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ОглавлениеKapitel 2
Was führt zu demokratischen Entscheidungen? Was führt zu guten Entscheidungen?
Klarheit im Denken und Entscheiden
Zeit ist eine wichtige Währung in unserem Leben. Keiner von uns möchte Stunden und Tage in zähen Diskussionsprozessen verbringen, die dann in faulen Kompromissen enden. Wir wollen alle perfekte Lösungen und Entscheidungen, aber wenn wir ehrlich sind, können wir den Aufwand dafür nicht leisten. Für Menschen, die sich neben einem Vollzeit-Beruf politisch engagieren, ist Perfektionismus gepaart mit ungenügenden Lösungs- und Entscheidungsprozessen auf Dauer nicht durchzuhalten.
Jede Unklarheit führt zu unnötig langen Diskussionen, zu zähen Lösungs- und Entscheidungsprozessen und zu ungenügender Umsetzung. Lassen wir uns daher vorab strukturieren, aus welchen Schritten demokratische Entscheidungen bestehen.
Wir wollen jetzt eine grundlegend bessere Politik erschaffen. Das bedeutet auch, dass wir uns von einschränkenden und falschen Annahmen trennen müssen, mehr von der Wirklichkeit und von den Lösungsräumen erkennen müssen, wie wir das bisher getan haben. Daher müssen wir unsere bisherigen Erkenntnisprozesse verbessern.
Gesamter Prozess bis zur Entscheidung
Entscheiden
Wenn wir über demokratische Entscheidungen reden, dann meinen wir damit im Regelfall die Abstimmung über einen bestimmten Vorschlag. Wir können per Handzeichen oder durch Kreuze auf einem Zettel abstimmen. Am Ende steht dann in heutigen Wahlen ein Mehrheitsentscheid, der protokolliert wird.
Wenn wir Entscheidungen treffen wollen, sind jedoch vorher einige andere Schritte notwendig.
Abbildung 2 – Schritte zur Entscheidung
Entscheidungen finden
Eine basisdemokratische Entscheidung ohne vorherigen Austausch zum Verständnis und zum Äußern verschiedener Sichtweisen ist undenkbar. Die letzten beiden Stufen sind also immer notwendig.
Wir können auf dieser geringsten möglichen Basis, einem reinen Entscheidungsfindungsprozess (z. B. auf einem Parteitag), zu Entscheidungen über Personen oder Parteiprogrammpunkten kommen. Im Regelfall werden wir dadurch aber etwas beschließen, das eine schlechte Qualität hat.
Vorauswahl an Lösungen
Gibt es viele Themen zur Abstimmung, muss vor einer Abstimmungsversammlung eine Auswahl getroffen werden, welche Themen zur Abstimmung vorgebracht werden.
Gibt es viele Lösungsvorschläge zum gleichen Themenkreis, muss auch eine Vorauswahl an zur Abstimmung vorgelegten Lösungsvorschlägen erfolgen.
Diese Vorauswahl ist meist ein blinder Fleck in der Parteiendemokratie. Bei etablierten Parteien trifft diese Vorauswahl im Regelfall ein kleiner Kreis im Fraktionsvorsitz. Bei den Piraten hat es zwar das Liquid Democracy Online-Abstimmungswerkzeug gegeben. Es war aber sehr ungenügend ausgeführt und am Ende entschied dort auch die Versammlungsleitung, was auf dem Programm stand und was nicht. Dieser Schritt war intransparent und entzog sich der Basisdemokratie.
Letztlich ist die Vorauswahl nur sauber, wenn vorab online oder per Briefwahl darüber abgestimmt wird.
Lösungen finden
Bevor wir über etwas entscheiden können, brauchen wir eine Auswahl an möglichen Lösungen. Diese müssen erarbeitet werden. Da dieser Prozess lange dauern kann, muss er im Regelfall vor einer Abstimmungsversammlung stattfinden. Die Lösungen können nicht auf einem Parteitag oder im Rahmen einer Online-Abstimmung erarbeitet werden. Vielmehr muss vorab mindestens eine Arbeitsgruppe mindestens eine Lösung erarbeiten.
