Читать книгу Das Evangeliar der Äbtissin Hitda - Christoph Winterer - Страница 8
ОглавлениеDer Codex im Überblick: Geschichte, Gestalt, Text und Ausstattung
Gestiftet wurde der Darmstädter Codex nach Ausweis von Geschenkverzeichnis fol. Ir und Dedikationsbild fol. 5v – 6r von der Äbtissin Hitda, und zwar an das Damenstift St. Maria und Walburga im sauerländischen Meschede. Da Hitda anscheinend die Äbtissin von Meschede selbst war, muss ihre Regierungszeit in die Jahre zwischen 948 und 1042 fallen, in denen sonst kein Name einer Äbtissin für das Stift belegt ist. Noch um 1500 erfolgte ein Eintrag in die Handschrift, der eine weitere Benutzung in dem 1310 zum Kanonikerstift umgewandelten Meschede belegt. Von hier aus wurde der Codex in den Revolutionskriegen in die Abtei Wedinghausen bei Arnsberg geflüchtet, wo er im August 1803 lag, als sich dort der hessische Landgraf Ludwig X. in seiner kurzzeitigen Neuerwerbung Westfalen huldigen ließ. Bei dieser Gelegenheit, also schon Wochen vor der Aufhebung von Wedinghausen, wurde der Codex zusammen mit anderen Wertgegenständen an den Geheimen Rat Ludwig Minnigerode übergeben. Auf diesem Weg gelangte er in die Darmstädter Bibliothek, wo er die Signatur Hs 1640 trägt.
Das Korpus der Handschrift umfasst ohne die beiden Schmutzblätter am Anfang und Ende 220 Blatt; da die Zählung erst auf dem zweiten Blatt begonnen wurde, endet sie allerdings auf dem letzten Blatt bei 219. Trotz 29,3 cm Höhe bei 21,6 cm Seitenbreite ist die Handschrift im Vergleich mit anderen liturgischen Codices der Ottonenzeit eher nur mittelgroß. Allerdings neigten die Kölner Malwerkstätten damals allgemein zu mittleren Formaten. Zum Vergleich: Das Mailänder Evangeliar misst sogar nur 23,1 × 16,8 cm, das Sakramentar von St. Gereon 27,0 × 19,7 cm. Das Manchester-Evangeliar mit seinen 24,0 × 19,3 cm mag hier prägend gewesen sein. Größer ist das (ältere) Evangeliar von St. Gereon, das mit 32,8 × 24,2 cm aber nicht an das vom Registrum-Meister illuminierte Evangeliar der Ste-Chapelle (Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 8851) mit seinen 38,5 × 28,7 cm herankommt.
Das Korpus besteht aus 28 Lagen, von denen 19 noch unten auf der jeweils letzten Seite eine Signatur tragen, die vom ersten Bindevorgang her stammen dürfte. Die bebilderten Lagen vor den Evangelien waren dabei aber nicht nummeriert worden, wohl weil sie parallel zu den Textseiten hergestellt wurden. Die Lagen sind aus demselben Grund auffällig ungleichmäßig aufgebaut: die üblichen Quaternionen (IV Doppelblätter = 8 Blätter) herrschen zwar vor, werden aber gerade für die Zierseiten vor den Evangelien von Ternionen (= III Doppelblätter) abgelöst. Die Lagenformel sieht wie folgt aus: (III + 1)6 (das erste Blatt ungezählt, Bl. 5 ohne Gegenstück) + IV14 + II18 + (III + 1)25 (23 Einzelbl.) + 6 × IV73 + III79 + 3 × IV103 + V113 + III119 + 6 × IV167 + III173 + 4 × IV205 + II209 + V219 (die hochgestellte Ziffer bezeichnet immer die letzte Blattnummer der Lage, die römische Zahl steht für die Anzahl der Doppelblätter).
Nachdem die Zierseiten den Textseiten eingefügt wurden, hätten die letzten Verso-Seiten im Anschluss an die Initialseiten fol. 79r, 119r und 173r mit den Anschlussversen beschrieben werden müssen, doch unterblieb dies. Es ist dennoch anzunehmen, dass die Zusammenfügung an dem Ort geschah, an dem der Text geschrieben wurde, da die Anschlüsse fol. 25v von der gleichen Hand wie der übrige Text ausgeführt wurden und weil in der ersten und letzten Lage Bild und Text nebeneinander erscheinen sowie fol. 19r vor dem Titulus der Verkündigung von erster Hand beschrieben wurde.
Die ursprüngliche Außenhülle des Hitda-Codex ist zu einem unbekannten Zeitpunkt komplett entfernt worden, sodass der Buchblock völlig ungeschützt zurückblieb. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Buchblock in unzureichender Weise neu gebunden. Ein heller moderner Ganzledereinband wurde im Anschluss an die in den 1960er Jahren erfolgte Neubindung von Kurt Londenberg, Dozent an der Hamburger Hochschule für bildende Künste, entworfen und anscheinend 1969 fertiggestellt. Er ist auf beiden Seiten ganz mit einem Prägemuster aus einzelnen Quadraten übersät, die sich in der Mitte verdichten und durch die so entstandene Verzerrung eine geschwungene Kreuzform erkennen lassen.
