern mal einschalten.«

Das Mädchen drückte auf die Taste am unteren Ende, worauf der Vibrator sofort laut zu summen begann.

»Der geht aber ab«, lachte sie dann und drehte sich zu ihrer Freundin herum.

»Ist das Ding nicht ein bisschen zu groß?«, maulte sie und zuckte mit den Schultern.

»Ach, da hab ich schon ganz andere Dinger geschafft.«

Ich spürte, wie sich unterhalb meines Gürtels etwas regte.

»So eine bist du also«, stellte ich lächelnd fest.

»Ja, so eine bin ich«, grinste die Frau zurück.

»Wenn das so ist, dann kannst du gern nach hinten gehen und den mal in aller Ruhe ausprobieren. Damit du weißt, was du für dein Geld bekommst …«

»Können wir gehen?«, motzte die Begleiterin. »Das wird hier irgendwie creepy.« Ihre Freundin reagierte nicht auf diesen Einwand, sondern sah mich an, als wüsste sie nicht, ob sie diese kleine Herausforderung annehmen und sich überwinden sollte. »Vielleicht mach ich das«, sagte die Frau dann fast trotzig. Ich grinste breit.

»Der Kunde ist König. Hinten ist ein Pausenraum, da hast du deine Ruhe und kannst dich ganz entspannt mit dir und deinem neuen Kumpel beschäftigen.« Die Frau schielte an mir vorbei in Richtung der Theke. Dann blickte sie mich mit einem gespielt gelangweilten Blick an.

»Hinter der Theke?«

»Direkt die erste Tür rechts.«

»Das ist doch jetzt nicht dein scheiß ernst, oder?«, maulte die Freundin und sah uns beide beinahe entsetzt an.

»Wieso denn nicht? Ich muss doch testen, was ich kaufe.«

Ich lächelte und ging demonstrativ einen Schritt zur Seite, um ihr zu zeigen, dass der Weg für sie frei war.

Die Laune der Freundin verschlechterte sich zusehends.

»Also, ich hau jetzt ab. Wenn du hier irgendeinen kranken Scheiß machen willst, bitteschön.«

Die Frau sah mir in die Augen und ging schließlich mit dem Vibrator in der Hand an mir vorbei hinter die Theke.

»Ich bin in fünf Minuten wieder zurück«, grinste sie und verschwand im Personalraum.

»Ich bin jetzt weg, Sonja. Mach, was du willst«, rief die Begleiterin und stapfte beleidigt aus dem Laden.

Ich sprang über die Theke, um zu sehen, ob sie das Gebäude tatsächlich verlassen hatte, was der Fall war. Anschließend kontrollierte ich auf dem entsprechenden Monitor, ob sich jemand in den Videokabinen befand. Sie waren alle leer. Heute war offenbar mein Glückstag.

Ich rannte zur Vordertür, schloss sie ab und klebte ein ›Bin gleich zurück‹-Schild in die Scheibe. Anschließend lief ich zum Pausenraum und atmete vor der Tür kurz durch. Schließlich wollte ich der Süßen auch die Möglichkeit geben, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Nach einer Minute öffnete ich die Tür.

Die Frau hockte vollständig angezogen auf einem der billigen Plastikstühle und glotzte auf ihr Handy. Der Vibrator lag unbeachtet auf dem Tisch. Ich war maßlos enttäuscht. Als die Frau mich im selben Augenblick bemerkte, sprang sie vom Stuhl auf.

»Scheiße, was soll das denn? Was machen Sie hier?«

Wie drollig. Auf einmal siezte sie mich. Sprachliche Distanz zum Angreifer schaffen. Das hatte sie sicher in einem dieser Nein-heißt-Nein-Kurse gelernt.

»Was glaubst du denn, was ich hier will?«, fragte ich. »Oder bist du jetzt ganz plötzlich das unschuldige Mauerblümchen?«

Die Augäpfel der Frau rasten wild in den Höhlen. Obwohl es hier offensichtlich keinen zweiten Ausgang gab, suchte sie verzweifelt nach ihm.

»Lassen Sie mich hier raus, Sie Arschloch!«, schrie sie plötzlich.

