Читать книгу Der Fall Loos - Christopher Long - Страница 9

3 | Der Sachverhalt

Оглавление

Am Freitag, dem 7. September, dem dritten Tag nach Loos’ Festnahme, tauchten allmählich neue Details auf. Das Neue Wiener Tagblatt berichtete, dass die Polizei zu Beginn keine Informationen über die Festnahme hatte veröffentlichen wollen. Laut dem Zeitungsbericht hatte diese Entscheidung jedoch nichts damit zu tun, dass man Loos’ Ruf schützen wollte, sondern man fürchtete vielmehr eine Klage wegen Rufschädigung, die Loos einbringen könnte, falls die Anschuldigungen der Kinder sich als haltlos herausstellen sollten. Das Gerücht über seine Festnahme war jedoch durchgesickert, so schrieb das Blatt, weil zwei nicht genannte amerikanische Journalisten » aus privaten Quellen « von der Geschichte erfahren hatten und bereit waren, sie in die Öffentlichkeit zu bringen. Da die Behörden nun fürchteten, man würde ihnen Vertuschung vorwerfen, wurde rasch entschieden, eine kurze Presseaussendung zu veröffentlichen.48

Nun tauchten auch genauere Beschreibungen der in Loos’ Wohnung beschlagnahmten Fotografien auf. Das Illustrierte Wiener Extrablatt beschrieb sie als Stereoskop-Fotografien, » die durchwegs pornographische Szenen darstellen «. Die abgelichteten Personen waren » durchwegs Kinder im zartesten Alter von fünf bis sechs Jahren bis zum Alter der heranreifenden Frau «. Es wurden jedoch keine Fotografien von den beiden Mädchen gefunden, die die Anschuldigungen erhoben hatten, und die Zeitung nahm die am Vortag veröffentlichte Behauptung, einige der Fotos zeigten » Loos und die von ihm verführten Kinder in näher nicht zu bezeichnenden Situationen «, wieder zurück.49 Fast alle Zeitungen räumten ein, dass nicht Loos die Fotografien gemacht hatte; einige berichteten, dass sie scheinbar schon » älteren Datums « waren. Die Frage, wie Loos die Fotografien erhalten hatte, blieb in den meisten Berichten unbeantwortet, aber in einem Artikel war zu lesen, » dass er die Photos von einem Freunde in Paris schon vor langer Zeit einmal zum Geschenk bekommen habe « – ohne Angabe näherer Details.50

Die Zeitungen berichteten nun auch, dass vier Mädchen involviert waren : die zehnjährige Mizzi, ihre siebenjährige Schwester Hermine, die zehnjährige Ida und ein anderes Mädchen, dessen Identität noch nicht angegeben war. Den Zeitungsberichten zufolge sagten nur zwei der Mädchen, Mizzi und Ida, aus, sie seien belästigt worden. Die beiden anderen blieben während ihrer Vernehmung bei der Aussage, dass ihnen nichts Ungehöriges widerfahren sei. Laut einem Zeitungsbericht hatte Loos die Mädchen fünf bis sieben Mal getroffen.51

Zwei der Mädchen ( möglicherweise drei, hier waren die Zeitungsberichte ebenso vage und widersprüchlich wie in Bezug auf deren Alter ) wurden ärztlich untersucht und es wurden keine eindeutigen Anzeichen für eine sexuelle Belästigung festgestellt. Einige Artikel berichteten zwar, dass bei Mizzis Untersuchung » ärztliche Wahrnehmungen gemacht « wurden, die aber » nicht unbedingt eine Bestätigung der Angaben des Mädchens darstellen « mussten.52

