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I. Die Auferstehung

Dublin, Irland

Die klebrige, dunkelrote Pfütze war riesig. Vom Sauerstoff schon ziemlich bräunlich verfärbt und angetrocknet, pappten lange Blutspritzer an der vorher weißen Wand. An den Füßen, die nur wenige Zentimeter über der enorm großen Blutlache baumelten, klebte das restliche getrocknete Blut, das in einem dünnen Rinnsal aus dem zerfetzten Bauch des leblosen Körpers hervor gespritzt war. Der schlaffe Leib war in Höhe der Schulterblätter an einem massiven Stahlhaken in der Wand aufgehängt. Ein recht ungewöhnlicher Haken für eine Garderobe an dieser Stelle – weshalb er vermutlich auch gegen seine eigentliche Aufgabe auf eine unglaublich grausame Art und Weise seines Zweckes beraubt worden war. Daneben waren einige Kleiderhaken angebracht, die ebenfalls für andere Dinge einen Nutzen gefunden hatten. Sämtliche Organe und Innereien des Mannes mit dem Loch im Bauch waren dort fein säuberlich aufgewickelt worden. Ein Anblick, der dafür sorgte, dass man – wenn man nicht sowieso schon einer war – umgehend Vegetarier wurde und nie mehr totes Fleisch oder Blut irgendeines Lebewesens sehen wollte. Ein paar Meter weiter lag eine nackte Frau auf dem Parkettboden. Ebenfalls tot, allerdings um sie herum, kein einziger Tropfen Blut. Sie lag auf dem Bauch.

*

Colin Farley wollte nicht wissen was ihn erwartete, wenn er die Frau umdrehen ließ. Angeekelt wandte er sich ab. Er konnte dieses Horrorszenario keine Sekunde länger ertragen. Mit zittrigen Schritten ging er vor die Tür, schüttelte sich eine Marlboro aus der Schachtel und schob sie sich in den Mundwinkel. Gerade trampelte die ganz in weiß gekleidete Spurensicherung das enge Treppenhaus herauf. Er nickte den Männern in ihren Anzügen kurz zu und steckte sich die Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug und schloss für einen Moment die Augen.

›Was konnte einen Menschen nur dazu bringen jemanden so abzuschlachten wie diesen armen Kerl, der da drinnen an der Wand hing? Und was war mit der Frau auf dem Parkett passiert? Wie war sie wohl getötet worden?‹

Mit geschlossenen Augen dachte er still über die schrecklichen letzten Sekunden der Opfer nach, ehe er die Lider wieder öffnete, den Rauch aus seinen Lungen entließ und Ashley McFinns makelloses Gesicht vor ihm erschien. Die Gerichtsmedizinerin, die generell mit der Spurensicherung zusammen auftauchte, grinste ihn an. Ihre rehbraunen Augen, die strahlend weißen Zähne und das gelockte dunkelbraune Haar ließen Colin für einen Moment den ganzen Albtraum vergessen. Dann bewegten sich ihre roten, vollen Lippen. Colin riss es aus seinen Gedanken.

»... denn da drin Schönes, Herr Inspector?«, flötete Ashley munter drauf los.

Mehr hatte Farley nicht mitbekommen, da er von ihrer Erscheinung zu gefesselt war.

Er räusperte sich kurz, kratzte sich am Hinterkopf und antwortete: »Ich glaube, meine Liebe, das ist selbst für dich nicht mehr schön. Bitte nach dir.«

Mit einer einladenden Handbewegung trat er einen Schritt zurück und wies ihr den Weg in das Appartment.

Natürlich drehte man die nackte Frau um, nachdem alle vorhandenen Spuren – und das waren leider ziemlich wenige, eigentlich sogar gar keine – gesichert waren. Erneut drehte es Inspector Farley den Magen um. Zum zweiten Mal an diesem Morgen. Im Gegensatz zum mutmaßlichen Ehemann an der Wand, war die Frau zwar nicht über und über mit Blut bespritzt und völlig zerfetzt, allerdings trotz allem kein besonders schöner Anblick.

Ihr Oberkörper war aufgerissen worden, geteilt wie mit einem Brustbeinspalter – der zu Herz-Operationen benutzt wurde – natürlich nur nicht so professionell und vorsichtig. Das seltsame daran: Absolut nirgends – abgesehen von den Wänden ringsherum – war Blut zu sehen. Es gab einfach keines. Fast so, als wäre der ganze Leichnam säuberlich gereinigt worden, ehe man die Flucht ergriffen hatte.

Ashley untersuchte gerade die tote Frau und schüttelte alle paar Sekunden ungläubig den Kopf.

»Das ist unmöglich«, murmelte sie leise. »Das kann gar nicht sein. Das glaube ich nicht. Was ist hier nur los?«.

Colin trat hinter sie. »Was ist unmöglich? Was kann nicht sein?«, drängte er.

Die Gerichtsmedizinerin fuhr herum. Mit großen Kulleraugen glotzte sie Colin an. Ihre sonst so weichen Gesichtszüge: eine versteinerte, ausdruckslose Miene.

»Das ist ganz und gar unmöglich«, wiederholte sie noch einmal und ihr Blick ging durch ihn hindurch, fokussierte wenn überhaupt irgendetwas weit, weit entfernt hinter ihm. Dann verstummte sie wieder und ihre Gedanken waren woanders.

Colin kam sich vor wie in einem schlechten Film.

»Sag mal, willst du mich jetzt hier veräppeln?«, raunzte er Ashley an, die mit ihren dünnen Armen, die sie ungelenk verschränkt vor der Brust hielt dastand und nachdachte.

Im selben Moment biss er sich auf die Zunge und wünschte er hätte einmal in seinem Leben ruhig reagiert.

Die lockige Brünette zuckte zusammen, war jetzt aber wieder in der Realität angekommen. Sie presste ihre roten Lippen fest aufeinander, die sich dadurch zu einem dünnen, weißen Strich verwandelten.

»Glaub es oder glaub es nicht«, schnauzte sie zurück. »In dieser Leiche befindet sich kein einziger Tropfen Blut mehr. Als wäre der Körper irgendwie durchgespült oder ausgespült worden...«, sie fuhr erneut erschrocken zusammen. »... als wäre die Frau buchstäblich ausgesaugt worden.«

Still und in Gedanken versunken standen Inspector Colin Farley und Gerichtsmedizinerin Ashley McFinn auf der Straße vor dem Mehrfamilienhaus im Stadtteil Drumcondra im Norden Dublins. Colin, in eine weiße Rauchwolke gehüllt und die Marlboro zittrig zu den Lippen führend, wankte von einem auf das andere Bein. Es war ein ungemütlicher, windiger Oktobervormittag.

Obwohl sie einen warmen Mantel trug, zitterte Ashley neben ihm. Nicht nur aufgrund der in die Kleidung kriechenden Kälte, sondern vor allem wegen der grausamen Tat, die sie gerade versucht hatte zu rekonstruieren. Sie starrte Colin verständnislos an.

»Du weißt, dass dich der Mist eines Tages noch umbringen wird, oder?«, murrte sie in an.

Colin nickte nur stumm.

»Bevor ich wie eine Gans ausgenommen an der Wand hänge, wie dieser Typ da im Haus, ist das für mich okay«, flüsterte er abwesend und mit ruhiger Stimme.

»Das ist ganz und gar nicht witzig, Farley», brüllte ihn Ashley unvermittelt an und rammte ihm die rechte Faust gegen die Brust.

Mit diesem Wutausbruch hatte Colin nicht gerechnet. Überrumpelt ließ er die Zigarette fallen und taumelte einen Schritt zurück. »Hey, ganz ruhig. So habe ich das ja nicht gemeint«.

Er hasste es wenn sie ihn Farley nannte. Schließlich arbeiteten sie schon seit über fünf Jahren gemeinsam und waren auch schon ein Mal zusammen gewesen – vor circa einem Jahr. Nur weil er zu oft ›ein kaltes, gefühlloses Arschloch‹ war, wurde daraus nichts Festes. So hatte es Ashley damals zumindest ausgedrückt. Wenn sie ihn also nur mit seinem Nachnamen anschnauzte, bedeutete das, dass sie das alles wirklich beunruhigte und sie gerade keinen Spaß verstand.

»Ist dir überhaupt klar, was das hier alles bedeutet?«, fragte sie ihn barsch.

»Das bedeutet, lieber Herr Inspector«, fuhr sie fort ohne auf seine Antwort zu warten, »dass ein Irrer frei herumläuft, der Leute völlig ausnimmt wie eine Mastgans und es auf irgendeine völlig absurde Weise schafft, menschliche Körper komplett blutleer zu saugen«, folgerte sie.

Natürlich war Colin völlig bewusst, dass dieser Vorfall genau das oder etwas ähnlich Abartiges bedeutete und gekränkt maulte er zurück: »Reden wir jetzt hier von einem beschissenen Vampir, der hier sein Unwesen treibt oder was?«.

Ashley antwortete nicht. Beleidigt machte sie auf dem Absatz kehrt, stapfte lauten Schrittes die Stufen ins Haus hinauf und verschwand im dunklen Treppenaufgang.

»Verfluchte Scheiße«, brüllte Colin, während er hinter Ashley die Treppe hinauf eilte.

