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„WANN GIBT’S WIEDER EINE SCHLAFPAUSE?“
ОглавлениеRAAM, Time Station 8–16
Um ein Race Across America schnell zu fahren, benötigt man – auch, aber nicht nur – die richtige Strategie, die Kenntnis der klimatischen und thermischen Bedingungen, Glück mit dem Wetter und dem Zustand des eigenen Körpers, um zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Flagstaff ist solch ein strategisch wichtiger Punkt auf der Fahrt nach Osten. „Wir müssen dort sein, bevor es dunkel wird“, hatte mir Rainer Hochgatterer in einer Taktikbesprechung 2011 gesagt, „dann genießen wir noch Rückenwind in der darauffolgenden Abfahrt. Der Wind schläft nämlich während der Nacht ein.“ In Zahlen ausgedrückt bedeutete das, dreißig bis dreiunddreißig Stunden nach dem Start in Flagstaff zu sein. Ein Mal, 2014, war ich allerdings noch schneller und mit einem Stundenmittel von dreiunddreißig Stundenkilometern in siebenundzwanzig Stunden dort – was auch nicht geschadet hat.
2011 lag ich hinter Marko Baloh, als ich durch den heute knapp siebzigtausend Einwohner zählenden Ort kam. Ich hatte einen Power Nap hinter mir, die erste Schlafpause war im Monument Valley geplant. Baloh hingegen war durchgefahren und verfolgte jene klassische Strategie, die vor ihm schon Wolfgang Fasching und Jure Robic angewendet hatten: Sie beruht darauf, dass die ersten 36 Stunden durchgefahren werden müssen.
Ich war also fitter als er, als es in der Nacht zum Showdown im Monument Valley kam.
Es war stockdunkel. Die Natur hatte sich zur Ruhe gelegt, kein Zirpen von Grillen oder Heulen von Kojoten war zu vernehmen. Gleichmäßig surrte mein Rad, der Motor des Begleitfahrzeugs hatte sich der vorgegebenen Regelmäßigkeit der aktivierten Geschwindigkeitskontrolle angepasst und die Stimmen meiner Betreuer aus dem Headset vermittelten Gelassenheit und Sicherheit.
Weit in der Ferne erschienen zwei Lichter, verschwanden kurz, leuchteten wieder auf. Es war die Warnblinkanlage eines anderen Autos – jenes des Teams von Marko Baloh!
Ein Adrenalinstoß pushte meinen Körper und all meine Gedanken kreisten um die beiden Lichter, die mich in ihren Bann gezogen hatten. „Gleich hab ich ihn“, dachte ich mir, doch auf einer kilometerlangen, endlos erscheinenden Geraden geht nichts sofort. Obwohl ich vor lauter Ehrgeiz wohl etwas schneller als vorgesehen unterwegs war, dauerte es rund eine halbe Stunde, bis ich ihn tatsächlich eingeholt hatte.
„Hör mir zu!“, sagte mir mein Teamchef Hochgatterer. „Wenn du an ihm vorbeifährst, dann kurble für fünf Minuten mit 250 Watt anstelle von 180 oder 200. Schau zu, dass du an Baloh regelrecht vorbeirast und so schnell wie möglich wieder aus seinem Blickfeld verschwindest.“ Einen Moment lang war ich perplex. Wie sollte ich diese Vorgabe erfüllen? Ich saß bereits seit 36 Stunden auf dem Rad – da konnte ich nicht einfach meine Leistung so auf Zuruf nach oben anpassen. Ungläubig blickte ich Hochgatterer an, doch schneller, als ich antworten konnte, blendete mein Gehirn die Fragezeichen aus, und getrieben von der Euphorie des Augenblicks nickte ich ihm zu.
Als ich an Baloh vorbeifuhr, hob ich die rechte Hand und formte aus Zeige- und Mittelfinger das V-Zeichen. „Hi Marko!“, rief ich ihm zu. Zwischen Marko Baloh und mir herrschte damals wie heute bestes Einvernehmen. Uns verbinden der Sport, der Fairnessgedanke und die Kameradschaft. Doch beim RAAM 2011 spielte auch ich Psychospiele: Ich wollte ihm zeigen, dass ich es eilig und keine Zeit zu einem Smalltalk hatte, nicht einmal so viel, um auf seine Antwort zu warten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich deine Vorgabe erfüllen könnte“, sagte ich später zu Rainer. Doch das Duell mit dem Slowenen, das innerhalb von Minuten zu meinen Gunsten entschieden war, belegte einmal mehr, wie wichtig der Kopf im Sport ist. Es ist schon erstaunlich, wie gut es mir geht, wenn ich jemanden überhole. In die umgekehrte Richtung gilt das natürlich auch: Mir geht es immer dreckig, wenn ein anderer an mir vorbeizieht und ich ihm nicht folgen kann.
