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Wasserplanet

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Das Wesen ohne Kopf. Als ich es erstmals im lokalen vierdimensionalen planetaren Bezugsrahmen sah, erinnerte es mich maximal an einen Oktopus ohne Augen, nein… an kein vergleichbares Geschöpf in diesem Universum. Es bewohnte offenbar den großen Ozean und zugleich die Landfläche. Sein schmaler Körper war gelartig, transparent, mit Ausnahme der langgezogenen Wirbelsäule, die überproportional breit war. Ich sah weder Augen, Ohren noch einen Mund. Gleichwohl strahlte das Wesen eine unheimliche Eleganz aus. An beiden Enden befanden sich zwei Greifer, symmetrisch, feingliedrig, an jedem Greifer acht Finger; und direkt dazwischen jeweils ein Paar kurzer Läufer, mit zugewachsenen Zehen, fischähnlich.

»Ich habe dich erwartet.« Seine Stimme. Als es zu mir sprach, hörte ich keine Worte, keine Sprache. Eine die gesamte Umgebung im Kreis ausfüllende dunkle Vibration erfüllte mich, deren tiefe Bässe mit einem pulsierenden, purpurnen Leuchten des vorderen Teils der Wirbelsäule übereinstimmte. Ich befand mich inmitten eines umfassenden Schallraums! Die Schallwellen seiner Gedanken berührten mich! Ich spürte das Erzittern meiner Haut, als es sprach. Es berührte mich mit seiner Stimme. Es drang in mich hinein, in meinen Körper, in meine Organe. Meine beiden Oberarme kräuselten sich, ich sah die Bewegung der Wellenberge innerhalb meiner Arme, wie der Schall aufstieg und recht schnell an der Schulter verebbte. Es sprach, aber ich hörte keine Worte. Keine Sprache. Ohne Sprache verstand ich: «Ich wusste, du kommst.«

Als es zu mir dachte, sah ich das purpurne Leuchten in seinem transparenten Körper. In einer wolkigen Spirale drehte das Licht sich um seine Wirbelsäule und wurde mit jedem Wort beinahe schneller. Doch als ich die Worte hören wollte, verschwanden sie, und übrig blieben Bedeutungen. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob das Wesen eine Sprache benutzte. Ich kann es wirklich nicht mehr sagen. Übrig bleibt allein meine Erinnerung an Bedeutungen.

Jede Bedeutung trug einen anderen Duft innerhalb des wallenden Purpurs.

Ich verstand das Wesen. Myrre, Zeder und Bergamotte umströmten mich, nicht aufdringlich, nicht bedrohlich.

Das Wesen verströmte sein Wissen unmittelbar in meinen Körper. Die Farbe, die Düfte, sie wirkten wie eine Essenz. Weder Fragen noch Antworten. Keinen Wahrheitsanspruch, lediglich Hinweise. Ja, es trug Hinweise bei mir ein. Seine Hinweise. Ich war ein wenig irritiert, es war mir ähnlich. Auch ich hasste alles, was den Anspruch erhob, mehr als ein Hinweis zu sein; jede Gewissheit war mir Ärgernis, ja gar persönlicher Eklat. Der Eintrag seiner Hinweise geschah ohne spürbare Annäherung. Keine Anschmiegung. Weder Anbiederung noch Bescheidenheit; kein Machtanspruch. Weder Zärtlichkeit noch Unterwerfung. Kein Eindringen: schlichte Hinweise auf Wissen; in einer unmittelbar mich einfassenden umfassenden Verschmelzung.

Ich gewährte den Zuzug in meinen Tempel. »Willkommen«, sprach ich nicht. Als Symbiont verstand es. Ja, wir gewährten uns beide die temporäre Symbiose.

Als ich mein »Willkommen« nicht sprach; und es verstand; strömte meine nicht gesprochene Antwort durch meinen Körper. Es war nur ein einzig Wort. Doch so mächtig, dass ich den dunklen Basston in meinen Organen hörte, von meinen Gedankenneuronen wohl zunächst in mein Rückenmark gewandert, von dort aus dem gesamten Strang der Wirbelsäule vertikal in das umgebende Gewebe meiner Zellen pulsiert, wo sie in angenehmen Purpurvariationen vibrierten.

»Als ich auf dich wartete, verflossen zehntausend Umkreisungen meines Planeten um unser Gestirn.«

Ich vernahm keinen Vorwurf. Es schien mir, das Wesen drücke sich stets in Form von Hinweisen aus. Ein Hinweis hat entscheidende Vorteile: das Wesen legt sich nicht fest, und es überlässt mir einen Spielraum, die Illusion vielleicht sogar einer Entscheidung, mindestens jedoch die Gewissheit der mir gewährten Höflichkeit, des Respekts. Später, auf dem Planeten der Zweibeiner, würde ich an diese feine Kunst der Sprechweise denken, als mir die zahlreichen Kriege auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene bekannt wurden, die die Zweibeiner während ihres ersten Aufflackerns im planetaren Faunensystem bis hin zu ihrem Untergang führten. Sämtliche dieser individuellen und nationalen Kriege hätten bei Geltung dieser Sprechweise wohl verhindert werden können. Doch das kopflose Wesen schien seine friedfertige, ja weise anmutende Vermittlung seiner Gedanken perfektioniert zu haben, gewiss ein Ergebnis sehr langer Evolutionsgeschichte. Auch schien es äußerst alt werden zu können, wenn es von zehntausend Umkreisungen um sein Zentralgestirn spricht. Die Zweibeiner auf dem ihnen zugewiesenen Planeten sprechen von einem »Jahr«, wenn sie eine solchen Zeitraum messen wollen. Allerdings wissen sie nicht, dass schon ihre weitere Unterteilung einer solchen Umkreisung in die Untereinheit »Tag« sehr weit hergeholt ist. Denn ein »Tag«, so wie sie diese Untereinheit bezeichnen, hat mit der Sternumkreisung nun auch nicht annähernd etwas zu tun, aber dazu später mehr.