Am einfachsten und schnellsten ist es natürlich, sich an bereits Existierendem zu bedienen. Wir können gängige Vorschläge aus den Medien übernehmen oder passendes aus Programmen anderer Parteien. Wir leben jedoch in einer Zeit, wo nicht nur Wissen enorm gewachsen ist, sondern auch Desinformation. Es lohnt sich in vielen Gebieten, tief zu schürfen. Dann brauchen wir ein System, mit dem eine Lösung sauber beurteilt werden kann.
Am Ende des Lösungsfindungsprozesses werden u. U. viele Vorschläge innerhalb der Arbeitsgruppe entstanden sein. In diesem Fall muss bereits in dieser Arbeitsgruppe ein Entscheidungsprozess stattfinden, welche Lösungen der Partei zur Abstimmung vorgeschlagen werden.
Kriterien und Leitplanken für Lösungen
Es gibt immer Grenzen für Entscheidungen und Lösungen. Offensichtliche Grenzen sind z. B. staatliche Gesetze oder die Satzung der Partei.
Wenn aber über gesetzliche Grenzen und Abgrenzung von Radikalismus hinaus nichts weiter als Orientierung für eine Partei vorhanden ist, dann ist in jeder Diskussion alles in Frage gestellt: Werte, Ziele und Wege zum Ziel können beliebig ins Spiel gebracht und verworfen werden. An diesem Mangel ging der Schmelztiegel Piratenpartei im Wesentlichen zugrunde.
In der Arbeit für mein Buch habe ich mit zahlreichen Menschen Lösungen diskutiert. Dabei musste ich feststellen, dass es für jeden Lösungsansatz Argumente gibt. Und je nachdem wer entscheidet, erscheint das eine oder das andere richtig.
Elementar ist daher die Entwicklung von Kriterien, anhand derer wir beurteilen können, ob eine Lösung gut oder schlecht ist. Ich favorisiere dafür das von Immanuel Kant formulierte Prinzip „handle so, dass es eine allgemeine Regel sein könnte“ und eine Orientierung anhand von Werten, die in einer Abstimmung priorisiert werden. Dazu später mehr.
Informationen verbreiten
Um gute Entscheidungen zu treffen, müssen möglichst alle Beteiligten ein gutes Verständnis von dem Abstimmungsthema haben. Und hier liegt die größte Herausforderung.
In jeder Gruppe gibt es Menschen mit mehr oder weniger Know-how zu dem zu erarbeitenden Thema, zu dafür wichtigen anderen Themen, zu Methoden usw. Und es sind unterschiedliche Perspektiven vorhanden, die elementar für eine gesamtheitlich gute Lösung sind.
Für gute Lösungen ist es wichtig, dass möglichst Alle das relevante Wissen und die Perspektiven der anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe kennen und verstanden haben. Das bedeutet, es bedarf nicht nur Dialogen/Multilogen sondern Mitgliedern, die besonders viel Wissen gesammelt haben und dieses den Anderen vermitteln. Wir brauchen also eine Art Schulungssystem für Alle, die am Ende mitentscheiden werden.
Eine Wissensweitergabe anhand von Arbeitspapieren kann ausreichen, bei komplexen Themen ist aber eine Schulung oder ein Webinar mit aufbereiteten Informationen nötig.
Informationen gewinnen
Jedes Mitglied einer Arbeitsgruppe sollte so viel Wissen wie möglich zu seinem Themengebiet haben, erwerben und recherchieren.
Wichtig ist bei der Informationsgewinnung heute vor allem, die Quellen der Information sorgfältig zu prüfen und zu bewerten. Wir folgen seit der Aufklärungszeit den Prinzipien der Wissenschaftlichkeit. Das ist auch eine gute Idee für die Basis von Parteiprogramm und politischen Entscheidungen.
Doch es sollte uns bewusst sein, dass Wissenschaft heute nicht nur ein wenig, sondern überwiegend „gefärbte“ Ergebnisse liefert. Wo immer finanzielle Interessen oder gesellschaftlich beeinflussende Themen untersucht werden, kommt Lobbyismus und Darstellung ins Spiel. Wir aber müssen uns an Wahrheit, gesellschaftlichen Werten und Zweckmäßigkeit orientieren.
Daher müssen wir uns nicht nur von nominellen Fake-News abgrenzen, sondern auch von den überwältigend großen Desinformationspaketen, die wir teilweise sogar fälschlicherweise für Allgemeinwissen halten.