»Warum sollte ich? Wie du dir bestimmt denken kannst, hatte ich mir diesen bezaubernden Moment anders vorgestellt.«

Ich verstand das Theater nicht. Noch vor einer Minute war die Kleine rattenscharf gewesen, und jetzt stand sie hier vor mir wie eine Kriegsgefangene, die ihren Folterknecht um Gnade anflehte. Das war alles, aber nicht geil. Kein bisschen. Aber das bedeutete ja nicht, dass ich nicht noch ein wenig Spaß haben konnte, auch wenn sich mein kleiner Nachmittags-Quickie wohl erledigt hatte. Ich trat einen Schritt zur Seite.

»Bitteschön, da ist die Tür«, grinste ich.

Die Frau misstraute dem Braten ganz offensichtlich. Immer wieder blickte sie unsicher erst zu mir, dann in Richtung Ihres Fluchtwegs.

»Ach, komm schon«, lächelte ich. »Glaubst du wirklich, ich würde dir eine reinhauen, dich vergewaltigen und hinterher erzählen, der Sex wäre einvernehmlich gewesen, obwohl mir das die Bullen und deine dumme Freundin sofort abkaufen würden, so nuttig, wie du dich vorhin verhalten hast? Was für eine Art Mensch wäre ich denn dann bloß …«

Die Frau schluckte laut hörbar, und der Schweiß stand ihr bereits auf der Stirn.

Wie ich Frauen in diesem Alter hasste. Natürlich waren sie oft ungemein sexy, aber leider Gottes waren sie auch gefangen irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein. Sie hielten sich für die größten Sexbomben, weil sie die Pubertät hinter sich gelassen und ihren Körper für sich entdeckt hatten. Gleichzeitig waren sie aber auch noch immer dumm und naiv wie kleine Kinder.

Tatsächlich stand mir dieser unsicher zitternde Frauenkörper zur freien Verfügung seit dem Moment, in dem er diesen Raum betreten hatte. Aber ich vergewaltigte keine Frauen, ganz gleich, wie dämlich sie waren. Nicht meine Baustelle.

»Komm schon, Mäuschen. Verpiss dich, ich steh hier nicht den ganzen Tag.«

Die Frau blickte mich ein letztes Mal an und stürmte dann aus dem Raum an mir vorbei zurück in den Laden.

Ich ging kopfschüttelnd durch den Hinterausgang auf die Straße und schloss von außen die Ladentür auf, an der von innen bereits kräftig gerüttelt wurde. Als sich der Schlüssel im Schloss gedreht hatte, sprang die Tür regelrecht auf, und die Frau stand wie gelähmt vor mir und blickte mich mit großen Augen an.

»Buh! Jetzt fick ich dich!«, lachte ich.

Das Mädchen stürmte an mir vorbei, und ich blickte ihr nach, wie sie im Zickzack-Kurs über die Straße rannte, sodass einige Autos zu einer Vollbremsung oder wilden Ausweichmanövern gezwungen waren, was diese prompt mit wildestem Gehupe quittierten.

Wie unvorsichtig, dachte ich und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages.

Vielleicht sollte ich es ganz einfach wie Rainer machen und mir nachher einen runterholen. So blöd die Kleine auch gewesen sein mochte, der Gedanke an ein Nümmerchen mit ihr hatte mich doch scharf gemacht.

Die Schärfe verflog aber schnell wieder, nachdem die erste Straßenbahn am Laden vorbeifuhr und sich die dümmlichen Gesichter der Fahrgäste wie auf Kommando in meine Richtung drehten.

Ich zeigte ihnen den Mittelfinger als Zeichen dafür, dass ich es nicht besonders schätzte, wenn man mich wie einen Gorilla im Zoo anglotzte.

Traditionell reagierte aber niemand darauf, zu interessant war dieses exotische und verruchte Ladenlokal, in dem ich arbeiten durfte. So war er eben, der Normalbürger, der sich bereits während der Missionarsstellung im Schein eines Teelichts auf der Bühne des Moulin Rouge wähnte. Die Welt bestand zum größten Teil aus langweiligen und verkalkten Spießern, da gab es nichts dran zu rütteln.

Aus dem Innern hörte ich das Festnetz-Telefon klingeln, und ich trottete langsam wieder zurück in den Verkaufsraum. Hinter der Theke angekommen nahm ich den Hörer und erkannte auf dem Display Kurts Nummer.