»Du hast auf mich gewartet?« Als ich diese fünf Worte nicht sprach, erfüllte mich mein Körper mit einer allumfassend tiefblauen Farbe, die sich in allen Atomen und pulsierenden Teilchen spiegelte. Zur gleichen Zeit sah ich seinen Körper aufglühen, wölben, sich in wohliger Zustimmung rekeln.

»Das Warten ist ein willkommener Zustand.« Als es diese Sinnbedeutung zu mir dachte, verblieb sein Körper im Warmglühen.

»Doch woher wusstest du, dass du wartest?«

»Es war prophezeit«, sagte es nicht, »es ist unsere uralte Verheißung«.

»Kennst du ihre Quelle?«

Sie glühte bei dieser Frage, die ich nicht stellte, in plötzlich hellem Grün. Oder Türkis, je nach Kausalitätsverzweigung.

»Bevor ich wusste, dass ich auf dich wartete, weinte ich.«

Tränen ohne sehenden Auges. »Wie Khalil sagte, ich tausche meine Tränen um nichts in der Welt gegen den Tand und Freuden der Massen…«

Doch um meinen Bericht abzuschließen, war es noch zu früh. Äonen spielen keine Rolle. Mein Vater hatte mir keine Frist gesetzt. So durfte ich annehmen, dass er meinen Bericht spätestens erwartete, wenn die von ihm in dieses Universum emanierten Verschränkungen von Zeit und Raum und die somit seit anfangs hineingedachten Punkte, an denen sich Materie kristallisierte, wie Schneeflocken an warmem Glas zergehen.

Die Orte und Punkte aus myriadenfachen Raumzeitverschränkungen fallen des Zufalls auf das wartende Warmfenster. Das Warmfenster ist nichts weiter als die nicht zufällige Beinahe-Berührung der jeweils benachbarten Brane, hier also, in dem Punkt und Ort an dem ich mich momentan zu befinden habe, aufgrund des Auftrages meines Vaters, dieses Universums innerhalb der Blasen ihm umgebender weiterer Universen. Die Beinahe-Berührung ist ihrerseits die gegenseitige Anziehung und Abstoßung in einem zeitlosen Zwischenraum in der Größe einer einzigen Planck-Länge.

»Sie verstehen die Illusion der vorübergehenden Kristallisation in lokalen Krümmungen des Zeitraums sowie die darauf instantan sich ausbreitenden Ausfächerungen des mit der lokalen Zeit verwobenen Raumes nicht.« Das weibliche Gesicht näherte sich mir ein wenig. »Sie nennen es Schwerkraft, Gravitation, aber sie verstehen auch nicht ansatzweise, dass es keine Anziehung von Massen ist, sondern Eindringen reiner Energie aus der diesem Universum benachbarten Bran und deren Wahrnehmung als Kristallisation in Materie in Relation von je lokaler Zeit zu dem je eigenen punktuellen Raum, insoweit also Abstoßung und nicht Anziehung. Die Beobachtung führt nicht zum Kollaps der von den einfältigen Humanoiden postulierten Wellenfunktion. Das unablässige Eindringen reiner Energie aus dem benachbarten Universum und von der Oszillation, deren instantane, sich in allen Partikeln von Anfang an verschränkende Kristallisation zu Punkten im Raum, erschafft die lokale relative Zeit.«

»Ja, ich weiß doch.« Der Tee und auch der Zucker, wie schon ausdrücklich betont jedoch von kaum einem unaufmerksamen Beobachter bemerkt der belgische, doppelt so fest und viermal so groß wie die üblichen, waren inzwischen in mir selbst verschwunden, eingedrungen – über die Speiseröhre, der Anziehung lokaler Einbuchtungen im diskreten Zeitraum und eben nicht der Schwerkraft folgend, als Funktion von Zeit und Raum – in die Magensäfte, über diverse hormonelle Prozesse in multiple Zellen transportiert, umgewandelt, in einzelne Moleküle, vermischt, Reaktionen provozierend, am Ende in Energie und teils aus meinem temporären Materietempel herausfallende Stoffe erneut hineingeströmt in die Außenwelt. Selbst in diesem kleinen, in sich abgeschlossenen Ort der Speiseröhre hinunter in Magen, Schleimhäute, Organe und Zellen bis hinauf Blutschranke hindurch hinein in mein Hirn und hinaus in die oszillierende Welt des unter mir befindlichen Planeten, herrschte mitnichten eine menschlich bislang undefinierte Kraft namens Gravitation; auch hier tanzten die aus dem Äther strömenden Wellen meines allumfassenden Geistes hinein in den Zeitraum dieses kleinen Universums, eines aus Allen, Alle in Einem, und spielten in eleganter Choreografie die Gestaltung nicht nur des lokalen, sondern auch des im Lokalen eingeprägten Hochamtes aus Zeit und Raum.


*


Wenn der Bison mit seinen Hufen scharrt, seine Liebste nähert sich ihm, ihren Kopf gesenkt. Auf den unendlichen Weiten der mittleren Ebenen im Nördlichen Kontinent. Und der Jäger lauert.

Wenn Leo der Löwe in der Hitze liegt, satt, das Leben ist schön. Nicht für sein Opfer. In den Savannen, wo die Speere fliegen.

Wenn der Wolfshund der Menschengruppe folgt, beschützend, auf das Wild weist, es den Menschen zuführt. Und der Zähmer schon die Leine schnürt.

Wenn der Elefant weint. Millionen Jahre ist er weiser. Als der Mensch. Und dieser sägt doch nur an seinem Elfenbein.