2011 war ich unbeschwert und sorgenfrei. Beim diesjährigen Race Across America hatte ich keinen Druck von Medien, Sponsoren oder Teammitgliedern. Jeder wusste, dass ich stark war, dass ich das Zeug hatte, auf das Podest zu fahren. Aber war ich stark genug? Würde ich mein Leistungsniveau nicht nur über ein oder zwei Tage, sondern auch über eine längere Distanz halten können? 2009 war ich aus gesundheitlichen Gründen ausgestiegen, 2010 aufgrund finanzieller Engpässe nicht dabei gewesen. Nun war ich zwar wieder im Rennen, aber nicht wirklich auf einer Watchlist. Die Aufmerksamkeit der Medien konzentrierte sich auf Baloh und auf Dauer-Starter Gulewicz. Heute ist es anders – Siege verändern auch bei Journalisten die Prioritäten. Erwartungshaltung und Druck sind nunmehr unglaublich hoch, im Prinzip wird ein Erfolg nach dem nächsten als selbstverständlich angesehen. Umso mehr freut es mich, dass ich immer noch Freunde habe, die gar nicht so genau wissen, was ich beruflich mache. „Hättest in diesem Jahr im Juni Zeit für einen gemeinsamen Ausflug?“, fragen sie mich dann.
„Nein, geht leider nicht, da bin ich in den USA.“
„Ah ja, hab’s ganz vergessen. Wieder Rad fahren, oder?“
Als ich an Marko Baloh vorbeizog, konnte niemand von uns ahnen, dass dies die Vorentscheidung des RAAM 2011 war. Retrospektiv betrachtet brachten mir jene fünf Minuten den Sieg, doch der Grundstein zum Erfolg war – wie auch in all den Jahren danach – viel früher gelegt worden: Rainer hatte mich mit Trainingsplänen versorgt und auf vergleichsweise kürzere, dafür intensivere Übungseinheiten Wert gelegt. Diese Trainings können schmerzhafter sein, als man glaubt. Es ist einfacher, acht Stunden im Grundlagenausdauerbereich zu trainieren, als eine Stunde an der persönlichen Leistungsschwelle. Weniger Trainingszeit und mehr Intensität bringen bessere Fitness, mehr Erholung und ein stärkeres Immunsystem, lautete seine Rechnung. Es war nämlich schon Jahre zuvor ersichtlich gewesen, dass ich zu viel trainiert und zu wenig regeneriert hatte. Zur damaligen Zeit verzeichnete ich mit Trainings auf nüchternen Magen große Leistungsanstiege, war aber auch öfter verkühlt oder kränklich. Dreißig Trainingsstunden pro Woche bei gleichzeitiger Kohlenhydratreduktion hatten mein Immunsystem geschwächt. Dem proteinbasierten Paleo-Prinzip bin ich zwar auch weiterhin treu, doch ich achte auch auf die Einnahme von genügend Kohlenhydraten, wobei ich aber so gut es geht auf Milch- und Getreideprodukte verzichte. Das Nüchterntraining betreibe ich heute nur mehr bis zu zweimal pro Woche und beginne dabei nach einigen Stunden zu essen. Weil es mir also körperlich gut ging und weil ich mental beflügelt war, entschied meine Crew, dass wir die zweite Nacht ohne Pause durchstehen würden. Während Marko Baloh nach dem Monument Valley bei der Time Station Mexican Hat für zwei Stunden pausierte, fuhren wir noch einen Streckenabschnitt weiter.
„Wann gibt’s denn endlich eine Pause für mich?“, funkte ich leicht sauer meiner Crew.
Rainer antwortete mit einer Feststellung auf meine Frage:
„Weißt, bis Montezuma Creek ohne eine Schlafpause hat es nur Jure Robic geschafft.“
Das war Information und Motivation genug für mich, und angespornt von diesen Worten hielt ich bis 6 Uhr Früh durch. Dann stand auch für mich die erste einstündige Pause an.