Читать книгу Fundamentalismus – maskierter Nihilismus - Christoph Türcke - Страница 5

Vorwort

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Die Twin Towers waren nicht nur eine praktische Unterbringungsmöglichkeit für viele Leute auf wenig Raum, sondern auch ein hoch aufragendes Symbol. Darin sollte anschaulich werden, wo die globalen Fäden zusammenlaufen. Von Anfang an war es als Weltattraktion gemeint: ebenso für das internationale Kapital wie für die Touristenströme aus aller Herren Länder. Aber auch die Herzen der Amerikaner sollte es höher schlagen lassen, auf schnörkellose Weise all das verkörpern, was die USA groß gemacht hat: den freien, gleichberechtigten, durch faire Regeln gezügelten Wettstreit der körperlichen und geistigen Kräfte, der Produkte, Erfindungen, Interessen, Überzeugungen, Ideen. Die Twin Towers standen da wie die wahren Interpreten der demokratischen Freiheit. Waren sie nicht die body guards der Freiheitsstatue, die sich in ihrem mächtigen Schatten wie ein Zuckerpüppchen ausnahm und nach ihrer glorreichen Obhut geradezu zu verlangen schien?

Gewiss, nicht alle mochten die body guards. Strahlten sie doch für diejenigen, die beim Wettstreit der Kräfte auf der Strecke geblieben waren oder den »freien Welthandel« lediglich als eine obszöne, alles entweihende Weltmacht hemmungslosen Schacherns, aber nicht als Nährboden menschlicher Würde erlebten, eine unmissverständliche Botschaft aus: Ihr seid die Verlierer; ihr gehört nicht dazu. Weltattraktion war die doppelte New Yorker Siegessäule von Anfang an auch in dem Sinne, dass sie weltweit Hass auf sich zog. Und wer sich nicht am gehassten Objekt selbst austoben kann, entschädigt sich gewöhnlich damit, dass er sich wenigstens ausmalt, wie es wäre, wenn er es zerstörte. So gehörte zu den psychologischen Gestehungskosten der Twin Towers auch ein Wust von mehr oder weniger heftigen Wünschen, Träumen, Halluzinationen ihres Zusammenstürzens – halb Kinderspiel, halb Wut im Herzen. Um ihnen ein ästhetisches Ventil zu geben, bedurfte es keines Übermaßes an Phantasie. Ein Griff ins Bild- und Dramaturgiearsenal von Hollywood genügte. Independence Day, der Film, der einen Großangriff aufs Pentagon durchspielt, war seit fünf Jahren auf dem Markt, als der Angriff wirklich stattfand. Die Fotomontage der brennenden Twin Towers, die die kalifornische Musikgruppe The Coup für das Cover ihres neuen Albums PartyMusic vorgesehen hatte, lag im Juni 2001 bereits vor. Das Album erschien im Oktober – mit anderem Cover. Der Clou war der Spot einer Hamburger Werbeagentur. »Man sah da ein stilbewusstes junges Paar in einem Straßencafé vor Hochhauskulisse Kaffee und Rotwein trinken, als plötzlich der Tisch zu zittern beginnt, Lärm anschwillt und zum Entsetzen der Umstehenden ein Airbus durch den Wolkenkratzer bricht. Die Pointe ist, dass er nicht nur das Hochhaus zerfetzt, sondern auch das an ihm befestigte Plakat mit der Service-Nummer 11880, für das der Spot Werbung machen wollte. […] Seine Fernsehpremiere erlebte der Spot am 9. September 2001. Zwei Tage später wurde er aus dem Programm genommen.«1 Unsinn also, dass am 11. September ein unvorstellbares Verbrechen geschah. Die vielfältigen Vorstellungen davon waren längst in Filmbildern geronnen.