»Hi Chef, alles gut?«, fragte ich.

»Tach Hasi. Ja, viel Arbeit, wenig Geld, kennst das ja. Hör mal: Gleich kommt Manni vorbei und holt ein paar Sachen. Gib ihm einfach, was er will. Er zahlt das dann später bei mir.«

»Alles klar.«

Auch das noch, fuhr mir durch den Kopf. Manni, der verblödete Zuhälter von nebenan würde mir gleich einen Besuch abstatten.

Ich hatte den Telefonhörer noch nicht ganz wieder auf die Basis gestellt, als Manni auch schon im Laden stand. Mit seiner glitzernden Pailletten-Jeans und den blondierten Haaren sah er aus wie eine völlig missglückte Kreuzung aus Robert Geiss und Bert Wollersheim. Der Umstand, dass er mit seinen etwa 60 Jahren noch immer mindestens täglich auf der Sonnenbank lag, machte ihn nicht hübscher. Ihm gehörte einer der großen Sauna-Clubs der Stadt, die im Grunde nichts anderes waren als Bordelle, nur dass man dort eben vorher in die Sauna konnte.

Das Publikum dort unterschied sich ebenfalls nicht von den üblichen Puffgängern, wie man sie aus jedem billigen Laufhaus kannte. Ich fand das wenig verwunderlich, denn auch wenn es in Mannis Club eine Sauna und eine gutsortierte Bar gab, arbeiteten dort die gleichen abgetakelten Osteuropäerinnen wie überall sonst auch. Ich war vor einigen Monaten einmal aus purer Langeweile dort gelandet, hatte mich aber schnell wieder verzogen, nachdem ich dort außer in Handtücher gewickelte Marokkaner und drei oder vier Huren Mitte 30 niemanden vorgefunden hatte.

Zwischen Mannis Daumen und Zeigefinger brannte eine Zigarette, aber Rauchverbote interessierten ihn traditionell nicht.

»Moin Hasi. Was macht die Kunst?«, fragte er und grinste breit.

»Muss«, antwortete ich gelangweilt.

»Schön, schön. Hat Kurt mit dir gesprochen? Ich muss mal ein bisschen shoppen.«

Ich nickte.

»Ja, bin im Bilde.«

»Super. Ich hab heute Morgen schon eine von meinen Schnecken einkaufen geschickt, aber die hat natürlich mal wieder die Hälfte vergessen. Kannst du dir ja vorstellen.«

»M-hm«, machte ich.

Manni stolzierte durch den Laden, als würde ihm dieser ebenfalls gehören, was mich tierisch ankotzte. Aber er war nun einmal mit meinem Chef befreundet, also blieb mir nichts übrig, als diese dämliche Show durchzustehen. An einem Regal angekommen, stupste er mit der Fußspitze vor einen der Kartons, in denen sich Großpackungen Kondome befanden.

»Wie viele sind da drin? 200?«

»500.«

»Dann pack mir mal zwei Tüten davon ein. Habt ihr das Gleitgel noch da in diesen großen Pullen?«

»500 oder 750 Milliliter? Ist beides da.«

»Dann gib mir mal nen Karton von den 750ern. Das können die Mädels sich dann selbst abfüllen.«

Ich kam um die Theke herum und packte Mannis Krempel zusammen, als wäre ich sein verdammter Lakai. Ich musste mir ernsthaft auf die Zunge beißen, um ihm nicht zu sagen, dass er sich auch ruhig selbst nach seinen Bestellungen bücken konnte. Ich packte die Kondome und das Gleitgel in einen größeren Karton.

»War’s das?«, fragte ich anschließend.

»Vorläufig, ja«, seufzte Manni und sah auf seine riesige Armbanduhr. »Mann, Mann, Mann, jetzt guck mal, wie spät das schon wieder ist. Und ich renn hier durch die Läden wie ’ne Braut beim Powershoppen. Echt, Hasi, meinen Job willst du echt nicht geschenkt.«

Ich grinste schief, was Manni nicht entging.