›Was würde er dafür geben, all seine dummen, vergangenen Handlungen rückgängig machen zu können, um noch einmal eine Chance bei Ashley zu haben.‹ Er schob diesen unangenehmen Gedanken vorerst bei Seite.

»Was erwartest du jetzt von mir? Ich habe momentan auch noch keine Idee wie jemand so etwas anstellen kann und warum und weshalb und überhaupt...«, jammerte er weiter.

Sie zeigte ihm die kalte Schulter und eilte weiter – ohne ihn eines Blickes zu würdigen – ins Apartment der Ermordeten hinein. Als Colin schnaufend durch die Tür stolperte, gab Ashley den Anwesenden schon bestimmend und autoritär Anweisungen, was mit den Leichen passieren sollte.

»Bringt beide zu mir in die Pathologie. Und wehe irgendjemand baut Scheiße. Ich will, dass jeder Tropfen Blut – falls vorhanden – jedes Staubkörnchen, einfach alles, so wie es jetzt an diesen armen Körpern klebt, mit auf meinen Untersuchungstisch landet. Und Gnade euch Gott, wenn einer von euch Fingerabdrücke auf den Leichen hinterlässt oder ich auch nur die kleinste postmortale Druckstelle finde!«

Kleinlaut huschten die Leute der Spurensicherung herum und organisierten den Abtransport der Toten.

»Und DU«, Ashley fuhr herum. »DU lässt mich meinen Job machen, versuchst weniger zu rauchen und dafür mehr zu ermitteln. Klar?«, bellte sie Colin ins Gesicht.

Er sah sie nur verdutzt an und nickte. »Ich..., ich komme dann heute Nachmittag vorbei und erkundige mich nach dem Stand der Dinge, ok?«, gab er noch leise von sich, ehe Ashley ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung stürmte.

Farley, noch immer geschockt von Ashleys Wutausbruch, stieg in seinen altersschwachen Jaguar XJ40 und ließ den Motor aufheulen. Ohne umzuschauen schoss er mit quietschenden Reifen aus der Parklücke und jagte die Straße entlang Richtung Phoenix Park, Dublin Innenstadt.

*

45 Minuten später stapfte er genervt in sein Büro im »An Garda Síochána«-Hauptquartier2 und als ob der Tag nicht schon schlimm genug gewesen wäre, saß da natürlich schon jemand in seinem ledernen Schreibtisch-Sessel.

»Oooh, der Herr Inspector gibt sich die Ehre«, johlte Commissioner Ewan Ryans, als Colin die Tür zum Büro aufriss. »Wie geht’s, wie steht’s?«, witzelte Ryans weiter. »Schon ausgeschlafen der Herr?«

Colin tobte innerlich, versuchte sich aber zu beherrschen. »Ich bin heute nicht wirklich für Ihre Scherze empfänglich, Commissioner«, begrüßte er seinen Vorgesetzten knapp. »Wir haben zwei Leichen in Drumcondra, davon eine komplett blutleer. Die andere hing mit einem Loch im Bauch an der Wand, die Gedärme schön säuberlich am Kleiderbügel daneben. Noch Fragen?«, fasste er kurz die Geschehnisse des Morgens zusammen.

»Allerdings«, begann Colins Chef, völlig ungerührt vom gerade Gehörten, seinen Vortrag. »Können Sie mir sagen, warum so eine Riesensauerei immer in meinem Zuständigkeitsbereich passiert? Wie lange hing denn der besagte Leichnam schon am Haken? Warum gibt es noch keine Verdächtigen und Festnahmen? Verdammt noch Mal, wir haben die Toten schon vor fast vier Stunden entdeckt, wie weit sind Ihre Ermittlungen, Inspector?«

Colin atmete tief durch. Diese Unterhaltung würde ihm noch den letzten Nerv rauben, aber er blieb weitgehend ruhig. Langsam zog er sich einen der unbequemen Holzstühle – sein eigener Sessel war ja offensichtlich besetzt – aus der Ecke des Büros heran, drehte ihn so herum, dass die Lehne nach vorn zeigte und er seine Arme darüber legen konnte, setzte sich und begann zu berichten was eben schon so zu berichten war.

Er begann mit der detaillierten Beschreibung des Tatorts und des Ehepaares und endete mit der seltsamen Entdeckung von Ashley McFinn.

Sein abschließender Satz klang dann so: »... und wenn Sie mich jetzt noch weitere kostbare Minuten aufhalten, wird es vor morgen Früh überhaupt keine weiteren Erkenntnisse geben, Commissioner. Darf ich also bitten?«, mit einem Wink deutete Colin zur Tür.

Ohne Kommentar und hochrot im Gesicht erhob sich Ryans langsam aus dem Sessel. Mit der Klinke in der einen Hand, die andere drohend zur Faust geballt vor seinem Körper haltend, drehte er sich noch einmal zu Colin um. Er konnte die Wut in den Augen seines Chefs lodern sehen.

»Ich will Ergebnisse Farley, ich gebe ihnen drei Tage«.

Daraufhin knallte Ryans die Bürotür so fest zu, dass die Glasscheibe mit dem Schriftzug »Inspector Colin Farley« in der Halterung klirrte.

*

In Drumcondra hatte der Doppelmord schnell die Runde gemacht. Innerhalb weniger Minuten wusste fast jeder auf der Straße, dass Beth und Roy Miller auf grausame Weise getötet worden waren. In der Nachbarschaft und auch noch Kilometer weiter, verschanzten sich die Menschen in den Häusern. Die wenigen Leute die noch auf den Straßen unterwegs waren, unterhielten sich gedämpft und mutmaßten, wer nur zu so einer Grausamkeit im Stande sei. Niemand nahm Notiz von dem kleingewachsenen, humpelnden, einem Obdachlosen gleichenden Mann, mit für seine Körpergröße viel zu breiten Schultern, der sich mit einem schmutzigen, ehemals beigefarbenen Trenchcoat-ähnlichen Kittel durch den Wind kämpfte – in entgegengesetzter Richtung zum Tatort vom Morgen. Der Wind peitschte ihm den einsetzenden Regen erbarmungslos ins Gesicht, das von dunkelbraunen, langen, teils zotteligen Haarsträhnen eingerahmt wurde. Der ungezähmte, drahtige Vollbart – ebenfalls dunkelbraun wie Bitterschokolade, allerdings vereinzelt mit gräulichen Borsten – troff schon vor Nässe und die tiefschwarzen, weit im Schädel sitzenden Augen waren zu engen Schlitzen zusammengekniffen. Eilig humpelte der heruntergekommene Heimatlose auf zwei spielende Kinder zu, die in Gummistiefeln zwischen den Pfützen Ball spielten. Als sie den Heraneilenden bemerkten, grüßten ihn die beiden freundlich und machten den Weg frei. Der Fremde bedankte sich flüsternd, eilte weiter, blieb dann aber abrupt stehen, als der Ball der Kinder, nachdem er sie bereits hinter sich gelassen hatte, plötzlich von hinten zwischen seine Beine hindurch kullerte. Er bückte sich nach dem nassen Rund und hob es auf. In seinen, zur Körpergröße unverhältnismäßig großen Händen, wirkte der Spielball wie ein Hühnerei. Hastig drehte er sich um und hätte beinahe den kleinen Jungen übersehen, der dem Ball hinterher gesprintet war und nun direkt vor ihm, fast auf gleicher Höhe, stand.

»Vielen Dank«, sagte der Knirps lächelnd und streckte die Hände nach dem Spielgerät aus.

Der Bärtige überreichte es dem Jungen und grinste breit.

Zum Glück hatte das Kind in diesem Moment nur Augen für den Ball und blickte dem Fremden nicht ins Gesicht. Denn dann hätte es ohne Zweifel die unnatürlich spitzen Zähne des Mannes gesehen, die weder weiß noch gelblich waren, sondern blutrot.

*

Das Ehepaar Miller war seit über 12 Stunden tot – vermutlich schon an die 20 Stunden. Das eröffnete ihm Ashley, als er am frühen Nachmittag mit gesenktem Kopf in die Gerichtsmedizin hineinschlich.

Colin Farley war am Ende. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte zum Mordfall, war hundemüde. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Ashley so angeschnauzt hatte und hoffte nur noch, dass sie ihm jetzt irgendwie mit den Untersuchungen der Leichen weiterhelfen konnte.

»Das heißt: der Mörder muss irgendwann zwischen 20 und 23 Uhr zugeschlagen haben. Aber was ist das Motiv?«, überlegte Farley laut.

Es gab keine Hinweise dafür, dass der Mörder, der das Ehepaar auf dem Gewissen hatte irgendwelche Wertgegenstände, Bargeld oder andere Dinge entwendet hatte.

»Warum tötet jemand ein Ehepaar auf so grausame Art? Und das auch noch, ohne das geringste Diebesgut,...«, murmelte der Inspector weiter vor sich hin. »... macht er so etwas denn aus Spaß?«

Bei dem Gedanken lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Ashley fingerte an den Leichen herum und würdigte ihn keines Blickes. Colin versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, dass er ein richtig schlechtes Gewissen hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die hübsche Gerichtsmedizinerin, während er grübelnd zwischen den Leichensäcken auf und ab ging.

