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Einleitung: Das Evangelienbuch im Mittelalter

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Das Evangeliar, das Buch der vier Evangelien, nimmt den höchsten Stellenwert unter allen mittelalterlichen Büchern ein. Als Handschriftentypus entstanden ist es in der Spätantike, ungefähr gleichzeitig mit dem Aufkommen des als Block aus Pergamentblättern gefertigten Codex. Idealerweise enthält es alle vier kanonischen Evangelien, nämlich die von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Hinzu kommen seit dem frühen 4. Jahrhundert die Kanontafeln oder Canones des Eusebios von Caesarea, die eine Konkordanz aller parallelen Evangelienstellen bieten sollen. Eusebios hat dafür die griechischen Evangelien in nummerierte Abschnitte unterteilt und die Nummern nebeneinandergestellt. In die lateinischen Evangeliare wurden die Canones recht bald übernommen und von angeblichen Briefen des Hieronymus erläutert. Insgesamt wurden gewöhnlich vier dem Hieronymus zugeschriebene allgemeine Vorreden den Evangeliaren beigegeben. Vor jedes Evangelium gehörte zudem noch eine weitere Vorrede, das sogenannte Argumentum, das aber sicher nicht von Hieronymus stammt, und ein kurzes Inhaltsverzeichnis, das Breviarium. Meist kam noch eine kalendarisch und nach besonderen Anlässen geordnete Liste der Festlesungen aus allen Evangelien, das Capitulare evangeliorum, hinzu, das den Codex erst liturgisch benutzbar machte.

Da das Evangeliar das Wort Gottes enthält und Christus nach dem Prolog zum Johannes-Evangelium das Wort Gottes ist, repräsentiert jedes Exemplar dieses Buchs Christus selbst. Genauso wie auf Reliquien konnte darauf ein Eid abgelegt werden, als einer von ganz wenigen Gegenständen durfte es im Frühmittelalter auf dem Altar liegen, bei Prozessionen wurde es mitgetragen und bei Konzilien auf einen Thron gelegt. Als Verkörperung des Wortes Gottes ist das Evangeliar stets sorgfältig geschrieben, nicht selten mit Goldtinte und in Byzanz auch auf purpurgefärbtem Pergament, und besonders häufig ist es sowohl mit ornamentalem Schmuck und Bildern als auch mit einem wertvollen Einband versehen worden. Obwohl es schon ab dem 8. Jahrhundert im liturgischen Gebrauch Konkurrenz durch das kalendarisch organisierte Evangelistar oder Perikopenbuch und erst recht ab dem 11. Jahrhundert durch das umfassende Missale erhielt und immer seltener hergestellt wurde, blieb seine Wertschätzung ungebrochen.

Die Buchmalereien bilden vor allem den königlichen Schmuck für das Evangelienbuch, sie sollen dabei aber auch den Status der Evangelien als kanonische Schriften und die Einheit der vier Evangelien herausstellen. Schon seit früher Zeit gehören deswegen Bilder der Evangelisten zur Ausstattung von Evangeliaren. Das griechischsprachige Evangeliar von Rossano enthält ein Evangelistenbild aus dem 6. Jahrhundert, das die Ikonografie zu einer Zeit dokumentiert, zu der sie sich noch in der Übergangsphase zwischen heidnischem Autorenbild und christlichem Bildtypus befand ▶ 1. Dargestellt ist der auf eine Rolle schreibende Evangelist Markus, dem eine Personifikation – keine Muse mehr, sondern die heilige Weisheit – den Text diktiert. In Byzanz sollte in der Folge das Bild des Autors allein für die Authentizität seiner Schrift stehen, während die westlichen Evangelistenbilder schon im 6. Jahrhundert den Autoren die apokalyptischen Wesen Mensch, Löwe, Stier und Adler beigeben. Sie gelten als der Beleg der Vierzahl der Evangelienautoren, stehen aber auch für besondere Aspekte jedes einzelnen Evangeliums und die Inspiration durch Gott.


1 Rossano, Duomo, o. S., fol. 121r: Evangelistenbild Markus im spätantiken Rossano-Evangeliar

Ein zuverlässig in den Evangeliaren zu findendes Schmuckelement sind zudem die als prachtvolle Scheinarchitekturen gestalteten Kanontafeln. Verschiedene Typen bilden sich hier sehr früh aus. Große Bedeutung für ihre Gestalt kommt der karolingischen Renaissance zu, da damals eine vergleichsweise realistische Darstellungsweise der Architekturelemente wiederbelebt und verschiedene Typen neu durchgestaltet wurden. Beispiele, in denen beides zusammenfließt, bietet der Liuthard-Codex aus der Mitte des 9. Jahrhunderts mit den von marmorierten Säulen und Blattkapitellen getragenen Dreiecksgiebeln 2. Vielleicht gehören sie sogar zu den indirekten Vorbildern der Kanontafeln des Hitda-Codex (vgl. fol. 8v und folgende).

In westlichen Evangeliaren werden zudem unter dem Einfluss der insularen, d.h. irischen und angelsächsischen Buchmalerei Initialzierseiten an den Anfängen der vier Evangelien zu einem unerlässlichen Bestandteil der Ausstattung (vgl. fol. 25r, 79r, 119r, 173r; vgl. Abb. 9). Sie übersteigen bei weitem die ursprünglich textgliedernde Funktion von Initialen und betonen auf sehr augenfällige Weise die Würde des Textes.

Spätestens ab dem 6. Jahrhunderts sind sowohl im Osten wie im Westen einzelne Evangeliare mit umfangreichen Bilderzyklen zum Leben Christi versehen worden. Da hier, anders als in Evangelistaren mit ihrer annähernd chronologischen Textabfolge vier Evangelien hintereinander das ganze Leben Christi beschreiben, lag eine durchgehende Illustrierung des ganzen Buches nicht nahe. Auch wenn das Sinope-Fragment (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. suppl. gr. 1286) die Evangelienszenen an den Seitenfuß unter den Text setzte, schien deswegen im östlichen Mittelmeerraum eine Anordnung als Bildvorspann für das ganze Buch verbreiteter (Rabula-Codex: Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Ms. Plut. I,56; Purpurevangeliar von Rossano, vgl. Abb. 1). Es ist auffällig, dass anscheinend von Anfang an neben vorwiegend erzählenden Evangelienbebilderungen theologisch aufgeladene Programme treten, bei denen die Episoden als Erfüllungen alttestamentlicher Prophezeiungen ausgewiesen werden.

Im lateinischen Westen hingegen, wo die Initialseiten die Anfänge der vier Teilbücher so stark betonen, sind auch die Evangelienszenen lange Zeit in vier separaten Zyklen vor den Evangelien angeordnet worden. Sie kommen allerdings in vorkarolingischen und karolingischen Evangeliaren nur sehr selten vor. Nur zögerlich werden in der ottonischen Kunst Evangeliare mit Szenen illustriert, und zwar vor allem in Köln, Hildesheim und auf der Reichenau. Erst die Echternacher Buchmalerei schafft mehrere opulent bebilderte Exemplare. Am Ende des 10. Jahrhunderts wird auf der Reichenau versucht, nach dem Vorbild der Evangelistare über das ganze Evangelienbuch verteilte chronologische Illustrationen zu schaffen. Die Anordnung der Bilder vor den Evangelienanfängen bleibt aber für die ottonische Kunstepoche die absolut dominierende Variante.


2 Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 746, fol. 9v – 10r: Kanontafeln des spätkarolingischen Liuthard-Evangeliars

Das Evangeliar der Äbtissin Hitda

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