Wenn in den Tiefen der Meere die wundervollen Farben der Fische aufleuchten, im Chor der Meeressäuger, die Großmogule, ihre Schwärme in kaum fassbarer Schönheit driften, in zum Schweigen verurteilender Harmonie ihre Pirouetten tanzen, schwungvoll sich den machtvollen Strömen anvertrauen:

Seit Äonen schweben sie mit ihnen, vertrauensvoll getragen um die ganze Welt, in ewiger Ästhetik, in den für Zweibeiner unerreichbaren Weiten der weltumspannenden Ozeane, oder ist es doch ein einziges großes Meer, geteilt nur durch die Gedanken der vorübergehend geduldeten Menschen, die hoch oben auf der fragil auf Magma schwimmenden Erdkrustenschale nach kümmerlichem Tand sich sehnen, den wahren Sinn schon längst versäumend, auf ihren kümmerlich dürr zwei Beinen. Die Einzigen ohne Hoffnung, die Gezeichneten, denn ihnen war geschenkweise eine Gelegenheit dargeboten: und sie verachteten sie hämisch, in Missgunst, Neid, Gier und Selbstsucht.

Fischernetze schneiden in die Gedärme derjenigen am tiefen Grund, reißen Seesterne, schlafende Oktopusse, Myriaden kleiner Wesen, aufschreiend denn im Wasser aufflackernd, mit sich.

Die Kontinentalplatten sind zu träge, um sofort helfen zu können.

Mit allen leidenden Tieren und Pflanzen haben sie beschlossen, es den um den Erdball wogenden Luftmassen zu überlassen, die undankbaren eitlen unwissenden Zweibeiner auszulöschen, ihnen die Luft zu nehmen, Methan in unvorstellbaren Mengen aus alten Böden zu befreien, ihnen die Nahrung, das Atmen und die Einheit mit Allem zu verweigern. Denn sie erwiesen sich als wertlos.

Ich löste mich von ihr. Ihre Erzählung vom mageren Geisteszustand der Zweibeiner genügte. Ich dankte für den köstlichen Tee und entschied, etwas in der lokalen Zeit zurückzugehen. Wie hatte sich der Zweibeiner bis zu diesem Zustand entwickelt? Ich musste unbedingt zurück, nicht viel, vielleicht einige zehntausend Jahre in der rückwärtigen Bewegungsrichtung des Zeitraums.

Zehntausend Jahre? Fünfzigtausend Jahre?

Die Vorstellungswelt der Zweibeiner zu Zeitbegriffen ist kurios. Nirgendwo im Universum, jedenfalls in diesem, gibt es intelligente Wesen, die zur Benennung oder Messung von Raumverzerrung, Raumfort- oder rückschritt und Raumbewegung auch nur annäherungsweise ein Wort wie »Zeit« in ihrer jeweiligen Kommunikationsform entwickelten. Üblicherweise finden die in dieser Galaxie verstreuten, empfindsamen und selbstwahrnehmenden Wesen eine andere Vorstellung ihres lokalen Raumes, die einen verwirrenden und unzutreffenden Zeitbegriff nicht kennt und eher beschreibt, welche Messpunkte die Umgebungsvariablen des lokalen Raumes bereit halten; oder auch, ein nicht seltenes Phänomen, ein intuitives, wortloses Begreifen ihrer Bewegungen durch die Schichten der Quantenwellen, wie sie sich je kristallisieren, wenn die energetischen Oszillationen in ihrem ewigen Auf und Ab genau am Planck’schen Ort der Beobachtungspunkte ihre Akzentuierung, ihre Verdichtung erreichen. Ohne ein Wort, ohne einen Begriff – gemeint als Kommunikationsteil – haben solche Wesen dasjenige, was die Zweibeiner als »Zeit« missverstehen, mittels der ihnen eigenen Empfindung eine Möglichkeit ergriffen, die Energie zu bestimmen, die im lokalen Raum die relative Bewegung ausmacht. Sie sprechen daher, sofern sie überhaupt Sprache verwenden, nicht von Zeit und Raumzeit, sondern weitaus treffender von Energie und Raumenergie. Und messen diese, ebenso zutreffend, in Quanteneinheiten.

Die Zweibeiner jedoch leben auch jetzt noch in dem großen Missverständnis, es gebe Zeit im Raum. So unreif fragil wie sie sind, verwenden sie in ihrer Einfalt eine Vielzahl von Definitionen für ein Phänomen, welches sie – über ihr Gehirn – als »Fluss der Zeit« präsentiert bekommen. Wie ich feststellen musste, enthält ihre hauptsächliche Kommunikationsform, die sie »Sprache« nennen, mindestens folgende Vorstellungen ihres individuell fließenden Erlebens im lokalen Raum: Sekunde, Minute, Stunde, Tag, Monat, Jahr.

Solcherart Wörter: bedrückende Labels, gesetzt auf die Objekte der Um-Welt. Sprechen und Beschreiben: deren Gewicht zerstört den Urgrund der Objekte im Raum. Weder wird die Quantenrealität durch solche Labels zutreffend beschrieben, noch wird sie in irgendeiner Form beeinflusst. Wörter als Objektlabels sind, werden sie »gesprochen« und nicht »gedacht«, schlicht neuronale Instruktionen, Manipulationen, prozessuale Sprechbefehle mittels elektrischer Stöße, zielgerichtet fortlaufend über biologische Leitungen (bestehend aus Milliarden winziger Zellen, in denen wiederum Milliarden von grundlegenden Informationen aus dem Ursprung des Universums deponiert sind) hingeführt an marginale Faszien teils muskulärer, oft jedoch nur gewebeartiger Ausprägung im Kehlkopfraum, mit dem expliziten, im Hirn bereits programmierten Ziel der Herstellung und theatralischen Darbietung einer stets doch illusionär bleibenden Interpretation, um die Gesamtheit aller Wellen, aller aus der Um-Welt zum Körper dringenden Informationen, dem Individuum als Reduktion, als minimalem Teilausschnitt, so zu präsentieren, dass es weder körperlich noch geistig überschießend reagiert und somit in einer Umwelt überleben kann, deren Wellen als Ganzes dermaßen gewaltig und beherrschend sein können, dass Wesen, die sämtliche Wellen körperlich registrieren würden, nicht existieren könnten – würden sie daran doch zerbrechen. Kein biologisches Wesen könnte, nehmen wir dies als Beispiel, die Gesamtheit aller Wellen, die die Zweibeiner als «elektromagnetische Wellen« dann doch erkannt und beobachtet haben, mittels seines eigenen Körpers aufnehmen, umwandeln und interpretieren. Die Zweibeiner können beispielsweise lediglich ein winziges Farbspektrum wahrnehmen, welches sie über zwei im vorderen Bereich des Kopfes integrierte, gelartige Bälle, von ihnen »Augen« genannt, (hierfür sind gezielt zwei Löcher im Schädel bereitgestellt) empfangen und mittels eines nicht komplizierten, aber komplexen Vorgangs innerhalb ihres Gehirns in ein »Bild« umwandeln.

