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2 | Der Angeklagte

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Die Nachricht von Loos’ Verhaftung schlug tatsächlich ein wie eine Bombe. Alle waren völlig überrascht, ausgenommen vielleicht die Polizeibeamten, die ihn schon im selben Jahr verhört hatten. Im Jahr 1928 war Loos berühmt oder, je nachdem wen man fragte, eher berüchtigt. Die in den ersten Tagen nach seiner Festnahme veröffentlichten Zeitungsberichte erwähnten alle ohne Ausnahme die Kontroverse um sein Haus am Michaelerplatz für den Herrenausstatter Goldman &Salatsch in den Jahren 1910 und 1911 (damals war er für die spartanische und unkonventionelle Gestaltung der Fassaden des Gebäudes vernichtend kritisiert worden) . Außerdem schrieben sie über seine verbalen Attacken gegen das Ornament. Viele erwähnten auch seine jüngsten Angriffe gegen Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte.

Abb. 3

Worin sich die Zeitungsberichte nach der Festnahme jedoch erheblich unterschieden, war die Art und Weise, wie sie Loos und seine Arbeiten und Ideen präsentierten. Die liberale Neue Freie Presse, die ihm während der Auseinandersetzung über das Haus am Michaelerplatz sehr zugesetzt hatte, begegnete Loos nun eher mit Sympathie. In der Abendausgabe des 6. September, in der sehr detailliert über die Festnahme und die Anschuldigungen gegen Loos berichtet wurde, brachten die Herausgeber auf der ersten Seite einen Artikel mit dem Titel » Die Tragödie eines Ästheten «, der Loos’ Karriere und Errungenschaften beschrieb. Loos wurde als » ein Künstler, vielumstritten, aber jedenfalls eine interessante Figur und ein großes Talent « bezeichnet. Nebenbei erwähnt wurde auch sein » Kampf gegen jedes Ornament «.

Das Wesentliche war vielmehr sein Streben, das ganze Leben in den Bereich jenes raffinierten Schönheitskultes zu ziehen, wie er ihn auffaßte. Er war auf seine Weise ein Ästhet und wollte es nicht nur als Architekt sein, sondern ebenso sehr als Erneuerer auf allen möglichen Gebieten, in der Speisekultur, der Kleiderkultur ; er suchte überall auf seine geistreiche Weise Anregungen zu geben, immer exzentrisch, immer unkonventionell, immer hemmungslos in der Kritik, ein arbiter elegantiarum aus dem Wiener Kaffeehausmilieu, der nun selbst das Opfer dieser Hingabe an ein gesuchtes Überraffinement des täglichen Lebens wird.32

Doch nicht alle Zeitungen behandelten Loos so freundlich. Der Tag, eine von Wiens zahlreichen Tageszeitungen für den Boulevard, schrieb unter dem Untertitel » Endlich einmal eine richtige Sensation « besonders ironisch und mit offensichtlich großem Vergnügen über die mehr als dürftigen Ermittlungsergebnisse der Polizei und andererseits nicht, ohne in dem knapp vier Spalten langen Artikel sämtliche Verdienste und Bauwerke des Architekten als revolutionär und das Publikum provozierend gewürdigt zu haben.

Der Architekt Adolf Loos, der Freund Karl Kraus’ und Peter Altenbergs, der » Stänkerer «, der mit Gott und mit der Welt überworfen ist, dem Wiener Küche ein Saufraß, die Wiener Werkstätte ein überflüssiger, unbrauchbarer Kitsch ist, Adolf Loos, der von Wien, seinen Krähwinkeleien und seiner stickigen Atmosphäre nach Paris geflüchtet ist, der Erbauer des verrückten Loos-Hauses, das alle Orthodoxen, gleichgültig ob Ästheten oder Architekten, zur Verzweiflung gebracht hat, sitzt hinter Schloß und Riegel – weil er Kinder geschändet hat. Ja – nicht mehr und nicht weniger [ … ]. Der Mann, der in diesen Stunden die schwersten seines Lebens mitmacht, ist als Künstler immer ein Einzelgänger und ein Außenseiter jener Gesellschaften gewesen, die eine bestimmte Art Kunstform als Monopol gepachtet zu haben glauben. […] 33

In den darauffolgenden Tagen brachten nahezu alle Zeitungen einen kurzen Überblick über Loos’ Leben und Karriere. Manche waren wohlwollend, andere weniger, aber alle unterstrichen wie Der Tag seinen » Außenseiter «-Status in Wien.