Was in den Zeitungsberichten unklar blieb, war, welche Anschuldigungen genau gegen Loos erhoben wurden. Die meisten frühen Berichte verwendeten den Ausdruck » schwer vergangen «, eine euphemistische Bezeichnung für sexuelle Belästigung (in einer Zeit, als konkretere Formulierungen in der Öffentlichkeit vermieden wurden) . Die Ausdrucksweise stammt direkt aus der Presseaussendung der Korrespondenz Wilhelm, die in vielen Zeitungsartikeln wörtlich zitiert wurde. Im Artikel von Der Tag wurde von » sittlichen Verfehlungen « gesprochen, ohne nähere Erklärungen.53 Nur das Boulevardblatt Illustriertes Wiener Extrablatt behauptete in einer detaillierteren Schilderung, dass Loos die Mädchen zur » Ausübung perverser Handlungen verleitet « hätte.54 In einigen Zeitungen wurde auch erwähnt, Loos habe angeblich mit den Mädchen sehr offen über Sexualität gesprochen und sie in anstößiger Sprache über ihre sexuellen Erfahrungen und Wünsche befragt. Die Tatsache, dass die Polizei ärztliche Untersuchungen angeordnet hatte, ist ein starkes Indiz dafür, dass der Verdacht auf irgendeine Art der Penetration bestand, wenn auch davon nichts Konkreteres in den Zeitungen zu lesen war. In einem Artikel wurde jedoch berichtet, Loos werde verdächtigt, die Mädchen mehr als einmal » unzüchtig betastet « zu haben.55

Mittlerweile war von der Polizei auch die Information veröffentlicht worden, dass Loos im Frühling vernommen worden war, weil er junge Mädchen angesprochen hatte, womit man zweifellos darauf abzielte, Loos’ mögliche Schuld zu unterstreichen.56 Einige Zeitungen fügten noch ihre eigenen » Beweise « hinzu. Die Neue Freie Presse berichtete, dass Mizzi » weder auffallend hübsch, noch über [ihre] Jahre hinaus entwickelt « sei – woraus man den Schluss zog, dass Loos nicht zu einem Fehlverhalten » verführt « worden sei.57 Und in der Stunde wurde Loos’ Schlafzimmer beschrieben (das er schon viele Jahre früher, im Jahr 1903, als er seine erste Frau Lina heiratete, entworfen hatte): » Es besteht nämlich bloß aus hohen Matratzen, über die weiße Angorafelle gebreitet sind « – womit nicht sehr subtil auf Loos’ etwas eigenartige erotische Interessen hingewiesen wurde.58 Eine schwerwiegende Anschuldigung kam von der Stunde, als behauptet wurde, dass eine der beschlagnahmten Stereofotografien Loos » mit beiden « der fraglichen Mädchen » in einer Stellung, die für das Delikt keinen Zweifel aufkommen läßt «, zeige. Die Zeitung folgerte, dass Loos » den Apparat « so hätte eingestellt haben müssen, » daß der Verschluß automatisch gelöst « wurde, und fügte hinzu, dass die Polizei aufgrund der Tatsache, dass in Loos’ Wohnung keine derartige Fotoausrüstung gefunden worden sei und es keine Dunkelkammer gab, nach der Person oder den Personen suche, die die Bilder entwickelt haben könnten – alles Anschuldigungen, die durch keinerlei Tatsachen belegt waren.59

Abb. 5

Viele Fragen setzten sich bei den Journalisten und zweifellos auch bei der Öffentlichkeit in den Köpfen fest. Es gab Gerüchte, dass Loos’ Festnahme durch Anschuldigungen eines » seiner zahl reichen Feinde « veranlasst worden sei, obwohl die Berichte, dass die » Bedienerin «, die als Erste die Polizei verständigt hatte, den Namen des fraglichen Mannes nicht kannte, diesen Gedanken zu zerstreuen schienen.60 Es gab auch wilde Anschuldigungen – oder zumindest Andeutungen – bezüglich anderer Vergehen, die Loos begangen haben sollte. Das Illustrierte Wiener Extrablatt berichtete, dass die Schwester von Lina, Loos’ erster Frau, » auf rätselhafte Weise « verschwunden war – ohne weiteren Kommentar.61 Und in vielen Artikeln in den ersten Tagen nach seiner Festnahme wurden seine beiden früheren gescheiterten Ehen erwähnt.