Es führt kein Weg daran vorbei, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und auf dieser Basis ein Vertrauensnetzwerk für Informationen aufzubauen.
Wichtige Grundlagen klaren Denkens
Viele beschäftigen sich mit künstlicher Intelligenz und wie sie Probleme der Menschheit lösen können, die Menschen bisher nicht gelöst haben. Aber die KI kann nur das, was Programmierer ihr ermöglichen, sie bewegt sich in vorgegebenen Rahmen. Ähnlich ist es auch beim menschlichen Geist. Er selbst ist recht unbegrenzt aber wir befinden uns meist in engen Denkrahmen und Filterblasen. Befreien wir also doch erst einmal den menschlichen Geist von seinem Korsett.
Trennen von Fakten und Interpretationen, sich Annahmen bewusst machen
Im Sinne von klarem Denken und Entscheiden sollten wir unbedingt Fakten von Interpretationen trennen.
Selbst in wissenschaftlichen Studien werden diese oft vermischt. Nehmen wir ein Beispiel: Gehirnforscher haben herausgefunden, dass sich die menschlichen Gehirnzellen und die von Mäusen so ähneln, dass selbst Experten sie nicht unterscheiden können. Das ist ein Fakt. Diesen Fakt können wir natürlich hinterfragen und nach den ungesehenen Unterschieden durchforsten.
Die Schlussfolgerung der Hirnforscher war, dass also die Intelligenz aus der Struktur der Gehirnzellen kommen muss. Das ist eine Interpretation. Diese kann richtig oder auch falsch sein. Hinter dieser Interpretation steckt eine Annahme, nämlich dass Geist aus Materie entsteht. Seit der Antike streiten Philosophen aber darüber, ob das stimmt oder ob Materie aus Geist entsteht. Diese Frage ist bis heute nicht entschieden. Und daher ist auch die Interpretation kein wissenschaftlich gesicherter Fakt. Selbst wenn aktuell die meisten Forscher von dieser Annahme ausgehen. Und es gibt selbst ohne diese Annahme noch viele andere Möglichkeiten innerhalb eines materiellen Weltbildes, wie Geist aus den Gehirnzellen entstehen könnte. Wir sind aber im Regelfall nicht in der Lage, alle zu erkennen.
Wichtig bei den Betrachtungen ist also auch, die Annahmen, die wir voraussetzen, bewusst zu machen. Denn erst dann kommen wir zu einer wirklich reflektierten Weltsicht, die auch zu guten Lösungen und Entscheidungen führt.
Verwenden von klar definierten Begriffen
Wir können stundenlang über ein Thema diskutieren und doch aneinander vorbeireden, wenn wir unterschiedliche Definitionen von dem Begriff haben, über den wir sprechen.
Ein banales Beispiel ist das Wort Feder – welches Bild entsteht in uns, wenn wir es hören? Eine Vogelfeder von einem Adler oder vielleicht einer Taube? Einer PKW Fahrwerksfeder? Einer Schreibfeder? Oder etwas ganz anderes?
Oder was verstehen wir unter linker Politik? Allmachtstaat? Staatskommunismus? Oder eher Solidarität, menschenfreundliche Gesinnung, Würdigung von Arbeit? Friedenspolitik?
Bevor wir ein Thema erarbeiten oder diskutieren, müssen wir uns alle darüber klar sein, was wir mit dem Begriff meinen, den wir benutzen wollen. Es kann sein, dass sich dabei herausstellt, dass die Wahl eines anderen Begriffs sinnvoll sein kann.
Machen wir uns Framing bewusst und verwenden wir hilfreiche Begriffe
Meine Erfahrung aus der systemischen Arbeit zeigt: Wenn wir keine Lösung finden, dann ist unser Rahmen für unser Denken und für die Lösungsräume die wir untersuchen falsch oder zu eng. Diese Rahmen („Frames“) existieren unbewusst und unbeabsichtigt, aber sie werden auch bewusst benutzt, um Denken zu lenken. Wir sollten uns davon befreien, soweit es geht.
Viele Begriffe sind von Haus aus mit Assoziationen verbunden, die eine Denkrichtung vorgeben oder in Konflikte führen.