Der Hitda-Codex ist ein lateinisches Evangeliar. Den vier Evangelien sind zunächst fol. 1r – 4v drei der vier allgemeinen Vorreden vorangestellt, nämlich Novum opus, Sciendum etiam und Plures fuisse. Nach den ersten drei Bildern folgen fol. 8v – 14r die Kanontafeln. Hinzu kommen die besonderen Vorreden, die sogenannten Argumenta, und die Kapitelverzeichnisse, die Breviaria, die jeweils vor dem Bildvorspann jedes Evangeliums zu finden sind. Ganz am Ende folgt fol. 210r – 218v die liturgische Leseordnung der Evangelienabschnitte für den Jahreslauf, das Capitulare evangeliorum. Seit der Zeit um 1500 ist fol. 208v – 209v zwischen das Kreuzigungsbild und das Capitulare ein auf die Liturgie von Meschede bezogener Text nachgetragen, der Ordo seu consuetudo ecclesiae Meschedensis. Ebenfalls ein – wenn auch zeitnah – nachgetragener Text ist das Stiftungsverzeichnis der Äbtissin Hitda fol. I v.
Woher der Evangelientext übernommen wurde, ist bisher nicht abschließend geklärt. Eine Auffälligkeit ist zumindest, dass die Vorrede Sciendum etiam hier genauso wie in dem karolingischen Evangeliar der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Dom Hs. 56, mit Sciendum tamen beginnt. Allerdings besitzt dieser in Freising entstandene Codex auch noch die vierte, im Hitda-Codex ausgelassene Vorrede.
Geschrieben ist der Evangelientext in dunkler karolingischer Minuskel von wahrscheinlich einer Hand. Zwischenüberschriften, Seitentitel, Incipits und Explicits sowie die kleinen Textinitialen in der Initialspalte sind in zumeist goldener Unziale ausgeführt. Größere Titel, etwa für die Vorreden, sind in einer auf Unziale und Monumentalcapitalis basierten Goldmajuskel geschrieben. Auf jeder Textseite sind 25 Zeilen in einer Spalte für den Text vorbereitet. Der innere Schriftraum umfasst 18,3 × 11,4 cm, zu denen an der Außenseite des Blattes jeweils eine dreiteilige und an der Innenseite eine zweiteilige Initialspalte in der Breite von 0,7 + 2,3 + 0,6 cm und 0,4 + 1,9 + 0,7 cm hinzukommt. Die Bildseiten sind anscheinend nicht liniert, doch mit einer inneren Rahmung von ca. 17,5 × 10,5 versehen.
Der Hitda-Codex besitzt eine zwölfteilige Folge von Kanontafeln (fol. 8v – 14r). Vier oder drei kleine Arkaden tragen jeweils ein breites, golden konturiertes Gebälk, das im Architrav den Seitentitel trägt. Die langgestreckten, marmorierten und goldgesprenkelten Säulen, die sich nach oben hin verjüngen, sind von schlichter Eleganz. Ein niedriger, recht breiter Stylobat aus hellem Purpur mit Goldbesatz dient den Säulen als Unterlage und unterstreicht die Leichtigkeit und den Höhenzug der Scheinarchitekturen.
Die Dekoration ist sparsam und besteht nur aus dem einfachen goldenen Firstakroterion und den Blattkapitellen, die wegen ihrer bunten und unantikischen Ornamente etwas exzentrisch wirken. Nicht unwesentlich geprägt wird die Seitenwirkung schließlich von der Farbigkeit, die zwar mit Türkis, Rot, Violett, Blau und – selten – Ocker sowie den leuchtend orangerot umrandeten Goldflächen die Töne der Bilder übernimmt, doch durch die Kleinteiligkeit der Marmormuster und das viele sichtbare Pergament einen ganz anderen Eindruck erweckt. Die Säulenfarben einer Doppelseite sind gewöhnlich aufeinander abgestimmt, allerdings so, dass die inneren Farben mit den äußeren wechseln.
Vor jedem Evangelium und immer im Anschluss an den jeweiligen Bildvorspann befinden sich eine doppelte Zierseite, die jeweils das Incipit oder Initium und mit einer Goldrankeninitiale den eigentlichen Evangelienanfang bietet (fol. 24v – 25r, 78v – 79r, 118v – 11r, 172v – 173r). Diese Seiten sind sehr aufwendig und breit gerahmt und wirken vor allem durch ihre Farben: Gewöhnlich bildet ein breiter, in leuchtendem Orangerot gehaltener Streifen den äußersten Rahmen, auf den mehrere weitere Leisten folgen, die überwiegend von Türkis und Gold, vor Johannes (fol. 172v) aber von Violett und Blau und vor Markus (fol. 78v) von Rosa neben Türkis dominiert werden. Die Leisten sind nur zum Teil in vegetabile Ornamentmuster aufgelöst, häufiger sind Abtönungen der Grundfarbe.