Andererseits waren sich die Zeitungen im Allgemeinen darüber einig, dass Zeugenaussagen von Kindern – vor allem Aussagen über Missbrauch – äußerst problematisch seien. Das Neue Wiener Tagblatt befragte den Kinderpsychologen Dr. Theodor Heller, der die Unzuverlässigkeit von minderjährigen Zeugen in derartigen Fällen betonte.62 Heller war eine bekannte und anerkannte Autorität, er war der Direktor einer Erziehungsanstalt für » geistig abnorme und nervöse Kinder «. Er mahnte zur Vorsicht, bevor ein Urteil gesprochen würde : » Der gegenwärtige aufsehenerregende Fall gehört zu den heikelsten Problemen, welche die Kriminalistik und die psychologische Wissenschaft überhaupt kennt. Der Fall ist noch zu ungeklärt, als daß man [ sich ] darüber äußern könnte. « Und er meinte auch: » Manche Kinder wünschen sexuelle Erlebnisse und behaupten schließlich, solche gehabt zu haben, auch wenn es gar nicht wahr ist «. Er drängte darauf, dass die Polizei oder die Richter derartige Befragungen nur im Beisein eines qualifizierten Kinderpsychologen machen sollten. Außerdem insistierte er, die Tatsache, dass Loos pornografische Bilder von Kindern besaß, sei nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass er derartige Handlungen selbst begangen habe.63

Und dennoch herrschte in der Presse nahezu Einigkeit über Loos’ angebliche Schuld. Die konservative Reichspost (die im Laufe der Jahre großteils freundlich über Loos berichtet hatte, sogar während der anhaltenden Auseinandersetzungen über das Haus am Michaelerplatz) schrieb in einem Leitartikel:

Man weiß von früheren Fällen her, daß die Aussagen von Kindern in derart heikligen Angelegenheiten oft mit Vorsicht aufzunehmen sind. Doch das war auch der Polizei bekannt und sie wird sicherlich über sehr schwerwiegende Gründe verfügt haben, wenn sie sich zu einer Verhaftung entschloß.64

Das Illustrierte Wiener Extrablatt, eine andere grundsätzlich konservative Zeitung, schrieb, dass Loos’ Festnahme » keinen Zweifel « ließ, dass die Anschuldigungen auf » schwerwiegenden Gründen « basierten und dass die Angelegenheit schon eine » beschlossene Sache « sei.65 Ein offenkundiger Hinweis dafür, dass die Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen, war nach Meinung der Herausgeber der Reichspost, dass es für den Wunsch, die Mädchen zu zeichnen, keinen einzigen Präzedenzfall in Loos’ Arbeit gab : » So muß es schon an und für sich auffallen, daß Loos, der sich niemals als Maler oder Zeichner betätigt hat, ausgerechnet Kinderakte zu zeichnen wünschte. « Der Artikel wies außerdem ebenfalls auf die » Unmenge « von Fotografien hin, die in Loos’ Besitz gefunden worden waren, » deren Darstellungen, ebenfalls Kinder betreffend, die Angaben der beiden Mädchen zu bestätigen scheinen «.66

Was keiner der Zeitungsberichte erwähnte, war, ob die Polizei bei der Wohnungsdurchsuchung die von Loos angefertigten Zeichnungen oder Skizzenblocks von den Mädchen gefunden hatte – beziehungsweise ob es diese überhaupt gab. Das war ein seltsames und offenkundiges Versäumnis: Wenn Loos die Mädchen in » unmoralischen Stellungen « gezeichnet hatte, warum gab es keine Diskussion über diese Zeichnungen ?

Ein solcher Beweis, so muss man doch annehmen, wäre viel wichtiger gewesen als die alten Stereofotografien. Aber die Tatsache, dass keine Informationen über die Zeichnungen veröffentlicht wurden, weist darauf hin, dass die Behörden eine Diskussion über diese möglichen Beweisstücke in der Öffentlichkeit verhindern wollten.