Loos war ein Außenseiter. Er war siebenundfünfzig Jahre alt (noch nicht achtundfünfzig, wie die meisten Zeitungen berichteten) und er lebte seit beinahe drei Jahrzehnten in Wien. Dennoch blieb er tief in seinem Inneren ein Fremder. Er war zwar ein unerlässlicher Bestandteil des kulturellen Lebens der Stadt, aber gleichzeitig distanzierte er sich entschieden davon.

Er kam aus der Provinz. Im Jahr 1870 wurde er in Brünn/Mähren als Sohn eines Steinmetzmeisters geboren.34 Seine frühe Kindheit war glücklich und sorglos, aber mit zunehmendem Alter wurde alles anders. Er stellte sich als uninteressierter und schlechter Schüler heraus und musste von einem Gymnasium zum anderen wechseln, bis ihn schließlich seine Mutter – sein Vater war gestorben, als er acht Jahre alt war – in der Gewerbeschule im böhmischen Reichenberg (dem heutigen Liberec) einschrieb. Zu Beginn versuchte er es mit Maschinenbau. Darin war er aber auch nicht erfolgreicher als zuvor in den akademischen Fächern. Ein Jahr später wechselte er wieder, und zwar in die Architekturabteilung der Gewerbeschule in Brünn.

Dort schnitt er ganz gut ab und bekam schließlich, wenn auch mit Verspätung, ein Abschlusszeugnis. Aber er passte nicht sehr gut in seine Klasse – in die zufälligerweise auch Josef Hoffmann und Hubert Gessner gingen, die beide wenig später ebenfalls in Wien eine bedeutende Architekturkarriere machen sollten – zum einen wegen seiner beginnenden Schwerhörigkeit, zum anderen wegen seiner nonkonformistischen Art.

Im Herbst 1889 trat Loos in die Technische Hochschule in Dresden ein, um Architektur zu studieren. Er fiel bei der Prüfung am Ende des zweiten Studienabschnitts durch und leistete im darauffolgenden Jahr den Militärdienst. Am Ende seiner Militärzeit hatte er grundlegende Kenntnisse über das Armeewesen und die Syphilis. Nach der Behandlung – im späten 19. Jahrhundert bestand diese standardmäßig aus großzügigen Gaben von Kaliumjodid – war er zwar nicht mehr ansteckend, aber unfruchtbar. Loos bemühte sich vergeblich um eine Aufnahme an die Wiener Akademie der bildenden Künste und kehrte schließlich wieder an die Hochschule in Dresden zurück. Noch vor Ende des Sommersemesters verließ er diese, um an Manövern seiner Militäreinheit teilzunehmen. Schließlich brach er das Studium ganz ab. Da er kaum andere Möglichkeiten hatte, beschloss er, eine Reise in die Vereinigten Staaten zu unternehmen, wohl um die World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago zu sehen.

Die Zeit in Amerika und ein anschließender kurzer Aufenthalt in London hinterließen bei Loos einen tiefen Eindruck. Sie entfachten in ihm die anhaltende Liebe für die » angelsächsische « Kultur, die der Grundpfeiler für alle seine späteren Ideen wurde. Aber das isolierte ihn nur noch mehr, als er wieder in seine Heimat zurückkehrte. Nachdem er drei Jahre im Ausland verbracht hatte, ging er nach Wien und begann für einen Wiener Architekten zu arbeiten. Da für ihn diese Tätigkeit jedoch wenig erbaulich und befriedigend war, kündigte er nach kurzer Zeit wieder.

Als er die dunklen Seiten des Wiener Nachtlebens erforschte – was für ihn eine lebenslange Beschäftigung werden sollte –, lernte Loos die Schriftsteller Karl Kraus und Peter Altenberg kennen. Sie wurden enge Freunde und seine Verbündeten im Kampf für kulturelle und künstlerische Reformen.