»Hast du sonst irgendwelche Auffälligkeiten an den Toten gefunden?«, wandte sich er nach einer Weile an die stumme Ashley.

Sie antwortete nicht gleich. Nach wenigen Augenblicken sah sie zu ihm auf. Sie schüttelte den Kopf ohne ein Wort zu sagen.

»Ashley...«, begann er und verstummte gleich darauf wieder.

Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Er spürte den Kloß im Hals und hatte das große Verlangen sofort raus auf die Straße zu laufen und sich eine Kippe anzuzünden.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen«, stammelte er weiter. »Ich war ziemlich...«, er suchte nach dem richtigen Wort »... ungehalten heute Morgen. Mir sitzt der Commissioner im Nacken. Der will Ergebnisse und ich kann ihm keine liefern. Und ehrlich gesagt bezweifle ich auch die in nächster Zeit, wenn überhaupt jemals, zu haben«, schloss er seine dürftige Entschuldigung stotternd ab.

Ashley wandte sich wieder einer der Leichen zu.

»Ich weiß Colin. Du bekommst ziemlich viel Druck von diesem Arschloch Ryans«, lenkte Ashley ein. »Du reagierst deshalb eben gereizt. Das ist völlig normal. Nur lass‘ deine Laune nicht immer an mir aus. Das hast du früher schon immer getan«, murmelte sie weiter.

Noch immer waren Gefühle im Spiel. Schließlich konnte man diese nicht einfach von heute auf morgen ungeschehen machen und abschalten.

Sie hatte eine wunderbare Zeit mit Colin verbracht, hauptsächlich an den freien Wochenenden oder den kurzen Urlauben, die sie zusammen verbringen konnten. Doch jedes Mal hatte ihnen das unbändige Temperament des aufbrausenden Iren einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu schnell war er eifersüchtig, zu schnell gereizt und unausstehlich geworden. Obwohl er eigentlich ein herzensguter und so unglaublich netter Mann war. Ashley sah ihn erneut aus den Augenwinkeln an.

Colin sah keineswegs gesund aus. In seinem maßgeschneiderten, schwarzen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte – und der sein einziger extra angefertigter war, wie sie wusste – wirkte er kraftlos. Seine Augen suchten unruhig nach Antworten am Boden der Pathologie, die Ringe unter den zu Schlitzen zusammengezogenen Augen konnten kaum dunkler und von Farbe im Gesicht keine Rede sein. Er war genauso blass wie die toten Fleischberge um sie herum. Inspector Colin Farley hatte große Probleme: gesundheitlich, vielleicht sogar psychisch, und ganz offensichtlich auch im Arbeitsleben. Commissioner Ryans setzte ihn gehörig unter Druck und dem war er in seinem momentanen Zustand kaum gewachsen. Er benötigte dringend Unterstützung.

Ashley atmete einmal hörbar durch. Der Duft von Desinfektionsmittel und anderen Flüssigkeiten, die sie zur Behandlung der Leichname benutzte, stiegen ihr beißend in die Nase obwohl sie sie seit Jahren gewohnt war.

»Hör zu Colin«, begann sie zögernd.

»Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend zum Essen treffen und nochmals alle Möglichkeiten und Beweise zusammen durchgehen? Ich glaube du könntest ein wenig Abwechslung und vor allem Hilfe bei dem Fall gebrauchen...«, schlug sie vor.

Nicht ganz sicher, was er gerade vernommen hatte und vor allem wie plötzlich dieses unerwartete Angebot kam, reagierte Colin für wenige Sekunden gar nicht.

Dann schluckte er laut und antwortete leise: »Ja, vielleicht hast du recht. Lass uns zusammen sitzen und noch einmal alles durchgehen, das kann nicht schaden«.

Zuvor hatte er aber noch etwas zu erledigen, er würde sich in knapp vier Stunden mit Ashley in ihrem Lieblingspub in der Innenstadt treffen. »19 Uhr im The Brazen Head?«, fragte Colin im Hinausgehen.

»Geht klar«, sagte Ashley. »Wo willst du denn jetzt hin?«, bohrte sie nach, als er schon halb aus der Tür war.

»Hab’ noch was zu erledigen«, war die kurze und leicht schroffe Antwort von Colin.

Wenige Augenblicke später jaulte der altersschwache Motor seines Jaguars vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin auf und raste wieder Richtung Drumcondra.

*

Das kleine Backsteinhäuschen gegenüber dem Mehrfamilienhaus, in dem sich die schrecklichen Szenen vor gut 20 Stunden abgespielt hatten, wirkte verlassen. Der Garten benötigte dringend einen Gärtner mit Rasenmäher und allerhand andere Gerätschaften, mit dem das überall hervorquellende Unkraut beseitigt und das wild wachsende Gras und Unkraut gestutzt werden konnte. Die kleinen Fenster waren von Abgasen und anderem Dreck schon fast komplett blind, so dass man nur erahnen konnte was sich im Inneren befand und die ehemals weiße Farbe an den Holzrahmen der Fenster blätterte ab, löste sich in länglichen Streifen vom Holz und fiel zu Boden.

Inspector Colin Farley stand an der Eingangstür und klingelte bereits zum vierten Mal. Gerade als er es aufgegeben hatte, dass ihm noch jemand öffnen würde, hörte er schlurfende langsame Schritte, die sich näherten.

Durch die geschlossene Tür drang eine leicht krächzende, brüchige weibliche Stimme: »Wer ist da?«

Colin zückte seine Dienstmarke, ging einen Schritt näher an die geschlossene Tür, räusperte sich und gab sich laut und deutlich als »Inspector Colin Farley von der städtischen Kriminalpolizei Dublin« zu erkennen. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zum Ehepaar Miller von gegenüber stellen«.

Kurz zögerte die Dame noch, dann öffnete sie die massive, alte Holztür. Ein ziemlich altes, zerbrechliches, kleines Weiblein stand dahinter. Colin schätzte sie auf mindestens Ende achtzig. Ihr dünnes, weißes Haar war schulterlang und schon länger nicht mehr gewaschen worden. Sie trug ein altmodisches Kleid und abgenutzte Pantoffeln. Den Gehstock hielt sie von sich weggestreckt nach vorne. Nein, es war kein Gehstock eher ein...

Er blickte der Frau in die Augen. Sie waren milchig trüb.

»Madame, begann er...«, und tat einen Schritt in Richtung der alten Dame.

»Stopp!«, kreischte diese sofort und fuchtelte mit ihrem Blindenstock vor Colins Nase herum.

»Zuerst die Dienstmarke! Könnte ja jeder her kommen und sich als Polizist ausgeben«, bellte sie fordernd.

›Eine vorsichtige, keine dumme, alte Frau‹, dachte Colin und legte ihr die Marke in die offene, zitternde Hand.

Hastig strichen die dünnen Finger der Frau über die Marke. Sie wog ihr Gewicht in der geöffneten Hand und schien sie sofort für echt zu erklären.

Umgehend streckte sie sie ihm wieder entgegen. »Okay Inspector, treten sie ein«, bat sie ihn nun in einem freundlicheren Ton.

»Sehr freundlich, Madame«, bedankte er sich und betrat den muffigen Eingangsbereich.

»Entschuldigen Sie, wenn es für Sie ein wenig chaotisch oder schmutzig aussehen mag. Aber wie Sie sicher bemerkt haben bin ich blind...«, begann die alte Dame die Konversation. »Folgen Sie mir ins Wohnzimmer, dort können Sie sich setzen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«, redete sie weiter.

Colin schüttelte den Kopf und antwortete kurz darauf – erschrocken über sich selbst, da die Blinde ja seine nonverbale Kommunikation nicht sehen konnte – mit: »Nein, Madame. Vielen Dank. Ich möchte Sie auch nicht lange aufhalten. Ich wollte Ihnen nur einige Fragen stellen und bin in wenigen Minuten wieder fort«.

Insgeheim waren seine Hoffnungen, irgendjemand aus der Nachbarschaft hätte jemanden oder mehrere Fremde aus dem Haus der Millers laufen sehen, schon sehr geschwunden.

›Wie sollte eine Blinde auch etwas gesehen haben?‹

Trotzdem. Jetzt war er schon hier und konnte seine routinemäßigen Fragen stellen und sich dann wieder mit Ashley treffen um Erkenntnisse auszutauschen.

»Sie haben sicher vom schrecklichen Vorfall des Ehepaars Miller gehört, Misses...?«, er blickte fragend und kam sich erneut vor wie ein Idiot, da sie ihn ja nicht sehen konnte.

Die Dame saß ihm jetzt gegenüber auf einem weichen, tiefen Sessel und sah ihn interessiert an. Unheimlich.

Einen Moment später antwortete sie: »Odemaris Burms. Und ja Inspector Farley, ich habe davon gehört. Ein sehr nettes und zuvorkommendes Pärchen die beiden. Ich habe sie des Öfteren auf der Straße getroffen. Sie haben mir auch ab und zu bei Einkäufen geholfen, wenn ich sie darum gebeten hatte. Schrecklich was passiert ist«.

»Mmmmh. Sie kannten die beiden also relativ gut. Wann haben sie die Millers das letzte Mal getroffen oder von ihnen gehört?«, fragte Colin weiter.