Framingexperten verwenden gerne den Begriff „Tempolimit“ als Beispiel. Es besteht aus zwei Teilen. Tempo steht für Dynamik und wird auch mit Vorankommen assoziiert. Limit ist dann die Beschränkung, das Verbot. Der Begriff suggeriert also, dass wir ausgebremst werden sollen und dass unsere Freiheit beschränkt wird. Daraus ergibt sich automatisch ein Widerstand und eine konfliktvolle Diskussion. Wenn wir z. B. den Begriff „Lebensrettungsgeschwindigkeit“ verwenden würden, dann würde die Diskussion allein deshalb anders verlaufen.
Wenn wir ein Thema diskutieren oder lösen wollen, kann es sinnvoll sein, zunächst den Begriff so auszuwählen, dass eine Lösung auch möglich wird.
Wir sollten unsere konkreten Maßnahmen daher nie „links“ oder „rechts“ nennen. Überlegen wir besser, ob der gewählte Begriff, nicht sogar etwas impliziert, von dem wir eigentlich wegkommen wollen. Wir sollten also möglichst einen neutralen oder positiven Begriff wählen.
Ein weiteres Beispiel: „Geldgeber finden“ impliziert, dass jemand Geld geben soll. Vielleicht ist es aber wichtiger zu hinterfragen, warum die „Geldnehmer“ wenig haben und was die „Geldgeber“ befähigt, einen Überschuss zu erzielen, den sie geben könnten. Vielleicht liegt gerade in dieser Überlegung unsere Lösung. Vielleicht ist dann der Begriff „Geldverfügbarkeit neu gestalten“ besser. Er eröffnet ganz neue Lösungsräume.
These und Antithese – die Dialektik für klare Diskussionsstruktur
Die Dialektik bildet ein wichtiges Grundgerüst für Logik und Wissenschaft. Ihr Gedankengerüst wurde schon in der Antike angewendet, dann von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel („Phänomenologie des Geistes“) neu interpretiert.
Wir stellen eine These auf. Dazu gibt es eine Antithese. Dann untersuchen wir diese, diskutieren darüber und kommen zu dem Schluss, dass These oder Antithese wahr ist. Eine These kann nach diesem Denken auch bewiesen werden, indem wir die Ungültigkeit der Antithese beweisen. Aus diesem dialektischen Erkenntnisprozess entsteht oft eine Synthese, die auf einer höheren Ebene wieder zu einer These und Antithese führt.
Ein bewusst ungenügend formuliertes Beispiel: These: Mindestlohn ist gut. Antithese: Mindestlohn ist nicht gut -> schlecht.
Wenn wir Sachverhalte untersuchen, können wir unser Denken und unsere Nachforschung systematisieren, indem wir Thesen klar formulieren und nach Beweisen und Widerlegungen für sie suchen.
Allein dieses Prinzip wird heute sehr oft nicht angewendet. Wir bekommen eine Information vorgesetzt und sollen sie glauben. Es fehlt oft das Bewusstsein dafür, dass jede Behauptung im Grunde nur eine These ist. Wir müssen sie fundieren, damit sie berechtigterweise eine Bedeutung hat.
An dem hier verwendeten Beispiel erkennen wir aber auch schon, dass allein die Formulierung der These vieles vorgibt. Beispielsweise ist nicht klar definiert, was „gut“ bedeutet. Nach welchen Kriterien ist Mindestlohn gut? Wenn er das Durchschnittseinkommen erhöht? Die Arbeitslosigkeit senkt? Die Konkurrenzfähigkeit nicht verschlechtert? Die Sozialkassen entlastet? Usw. Die so formulierte These wird zu weitläufigen und teils wirren Diskussionen führen. Wir sollten deshalb von vornherein klar und eindeutig formulieren.
Dialektische Fallen vermeiden
Dieses Denken in These und Antithese kann allerdings komplett abseits von Wahrheit stattfinden und es ist gefährlich, unsere Gedankenwelt danach zu gestalten. Das liegt daran, dass wir alle einen beschränkten Geist haben. Wir können zwar sehr gut eine These aufstellen, aber eine Antithese beschränkt sich auf unseren Wissenstand, unser Weltbild und unsere Filterblasen.