Einige Seiten bieten eckige und runde Besätze auf den Mitten der Rahmungen. Dreimal sind darauf Kreuzornamente zu sehen (fol. 24v, 118v, 172v). Auf der Initialzierseite von Matthäus (fol. 25r) erscheinen in goldhinterlegten Goldmedaillons männliche Personifikationen der Kardinaltugenden und bei Johannes solche der um die „Karitas“ ergänzten theologischen Tugenden, die das Gotteslamm ( „AGNUS“) in der Mitte der Initialligatur IN umringen (fol. 173r). Das auffällig kleine Innenfeld ist stets in einem Purpurton bemalt. Weitere Farbakzente kommen von den Initialen selbst, die mit den Farben Gold, Orangerot, Weiß und Hellblau starke Kontraste erzielen. Kein Rahmen entspricht dem anderen, aber zumindest bei der Verwendung von Eck- und Mittelbesätzen sind die Seiten, außer fol. 118v – 119r bei Lukas, aufeinander bezogen.
Die Initialen sind durch den breiten Rahmen und das kleine Binnenfeld in ihrem Raum sehr beengt. Abgesehen von der Initialligatur IN fol. 79r vermeiden sie aber ein weites Ausgreifen in den Rahmen. Das Q fol. 119r ist mit dem Goldband der inneren Rahmenleiste verwoben. Die Buchstaben sind ganz aus orangerot gerandetem Goldband aufgebaut, das sich locker und übersichtlich verknotet und in vielfältigen und recht spitzen Ranken ausläuft. Es gibt eine Neigung, Goldbänder nicht strikt parallel zu führen, sondern mit leichter Biegung einander in der Mitte anzunähern. Flechtbandfüllung der Stämme kommt nicht mehr vor; an seine Stelle treten die beschriebenen Farben Hellblau und Weiß.
Zudem leiten kleinere Goldrankeninitialen wie die fol. 1r und 70v die allgemeinen und die besonderen Vorreden ein.
Außer einer allgemeinen Bildvorrede aus Dedikations-, Majestas-Domini- und Hieronymus-Bild enthält der Hitda-Codex vier Evangelistenbilder und insgesamt 15 annähernd chronologisch geordnete Evangelienszenen, von denen sich jeweils vier vor Matthäus und Lukas und drei vor Markus und Johannes befinden, eine weitere, die Kreuzigung, folgt auf das Johannes-Evangelium. Die Bildseiten sind im Hitda-Codex die am wenigsten aufwendig gerahmten Zierseiten. Gewöhnlich umgibt nur eine einzige Leiste ein Bild, die durch Ornamente als erhaben gekennzeichnet werden kann. Mit Ausnahme der drei ersten Evangelistenbilder (fol. 24r, 78r, 118r) und des Bildes der Taufe (fol. 75r), die orangerot gerahmt sind, wurden für die Rahmenleisten der Bilder zurückhaltende Farben ausgewählt. Die horizontalen Leisten sind zumeist anders gefärbt als die vertikalen Leisten.
Alle Bildseiten werden von Schriftzierseiten begleitet, die immer den Bildseiten direkt gegenüberstehen. Mit einer Ausnahme nehmen die Texte das Verso, die Bilder das Recto ein. Nur bei Titulus und Bild der Kreuzigung ist die Reihenfolge vertauscht. Diese Seiten mit Tituli besitzen im Hitda-Codex aber auch einen hohen ästhetischen Stellenwert, da sie immer mit Goldtinte auf aufwendige Zierseiten geschrieben sind, deren Rahmungen denen der Initialseiten in nichts nachstehen. Ganz ungewöhnlich ist zudem, dass die Tituli in unterschiedlichen, teilweise sehr speziellen Schriftarten geschrieben worden sind. Für das Dedikationsbild etwa wird die gewöhnliche Minuskel am Zeilenanfang und beim Namen „HIDDA ABBATISSA“ von Capitalis rustica abgelöst (fol. 5v). Noch bei zwei weiteren Tituli wird einfache Minuskel verwendet, nämlich fol. 22r zur Darbringung und fol. 171v vor dem Johannes-Porträt. Mehrfach, so fol. 20v und 169v, findet auch die Unziale Verwendung, die für solche Aufgaben im frühen Mittelalter oft eingesetzt wurde. Auf Initium-Seiten wie fol. 24v und ausschließlich auf der Titulus-Seite für die Kreuzigung (fol. 208r) wird eine Majuskel-Schriften verwendet, die auf der Unziale basiert, aber größer ist und Buchstaben einer Monumentalschrift einmischt. Besonders auffällig ist die Verwendung einer Urkundenschrift für die Tituli zu den Bildern der Majestas Domini, des hl. Hieronymus, zu allen Szenen vor Markus und einigen vor Lukas (fol. 6v, 7v, 74v, 75v, 76v, 77v, 113v, 115v, 116, 117v).