Odemaris Burms überlegte einen Augenblick ehe sie fortfuhr. »Das dürfte gestern Nachmittag gewesen sein. Ich stand, wie so oft, am offenen Fenster an der Front und habe nach draußen geblickt. Das muss so gegen 16 Uhr gewesen sein«.

Wieso eine Blinde am offenen Fenster nach draußen blickt, war Colin nicht ganz klar und seine Hoffnung schwand weiter hier etwas Hilfreiches zu erfahren.

»Der Vorfall muss sich letzte Nacht, sehr spät zwischen vielleicht 21 Uhr und 23 Uhr ereignet haben. Ich nehme an Sie waren zu dieser Zeit bereits zu Bett, Misses Burms?«, stellte Colin weiter seine Routinefragen.

Ihr Blick ging zur Decke und Colin konnte sehen, dass sich bei der alten Dame eine Gänsehaut über die Arme ausgebreitet hatte.

›Hatte sie etwa irgendetwas mitbekommen oder bemerkt?‹

Misses Burms saß stocksteif, tief eingesunken in den alten Sessel da und starrte an die Decke, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Misses Burms?«, fragte Colin sachte.

Die alte Dame wandte ihm den Blick zu. Ihre glasigen, verschleierten Augen schienen ihn regelrecht zu fixieren, ›obwohl das für die Blinde unmöglich war‹, dachte er zumindest.

»Nachmittags schienen sie noch bester Laune, die Millers...«, begann sie zögerlich.

Sie atmete einmal tief durch. Dann erzählte sie weiter: »Irgendwann gegen 22 Uhr bin ich dann zu Bett gegangen. Wie jeden Abend habe ich noch ein wenig in die Stille hineingehört und... aus dem Appartment der Millers war deutlich ein Streit oder so etwas Ähnliches zu hören. Ich kann es Ihnen nicht genau erklären. Es klang nach einem Streit aber nicht zwischen den zwei Eheleuten, es muss noch jemand drittes in der Wohnung gewesen sein...«.

Sie begann zu zittern.

Colin rieb sich am Kinn. »Geht es Ihnen gut, Misses Burms?«, vergewisserte er sich leise.

Sie krallte sich mit unbändiger Kraft mit ihren Fingern in den weichen Sessel. »Ich bin aufgestanden und zum Fenster gegangen und habe gelauscht. Plötzlich war alles still. Viel zu still irgendwie. Einige Minuten stand ich da und es geschah absolut nichts. Nach etwa einer Viertelstunde hörte ich die Eingangstüre des Hauses knarren. Und es musste jemand regelrecht heraus gestürzt sein. Das konnte ich an den schnellen, schweren Schritten hören...«, endete sie.

»Es war also ein Unbekannter mit in der Wohnung, da sind Sie sich sicher?«, bohrte Colin nach.

»Er kann natürlich auch aus jeder anderen Wohnung herausgekommen sein«, gab die alte Dame zu bedenken. »Doch... wissen Sie was das Schlimmste war?«, wollte sie wissen.

Colin bemerkte wieder erst nach wenigen Sekunden, dass er kopfschüttelnd da saß und lieferte hastig ein kurzes »Nein« nach.

»Es roch nach Blut«.

*

An der Schnittstelle East Wall Road und West Road blieb der humpelnde, zottelige Mann, man konnte ihn aufgrund seiner Größe – er war maximal 1,45 Meter groß – fast als Zwerg bezeichnen, stehen und blickte sich um.

Links neben ihm der Tolka River und die darüber führenden Eisenbahnschienen, ein paar hundert Meter hinter ihm eine kleine Brücke die in den Fairview Park führte. Irgendwo musste er sich ein wenig ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Er war völlig durchnässt, seit Stunden durch die Gegend geirrt und musste sich dringend einen Plan für sein weiteres Vorgehen überlegen. Er hatte gerade zwei Menschen getötet. Ein schlechtes Gewissen, nein, das hatte er auf keinen Fall. Der Tod gehört zum Leben auch wenn er plötzlich, zu früh und durch eines Dritten Hand kommt. Das Schlimmste war, dass er sich nicht erinnern konnte wie er hier gelandet war. Hier in dieser riesigen, von Menschen nur so wimmelnden Stadt. Das letzte woran er sich erinnerte war Slaghtaverty.

›Hoch im Norden von Nordirland liegt dieses Städtchen in der Grafschaft Derry, nahe der Stadt Garvagh. Oder lag es da überhaupt?‹

Gab es all das woran er sich erinnerte überhaupt noch?

›Was war das heutige Datum? Nein, noch viel wichtiger: Welches Jahr haben wir?‹

Er war ein mächtiger Magier. Konnte er sich selbst durch einen Zauber hierher gebracht haben, und wenn ja warum? Wurde er in diese Stadt verschleppt?

Sie hatten ihn versucht zu töten. Mehrere Male. Immer wieder war er aus seinem Grabe empor gekrochen. War er womöglich aus freien Stücken geflüchtet, da seine Gegner die Übermacht hatten? Er musste an einer Art Amnesie leiden, anders war all das nicht zu erklären.

Verwirrt und frierend drehte sich der kleine Stämmige um und lief zurück bis zu einer schmalen Brücke, die über den Tolka River führte. Am anderen Ende angekommen schwang er sich mit einer flüssigen Bewegung über das Geländer und sprang unter die Brücke ins Trockene. Langsam ließ er sich niedersinken und lehnte sich mit dem breiten Rücken an die feuchte, kalte Steinmauer. Bevor er seine Lider schloss, zog er unter seiner heruntergekommenen Kluft eine halbwegs trockene Decke hervor, die eher einem Kartoffelsack ähnelte, setzte sich darauf und zog sie bis zum Kinn hinauf, um sich ein wenig zu wärmen.

Wenige Augenblicke später ging der Atem des seltsamen Fremden gleichmäßig und ruhig. Ab und zu war ein tiefer, dröhnender Schnarch-Laut zu vernehmen, den beim prasselnden Regen allerdings nicht einmal ein Obdachloser neben ihm bemerkt hätte.

Der Regen ließ gegen 18 Uhr langsam nach. Der Tolka River war um einige Zentimeter gestiegen und reichte dem Zwerg bereits fast bis zu den alten, abgewetzten Stiefeln. Der zottelige Mann blieb allerdings völlig regungslos liegen und schnarchte vor sich hin.

Über ihm die Straße, die weder befahren noch großartig betreten wurde bei solch einem Wetter. Vor ihm der Fluss, der in den letzten Stunden um das Doppelte angestiegen zu sein schien, aufgrund der Wassermassen die sich aus den Wolken über Dublin ergossen hatten.

Der Fremde lag noch immer völlig eingelullt in seinen Sack da, selbst als quakend einige Enten den Neuling vorsichtig beobachteten und näher kamen. Ein größerer Erpel wagte sich besonders nahe an den seltsamen Gesellen heran und watschelte nur wenige Zentimeter neben ihm umher.

Das Schnarchen verstummte augenblicklich, aber es war keine Regung des Mannes auszumachen, der inmitten der herum tapsenden Enten lag. Es schien sogar als hätte der muskulöse Zwerg aufgehört zu atmen. Plötzlich durchbrach ein leises Gluckern und Grummeln seines Magens die Stille. Wie aus dem nichts schoss eine Sekunde später, eine der großen Hände unter dem Kartoffelsack hervor, als der Erpel ziemlich nahe am ungewohnten Kleiderknäuel unter der Brücke vorbei patschte, und packte das erschrockene Tier am Hals.

Der Zwerg öffnete die schwarz funkelnden, bösen Augen und sah den panisch strampelnden Enterich nur kurz wie paralysiert an, ehe er seinen Mund aufriss und die messerscharfen Zähne, die unter dem wirren Bart hervor blitzten, mit voller Wucht ins Gefieder des Tieres trieb.

*

Es war kurz vor 19 Uhr als Colin Farley seinen Jaguar XJ40 mit quietschenden Reifen in einer der vielen Pfützen in der Bridge Street Lower vor dem Pub »The Brazen Head« zum Stehen brachte. Der älteste Pub Irlands, eröffnete 1198 und war Ashleys und Colins Stammlokal. Wie immer war die Hölle los und er hatte schon Probleme sich überhaupt bis zum Bar-Tresen durchzukämpfen. Er nickte dem Barkeeper kurz zu und hielt auf Zehenspitzen Ausschau nach Ashley, die normalerweise überpünktlich war. Bislang war sie jedoch nirgends zu sehen. In einer kleinen Ecke erhob sich gerade ein Pärchen und Colin setzte sich zügig in Bewegung, um sich durch die Menschenmassen und Pints zu kämpfen und die freien Plätze zu ergattern. Er erreichte den kleinen Tisch und ließ sich sofort erschöpft auf einen der Stühle fallen. Zehn Minuten später saß er noch immer alleine da und trommelte genervt mit den Fingern auf der Holzplatte des Tischs herum.

»Darf’s denn schon etwas sein, der Herr?«, fragte ein junger, rothaariger Kellner freundlich.

Colin blickte kurz auf und bestellte dann einen Pint3 Stout, in den übrigen europäischen Ländern hauptsächlich unter Guinness bekannt. Mit seinem Bier kam auch endlich Ashley in den Pub gestürmt. Ziemlich durchnässt und zerzaust strich sie sich ihr lockiges Haar hinters Ohr und wuselte schnurstracks zu Colins Tisch.