Dass diese Bilder grauenhafte Realität wurden, und zwar so, dass die Weltöffentlichkeit daran teilhaben konnte, als säße sie vor einem Hollywood-Spektakel – dazu musste etwas anderes wirksam werden als Phantasie: ein eiserner, lang trainierter Wille zum Martyrium. Der allerdings war in der westlichen Welt kaum mehr vorstellbar. Wer ist dort noch von den Grundsätzen, zu denen er sich bekennt, so zuinnerst erfüllt, dass er bereit wäre, sein Leben dafür zu lassen? Die Attentäter vom 11. September hatten solche Bereitschaft. Man mag noch so betonen, dass sie ihr eigenes islamisches Credo missverstanden und sich derart pathologisch darauf versteiften, dass ein ganz gemeines Verbrechen daraus hervorging – sie haben im Namen Allahs ein ungeheures Zeichen gesetzt, dem sie ihr ganzes Leben weihten. Dafür werden sie in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens als Märtyrer verehrt, im Westen als fundamentalistische Terroristen gescholten.

Fundamentalisten – wie spricht man mit denen als aufgeklärter Mensch? Erzählt man ihnen etwas von Religionsfreiheit, Toleranz, Demokratie, also von Werten, die besagen, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, dass man die Überzeugungen anderer auch dann zu dulden hat, wenn man sie als pervers empfindet, dass die Mehrheit darüber entscheidet, was rechtens ist – und dass dies alles die Würde des Menschen ausmachen soll? Das ist vergebene Liebesmüh’ bei Leuten wie Mohammed Atta, der eine jahrelange Ingenieursausbildung in der verhassten westlichen Welt auf sich nahm und eigens einen Pilotenschein machte, um schließlich ein Flugzeug ins World Trade Center zu steuern. Es prallt ebenso an den Geistlichen und Lehrern ab, die in Palästinenserlagern Jugendliche auf Selbstmordattentate vorbereiten. Diskussion über die eigenen religiösen Grundsätze? Das ist würdeloses Palaver für sie. Was einem heilig ist, darüber diskutiert man nicht. Und so lautstark der aufgeklärte Westler diese Haltung als verbohrt von sich weisen mag, einen Stich versetzt sie ihm doch. Sie lässt ihn spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich nicht danach?

Der Fundamentalismus suggeriert, dies Ersehnte zu haben. In der Empörung gegen ihn steckt auch verstohlener Neid. Ach, wäre man seiner eigenen Sache doch so gewiss wie er sich gibt. Ernst nimmt ihn erst, wer ihn als Prüfer auf Herz und Nieren, theologisch gesprochen, als Versucher der modernen Welt begreift. Über echte Versuchung ist niemand erhaben. Wie wehrt man sich denn gegen Fundamentalisten, wenn demokratisches Zureden nicht verfängt? Man ist genötigt, sie an Gewaltaktionen mit Gewalt zu hindern – sich ähnlich diskussionslos auf Menschenrechte und Toleranz zu versteifen wie sie auf den Djihad. So gesehen war der 11. September geradezu ein Etappensieg für den Fundamentalismus. In dem Maße, wie er in der demokratischen Weltpresse zum Bösen schlechthin avancierte, machte er auch Fortschritte darin, die demokratische Welt nach seinem Bilde zu gestalten. Da waren zunächst am Ort des Geschehens die hysterischen Hausdurchsuchungen und Kontrollen nach dem Attentat, die diffuse Verdächtigungsatmosphäre gegen alles, was irgendwie arabisch oder islamisch aussah. Es folgte, im Namen all dessen, was die Twin Towers verkörpert hatten, der Krieg gegen Afghanistan. Er wurde von urdemokratischen Intellektuellen wie Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Amitai Etzioni als Kampf gegen Al Qaida deklariert und insofern als »moralisch gerechtfertigt«2, hinterließ ein Vielfaches der Verwüstungen, die auf dem Ground Zero entstanden waren, war völkerrechtlich mehr als zweifelhaft – und für viele Verbündete Amerikas eine gute Gelegenheit, brutales Vorgehen gegen missliebige Minderheiten als »Kampf gegen den Terrorismus« auszugeben. Unter diesem Etikett registrierte amnesty international bald eine sprunghafte Zunahme weltweiter Menschenrechtsverletzungen.3