Nur am Rande sei hier erwähnt, dass sie keine Ahnung haben, was es mit diesem »Bild«, welches ihnen durch ihr Gehirn präsentiert wird, überhaupt auf sich hat. Fragt man sie, wo sich denn dieses »Bild« exakt befände, ob in ihrem Kopf oder vor ihm, finden sie keine Worte, fangen an zu stottern und verfangen sich in lächerliche Antworten. Es sei wie ein Theaterstück, meinen manche, man sitze in der ersten Reihe, und allmorgendlich öffne sich der Vorhang, man erblicke das eigene Schauspiel, nur um dann des Nachts in einen Traum überzugehen, von dem man nun aber wirklich genau wisse, dass er sich nicht außen abspiele, sondern innen. Eine zarte Rückfrage, welchen Unterschied dies für ihr Hirn mache, führt nicht zu weiterer Erkenntnis.

Allein die simple Anschlussfrage, zugegeben, eine Fangfrage, ob denn ein Objekt, welches sie in ihrem Hirn in einem Bild »sehen«, als solches, in der Realität außerhalb ihres Hirns, sui generis eine «Farbe« habe, lässt sie verzweifelt zurück und treibt sensible Seelen in den Abgrund. Kein Objekt der Realität habe eine Farbe an sich, wäre eine plausible Hypothese. Wenn nun aber ein in der Realität gegebenes Objekt keine ihm inhärente Farbe besitzt: wäre es dann ohne Beobachter weiß oder schwarz? Wäre schwarz dann eine Farbe, oder existierte schwarz als Abwesenheit von Licht und sei damit keine Farbe eigener Art? Die Zweibeiner scheitern bei solch simplen Themen, denn sie haben die Realität der ständig oszillierenden Quanten nicht verstanden, wie auch deren Relativität, den Bezugsrahmen. Für den fremden Leser, aufgemerkt: für ihn ist dieser Bericht nicht gedacht, sei gleichwohl darauf hingewiesen: »Farbe« ist keine inhärente Objekteigenschaft und existiert nirgendwo in einem nicht beobachteten Universum; »Farbe« existiert als Worthülse innerhalb des Bezugsrahmens eines Subjekts, welche das Objekt beobachtet und ist lediglich eine vollkommen von der Sensorikkompetenz des Subjekts abhängigen Ausprägung von absorbierten oder reflektierten Lichtwellen, die innerhalb eines Subjektgehirns hergestellt und dem Subjekt-Bewusstsein präsentiert wird, zum Zweck seiner Interpretation der Umwelt und Interaktion mit dieser. »Farbe« wird, wie »Worte«, durch Wellen in den biologischen Organismus getragen und innerhalb des Organismus erst hergestellt, um Bedeutung zu erlangen. Der Versuch der Zweibeiner, »Farbe« von Objekten durch Absorption und Reflexion zu erklären, geht also fehl.

Wie komme ich von Wörtern auf Bilder. Solcherart manipulierte Labels, Wörter, von denen in der vor kurzem, nein, jetzt, quantenmäßig jetzt, die Rede war, haben keinerlei unmittelbare diskrete Beziehung zu ihrer Umgebung, ihrer Umwelt. Ja, man muss sogar sagen, sie haben keinerlei Beziehung zum Raum! Wie ausgesprochen dumm. Wörter, Sprache: ein offensichtlich fehlgeleiteter, zum Scheitern verurteilter Zweig der Evolution innerhalb der Ökosphäre dieses Planeten. Das Hirn der Zweibeiner nutzt zur bipolaren Übermittlung von Wörtern und Sprache den Schall; alternativ die Verschriftlichung mittels diverser Methoden. Wird die Schallübertragung gewählt, bilden sich im Rachen des dürren, aufrecht gehenden Säugers Wellen, die anfangs wohl aus einfachen Tonfolgen bestanden, über die Zeit sich dann zu Lautfolgen und schließlich zu dem entwickelten, was sie selbst zur Besuchsstunde als «Sprache« bezeichnen. Obwohl sie zunächst durchaus zutreffend erkannten, dass ihr Kehlkopf Schallwellen nutzte, fehlte ihnen – in gewisser Weise bedauerlich - doch die Intelligenz, um die hierin eigentlich liegende Sensation zu verstehen. Denn niemals verstanden sie die herausragende Leistung des Planeten: ein dem humanoiden Zweibeiner eigenes materielles biologisches Netzwerk aus Milliarden von Hirnzellen – eingepfercht in einem knochenharten Schädel - übermittelt »Information«, Gedankeninhalte, verknüpft mit »Emotion«, Gefühlsinhalte, aufs Ganze gesehen also Bedeutung, in einem ersten Schritt zunächst mittels der bereits beschriebenen Befehle an Faszien und Gewebe im Rachenraum, wo, manipuliert durch Kehlkopf, Zunge und Kieferbewegungen, die Bedeutung der Information auf Schallwellen aufgesetzt wird. Allein dieser erste Schritt ist einmalig, zumindest in diesem Teil der Galaxis. Zwar entstand im gesamten Universum, zumindest in jenem, welches ich hier besuche, durchaus Kommunikation von Organismen in Form von Musik und Singen auf Schallwellen, hinausgetragen aus den Mäulern der kleinen und großen Wesen auf unzählig vielfältigen Planeten; überwiegend jedoch verständigen sich im gesamten Rest des Universums die hoch entwickelten Organismen eben nicht über eine organisch-biologisch angepasste Nutzung von Schallwellen.