»Hey«, begrüßte sie ihn knapp. »Entschuldige die Verspätung, aber ich habe noch Überstunden gemacht und ich denke das hilft uns vielleicht ein wenig weiter«, legte sie gleich beschwichtigend nach. Colin nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.

»Kein Problem meine Liebe, ich war so frei und habe schon einmal bestellt«.

Ashley winkte den rothaarigen Kellner herbei und wollte ebenfalls ein Guinness bestellen – der Rothaarige hatte aber schon eines auf seinem Tablett – Colin hatte ihm mitgeteilt, sollte er demnächst Gesellschaft bekommen, solle er doch noch ein zweites bringen. Ashley grinste und bestellte statt des bereits vorhandenen Biers zwei Mal den Brazen Head Burger, einmal mit Fleisch und für sie selbst vegetarisch.

Während sie aufs Essen warteten begann Ashley von ihren Erkenntnissen zu berichten.

»Also, eventuell hilft uns Folgendes weiter, um ein Täterprofil zu erstellen«, flüsterte die Gerichtsmedizinerin als sie ihren Stuhl näher zu Colin schob und sich eine ihrer lockigen Strähnen ins Bier verirrte. Ganz nebenbei zog sie die Haarsträhne aus dem Schaum und steckte sich den unteren Teil in den Mund, während sie nuckelnd weiterredete.

»Ich konnte den Winkel bestimmen wie das Tatwerkzeug in den Bauch von Roy Miller gerammt worden ist. Dadurch konnte ich die ungefähre Größe des Täters errechnen«, erläuterte sie ihre Untersuchungen der Toten und zog gleichzeitig die Haarsträhne wieder aus dem Mund.

Sie blickte ihn mit ihren rehbraunen, glänzenden Augen an. Colin schwieg und verlor sich fast in den unendlichen Tiefen ihrer Iris.

»Colin? Sag mal, willst du’s wissen oder nicht?«, riss sie ihn aus seiner Starre.

»Ähm, ja, ähm, klar will ich’s wissen. Entschuldige.«, brachte er stammelnd hervor. »Wie groß ist der Kerl?«, bohrte er zügig nach.

Ashley runzelte die Stirn und sah in ernst an.

»Das ist das Problem Colin... ich bin mir nicht mehr ganz sicher mit wem oder was wir es zu tun haben – sollte meine Berechnung stimmen«, erwidert sie nachdenklich.

»Spann’ mich nicht so auf die Folter, schieß los«, forderte sie Colin auf.

»Wenn ich keinen drastischen Fehler gemacht habe, wurde das Loch im Bauch von Roy Miller nicht mit einer Axt oder einem Messer von vorne oder oben gerissen... Trotz der Gefahr, dass du mich jetzt für völlig durchgeknallt hältst, sieht es fast so aus, als wäre der Körper mit bloßen Händen und purer Gewalt auseinander gerissen worden. Das wiederum bedeutet also, dass der arme Miller entweder bereits am Boden lag, was die Blutspritzer an der Wand allerdings widerlegen, oder…«, sie unterbrach kurz.

»… oder der Täter oder was auch immer ES ist, war gerade einmal zwischen 140 und 155 Zentimeter groß und hatte eine unmenschliche Kraft, mit der derjenige seine Finger in die Opfer rammen konnte, um sie danach zu zerfetzen!«.

Colin sah sie ungläubig an. Nach einigen Sekunden fand er seine Stimme wieder. »Du willst mir erzählen, wir reden von einem Kind?«, fragte er perplex.

»Oder von einem enorm kleinen Mann…«, gab Ashley kleinlaut zu bedenken.

Der Rotschopf servierte die Bestellung. Beiden, Colin und Ashley, war jedoch gerade der Appetit vergangen.

*

Im muffigen Büro roch es nach Bier, Schlaf und Schweiß. Die heruntergelassenen Jalousien ließen nur wenige Sonnenstrahlen ins Innere. Ausnahmsweise schien heute, nach tagelangem Wind und Regen, die Sonne in Dublin. Die Wanduhr zeigte genau 7 Uhr morgens an. Das altmodische Telefon auf Colin Farleys Schreibtisch schellte schrill. Es klingelte drei Mal ehe Colin, der mit dem Kopf auf der Tischplatte in ziemlich ungemütlicher Sitzhaltung eingeschlafen war, schlaftrunken nach dem Hörer tastete.

Er zog die Sprechmuschel zu sich heran, ohne den Kopf großartig anzuheben und lallte mit belegter Stimme ins Telefon: »Inspector Colin Farley...«.

Die Person am anderen Ende der Leitung wirkte hellwach und hektisch. Langsam richtete sich Colin auf und öffnete die Augen.

Er rieb sich über das stoppelige Kinn und hörte aufmerksam zu, ehe er mit einem murmelnden »Bin unterwegs«, das Telefonat beendete und sich nachdenklich nach hinten in den Sessel sinken ließ.

›Was zur Hölle war hier nur los?‹

Er klatschte sich ein paar Mal mit den flachen Händen ins Gesicht um vollends wach zu werden und stand auf. Während er seinen Mantel überstreifte, kritzelte er kurz die bisherigen Erkenntnisse zum Mordfall der Millers auf einen Notizzettel mitsamt der Bemerkung, dass er bereits wieder unterwegs war zum Tolka River. Das Stück Papier klemmte er beim Verlassen des Departments in den Türspalt von Commissioner Ryans und hievte sich in seinen Jaguar, der mit qualmenden Reifen aus der Ausfahrt des Polizeigebäudes Richtung Fairview Park und besagtem Fluss schoss.

*

Gut ein Dutzend Kadaver trieben am Ufer des Tolka Rivers auf Höhe des Eastpoint Causways. Hier flachte der Fluss seitlich ein wenig ab und hatte das, was von den noch gestern quakenden Enten übrig war, ans schlammig-steinige Ufer geschwemmt. Dort trieben sie nun. Schrecklich zugerichtete, aufgerissene, teilweise total zerfetzte Körper, die sich im Takt der anschlagenden Wellen bewegten. Die wenigen Schaulustigen standen entsetzt umher.

Der Mann, der am Morgen nach der stürmischen Nacht nach seinen Booten sehen wollte, hatte den Vorfall gemeldet. Er war sich nicht sicher, ob dies zu den Aufgaben der Polizei zählte, doch ging er von Tierquälerei aus oder einem tollwütigen Hund oder Ähnlichem, der Enten und vielleicht auch noch andere Kleintiere riss. So schien es ihm eine gute Idee, die zuständigen Behörden zu informieren.

Colin stand am Steg und blickte auf die, kaum noch als Enten erkennbare, Federhaufen hinab. Er fragte sich, was er hier zu suchen hatte. Ein paar grausam hingerichtete Enten waren momentan sein kleinstes Problem. Grimmig schlüpfte er unter dem Absperrband hindurch. Ashley hatte ihn vor einer halben Stunde im Büro angerufen und ihn hier her beordert. In ihren weißen Kittel gehüllt lief sie durch die Kadaver und kniete sich immer mal wieder zu den toten Enten hinunter, um mit der Pinzette irgendetwas aufzupicken und in eine Plastiktüte gleiten zu lassen. Colin stand jetzt genau hinter ihr und blickte mürrisch auf das Desaster zu seinen Füßen.

»Hey«, begrüßte er sie rasch. »Was haben wir hier?«, versuchte er sachlich zu bleiben und das Ganze nicht ins Lächerliche zu ziehen.

Die glitzernden Rehaugen blickten ihn von unten herauf an. Sie war so unglaublich schön, nicht einmal eine solch bizarre Situation konnte daran etwas ändern.

»Ich habe Neuigkeiten für dich«, begann sie ohne großartige Begrüßung.

»Es erscheint dir vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz logisch, dass ich dich hier her gerufen habe. Aber ich glaube das Ganze hier hat irgendetwas mit dem Miller-Fall zu tun«.

Colin sah sie an, als hätte er einen Witz erzählt bekommen, den er nicht kapiert hatte.

»Tote Enten. Mit meinem Fall. Einem Mord. An zwei Menschen«, stammelte er vor sich hin.

Ashley stand auf und legte den Kopf schief.

Sie sah in durchdringend an.

»Du hast die letzte Nacht im Büro verbracht, oder?«, wollte sie wissen.

»Du bist völlig neben der Kappe. Sonst hättest du selbst ohne meinen Hinweis erkannt, dass es hier keinerlei Blut gibt...«.

Er sah sie nur verschwommen durch einen Schleier milchig weißer Partikel, die vor seinen Augen umher flogen.

›Ein totes Paar. Zwölf tote Enten. Ein vermeintlicher Zwerg, der mordend durch die Gegend läuft. Tier, Mensch wahrscheinlich sogar auch noch Insekten blutleer saugte. Hatten Insekten überhaupt Blut? Naja, zumindest Stechmücken, saugte dieser Zwerg leer‹, dachte Colin voller Ironie.

Colin war sich sicher: er träumte.

›Oder werde ich schlichtweg verrückt? Ja, das bin ich wohl. Ich drehe komplett durch. Das alles hier ist nie im Leben real.‹

Ein schlechter Streich, den ihm sein völlig überfordertes Gehirn in einem völlig ausgelaugten Körper spielte.

