Читать книгу Oszillation - Christopher Sprung - Страница 6
Trappist
ОглавлениеEine plötzliche Quanteneruption verursachte eine ungewöhnlich starke Massenoszillation im Sternbild Wassermann. Das war ungewöhnlich. Ich konzentrierte mich. Ich sammelte meine umherdriftenden Verschränkungssucher ein – es gibt im Quantenuniversum auf meine Entität bezogene Verschränkungen auf Spinebene, die versuchen verborgen zu bleiben, ein seltenes Phänomen, was ich über die Verschränkungssucher aufspüre und bei anderer Gelegenheit untersuche.
Ich befand mich noch immer auf der Frequenzwelle der Erde, konnte aber sofort das Sternsystem identifizieren, in dem der Ausbruch registriert wurde. Später würden einige Zweibeiner es als System »Trappist-1« bezeichnen, ein massearmer ultrakühler Sternzwerg, rund 40 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Der Stern wird von sieben erdähnlichen Planeten umkreist, das System wurde ungefähr 9,6 Milliarden Jahre vor der aktuellen irdischen Zeitrechnung gemeinsam mit mehreren Millionen Sternsystemen im Bereich der Galaxie aus gewaltigen Impulsen von verärgerten Oszillationen emaniert. Die Verärgerung konnte ich aus der Farbtönung erkennen, die immer noch im Hintergrund von einigen Hunderttausenden Sternen aus der Milliarden Jahre alten, ursprünglichen Oszillation vor sich hin glimmerte. Ich konnte jedoch nicht erkennen, aus welchen Gründen es zu einem derart emotionalen Ausbruch gekommen war.
Aus Sicht der Zweibeiner dürften die sieben Planeten von Trappist-1 interessant sein. Sie hatten eine kurze Epoche, in der sie rudimentäre Raumfahrt betrieben, astronomisch allerdings durchaus beachtliche Forschungen durchführten. In ihrem Referenzrahmen setzten sie naturgemäß die Größen- und Abstandsordnungen ihres eigenen Planeten, die Erde, für Vergleichszwecke auf 1,0. Eine Zahl, die in der Realität des Universums vollkommen zweckfrei und sinnlos ist. Die begrenzte Imaginationskraft der Zweibeiner benötigt offensichtlich für Objekte und Beschreibungen oder Vorstellungen eine Art gedanklichen Klebezettel, individuelle Label, die sie Buchstaben, Wörter, Zahlen nennen, um ein wenn auch nur vages Verständnis ihrer Umwelt entwickeln zu können. Die Schwächen solch aufgesetzter Begrifflichkeiten auf die Energie aller Oszillationen, auf die verdichtete Frequenz aller Materie, ja hauptsächlich auch auf die verschiedenen Zustände von Bewusstsein und Erkenntnis sind ihnen noch nicht bewusst. Sie würden sogar, könnten sie diese Zeilen lesen, verständnislos und begriffsstutzig fragen, wie man denn sonst die »Natur«, wie sie es nennen, begreifen und Wissenschaft betreiben könne.
So fanden sie zumindest heraus, dass sich die Radien aller sieben Planeten um die irdische Referenzgröße 1,0 bewegten. Die beiden kleinsten Planeten, Trappist-1 h und Trappist-1 d, haben im Verhältnis zur Erde einen Radius von 0,77 und 0,78. Jedoch erreichen Masse und Dichte bei weitem nicht die der Erde, sodass das Phänomen, welches sie irrend und ignorant Gravitation nennen, jeweils nur als 0,55 und 0,48 gemessen wird. Ach, wüssten sie doch, was Anziehungskraft in Wahrheit darstellt.
Alle sieben Planeten sollen sich in einer Zone der Umkreisung des Sterns befinden, in denen Lebensformen in der einen oder anderen Entwicklung möglich sind. Trappist-1 e zum Beispiel hat einen Radius von 0,91, eine Masse von 0,77, eine Dichte von 1,02 und eine »Gravitation« von 1,02.
Etwas war ungewöhnlich. Von Trappist-1 f ging eine massive Energie aus. Was für ein Planet: Radius 1,05. Masse 0,93. Dichte 0,82. »Gravitation« 0,85. Zweibeiner würden also vermuten: »erdähnlich«.
Weit gefehlt. Seine Rotation ist gebunden, die eine Seite ist auf ewig dem Stern zugewandt, die andere Seite dunkel, kalt, eisig. Niemals erfreuen Jahreszeiten einen möglichen Bewohner.