Wenn man sich auf »westliche Werte« ebenso versteift wie der Fundamentalismus auf heilige Schriften, dann verhält man sich nicht nur wie er, man gerät auch ins Hintertreffen. Besagte »Werte« vertragen solche Art von Zuspruch nämlich schlecht. Sie verlangen etwas anderes als die Identifikation mit ihnen. Man insistiere doch einmal ohne Wenn und Aber auf Toleranz, und schon befindet man sich in jener Zwickmühle, die die Philosophen »performativen Widerspruch« nennen. Die Bereitschaft, andere Meinungen zu dulden, hört nämlich spätestens dort auf, wo jemand erklärt, er halte nichts von Toleranz. Gegen den muss die Toleranz, um ihrer Selbstbehauptung willen, intolerant werden. Und ähnlich wie ihr geht es auch den andern demokratischen »Werten«. Solidarität: auch mit jedem Schuft? Freiheit: auch zu jeder Gemeinheit? Gleichheit: ohne Rücksicht auf jede individuelle Besonderheit? Solche Begriffe als »Werte« festschreiben zu wollen, ist bereits der Beginn der Versteifung. Sie sind viel zu wenig eindeutig, als dass man sich so auf sie berufen könnte, wie andere auf bestimmten Geschichten insistieren: etwa dass Mohammed Allahs wahrer Prophet oder Christus wahrhaft von den Toten auferstanden sei.

Wer sich zu demokratischen Grundbegriffen wie zu Glaubenssätzen verhält, der ist schon ins Kraftfeld des Fundamentalismus getreten. Dessen kategorische Ablehnung gehört in der westlichen Welt zwar zum guten Ton. Selbst moderne Kirchenleitungen profilieren sich als seine Gegner. Um so bemerkenswerter, wie er auf seine Widersacher abfärbt, wie seine Militanz auch sie militanter macht, sein Insistieren auf letzten Gründen auch sie härter auf Grundwerte pochen lässt und sie schließlich vor die Frage stellt: Wer es wirklich ernst meint mit Grundwerten, kann der sich anders zu ihnen verhalten als zu einem unbedingt gültigen Fundament, also fundamentalistisch? Oh, er ist ein großer Versucher, der Fundamentalismus. Denen, die hier demokratisch lavieren, raunt er zu: Macht euch doch nichts vor; auf die Dauer haltet ihr das hektische, unsichere moderne Dasein nicht aus, wenn ihr eure Existenz nicht auf ein stabiles Fundament gründet, das euch ein Leben lang Halt gibt. Und die demokratischen Grundbegriffe sind viel zu undefiniert und unpersönlich, um das zu leisten. Nur eine unbezweifelte, unzerredete höhere Macht ist dazu in der Lage. Entweder ihr habt ein Fundament oder ihr habt nichts. Und dass ihr eigentlich nichts habt, zeigt sich das nicht an der permanenten Unruhe, die euch umtreibt, am Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum, an der unablässigen Sucht nach Neuem, an der gigantischen Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Zerstreuungsmaschinerie der Massenmedien, ohne die ihr euer Leben gar nicht mehr aushaltet? Klammert ihr euch nicht an diese Maschinerie, als wäre sie ein Gott, obwohl ihr genau wisst, dass sie keiner ist? Verrät nicht gerade euer Versessensein auf die flimmernde Unterhaltungs- und Spaßwelt, wie hohl und leer ihr innerlich seid: dass ihr in einer zutiefst nihilistischen Kultur lebt?