Der Schleier verzog sich langsam aber sicher und Ashley sah ihm noch immer fest in die Augen. »Erde an Inspector Farley. Jemand zu Hause?«, hörte er sie sagen. Er wischte sich mit der flachen Hand kurz übers Gesicht und räusperte sich.

»Also. Noch einmal langsam. Du willst mir erzählen, dass wie in den beiden menschlichen Körpern gestern und auch in keiner dieser beschissenen Enten ein Tropfen Blut mehr vorhanden ist? Dass ein Zwerg hier sein Unwesen treibt und Lebenssäfte aus sämtlichen Wesen saugt, diese aber zum Spaß gleich auch noch komplett zerfetzt, weil das besser aussieht?«, brabbelte er monoton vor sich hin.

»Tut mir leid. Ich glaube, ich muss mich betrinken, um das alles für keinen schlechten Witz zu halten«.

Colin stapfte durch den Matsch ohne großartig auf die Kadaver am Boden zu achten und wäre dabei beinahe auf einige Überreste getreten.

Ashley stand einfach nur da und blickte ihm hinterher.

›Was war nur mit Colin los? Sah er die Zusammenhänge nicht? Klar klang es irgendwie unmöglich. Aber es lief hier ein Psychopath herum, der glaubte er sei Graf Dracula und schaffte es zudem auch noch Lebewesen komplett blutleer zu hinterlassen.‹

»Colin!«, brüllte sie ihm hinterher und spurtete los.

»Colin! Jetzt warte mal. Da ist noch mehr«, rief Ashley und holte ihn wenige Meter vor seinem geparkten Auto ein.

Er drehte sich langsam um und sah sie mit glasigen Augen an.

»Hm?«, grunzte er völlig abwesend.

»Ich habe DNA gefunden«, gab sie ihm vorsichtig zu verstehen.

»Ein Barthaar, denke ich. Das heißt wir sprechen von keinem Halbwüchsigen...«.

Colins Gesichtsausdruck veränderte sich innerhalb eines Wimpernschlags vom ungläubigen Gesicht eines Mittdreißigers, in das eines Kindes, dem gerade ein Gespenst begegnet war.

*

Die Pinnwand war voller Fragezeichen. Wirrungen die unentwirrbar erschienen. Ein weißes Schattenprofil mit einem einzelnen angemalten Barthaar klebte in der Mitte des ganzen Wirrwarrs. Rechts davon die schrecklichen Fotos der ermordeten Millers, links davon ein Foto der zerfetzten Enten. Zusätzlich hing direkt über dem Unbekannten eine Stadtkarte mit zwei Nadeln, die die Tatorte kennzeichneten, sowie ein paar rote Zirkelkreise, die die Regionen eingrenzten in denen die Morde stattgefunden hatten. Rings herum hatte Colin mindestens zehn große, rote Fragezeichen angebracht.

Auf manchen stand: ›Motiv?‹ oder ›Zusammenhang?‹.

Gerade als die Tür zu seinem Büro knarrte und leise aufschwang, kritzelte Colin unter den weißen Kopf ohne Gesicht oder andere Konturen: ›WER ODER WAS BIST DU DU?‹

Commissioner Ryans stand im Türrahmen und bohrte seine Blicke in Colins Rücken. Er konnte sie deutlich spüren. Ohne ein Wort trat Ryans neben ihn und sah sich das Durcheinander auf der Pinnwand laut schnaufend an.

»Was zur Hölle ist das hier?«, fragte Ryans nach einigen stillen Sekunden.

Colin atmete tief durch. »Ich habe keinen blassen Schimmer, Commissioner. Keinen blassen Schimmer...«.

In diesem Moment klingelte das alte Telefon auf dem massiven Holztisch zum zweiten Mal an diesem Tag. Colin machte keine Anstalten den Anruf entgegen zu nehmen. Wie gebannt sah er auf die vier Wörter die er soeben unter den gesichtslosen Kopf geschrieben hatte. Ryans blickte ihn finster von der Seite an.

»Inspector? Das Telefon klingelt«, knurrte er.

Colin zuckte kurz zusammen und sah seinen Vorgesetzten verständnislos an. Das Telefon klingelte erneut.

»Gehen Sie an Ihr Telefon, verdammt«, bellte Ryans jetzt ungehalten.

Endlich riss sich Colin von seinen Gedanken los und hastete zum Schreibtisch.

»Inspector Colin F...«, nuschelte er in die Muschel, ehe er abrupt verstummte.

Odemaris Burms. Die alte Dame, die das Pärchen Miller sehr gut gekannt hatte war am Apparat. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern ihr seine Visitenkarte da gelassen zu haben. Außerdem konnte sie doch gar nicht lesen und ertasten war in diesem Fall auch schwer.

›Wahrscheinlich hatte sie sich einfach von der Vermittlung durchstellen lassen. Das war die einzige Erklärung.‹

Die alte, arme Frau klang ziemlich geschockt und aufgelöst und Colin versicherte ihr, sich umgehend auf den Weg zu ihr machen. Um was es ging wollte Odemaris Burms nicht am Telefon preisgeben. Sie musste persönlich mit ihm sprechen, sie hatte darauf bestanden.

Nachdem ihm Ryans grimmig verkündet jatte: »Farley Sie haben noch 48 Stunden um Ergebnisse zu liefern«, hetzte er aus dem Gebäude hinaus und schlitterte mit seinem Wagen Richtung Drumcondra, zurück zu Tatort Nummer Eins.

*

Die Sonne schien ihm wärmend ins Gesicht als er sich aus dem Dickicht am Rande des Fairview Parks heraus kämpfte. Als er Sirenen und Menschengeschrei ganz in der Nähe vernommen hatte, war er vorsichtshalber in Deckung gegangen. Seine Hose war zerrissen, sein Oberteil immer noch klamm vom Regen der letzten Nacht und er stank wie ein Kuhfladen.

Der kleinwüchsige Bärtige stand im strahlenden Sonnenschein vor einem Busch. Kletten hatten sich überall in seinem Bart verfangen, die er sich gerade aus der Gesichtsbehaarung pulte, während Familien mit Kindern, ohne ihn großartig zu beachten in den Park hineinspazierten. Plötzlich traf ihn ein weißer Blitz mit solcher Wucht mitten ins Gesicht, dass es ihn ruckartig auf den matschigen Boden warf.

Vor seinem inneren Auge spielte sich folgende Szene ab: Eine sehr alte Frau stand am Fenster, ihre Augen waren milchig, in der rechten Hand hielt sie einen Telefonhörer. Er konnte nicht hören was sie sagte, nur sehen was sie tat. In der linken Hand hielt die Greisin eine Visitenkarte. Wie durch ein Objektiv zoomte das Bild auf das kleine Kärtchen zu und der Unbekannte konnte den Namen darauf erkennen. Die alte Dame sah erschrocken durch die blinden Augen hinüber zu dem backstein-farbenen Mehrfamilienhaus auf der anderen Straßenseite. Sie legte auf, hielt sich die Ohren zu und ihre Lippen formten ein Wort, das nur er kannte und verstehen konnte. Es war sein Name, der ihm vor Jahrtausenden gegeben worden war.

Ein erneuter Blitz entließ ihn wieder in die Realität. Verdutzt schüttelte er den Kopf und fuhr sich rasch durch die zottelige Gesichtsbehaarung. Wäre diese nicht so dunkel und dicht gewesen, hätte ein genauer Beobachter das kurze Lächeln, das ihm über das Gesicht huschte erkennen können.

›Sie kamen wieder. Seine Kräfte‹, dachte der Zwerg.

Doch jetzt musste er sich beeilen. Er hechtete auf die Beine und joggte schweren Schrittes los. Zurück nach Drumcondra.

*

Wie befohlen, hatte Odemaris Burms alle Fenster geschlossen und Türen verriegelt und stand nun zitternd und apathisch auf Inspector Farley wartend am Küchenfenster. Sie konnte nicht erklären, was ihr kurz vor dem Telefonat widerfahren war.

Sie hatte einfach nur da gesessen, in ihrem uralten Sessel, das Radio lief nebenbei und der Nachrichtensprecher berichtete gerade vom grausamen Doppelmord am Ehepaar Miller und einer unvorstellbaren Tierquälerei am städtischen Fluss, als sie ein Bild in ihrem Kopf wie ein Schlag ins Gesicht traf.

Ein kleinwüchsiger, vollbärtiger Mann stand auf dem Gehweg direkt vor ihrem Fenster und sah zu ihr herein. Er lächelte. Ein ekelhafter, verzerrt lächelnder Mund mit unnatürlich spitzen Zähnen rief ihren Namen. Plötzlich splitterte die robuste, alte Eingangstür, sie spürte noch einen harten, groben Griff am Hals, ein Brennen an ihrer Kehle und im Bauchraum, dann wurde alles schwarz.

Von all dem hatte Odemaris dem Polizeibeamten Farley nicht am Telefon berichtet. Sie hatte nur verlauten lassen, dass sie Neuigkeiten habe, wer der Mörder ihrer Nachbarn sein könnte und sie das Gefühl habe beobachtet zu werden. Sie konnte einfach nicht die komplette seltsame Eingebung am Telefon wiedergeben und musste persönlich mit dem Inspector sprechen.