»Brauchst gar nicht so zu schmunzeln. 30 Mädels, die alle wie ’ne Prinzessin behandelt werden wollen und dich ständig auf Trab halten, kosten ganz schön Energie.«

»Dafür hast du aber auch einen etwas anderen Stundenlohn als ich, oder Manni?«

Manni zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und ließ sie anschließend über der Theke kreisen, so als suchte er den Aschenbecher. Ich legte ihm ein dickeres Stück Pappe hin, worauf er seine Kippe schließlich ausdrückte.

»Hasi, du musst erstmal aufhören mit deinem pausenlosen Gequengel. Von dir hört man immer nur, dass du zu wenig Geld verdienst, dass du so spät arbeiten musst und so weiter und so fort. Guck mal, du verdienst hier dein Geld mit Rumsitzen. Da würden sich andere Leutchen die Finger nach lecken. Und wenn du mehr Kohle willst, dann geht das klar. Aber dann musst du auch das Mehr an Stress und das Mehr an Verantwortung und das Mehr an Risiko in Kauf nehmen. Wenn du heute Abend hier Feierabend machst, bin ich noch unterwegs, das kannste mir aber glauben. Also nicht jammern, sondern ruhig mal froh sein mit dem, was man hat.«

Nach seinem Monolog steckte sich Manni noch eine weitere Zigarette an.

»Wo wäre ich nur ohne deine tiefgreifende Weisheit, Manni«, sagte ich und schob ihm seinen Kram über die Theke.

Manni blickte mich eine Sekunde lang an, als wollte er noch etwas sagen, griff sich aber schließlich seinen Karton, klemmte ihn sich unter den Arm und machte sich wortlos auf den Weg zum Ausgang. Nach einigen Schritten stoppte er aber doch noch einmal und nahm seine Zigarette aus dem Mundwinkel.

»Weißt du, Hasi, ich hab mit dir nix zu tun, aber da Kurt dich anscheinend gut leiden kann, geb ich dir mal nen Rat. Deine schnodderige, rotzfreche Art kommt ja vielleicht bei manchen Leuten gut an, aber irgendwann triffst du mal auf jemanden, dem gefällt das überhaupt nicht. Und wenn’s so weit ist, dann kommt’s ziemlich schnell knüppeldick von allen Seiten. Verstehste? Leute wie dich, mit ’ner großen Fresse und ein bisschen Grips, gibt’s wie Sand am Meer. Und gerade deswegen solltest du dir immer ganz genau überlegen, was du tust. Denn wenn du nur einmal Scheiße baust, dann war’s das für dich. Kapiert?«

Ich lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Ich hab dich was gefragt«, sagte Manni ungeduldig.

»Ja, kapiert«, grinste ich.

»Hoffentlich. Bis dahin.«

Manni verließ den Laden und machte sich wahrscheinlich wieder auf den Weg zu seinem Puff. Für wen hielt dieser kleine Idiot sich, mir hier seine Zuhälter-Philosophie als Oper aufzuführen. Der Spinner wusste nichts über mich, also brauchte er sich auch kein Urteil anmaßen. Ich war keine seiner Ostblock-Nutten, die ihn schon allein deshalb für clever hielten, weil er zwei bis drei deutsche Sätze unfallfrei aussprechen konnte.

Ich zerknüllte den Zettel, auf dem ich notiert hatte, was Manni hier herausgeschleppt hatte, und warf ihn mitsamt der Aschenbecher-Pappe in den Papierkorb. Wozu sollte ich den auch aufheben?

Inventuren machten wir hier nur pro forma fürs Finanzamt und Kurt würde sich bei seinem nächsten Besuch im Shop vermutlich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sein Kumpel hier gewesen war.

Anschließend ging ich in den Personalraum und hob den Vibrator vom Boden auf, den das Mädel bei ihrem hektischen Aufbruch vom Tisch geschubst hatte. Ich pustete die Fusseln herunter, schob ihn wieder in seine Verpackung und legte ihn zurück ins Regal.

Was für ein scheiß Tag. Er hatte quasi gerade erst begonnen und war schon unrettbar verloren. Ich machte mich auf den Weg nach draußen, um etwas frische Luft zu schnappen, bevor ich vor Wut noch platzte. Als ich an einer der Videokabinen vorbeikam, hörte ich durch die Metalltür den typischen Sound eines Pornos, dazu klapperte gleichmäßig eine Gürtelschnalle.

Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Das konnte doch unmöglich mein Leben sein.

Hasi

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