In Wien positionierte sich Loos in klarer Opposition zu den meisten reformorientierten Architekten und Designern. Sein Zerwürfnis mit Josef Hoffmann – einem der Gründer der Secession – entstand durch dessen Weigerung, Loos einen der Räume im neuen Secessionsgebäude am Karlsplatz gestalten zu lassen. Ab diesem Zeitpunkt wurde Loos zum eloquenten und unermüdlichen Kritiker von Hoffmann – sowie von fast allen anderen Architekten der Stadt.

Berühmtheit erlangte er erstmals im Jahr 1898 mit einer Reihe von wöchentlich erscheinenden Artikeln in der Neuen Freien Presse, in denen er die im Sommer desselben Jahres abgehaltene große Jubiläums-Gewerbeausstellung im Wiener Prater kritisch begleitete.35 Wie vorherzusehen war, verriss er die meisten Exponate (und die, die sie geschaffen hatten), was ihm große Bekanntheit, aber auch die nachhaltige Feindschaft eines Großteils der Mitglieder der Wiener Kunstszene verschaffte. Kurz danach begann er, Inneneinrichtungen für Freunde und Bekannte zu entwerfen, und im Jahr 1903 versuchte er sich zum ersten Mal als Architekt (obwohl er weder ein Diplom noch eine Lizenz als Architekt besaß – die Lizenz sollte er erst viel später erhalten, und zwar nach dem Ersten Weltkrieg).

Der Durchbruch kam für ihn im Jahr 1910 mit dem Sturm der Entrüstung über sein Haus am Michaelerplatz. Die Auseinandersetzung brach im frühen Herbst dieses Jahres aus, als das Baugerüst von dem noch nicht ganz fertiggestellten Gebäude entfernt und eine auffallend nüchterne Fassade sichtbar wurde. Die Zeitungen wurden darauf aufmerksam und bald wurde der Stadtrat involviert. Dieser versuchte Loos zu zwingen, die Fassade zu ändern. In den folgenden Monaten bis zum Ende des Jahres 1911 wurde um den Entwurf in der Öffentlichkeit ein Krieg ausgetragen, in dem Loos nicht nur gegen Konservative (die wegen der ostentativen Schlichtheit aufgebracht waren), sondern auch gegen viele Vertreter der Moderne ( die unglücklich waren über die Verwendung klassischer Elemente, über die eigenwillige Anordnung der Fenster und über die Verschleierung der tatsächlichen Konstruktion ) zu kämpfen hatte. Während des langen Kampfes erkrankte Loos schwer an einem Magengeschwür und verbrachte mehrere Wochen in einem Sanatorium zur Erholung. Schließlich trug er den Sieg davon, obwohl er einen Kompromiss eingehen und am oberen Teil der Fassade Blumenkästen unter den Fenstern anbringen musste. Diese Erfahrung ließ ihn isolierter denn je zurück.36

Nicht lange, bevor der Kampf um das Haus am Michaelerplatz begann, verfasste Loos seinen wohl berühmtesten Essay, » Ornament und Verbrechen «.37 Sein Angriff gegen das Ornament wurde seine am meisten beachtete und umstrittenste Aktion. Noch in den 1920er Jahren wurde er immer wieder damit identifiziert, obwohl die Zeitungen – und übrigens auch fast alle anderen – seine Position verzerrt wiedergaben und ihn weit kompromissloser darstellten, als er tatsächlich war. (Loos korrigierte zudem später seine Meinung in gewisser Weise und gab zu, dass es Umstände gab, unter denen ein Ornament angebracht war und noch immer eine Bedeutung hatte.)38

Im Jahr 1921 wurde er auf Antrag der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zum Leiter des » Siedlungsamtes « bestellt.39 Die Beauftragung von Loos kam sehr überraschend, einerseits weil er keinerlei nennenswerte Erfahrung in Verwaltungsfragen hatte (tatsächlich hatte er kurz zuvor die Kulturpolitik der neuen sozialdemokratischen Verwaltung verunglimpft) und andererseits weil er nun tschechoslowakischer Staatsbürger war. (Nach dem Untergang des Habsburgerreiches im Jahr 1918 konnten die Bewohner der früheren Kronländer ihre neue Nationalität wählen und Loos entschied sich dafür, nicht die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen.40 ) Loos strebte diesen Posten auch nicht an und lehnte Einschränkungen jeglicher Art ab. Er wollte sich die Freiheit, zu reisen und in der Öffentlichkeit zu sagen, was ihm beliebte, bewahren.41