›Wie sollte sie auch ein plötzlich auftauchendes Bild in ihrem Kopf erklären?‹

Farley musste ihr einfach persönlich gegenüber stehen, damit sie eine Chance hatte bei ihm Gehör zu finden.

Sie wusste jetzt wer der Mörder war – Was der Mörder war.

Nur zu gut hatte sie sich in jungen Jahren mit der irischen Geschichte, mit Sagen und Legenden beschäftigt und nach der Eingebung, der Gestalt die sie gesehen hatte, wusste sie dessen Name.

Die Minuten verstrichen schleichend, viel zu langsam. Jedes Knacken, jedes Knarzen und jedes bremsende oder quietschende Auto jagte ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie schätzte die vergangene Zeit auf circa zwanzig Minuten als es um sie herum plötzlich verräterisch still wurde. Das Rauschen des Windes, die Vögel im Vorgarten, alles verstummte urplötzlich und ohne Vorwarnung. Odemaris Burms’ Gesichtszüge froren ein und sie wagte nicht einen Muskel zu bewegen. Starr sah sie mit ausdruckslos milchigen Augen zum Fenster. Sie konnte es nicht glauben.

›Nein. Das war ganz und gar unmöglich.‹

Der milchige Schleier, der ihr 90 Jahre lang ihr Augenlicht geraubt hatte, war verschwunden.

Sie konnte auf einmal sehen! Nach 90 Jahren ohne Augenlicht sah sie plötzlich klar und dabei ganz scharf und deutlich. Sie konnte nicht einmal genau sagen, was Sehen für sie war. Es war etwas Wunderbares, sie kannte keine Farben und doch waren sie da. Sie kannte keine Formen und doch konnte sie Eckiges von Rundem unterscheiden. Sie sah Bäume und wusste, dass es Bäume waren, denn sie kannte sie von Erzählungen. Sie kannte ihre Geräusche und sie hatte sie betastet.

Doch was ihr keineswegs gefiel war, was sie in ihrem Vorgarten erblickte. Sie wünschte sich augenblicklich sich doch bitte in einem Traum zu befinden, in dem sie überraschenderweise sehen konnte. Doch sie war sich ziemlich sicher, dass sie nicht träumte. Ein schmutziger, lächelnder Bärtiger mit dunklen, wenn sie wüsste was die Farbe schwarz bedeutete gar schwarzen, gefühllosen Augen stand auf dem Fußweg vor ihrem Haus. Er sah sie direkt an, blickte wenige Meter entfernt mit gebleckten, spitzen Zähnen durchs Fenster zu ihr herein.

*

Colin schwitzte und hupte und betätigte das Bremspedal so gut wie überhaupt nicht mehr. Fluchend hatte er versucht Odemaris Burms vom Handy aus zu erreichen. Sie hatte nicht abgenommen. Er hatte ein ungutes Gefühl, befürchtete mittlerweile das Schlimmste und ausgerechnet jetzt war der Verkehr nach Drumcondra der reinste Horror. Ohne auf rote Ampeln zu achten, an Zebrastreifen anzuhalten oder Vorfahrt-Achten-Schilder zu befolgen schoss er so schnell wie möglich seinem Ziel entgegen. Wenige hundert Meter vom Haus der alten Dame entfernt, zog Colin ärgerlich die Handbremse an und brachte seinen Jaguar schlitternd am Straßenrand zum Stehen, als ihm ein Müllabfuhrwagen den Weg versperrte. Er riss die Fahrertür auf und spurtete fluchend und hustend los. Schmerzhaft meldete sich sofort sein Körper zu Wort und bedeutete ihm mit stechenden Schmerzen in den Seiten, dass er mit Sport in letzter Zeit wenig am Hut gehabt hatte. Colin ignorierte das Seitenstechen eisern und lief weiter. Er würde zu spät kommen, er würde einmal mehr zu spät kommen. Das durfte er nicht zu lassen. Er mobilisierte noch einmal alle Kräfte und rannte was das Zeug hielt.

Er kam zu spät.

Außer Puste erreichte er das Häuschen gegenüber dem ersten Tatort, in dem das Mütterchen Odemaris Burms wohnte.

›Oder gewohnt hatte!?‹

Die Tür stand weit offen. Schon auf den ersten Blick, schwer atmend am Treppenaufgang stehend, erkannte Colin, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

Es roch seltsam. Es roch nach Eisen. Es roch nach – Blut. Die schwere hölzerne Tür war aus den Angeln gerissen. Zersplittertes Holz bedeckte überall den Boden, die Treppen, unmittelbar am Durchgang, im Flur. Mit gezückter Waffe schlich er ins Haus.

*

Odemaris Burms wusste, dass es vorbei war. Mit zitternden Händen wählte sie trotzdem den Notruf ohne das Fenster aus den Augen zu lassen. Der Freiton erklang in der Leitung. Insgeheim hoffte sie, dass sofort abgehoben würde. Den Hörer zitternd am Ohr musste Odemaris Burms hilflos zusehen, wie sich der kleine, bärtige Fremde wie in Zeitlupe der Haustür näherte. Sie hatte den massiven, eisernen Riegel vorgeschoben, allerdings zweifelte sie sehr daran, dass dieser den Angreifer aufhalten konnte.

Es klingelte zum ersten Mal unter der gewählten Notrufnummer. Keine Antwort. Jeden Moment könnte der Mörder in die Küche stürmen und sie erschlagen. Odemaris zitterte stark. Die Fingerknöchel an der Hand traten weiß hervor, so sehr umkrallte sie den Hörer. Die Sprechmuschel, fest mit den Fingern umklammernd, wimmernd und mit weit aufgerissenen Augen, klingelte es zum zweiten Mal in der Leitung.

»Polizei Notruf«, meldete sich eine Männerstimme als in diesem Moment die Eingangstür mit voller Wucht aus den Angeln gesprengt wurde.

Odemaris Burms’ immer noch sehende Augen weiteten sich noch einmal um einige Millimeter und ihre verkrampfte Hand ließ den Hörer fallen. Er schlug mit einem lauten Knall auf dem Fliesenboden auf, doch dieses Geräusch war in Odemaris Burms’ Kopf nicht zu hören. Auf einmal wünschte sie sich nicht mehr sehen zu können, doch das sich ihr bietende Bild blieb bestehen. Auch als sie zwanghaft die Augen zukniff, um von Schwärze umgeben zu sein. Selbst auf der Innenseite ihrer Augenlider sah sie den an einen ungepflegten Holzfäller erinnernden, kleinen Mann, der mit messerscharfen, blitzenden Zähnen im Türrahmen stand und mit einem großen Satz auf sie zusprang.

*

In den Fenstern reflektierten die Blaulichter der eingetroffenen Polizeiwagen unruhig blitzend im dämmrigen Nachmittag. Farley war zu spät gekommen. Mit der Waffe in den ausgestreckten Händen war er in die Küche gestürmt und in einer riesigen Blutlache ausgerutscht. Der Türrahmen hatte ihm noch ein wenig Halt gegeben, ehe er schmerzhaft aufs Steißbein gestürzt war. Ihm bot sich ein Bild des Grauens. Sofort hatte er einen Notarzt und Verstärkung verständigt, doch er wusste schon im gleichen Moment, in dem er die Küche betreten hatte, dass es längst zu spät war.

Odemaris’ Körper lag völlig verdreht auf dem hellen Fliesenboden. Überall klebte frisches Blut, rot-braune Spritzer an den Schranktüren, den Leisten am Boden, am Herd. Die Ofentür unterhalb der Kochfläche des Herds war nur zur Hälfte geschlossen. Grund dafür war der völlig deformierte Kopf, der dazwischen klemmte und sie daran hinderte in die Ausgangposition zurückzuschnappen. Noch nie hatte Farley eine so grausame, ekelerregend brutale Mordszenerie mit ansehen müssen. Die zerbrechliche alte Dame war regelrecht ZERBROCHEN worden, ausgeblutet und im wahrsten Sinne nur noch ein Haufen zersplitterter Knochen und totes Fleisch.

Colin Farley würgte und schlurfte so schnell wie möglich aus der Küche an die frische Luft. Keinen Augenblick zu spät erreichte er den schmalen Rasenstreifen vor dem Haus und übergab sich heftig. Die Gerichtsmedizin, angeführt von Ashley, hatte sich bereits an die Arbeit gemacht. Als sie eingetroffen war, hatte sich Ashley mit Sorgenfalten im Gesicht versichert, dass es Colin gut ging. Er war still geblieben und konnte beim besten Willen nichts sagen. Der Kloß saß zu fest, zu tief in seinem Hals. Immerhin hatte er noch einen im Gegensatz zu Burms‘ sterblichen Überresten. Das schreckliche Bild der verstümmelten alten Frau blitzte wieder in seinen Gedanken auf und saure Flüssigkeit schoss ihm erneut aus Mund und Nase.

Sie hatte ihre lockige Haarpracht zu einem strengen Zopf zusammengebunden, als sie langsam die Treppen herunter aus dem Haus von Odemaris Burms in seine Richtung schlich. Langsam ging Ashley auf ihn zu, mit traurigen, besorgt glänzenden Augen. Colin war eine gute halbe Stunde vornüber gekrümmt neben seinem mittlerweile umgeparkten Wagen gestanden. Sein Magen hatte sich nun wieder halbwegs beruhigt und er musste sich nicht mehr nonstop übergeben, was aber auch eher daran lag, dass sich nichts mehr in ihm befand das heraus konnte.