Nehmen wir wieder das Beispiel Mindestlohn. Die These könnte lauten: „Mindestlohn ist notwendig, damit arbeitende Menschen nicht Sozialhilfe beantragen müssen und er schadet nicht, weil er die Nachfrage in der Wirtschaft erhöht.“ Die Antithese könnte lauten: „Mindestlohn ist nicht notwendig und schadet der Wirtschaft.“ Die hier gewählten Formulierungen ermöglichen eine erheblich bessere Diskussionsqualität wie die im Vorkapitel. Aber die Diskussion wird sich nun genau auf die genannten Themen konzentrieren. Alle anderen Aspekte des Mindestlohns würden - wenn überhaupt - dann nur am Rande berührt.
Viel schlimmer aber ist, dass wir dadurch ein riesiges Feld an möglichen anderen Thesen gar nicht mehr wahrnehmen, die beim eigentlichen Anliegen, z. B. menschenwürdiges Leben, helfen würden. Wir erkennen die systemischen Gründe nicht mehr, warum es überhaupt einen Mindestlohn geben muss. In diesem Beispiel ist das eigentliche Problem, dass rund 1/3 der Unternehmenseinnahmen weder an die Mitarbeiter noch den Staat, sondern in Form von Vermögenseinkommen abfließen und dadurch der volkswirtschaftliche Kreislauf nicht mehr intakt ist. Eigentlich sollten wir hierzu also diskutieren, wie wir den volkswirtschaftlichen Kreislauf wieder schließen können, sodass Arbeit auch im Umfeld internationaler Konkurrenz angemessen bezahlt wird. Aber auch das ist wiederum nur ein Ausschnitt aus möglichen Lösungsräumen. Die Welt ist groß und vielfältig.
Das in den Raum Stellen von These und Antithese lenkt also unseren Geist, unsere Gedanken, die gesellschaftlichen Diskussionen, die politischen Entscheidungen und deshalb letztlich, wie wir unser Leben gestalten können. Wenn Nachrichtenagenturen oder Presse etwas thematisieren, sollten wir darüber hinausdenken.
Daher warne ich sehr ausdrücklich davor, sich von öffentlich ins Spiel gebrachten Thesen geistig gefangen nehmen zu lassen. Denken wir lieber darüber nach, wovon die These UND Antithese ablenken.
Kein Links, kein Rechts
Eine besonders ausgeprägte und gesellschaftlich bestimmende These-Antithese-Falle ist das Einteilen aller politischen Lösungen und Entscheidungen in zwei Pole: Links und Rechts.
Demokratie ist nicht zwischen kommunistischem Sozialismus und National-Sozialismus anzusiedeln. Demokratie bedeutet die Selbstbestimmung des Volkes, wenn wir so wollen eine Verschiebung von Diktatur zu mehr Anarchie. Aber nicht nur das, Demokratie hat viele Dimensionen.
Links und rechts sind zwei Pole, die letztlich eine geistige Manipulation darstellen. Die Realität, auch die politische, ist multidimensional.
Presse und Politik sortieren alles was ist in zwei scheinbare Pole ein, für die es nie mehr eine Synthese gibt. Es gibt kein oben oder unten, kein vorne oder hinten, kein schwarz oder weiß und keine Farben. Nur links oder rechts.
Das komplette Spektrum aller intellektuellen Leistungen auf allen politisch relevanten Themengebieten auf eine eindimensionale Linie zwischen zwei Punkten zu stellen ist fast schon Wahnsinn.
Wenn wir Menschen davon abhalten wollen, echte Lösungen zu finden, müssen wir nur zwei Protagonisten öffentlich auftreten lassen. Der eine stellt eine These auf, z. B. linke Politik sei richtig, der andere stellt eine Antithese auf, die möglichst weit weg von einer echten Lösung ist, z. B. rechte Politik ist richtig.
Was dann folgt, ist eine öffentliche Diskussion, die ständig zwischen zwei Polen hin und her pendelt, wobei das Pendel niemals eine echte Lösung auch nur berührt, weil sich beide Pole völlig abseits echter Lösungen befinden.
So können im Extremfall dann alle ungeliebten Meinungen nach ganz links oder ganz rechts verschoben werden, um dadurch einen Kampf zu inszenieren. Kommunisten gegen Neonazis, Faschos gegen Antifa. Das aber lenkt von einer sinnvollen Analyse und von Lösungen ab.