Trotzdem nahm er den Posten an. Er erwies sich als energischer, wenn auch häufig abwesender Verwalter. Unter seiner Leitung wurden mehrere große Siedlungen errichtet, darunter nach seinem Entwurf auch die Siedlung am Heuberg. Bald jedoch kam es zum Bruch mit der sozialdemokratischen Kommunalverwaltung, weil diese entschieden hatte, Aufwand und Geldmittel vorwiegend in die Errichtung von städtischen Wohnblöcken in verdichteter Bauweise zu investieren. Loos, der überzeugt war, dass » jeder Mensch sein eigenes kleines Haus und seinen eigenen Garten haben sollte «, betrachtete Geschoßwohnbauten bestenfalls als vorübergehende Lösung. Er stand diesem Kurswechsel in der Politik mehr als kritisch gegenüber und im Juni 1924 legte er seine Funktion unter Protest zurück.42

Loos verließ Wien und ging nach Paris, in der Hoffnung, dass dort seine Ideen freundlicher aufgenommen werden würden. In Paris wurde er verehrt und gefeiert. Le Corbusier und viele andere Pariser Avantgardisten betrachteten ihn als Gründervater der neuen Bewegung in der Architektur – aber seine Vision, große neuartige Bauten zu errichten, wurde in Frankreich niemals Wirklichkeit. Er entwarf eine Handvoll Projekte, darunter ein Hotel in Nizza und ein bemerkenswert eigenwilliges Haus für die Tänzerin Josephine Baker. Letztlich konnte er jedoch nur ein einziges bedeutendes Bauwerk errichten, das Haus für den Dadaisten Tristan Tzara am Montmartre.

Die meisten seiner Aufträge – großteils handelte es sich um Inneneinrichtungen – erhielt er jedoch in Wien oder in der Tschechoslowakei, daher kam er oft zurück. Im April 1927 hielt er während eines seiner Aufenthalte in Wien einen Vortrag im Großen Musikvereinssaal – » Das Wiener Weh « –, in dem er mit neuem Elan (und einer Schärfe, die selbst für Loos außergewöhnlich war) Hoffmann und die Wiener Werkstätte angriff.43 Ein Bericht, der am nächsten Tag im Illustrierten Wiener Extrablatt veröffentlicht wurde, begann mit den simplen Worten: » Adolf Loos ist bös auf Wien. « Der Vortrag war wohl kaum geeignet, sich neue Freunde zu machen, und so war es auch.44

Unverdrossen ließ Loos einen weiteren, noch pointierteren Angriff gegen die Wiener Befindlichkeiten folgen. Kurze Zeit später startete er in einem Berliner Vortrag einen frontalen Angriff gegen die Wiener Küche, wobei er nichts Geringeres als die beliebten Knödel verunglimpfte und die Behauptung aufstellte, die Wiener verstünden » weder vom Kochen noch vom Essen « etwas. Die Wiener Presse erfuhr von seinen kritischen Bemerkungen und startete eine weitere Runde empörter Reaktionen.45

In der Zwischenzeit hatte Loos einen neuen Auftrag für eine große Villa in Wien im 18. Bezirk erhalten. Die Kunden waren der Textilfabrikant Hans Moller und seine Frau Anny. Im Frühling 1927 fertigte Loos in Paris mit seinem Assistenten Zlatko Neumann die ersten Zeichnungen für das Projekt an. Der junge Architekt Jacques Groag überwachte die Bauarbeiten, die im Herbst desselben Jahres begannen. Loos, der an seinem Gebäude einige Änderungen vor Ort vornehmen sollte, reiste in den darauffolgenden Monaten oft nach Wien. Im März und April 1928 verbrachte er dort die meiste Zeit. Im Frühsommer desselben Jahres kam er erneut zurück – damals hatte er wahrscheinlich den ersten Kontakt mit der Polizei, als ihm vorgeworfen wurde, er wolle kleine Mädchen » an sich locken «.46

Abb. 4

Knapp zwei Wochen vor seiner Verhaftung war er wieder nach Wien gekommen, um die letzten Arbeiten am Haus zu beaufsichtigen.47

Der Fall Loos

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