Am Freitag wurde noch eine andere Information bekannt, die ein neues Licht auf den Fall warf: Am Tag seiner Festnahme wollte Loos nicht nach Paris reisen, sondern nach Pilsen in der Tschechoslowakei, wo er viele Kunden hatte. Die Neue Freie Presse berichtete, dass er dorthin wollte, weil er » gegenwärtig mit einem Neubau beschäftigt ist « (es handelte sich wohl um das Haus für Hans und Johanna Brummel, das im folgenden Jahr fertiggestellt wurde).67 Er hatte geplant, danach nach Wien zurückzukehren, um die abschließenden Arbeiten an der Innenausstattung der Villa Moller zu beaufsichtigen. Durch diese seine Aussage wurden die Andeutungen einiger früher Zeitungsberichte, Loos könnte versuchen, vom Tatort des mutmaßlichen Verbrechens zu fliehen, eindeutig infrage gestellt.68

Der Leitartikel in derselben Ausgabe der Neuen Freien Presse klang fast mitleidig oder zumindest bedauernd. Darin wurden Loos’ Fähigkeiten und Errungenschaften gelobt und sein tragischer Abstieg beklagt. Der Titel lautete: » Der Fall Loos : Der traurige Niederbruch eines großen Talents «. Loos’ Niedergang, so schloss der Artikel, » bedeutet einen Verlust für Wien «.69 Andere liberale und gemäßigte Zeitungen nahmen diesen Gedanken auf. Das Neue Wiener Tagblatt ging sogar noch weiter und behauptete, die Stadt trage eine gewisse Verantwortung für das Ende eines » seiner starken Talente, vielleicht eines wahrhaft Großen «, weil sie Loos über die Jahre so schlecht behandelt habe.70

Am anderen Ende des Spektrums suggerierten einige Boulevardblätter indirekt, dass die ganze Affäre der gebührende Lohn für Loos’ schlechtes Benehmen über viele Jahre war. Das war ein Gedanke, der ganz sicher widerspiegelte, wovon ein nicht unerheblicher Teil der Wiener überzeugt war: Loos würde schließlich das bekommen, was er verdiente.

Doch sogar in der Boulevardpresse der Stadt gab es eine gewisse Sympathie für Loos. Eine dieser Zeitungen, Das Kleine Blatt, schrieb, es sei durchaus möglich, dass die Anschuldigungen der Kinder jeder Grundlage entbehrten.71 Einige Artikel bezogen sich auch auf Loos’ Talent und seinen ansonsten grundsoliden Charakter und brachten ihre Bestürzung und Betroffenheit über diesen tragischen Abstieg zum Ausdruck. Mehr als eine Zeitung berichtete, dass die Anschuldigungen für Loos’ Freunde und Bekannte völlig überraschend gekommen waren. Die Neue Freie Presse schrieb, dass sich, als bekannt wurde, was geschehen war, » in den Kreisen der vielen Anhänger und Freunde des Architekten « eine große » Niedergeschlagenheit « breitgemacht habe.72 Und in einigen anderen Artikeln sprachen Freunde von Loos – die nicht namentlich genannt wurden – darüber, wie schockiert sie waren, als sie die Nachricht hörten, und sie erzählten den Reportern, dass sie Loos immer als herzensguten und aufrechten Gentleman erlebt hätten.73 Loos’ Nachbarn in der Bösendorferstraße, wo er seit fünfundzwanzig Jahren wohnte, zeigten sich ebenfalls schockiert. Einige von ihnen erzählten einem Reporter, dass Loos immer ein » Kinderfreund « gewesen sei. Sie erinnerten sich auch daran, dass er zu Kriegsende an Hilfsaktionen zur Unterstützung notleidender und hungernder Kinder teilgenommen habe.74 Sogar Feinde von Loos, die ebenfalls nicht namentlich genannt wurden, sollen ihre Überraschung ausgedrückt haben.75

Wenn es befragte Personen gab, die auch nur den leisesten Verdacht hatten, dass Loos zu solchen Dingen fähig wäre, dann waren sie jedenfalls nicht bereit, dies öffentlich auszusprechen.

Der Fall Loos

Подняться наверх