Und wenn jemand eine Synthese formuliert, schwenken die beteiligten Parteien einfach wieder zurück auf die Ursprungsthese. Dieses Spiel funktioniert jetzt seit 170 Jahren ziemlich gut. Egal was passiert, am Ende kommen wieder die These „Kapitalismus“ und die Antithese „Kommunismus“ zurück.
Zwischenzeitlich gab es beispielsweise den Ordoliberalismus, der eine gewisse Synthese darstellte, im Laufe der Jahre jedoch verbogen wurde (z. B. die Organisation „Neue soziale Marktwirtschaft“ vertritt klar neoliberale Thesen und nicht ordoliberale, mit sozialer Marktwirtschaft haben deren Argumentationen rein gar nichts zu tun). Ordoliberalismus wurde umgedeutet und die Wirtschaftstheorie von J. M. Keynes, die auch einmal Synthese war, wird jetzt einfach „links“ zugeordnet.
Die Einteilung in Links und Rechts manifestiert letztlich den Status Quo, denn jede dieser politischen Richtungen hat Nachteile, die die meisten Menschen nicht wollen. Heute finden wir keinen Kompromiss aus den Extremen mehr vor. Stattdessen werden die schlechtesten Eigenschaften beider Richtungen immer sichtbarer. Auf der einen Seite drehen Lobbyisten die Wirtschaftswissenschaft auf den Stand der Frühindustrialisierung zurück und begründen damit Niedrigstlöhne, den Abbau von Sozialleistungen und von wichtigen Bereichen wie der Bildung.
Die reale Welt besteht aber nicht aus einer eindimensionalen Line mit zwei Polen, auch nicht aus einem zweidimensionalen Feld. Nein, sie bietet drei physikalische Dimensionen und unendlich viele Farben, Thesen und Antithesen. Nehmen wir uns die Freiheit, diesen Lösungsraum so vollständig zu nutzen wie wir können.
Wissenschaftliche Prinzipien anwenden
Eine umfassendere Sicht auf Wissenschaft und die Notwendigkeit zur Verbesserung finden Sie im Anhang (S. 207). An dieser Stelle macht es Sinn, ein paar wichtige Grundsätze zu erwähnen.
Grundsätzlich sollten wir für neue und bessere Lösungen wissenschaftliche Prinzipien anwenden. Über die Prinzipien gibt es keinen Konsens [eine tolle Übersicht der Ansätze gibt es von der HHU5] aber doch ein weitläufig gemeinsames Verständnis. Die HTW Berlin hat folgende Prinzipien definiert:
• Aufstellen von Behauptungen (Thesen)
• Begründen aller Behauptungen durch Argumente
• Ein roter Faden, an dem die Argumentation erkennbar ist
• Explizites Aufzeigen der Behauptungen, die als Grundlagen unbegründet als wahr angenommen werden (Voraussetzungen)
• Explizite Angabe aller Behauptungen, die vom Autor übernommen werden (Literatur, Plagiatsverbot)
• Nur durch den Leser prüfbare Zusammenhänge darstellen - was nicht prüfbar ist, weglassen oder als Voraussetzungen explizit darstellen
• Auseinandersetzung mit Behauptungen anderer Autoren (Literaturarbeit)
• Absolute Ehrlichkeit und Fairness gegenüber Anderen
• Vorschlag einer Lösung eines praktischen Problems
• Die Arbeit sollte eine echte Teilmenge der Deutschen Sprache (mit/ohne Reform) bzw. Englischen Sprache (Oxford) sein.
[HTW Berlin6]
Aber wir müssen darüber hinaus gehen. Selbst wenn wir wissenschaftlichen Prinzipien folgen: Wissenschaft wird von Menschen geschaffen und ist damit immer abhängig von der Wahrnehmung und dem geistigen Horizont der beteiligten Personen - und daher fehlerbehaftet.
Wissenschaft hat einen sehr großen Einfluss auf die öffentliche Meinung und damit Konsequenzen für die Entscheidungen, die der Einzelne wie auch die Gemeinschaft trifft. Daher ist es auch wichtig, dass wir sie zu einem möglichst verlässlichen Instrument machen und gleichzeitig die (oft genug kaum gegebene) Sicherheit der Information ins richtige Licht rücken.