In einem zweiten Schritt richtet sich sodann die Öffnung im Kopf des Säugers, den diese als Mund bezeichnen, in Richtung des Gegenübers, immer ein anderes Mitglied der Spezies. Gelegentlich »sprechen« die Zweibeiner allerdings auch zu Vierbeinern aller Art, Pferde, Hunde, Katzen, Affen; in der getrübten Hoffnung, diese würden die Bedeutung verstehen. Dies nur am Rande berichtet. Sie wollen nur spielen. Jedenfalls, die auf die beschriebene Weise im Rachen hergestellte Bedeutung verlässt den Mund des Zweibeiners über, unter oder in einer Schallwelle, durchquert im Schutz des Schalls die umgebende Schicht aus Gasmolekülen (78,08 % Stickstoff, 20,95% Sauerstoff, 0,93% Argon, 0,03% Kohlendioxid, 0,00005 Wasserstoff und kleinere Mengen anderer Gasmoleküle) die sie als »Luft« bezeichnen. Die Bedeutung im, am oder um den Schall erreicht nicht etwa den Mund und Rachen des Gegenübers. Nein. Die Schallwellen, weiterhin die Bedeutung der Information beschützend und tragend, treffen auf zwei Öffnungen des Gegenübers, die sich etwa in der Mitte der linken und rechten Seite des Kopfes befinden und die sie »Ohr« nennen.

In diesem Ohr nun spielt sich Erstaunliches ab. Die konkrete, diskrete Schallwelle, die Bedeutung trägt, aber selbst keine Bedeutung ist, wird in einer komplexen Methode umgewandelt und auf Zellen übertragen, die die Zweibeiner Nervenzellen oder neuronale Zellen nennen. Hierfür ist ein Torwächter verantwortlich, das Trommelfell, welches Frequenzen erzeugt, Schwingungen. Rhythmische Druckwellen in Luft oder Wasser. Merket auf: die Bedeutung bleibt in den Schwingungen erhalten – meint der Sprechende. Der Hörende meint, er könne Frequenzen zwischen 16 Hertz und 20.000 Hertz wahrnehmen, Infraschall und Ultraschall stehen dem Zweibeiner wohl nicht zur Verfügung, wiewohl andere Säuger weitaus tiefere oder höhere Frequenzen hören.

Nun, die auf, um, in der Schallwelle auf- oder eingetragene Bedeutung erreicht das interpretierende Gehirn über die Ohrmuschel, den Gehörgang, das Trommelfell, die Gehörknöchelchen, die Hörschnecke und den Hörnerv. Nirgendwo auf diesem Weg scheint die vom Sprecher zugedachte Bedeutung verloren gegangen zu sein. Wenn sich die Menschen nicht irren.

Oft denke ich, wie anmutig würde ihnen die Welt meines Vaters, die Mannigfaltigkeit der Universen, erscheinen, und wie hoffärtig erwiese sich ihre momentane «Wissenschaft«, wüssten sie, dass die Bedeutung eines Wortes im Moment der Emanation wie des Eintrags auf eine Schwallwelle aus der lokalen Raumzeit verschwindet. Instantan, außerhalb von Zeit und Raum, erscheint die Bedeutung im Reich der Quanten, sofort vereint im ewigen Schaum, aufgesogen und von allen Atomen des Universums wahrgenommen, fließt in diese hinein und kehrt erst dann auf seinen letzten lokalen Ort der Raumzeit zurück und erscheint dem Hörenden.

Bereits die Begriffe Jahr, Monat, Tag, Stunde, Minute und Sekunde haben also nichts gemeinsam, werden je unterschiedlich bestimmt. Wenigstens haben sie jedoch einen minimalen Bezug zur Galaxie, zu ihrem Sternsystem.

Um im Pfeil der lokalen Zeit eine Bewegung für sich selbst – also lediglich in Relation zum eigenen Bezugsrahmen – zu veranlassen; wobei die Richtung vollkommen gleichgültig ist: wie in der Raumzeit, kann auch im Zeitraum problemlos die Vorwärts- und Rückwärtsbewegung erfahren werden, im Unterschied zur Bewegung in der Raumzeit kann im Zeitraum allerdings nur eine Manipulation der Zeit, nicht aber des Raumes erfolgen, währenddessen in der Raumzeit nur der Raum in seinen Kausalitäten, nicht aber die Zeit manipulierbar ist; jedenfalls, um eine solche Bewegung zum Beispiel im jetzigen Augenblick als in der Zeit zurückgehende Bewegung in Relation zu dem lokalen Raum zu veranlassen, genügt, und dies ist den Zweibeinern als Folge ihrer Hybris wohl bis jetzt nicht geläufig, lediglich die Kenntnis und Anwendung der fundamentalen Konstanten: was die Zweibeiner fälschlich Gravitation benennen, zählt nicht dazu, sie können die Ausdrucksformen von Energie und Emanation nicht verstehen. Was sie als »Anziehung« durch eine »Masse« definieren – wobei sie ihr Wortlabel »Gravitation« weder verifizieren noch falsifizieren können – , ist lediglich die lokale Wechselwirkung oszillierender Energie in ihrer höchsten Form der Verdichtung. Obwohl sie bereits eine »Fotografie« von den unendlich dichten Wellen innerhalb eines angeblichen Atoms erfolgreich darstellen können, sprechen sie weiterhin von Anziehung der Materie – die sie jedoch niemals »fotografieren« können, da sie nur dann als »fest« und »lokalisierbar« erscheint, wenn sie eben auf nicht-realer (nicht-atomarer) Ebene »beobachtet« wird.