Echte Versucher pflegen die Wahrheit zu sprechen, nur nicht die ganze. Niemand deckt denn auch den nihilistischen Grundzug in der sich globalisierenden Unterhaltungs- und Spaßkultur schonungsloser auf als militanter Fundamentalismus. Es ist geradezu seine philosophische Leistung, dem abstrakten Gespenst des modernen Nihilismus größte Anschaulichkeit zu geben, indem er es in den grellen Farben industrieller Kultur malt. Nur eines verschweigt er dabei: dass er selbst jener Welt angehört, in der diese Kultur expandiert. Alle Mittel, die sie ihm an die Hand gibt, ergreift er bereitwillig. Moderne Waffen- und Informationstechnologie eignet er sich an, wo immer er ihrer habhaft wird. Er hat nicht die geringsten Skrupel, seinen Gläubigen durch modernste Massenmedien einzupeitschen, dass Ehebrecherinnen zu steinigen sind und Dieben die Hand abgehackt gehört, wie das alte islamische Gesetz, die Scharia, es befiehlt. Bis zum 11. September 2001 mag es absurd geschienen haben, Fundamentalismus mit Showbuisiness zu assoziieren. Dann assoziierte er sich selbst damit und inszenierte eine reality show ohnegleichen. Damit katapultierte er sich ins Zentrum der Weltöffentlichkeit und gab zu verstehen: Fundamentalismus ist nicht nur ein Problem von Schwellenländern, von Weltgegenden, wo Industrie, Marktwirtschaft und Demokratie noch nicht genügend Fuß gefasst haben. Er stellt diese »westlichen Werte« vielmehr dort in Frage, wo sie am meisten heimisch scheinen. Wären sie tatsächlich das fest in sich ruhende kulturelle Fundament des Westens, als das sie ständig beschworen werden, so hätte der Angriff aufs World Trade Center ihnen kaum etwas anhaben können. Doch was er angriff, ist längst schon angegriffen. Er hat die »westlichen Werte« weniger von außen erschüttert als ihre innere Unsicherheit offenbart. Und doch vermochte er das nur, indem er die Sprache der verhassten haltlosen Unterhaltungskultur sprach und Massenmord als Riesenspektakel veranstaltete. Damit hat er der westlichen Welt ihre eigene Melodie so drastisch vorgespielt wie niemand zuvor; der Komponist Karlheinz Stockhausen erblasste vor Neid.4 Aber zugleich kam heraus, dass diese Melodie auch seine ist: eben die des Fundamentalismus. Ins Zentrum der westlichen Welt dringt er nur vor um den Preis, dass er selbst macht, was er als Inbegriff nihilistischer Massenkultur schmäht: show.

Die ungeheure Assoziation mit dem Showbusiness, die er am 11. September geleistet hat, verändert seinen ganzen Aspekt. Der Fundamentalismus ist noch längst nicht voll durchschaut. Es muss neu durchbuchstabiert werden, was er ist und wie er es wurde. Der Philosoph Karl Jaspers hat den Begriff »Achsenzeit« geprägt. Er meinte damit die Epoche um 500 vor Christus, wo »annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten«, Konfuzius, Laotse und Buddha, die alttestamentlichen Propheten wie die griechischen Philosophen und Tragiker, einen singulären geistigen Durchbruch schafften. »In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben.«5 Wie, wenn sich, gleichsam im Kleinformat, auch für den Fundamentalismus eine Achsenzeit ausmachen ließe, wo völlig unabhängig voneinander und auf verschiedene Weltgegenden verstreut, Ereignisse stattfanden, denen zunächst nicht anzusehen war, dass sie »Grundkategorien« enthalten könnten, in die unser ganzes Denken wie in einen Sog hineinzugeraten droht? Diesem Verdacht wird im folgenden nachgegangen. 1910 ist das Jahr, in dem der Fundamentalismus seinen Namen bekam, aber auch das Jahr, in dem das erste Hollywood-Studio gegründet wurde. Die entscheidenden Jahre des Durchbruchs zur avantgardistischen Kunst sind die um 1910. Dies ist auch die Zeit, wo die zionistische Bewegung zur Kolonisierung Palästinas schritt. Vier disparate Begebenheiten, zugegeben. Sie hatten zunächst nichts miteinander zu tun und wurden zudem vom Heraufzug des Weltkriegs und der sozialistischen Revolution überschattet. Im grellen Licht des 11. September beginnen sie jedoch gemeinsam zu funkeln, als gehörten sie immer schon zusammen. Sie geben zu verstehen, dass die mörderische Assoziation von Fundamentalismus und Showbusiness keine bloße Laune ist, vielmehr Anlass, den Fundamentalismus in doppelter Hinsicht bitter ernst zu nehmen: als Kritiker ebenso wie als Angehörigen der modernen nihilistischen Unterhaltungskultur. Im folgenden soll nicht nur das Nihilistische deutlich werden, das von Anfang an im Fundamentalismus steckte, sondern auch wie der moderne Nihilismus allmählich fundamentalistische Züge gewinnt. Fundamentalismus und Nihilismus stecken tief ineinander. Entweder man begreift und bekämpft beide zusammen – oder keinen von beiden.

Fundamentalismus – maskierter Nihilismus

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