Schwächen aktueller Wissenschaftlichkeit
Heute wird Wissenschaft oft instrumentalisiert, um bestimmte Sichtweisen von Interessensgruppen zu begründen und durchzusetzen. Zudem werden in den ursprünglichen Wissenschaftsprinzipien die Schwächen des menschlichen Geistes zu wenig berücksichtigt. Hier die wichtigsten Schwächen heutiger Wissenschaft:
• Verwendung von unbewussten und bewussten Annahmen beeinflusst die Untersuchungen und bestimmt die Schlussfolgerungen, sie können also grundlegend falsch sein
• Verfälschung der Wahrheitsabsicht durch Voreingenommenheit und vorher feststehenden Interessen, vor allem durch finanzielle Abhängigkeit von Projekten und Instituten (Nur ca. 1/6 der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland ist nicht weisungsgebunden.7)
• Verfälschung der Ergebnisse durch die Beobachtung/Messung selbst
• Verfälschung durch die Filter der persönlichen Wahrnehmung und Weltbilder der Untersuchenden sowie der Gesellschaft in der sie leben
• Wenn eine ins Weltbild passende Erklärung eines bisher unerklärten Phänomens gelingt, bedeutet das nicht zwingend, dass die Erklärung auch richtig ist
Wissenschaftliche Prinzipien ergänzen
Wenn uns klar ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse bisher Schwächen haben, lassen sich neue wissenschaftliche Prinzipien als Ergänzung für die alten definieren.
• Neutralität, also Ergebnisoffenheit der Untersuchung, damit Neutralität der Personen zumindest im Sinne von frei von Interessen an einem bestimmten Ergebnis sein kann.
• Beauftragung und Finanzierung der Studien muss durch unabhängige Organisationen erfolgen (frei von Lobbyismus, Interessenkonflikten).
• Transparent machen der Annahmen und Grundlagen einer wissenschaftlichen Arbeit. Deshalb Betrachtungen und Auflistung der Vorannahmen, auf denen die Untersuchungen und Schlussfolgerungen gründen.
• Dafür sollte ein System angewendet werden wie das der „Libraries“ in der Programmierung. Dort binden wir die zugrundeliegenden Annahmen und Beweise als Dokumentverweis ein. So entsteht ein umfassendes und transparentes System.
• Priorisierung empirischer Untersuchungen [Stangl8] gegenüber dialektischen Untersuchungen.
• Klare Trennung von Tatsachen und Meinungen. Annahmen und Schlussfolgerungen sind klar zu formulieren und von den Untersuchungsergebnissen zu unterscheiden (statt Meinungen als Tatsachen zu verkaufen).
• Unsicherheitsfaktoren durch Beeinflussungen des Beobachters und der Messung müssen berücksichtigt werden (wo nicht ausschließbar, ist Erwähnung notwendig). Z. B. könnte jeder wichtigen Erkenntnis eine Information beigefügt werden, die Auskunft über die „Gesichertheit der Information“ gibt.
• Optionale Auflistung nicht berücksichtigter Einflussfaktoren, die von anderen als relevant angesehen werden.
• Optionale Auflistung anderer möglicher Schlussfolgerungen aus anderen Vorannahmen heraus.
• (Muss-)Angaben darüber, ob die Studie durch Replikation bestätigt wurde oder nicht.
Sich seines eigenen Verstandes bedienen
Darüber hinaus kommt jeder Einzelne nicht darum herum, Information, egal aus welcher Quelle, für sich selbst auf ihre Stimmigkeit zu prüfen.
Wir sollten niemandem glauben, nur weil er einen weißen Kittel oder einen Nadelstreifenanzug trägt. Wir sollten immer prüfen, ob die Information sich in der Realität zeigt oder nicht – und uns darüber klar sein, dass es unsere persönliche Realität ist, nicht zwangsläufig auch die jeder anderen Person.
5 https://user.phil.hhu.de/~petersen/WiSe1415_InfowiColl/PräsentationWissenschaftstheorie.pdf
6 http://wi.f4.htw-berlin.de/users/messer/Thesis/Wissenschaft.html
7 Christian Kreiß, „Gekaufte Wissenschaft – Wie uns manipulierte Hochschulforschung schadet und was wir dagegen tun können“, 2020
8 Stangl, W., „Die Dialektik“, 2010, http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTGEIST/DialektikAllgemein.shtml