So ging ich also zurück in der Zeit des Planeten. Im Unterschied zur Raumzeit, in der sich der 4dimensionale Planet der Zweibeiner räumlich lokal bewegt, ist eine Beeinflussung von Korrelationen und Kausalitäten im Zeitraum nicht möglich; ebenso wenig eine Bewegung zwischen Punkten im Raum. »Erlebt«, notiert, gesehen wird schlicht der Lauf der Zeit am Ort, sei es vorwärts, sei es rückwärts. Zulässig ist allerdings – jedenfalls für mich, da ich alle möglichen und denkbaren Quanten am Tag meiner Initiation verinnerlicht habe und von allen Universen im Anschluss an die feierliche Zeremonie aufgenommen wurde – ein Schweben über eine lokale Zeitregion, die Zweibeiner würden sagen »ein Blick von oben«.

Im Grunde interessiert mich bei solchen intellektuellen Übungen niemals der Blick in die örtliche Zukunft. Denn, vergessen wir es nicht, mangels Zeit und Raum kann ich jederzeit in irgendeine Vergangenheit blicken, die bei entsprechender Vorwärtsbewegung in der Zeit punktuell sofort als Gegenwart vernichtet wird, als Zukunft aufflackert, jedoch im gleichen Momentum bereits Vergangenheit ist.

Als nicht kausaler, und ebenso nicht korrelierter, Beobachter sehe ich allerdings niemals eine einzige Realität, eine einzige Wahrheit des Geschehens. Ich sehe Quanten-Möglichkeiten sowohl in Zukünften wie in Vergangenheiten: dies ist das Geheimnis meiner Besuche.

Je näher eine Zukunft am gegenwärtigen Augenblick einer beobachteten Gegenwart liegt, desto klarer ist mein Ausblick. Je weiter entfernt ich eine Zukunft schaue, desto verschwommener erscheint das Bild, getrübt durch die Mannigfaltigkeit entstehender Möglichkeiten.

Die Vergangenheit ist weniger verschwommen. Sie ist klarer in den Blick zu nehmen.

Denn sie ist ungetrübt durch offene Möglichkeiten. Sie ist bereits verdichtet, durch finale Entscheidungen empfindsam bewusster Subjekte, die den im Zeitraum driftenden Objekten eine Stoßrichtung gaben, indem sie Entscheidungen trafen und Bedeutungen verliehen.

Während also beispielsweise ein regionaler Blick auf die künftigen zehntausend Jahre am Ort dieses Planeten bereits ein recht verschwommenes Bild ergibt, ist die Ansicht auf einen zehntausend Jahre in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt, am gleichen Ort, sehr deutlich: es ist ein Blick auf die verdichtete Mannigfaltigkeit getroffener Entscheidungen.

Was empfindsame, selbst-bewusste Subjekte oft vergessen: Objekte in der Raumzeit sind ethisch neutral, auch wenn sie meist Resultate evolutionärer chemischer, physischer, molekularer Prozesse sind: Objekte ohne Endziel in einer gegebenen Raumzeit, ihre Drift ist offen, abhängig von den Richtungen, die ihnen von Subjekten gegeben werden. Sie liegen als Material bereit, zum Anstoß. Die Kugeln liegen wohlgeordnet auf dem Billardtisch, Atome und Moleküle, DNA, Wasser, Atmosphäre, Zentralgestirn, Planet. Das Spiel hat keinen Schiedsrichter, es beginnt beim ersten Zeichen von Selbsterkenntnis, Zweifel, Neugier.


*


Der Schwan hat sein Nest an der Gabelung der Milchstraße. Um dies zu sehen, musste ich im Zeit-Raum der «Heutigen« wieder in Richtung ihrer aktuellen Gegenwart reisen, ungefähr zum Eintauchfenster 44.000 Jahre, planckdünnste Bewusstseinsschnitte weiter nach vorne, gezwiebelte Kerben im Raumgewebe, damals jetzt künftig schon immer existierend. Allerdings: trotz immerwährender Existenz im Wheeler-Raum, die klarste Sicht bestand ausschließlich und stets am Ort der Planck-Länge, die jedoch nur in der Raumzeit, nicht aber hier im Zeitraum eine Gegenwart im Raumgewebe darstellt. Hier war sie nämlich keine Gegenwart im Raum, denn ich befinde mich nicht im Raum, sondern in der Zeit. In der Zeit, zutreffend gesagt: in meiner Zeit als Relation zu den vorgegebenen Vergangenheiten und Zukünften, war sie nur ein subjektiver Bewusstseinsschnitt, entstanden ausschließlich durch Beobachtung in der Planck-Zeit. Eine Gegenwart als unterscheidbare Entität gibt es also nicht.

So folgten im Raumgewebe die Gegenwarten von Planck-Zeiten in unablässig fortschreitender Reihe. Dabei sah ich stets nur diejenige Linie der Möglichkeiten, die aus der Kausalität meiner Beobachtung der Handelnden, der damaligen Subjekte, am ersten Eintauchort entstanden.