Ashley strich ihm über die Wange.

»Schrecklicher Anblick, was?«, flüsterte sie niedergeschlagen.

Colin nickte bloß stumm, mit blassem Gesicht.

»Und du bist sicher, dass es sich um denselben Täter handelt, der auch die Millers...«, sprach sie leise weiter.

Colin stieß sich ruckartig mit dem Hintern vom Kotflügel seines Jaguars ab und blies gereizt eine Wolke warmen Atems in die dunkle Nacht hinein.

»Natürlich bin ich mir sicher Ashley, verdammt«, fluchte er laut.

»Odemaris Burms hat mich kurz vor ihrem Tod angerufen und sie klang verängstigt und völlig verwirrt. Sie wollte mir etwas, das uns im Fall der Millers weiterhelfen könnte, verraten. Deshalb war ich auf dem Weg zu ihr. Mist, verfluchter!«

Colin schlug mit der Stiefelspitze wuchtig gegen die Felge des Vorderrads.

»Hat sie dir sonst noch etwas verraten, ich meine, direkt am Telefon?«, murmelte Ashley zögerlich.

Colin drehte sich humpelnd zu ihr um. »Nein. Sie wollte mir alles persönlich erklären...«.

Leicht eingeschüchtert von der aggressiven Stimmung ihres Gegenübers trat die zierliche Gerichtsmedizinerin vom einen auf das andere Bein.

»Ich habe etwas Seltsames entdeckt Colin. Auf dem Fußboden in der Küche. Es sieht fast so aus als hätte Odemaris mit ihren letzten Atemzügen noch irgendeine Nachricht hinterlassen wollen«, hauchte Ashley sehr leise.

Colin fingerte an seiner Zigarettenschachtel herum, bekam aber aufgrund seiner unruhigen Hände keinen Glimmstängel zu fassen und warf sie fluchend auf den Boden vor sich.

»Na dann los. Zeig es mir«.

*

Odemaris Burms, die unschuldige alte, alleine lebende Frau hatte keine Chance gehabt. Mit einer unbändigen Wucht musste der Mörder, nachdem er mit unglaublicher Kraft die Haustür eingetreten hatte, auf sie losgegangen sein und hatte ihr schon mit dem ersten Schlag mehrere Knochen gebrochen. Man konnte noch die Blutspur sehen, die sich gebildet hatte als die alte Dame mit letzter Kraft versuchte, vor ihrem Mörder davon zu robben. Doch dieser Versuch war aussichtslos. Die Ofentür erledigte den Rest und nahm der unschuldigen Rentnerin das Leben. Doch irgendwie hatte sie es noch geschafft, bevor sie brutal aus dieser Welt gerissen wurde, eine Nachricht zu hinterlassen. Und auf diese Nachricht starrten sowohl Gerichtsmedizinerin Ashley McFinn als auch Inspector Colin Farley mit fragendem Blick.

Der weißgekleidete Spurensicherungs-Trupp hatten die alte Dame ein wenig von ihrem ursprünglichen Ort, an dem sie gelegen hatte weg bewegt und sie mit einem weißen Laken bedeckt. Unter ihrem Körper hatte Ashley so etwas wie verschmierte Buchstaben gefunden. Es war schwer, diese überhaupt als Buchstaben oder sonst irgendetwas zu identifizieren, geschweige denn zu entziffern.

›Wie um alles in der Welt hatte die alte Dame es geschafft noch im Sterben eine Nachricht zu hinterlassen?‹, überlegte Colin

›Hatte sie etwas in ihr eigenes Blut gekritzelt während sie sich schützend darauf warf und ihr Leben aushauchte? Ja, so musste es gewesen sein.‹

»Ist das ein A?«, fragte er grübelnd und blickte auf die getrockneten Zeichen.

»A-B-H-A...?«, versuchte Ashley ebenfalls etwas zu entziffern. »...R-T-...«.

Colin kratzte sich am Kinn. Das war seine Marotte, er tat das immer wenn er nachdachte.

›A-B-H-A-R-T? Was sollte das bedeuten?‹

Ihm fiel kein englisches Wort ein, das auch nur im Entferntesten dem Entzifferten ähnelte oder Sinn ergab.

»Ich kann überhaupt nichts erkennen...«, schimpfte Ashley.

Sie zückte ihr Mobiltelefon und schoss einige Fotos, zusätzlich zu denen, die die Spurensicherung bereits gemacht hatte.

Colin hievte sich auf, seine Knie knacksten.

»Ich komme gleich mit dir ins Labor.« verkündete er.

Sie liefen zusammen zu seinem Wagen und fuhren auf direktem Wege in die Gerichtsmedizin, um dort auf die Abzüge der Spurensicherung zu warten und ihre eigenen Fotos zu studieren.

Auf der Fahrt dorthin sprangen in Colins Kopf die Buchstaben nur so wirr durcheinander. A-B-H-A-R-T-...

›Was konnte das bedeuten?‹

Es war ein einziges Wort, da war er sich sicher. Nur die letzten Buchstaben waren fast unmöglich zu entziffern. Er glaubte noch einmal ein A und am Ende eventuell ein H auf dem blutgetränkten Boden erkannt zu haben.

›Aber was sollte das heißen: ABHARTA-?-H?‹

Ashley sagte kein Wort und auch Colin schwieg, bis sie zusammen das Labor betraten und sich Ashley an die Arbeit machte, um im WorldWideWeb nach einem Wort zu suchen, dass dem auf dem blutüberströmten Boden in Odemaris Burms’ Haus ähnlich war.

Wenige Minuten später hatten sie auch schon die hochauflösenden Fotos der Kollegen, die sie zusammen durchsahen. Sie zoomten weit ins Bild hinein und wieder heraus, drehten sie hin und her. Sie grübelten und rätselten welche Buchstaben Odemaris auf den Boden gekritzelt hatte und hackten immer wieder neue Buchstaben in den PC.

Schließlich ergriff Colin die Initiative. »Versuchen wir es erneut. Du tippst: A-B-H-A-R-T… das da sieht aus wie ein weiteres A und dann entweder ein kleines L oder vielleicht ein C? Das letzte ist definitiv ein H würde ich sagen. Was meinst du?«.

Ashley blickte kurz auf und sah ihm tief in die Augen.

»Ich denke du hast recht. Und für mich sieht es dann doch auch eher wie ein C aus.«

Dann hämmerte sie die paar Buchstaben in die Tastatur.

›3 TREFFER‹ meldete die Suchmaschine nur einen Augenblick später. Sie sahen sich verwundert an. Hastig klickte Ashley auf das erste Ergebnis.

Eine neue Seite erschien mit der Überschrift »Abhartach: The original vampire«.

Verwirrt sahen sich die beiden an. Ashley betätigte den Curser erneut und rief das zweite Ergebnis auf. Es war eine Begriffserklärung. Demnach war das Wort ein irisches mit der Bedeutung »Zwerg«. Der dritte Treffer war ein Buch geschrieben von Patrick Weston Joyce mit dem Namen »The Origin and History of Irish Names of Places von 1869«.

›There is a place in the parish of Errigal in Derry, called Slaghtaverty, but it ought to have been called Laghtavery, the laght of sepulchral monument of the abhartach [avartagh] or dwarf [...]. This dwarf was a magician, and a dreadful tyrant, and after having perpetrated great cruelties on the people he was at last vanquished and slain by a neighbouring chieftain; some say by Fionn Mac Cumhail. He was buried in a standing posture, but the very next day he appeared in his old haunts, more cruel and vigorous than ever. And the chief slew him a second time and buried him as before, but again he escaped from the grave, and spread terror through the whole country. The chief then consulted a druid, and according to his directions, he slew the dwarf a third time, and him in the same place, with his head downwards; which sudued his magical power, so that he never again appeared on earth. The laght raised over the dwarf is still there, and you may hear the legend with much detail from the natives of the place, one of whom told it to me.‹Joyce, The Origin and History of Irish Names of Places4

Verständnislos blickten Ashley und Colin auf den Rest der Seite. Es gab zahlreiche andere alternative Geschichten über diesen Zwerg namens Abhartach. Eine besagte, er habe das Blut der besiegten Gegner und derer die er zum Spaß abschlachtete getrunken und seinen Opfern Holzpfähle von zwischen den Beinen, also anal, bis hinauf in den Hals getrieben. Eine andere behauptete, dass dieser Abhartach der irische Dracula gewesen sei und Bram Stoker’s Geschichte eigentlich von der irischen Legende abgekupfert wurde.

»Alles Bullshit«, fluchte Colin laut.

Ashley zuckte zusammen.

»Das ist doch alles eine riesengroße Scheiße«, brüllte er erneut und schlug die Hände über seinem Kopf zusammen.

Er begann sich im Kreis zu drehen und sich durchs Gesicht zu kratzen wie ein Wahnsinniger.

Ashley stand auf und packte ihn an den Händen.

»Dreh’ jetzt ja nicht durch«, mahnte sie ihn. »Dreh’. Nicht. Durch!!!«.

Abhartach

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