Als ich Deni noch sah, und in die Zukunft schaute, sah ich nichts Genaues, auch nicht an der Gabelung der Milchstraße. Je ferner die Linie der Möglichkeiten, je verschwommener die Bilder. Doch jedes mögliche Bild der Zukunft war bereits real geschehen, im Zeitraum dortiger Subjekte, doch nur, weil alle Kausalitäten bis zu ihrem Erscheinen am künftigen Ort in ihrer damals möglichen Wellenfunktion nicht unterbrochen wurden. Um die verschwommene etwaige Zukunft also am Ort ihrer Planck-Zeitabschnitte klar beobachten zu können, bedarf es einer kontinuierlichen Linie der Entscheidungen von bewussten Subjekten bis hin zu dem gewünschten Eintauchort.

Wenn bewusste Subjekte die von ihnen errichtete Zivilisation zerstören, oder ihre evolutionäre Linie zu einem morschen Zweig führt, ohne Blüte, ohne Frucht, abgestorben, dann bricht manch eine Zukunft in einem solchen Universum schlicht ab, und mit ihr verschwindet zugleich vollständig ihre eigene Vergangenheit. Ihre Resonanzen, die sich einst aufbauten und verdichteten, verebben im Äther, ihre Quantenfrequenzen versiegen, Wellen rollen immer langsamer, werden immer länger, bis sie in seichtes Wasser übergehen und versanden, ungeschaut, unerlebt, als hätten sie nie existiert.

Doch der Vater führt auf ewig sein unzugängliches Archiv aller gewesenen und künftigen Verschränkungen im Ayatakasa.

So musste ich näher an das Nest des Schwans, von dem ich so oft träumte. Mein Bild war nicht nur verschwommen, sondern auch mehrdeutig. Der Schwan ist der Hüter der Ewigkeit, der Vogel der Schöpfung. Er hat seit Äonen sein Nest an jener Gabelung gebaut, die alle bewussten und empfindsamen Wesen des dritten Planeten sehen mussten, wenn sie zu «ihrem« Himmel hinaufschauten. Das fühlte ich schon bei den Ojibwa, als ich endlich deren Volk besuchte.

Bevor der junge Körper von Deni starb, spürte ihre Seele noch einen tiefen, stechenden Schmerz.

Sie kam hoch vom Tal, trug wie immer den Flechtenkorb auf ihrem Kopf. Der Korb war nur zum Tragen gedacht, flach und breit, in ihm schwappte frisches Wasser in der Ziegenblase. Sie war hochgewachsen, viel größer als ihre Mutter, und schlank. Im Sommer liebte sie es, eine dünne gegerbte Lederhaut aus einem Dutzend Schlangen zu tragen, die sie, schon als sie acht oder neun war, in den weitläufigen Niederungen am Fluss fing, tötete – indem sie ihnen schlicht den Kopf abschlug, nachdem sie die Schlangen mit einem Gabelzweig vom Boden aufhob und ein wenig in der Luft zappeln ließ. Und bedächtig und sorgfältig häutete, einige Tage in der prallen Sonne aufhing, dann grob zusammennähte und um ihre Lenden zurrte. Denis Haut war hell, überraschend hell, und, was die Gruppe anfangs erschrak: ihre Augen leuchteten in einem seltenen Blau. Für die Gruppe war dies ein besonderes Zeichen, einige aber waren auf eine nie gekannte Art eifersüchtig, besonders der alte Schamane. Anfangs, als Deni vor nunmehr dreizehn Jahren geboren wurde, hatte er die Gefahr nicht erkannt, die Deni für ihn bedeutete. Als sie größer wurde, war es offensichtlich: sie war anders als alle anderen, nicht nur kräftiger, größer, sondern auch schlauer.

Ein dünner, langer Speer aus biegsamem Eibenholz. Eine nach oben zulaufende Spitze, fast zwölf Zentimeter lang, so wie sie schon von früheren Menschenarten vor 500.000 Jahren benutzt wurden, wie damals in Kathu Pan 1, Südafrika. Die Spitze drang schnell und tief in ihren Rücken ein, streifte die linke Herzkammer, zerstörte in einem winzigen Augenblick die pulsierende Aorta.

Sie war für einen kurzen Moment verwirrt, dann überrascht. »Sterbe ich jetzt?«

Sie sah sich. Ihr Körper lag auf dem Pfad, das Blut floss erst stockend aus ihrem wunderschönen Rücken und schoss dann in hohen Bögen hinaus, in einem Rhythmus voller Leidenschaft, der Puls des Lebens, der Wille des Körpers zum Weiterleben, jäh abgebrochen, doch wild, anmutig, erschreckend schön, dunkelrot, die Lebenden verstummen voll Ehrfurcht, die Sterbende verleiht die Grazie ihres Wesens zum letzten Mal an die Welt. Der Mörder ist bestürzt. Fassungslos. Blickt er zu seiner Hand. War er nicht entschlossen? Fast einen Herzschlag zuvor wollte er seinen Wurf anhalten, aufhalten, der Speer jedoch flog ohne Wimperschlag ganz mächtig aus seinem Arm, zog einen einzig geradlinigen Weg aus allmächtiger Vollkommenheit durch die im Angesicht solch überwältigender Anmut sofort zurückweichenden Moleküle aus Luft und Staubkörnern, hinüber zur blonden Gefahr.

Sie sah sich! Keine Schmerzen, kein Leid, als wenn sie über ihr selbst schweben würde. Versuchte zu atmen, tief einzuatmen. Es gelang ihr nicht, kein Gefühl für das Atmen. Auch kein Ersticken, keine Panik. Wo war ihre Lunge? Erst jetzt bemerkte sie, dass sie tatsächlich schwebte, einige Meter in der Höhe, und sie sah sich! »Wie kann dies sein?« Sie versuchte, um sich zu greifen, doch da war nichts.

Sie wurde ruhiger. Sie sah sich tatsächlich von oben. Da unten, da lag sie am Boden, das Blut verebbte allmählich, das Herz hatte wohl aufgehört zu schlagen.

Sie sah ihr langes blondes Haar.

Die Schlangenhäute waren voller Blut.

Sie hatte die Häute geliebt.

Sie liebte die grünschillernden Schuppen, die sich bei langen Wanderungen eng um ihren Körper gelegt hatten, sie kühlten, beschützten. Als sie mit ihnen noch durch die Wälder und Täler zog, eng an ihrer eigenen Haut verflochten. Sie liebte die Schlangen.

Nur aus diesem Grunde gewährte sie ihnen die Ehre, von ihr getötet zu werden.

Wie oft dachte sie, was ist dies für eine schöne Welt.

»Ich atme. Ich trinke. Ich jage. Ich esse. Ich laufe und renne. Ich friere und schwitze. Ich erhebe meine Arme im prasselnden Regen. Ich lasse mich trösten im Wasserfall. Hinter dem Wasserfall die Höhle, in der meine Geheimnisse verborgen sind, lauern, mein Geheimstes, mein Kostbarstes. Oft dachte ich, wie schade, dass das Kostbarste nur in Verstecken bewahrt ist. Warum kann ich es nicht offen zeigen. Ich tauche und fange den Lachs mit bloßer Hand. Ich fühle, es ist sein Schicksal, den weiten Weg aus den Strudeln des Saragossa Sees im großen Ozean, wo einst der große Kontinent seine Mitte war, bis hin zu mir zu eilen. Dann auch locke ich den Wolf und vertraue ihm. Er prüft mit seinem untrüglichen Blick, ich erhebe meinen Rücken, fessele ihn mit meinen Augen. So ist er mein Freund und Beschützer, mein Gehilfe in der Jagd. Ich achte den Feuerstein, er liegt da für mich, bereit, dass ich ihn schärfe und glätte. Ich liebe den Span aus alten Bäumen, wie er mir hilft, das Feuer zu zünden. Hat er nicht viele Sommer und Winter gelebt, um jetzt, in seinem Alter, mir zu dienen, das Feuer zu entfachen. Bei den Würmern und Larven bitte ich um Vergebung. Ich brauche sie. Das scheue Reh verschone ich. Es soll leben, wie ich. Der Hasen sind viele, ich kann sie nicht fangen. Ich umarme den Baumstamm. Ich achte sein hohes Alter. Ich sitze an seinem Fuß. Seine Blätter fallen auf mich, wenn der Sommer gegangen. Ich beobachte seine Blätter. Sie wiegen sanft hinab, als wenn sie ihren Platz suchen. Manchmal zögern sie, driften ein wenig weiter, erst dann lassen sie sich nieder. Doch ist es nicht der Baum, der sie schickt? Dort bleiben sie dann liegen, an ihrem Platz, bis der kalte warme Schnee kommt, und sie lösen sich auf, gehen über in den tiefen Boden. Oft erst wenn die Sonne wieder wärmer wird, nach dem langen Winter, sind diese Blätter ganz übergegangen, und ich frage mich, ob sie nicht schon längst die Wurzeln des Baumes erreichten, der sie geschickt hat. Ich fühle, wie die Wurzeln die winzigen Teile aus allen Blättern des Herbstes aufsaugen, essen, und wieder zurück in den Baum tragen. Oder sind es die Würmer und Larven, die die Blätter gegessen haben, und an den Wurzeln bleiben, bis sie vielleicht gestorben sind. Damit die Wurzeln essen können. Ich sehe die Sonne. Ich sehe den Mond. Ich sehe die Lagerfeuer am Himmel der Nacht. Dort, wo die anderen Völker abends ruhen und ihre Feuer zünden, auf das ihnen nicht kalt wird. Wie oft habe ich ihnen schon zugerufen, sie antworten nicht. Aber ihre Feuer brennen und brennen. Ich liebe sie. Sie werden wie wir sein. Sie sitzen sicher an der Höhle, wie wir, um die Feuer, sie lieben sich, sie sind eine große Familie. So wie wir, wandern sie auch umher, ihre Feuer brennen stets an anderen Stellen, doch sie kehren immer wieder an alte Plätze zurück. Ich schaue zu ihnen hinauf, jede Nacht, und ich liebe sie. Ich schlafe. Ich träume.«

Allmählich schwebte sie weiter in die Höhe, sah unter sich ihren leblosen Körper, wie er kleiner wurde, erkannte das weite Tal, den langen Pfad, die Berge, als wäre sie ein Vogel. Sie versuchte, sich zu drehen, auch das war leicht. War sie nun ein Vogel? Immer weiter flog sie hoch. Um sie herum verschwamm die Welt, wie im frostigen Nebel im Winter, dunkle Wolken zogen auf, in der Ferne das Glimmern eines Lichtes. «Ich mag dieses Licht!« dachte sie. Sie begann zu schwimmen, doch es fehlten ihre Arme, ihre Beine. Sie fühlte eine andere Kraft. Und öffnete ihr Herz. Näher und näher zum Licht. Nun eine gleißend helle Sonne am Ende eines lang gezogenen Ganges. Eine wärmende tröstende allverzeihende vorwurfslose Einladung, irgendwie übermenschlich und allzu menschlich zur gleichen Zeit, voller Verständnis, als hätte sie bereits Begnadigung erhalten, auch wenn ihr keine Schuld bewusst war. Näher und näher ließ sie sich fallen, schweben, hin zum überwältigenden Licht. Sie tauchte ein, war blind und sah, war taub und hörte, war stumm und sprach »wo bin ich«, als sie nur noch fühlte, wie sie auf eine merkwürdige Weise ganz langgezogen wurde, wie aufgesaugt, länger und länger, um dann am Ende hinaus zu gleiten, nicht aus eigener Kraft, nein, sie wurde gezogen, mit einer ungeheuren liebevollen Kraft herausgeholt, nein, hineingeholt.

Verschränkung auf Quantenebene ist also stets exklusiv und nicht mehr auflösbar.



Oszillation

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