Doch Jahreszeiten hätten auf diesem Wasserplanet keine maßgebliche Bedeutung, sie waren unmöglich. Der Planet ist vollständig von einem einzigen Ozean bedeckt, mit einer tiefsten Stelle in einem gewaltigen Canyon von ca. 18 km und einer höchsten Stelle an der Spitze einer riesigen, glatten Granitplatte, die wie eine breite Wand vom Ozeanboden hinaufragt, von ca. 1 km.
Ich wunderte mich. Um welche Form von Energie handelt es sich? Ich sah aus der Ferne lang gebogene, hell leuchtende Streifen, die von einem einzigen Punkt auf seiner Oberfläche ausgingen. Es waren einige Dutzend, vielleicht hundert einzelne, dünne, eng aneinander liegende Streifen. Sie glühten, in einem hellen aber sehr warmen Gelb, eher wie Gold, aber mir schien, als wären sie intransitiv, fluoreszierend. Die Streifen schossen nach oben durch die gesamte Atmosphäre des Planeten, eng aneinandergeschmiegt, drehten sich plötzlich gemeinsam um ihre eigene Achse, während sie immer weiter nach oben und dann durch die gesamte Atmosphäre stießen. Als sie die Atmosphäre verließen, explodierte eine gewaltige, majestätische Fontäne. Der lange Schweif, eins geworden, verglühte allmählich. Doch die Fontäne vergrößerte sich, ihre Farbe wechselte langsam zu einem immer tieferen Gold, wie tausend Funken in einem gleißenden Feuerwerk. Ich spekulierte, dass es sich um feinste Partikel handeln musste, die nun vor dem Hintergrund der Schwarzkörperstrahlung unter Einfluss von Eisen, Kohlenstoff oder Titan diese wundervolle Farbgebung entwickelten, als sie das Vakuum des Weltalls erreichten und nur noch von den Strahlen des Sterns getroffen worden.
Ein solch beeindruckendes Schauspiel hatte ich zuvor nie gesehen, noch nie davon gehört. Ich schwang mich auf eine der ewig und regelmäßig pulsierenden Oszillationen, die sich in ruhigen Resonanzen durch das All bewegen, und erreichte in wenigen Augenblicken einen der fünf Lagrange-Punkte von Trappist-1 f. Lagrange-Punkte stellen in jedem System zweier Himmelskörper einen Ort des kräftefreien Gleichgewichts für ein massearmes Objekt zur Verfügung, welches bei Ankunft dann zum Dritten in diesem Bezugsrahmen wird. Ich kann dort also auch als Partikel frei ruhen. Interessanterweise sind solche Orte des ruhenden Gleichgewichts auch beliebte Sammelplätze für die Wanderer, die es speziell in diesem Universum in größerer Zahl gibt, dazu aber etwas später.
*
»Wir sind nun frei. Lass uns eine Wolke bilden. Bleiben wir zusammen.«
Ohne zu widersprechen, bildeten alle glitzernden Funken, die sich eben noch an der Oberfläche von Trappist-1 f befanden, eine Versammlung, die aus der Ferne tatsächlich wie ein Kondensat des Wassers aussah. In Wahrheit war es wohl ein Schwarm.
»Ich bin dankbar. Ich hatte im großen Ozean ein schönes Leben.«
»Es ist also wahr! Es gibt ein Leben nach dem Tod!«
Wie im Chor stimmten alle ein.
»Seht nur, da oben, ein Licht!«
Der Schwarm rückte zusammen und bewegte sich zum Licht.
Als ziemlich massefreier Partikel, eigentlich beinahe am Nullpunkt, doch so weit verdichtet, dass die reine Energie zu einem winzigen Teilchen kristallisierte, konnte ich am Lagrange-Punkt bleiben, ohne mir Gedanken machen zu müssen. Es war auch angenehm, dass sich kein einziger Wanderer dort aufhielt, ich hasse lästige Konservationen.
Der Schwarm kam auf mich zu.
Ich beschloss, nichts zu tun. Ich bin nicht sichtbar. Es muss sich um einen Zufall handeln.
Die Wolke umschloss mich vollständig.
Ich wartete. Die einzig plausible Erklärung war, dass die Funken, die sich zu einem offensichtlich absichtlich handelnden Schwarm zusammengeschlossen hatten, ebenfalls lediglich den Lagrange-Punkt aufsuchten, zu welchem Zweck auch immer. Für mich gab es keinen logischen Grund zur Besorgnis.
Doch als ich diesen Gedanken für mich formulierte, sah ich genauer auf einen einzelnen Funken, der mir am nächsten war. Ich sah eine winzige, warm strahlende goldene Kugel, nein, eher ein wolkiges goldenes Licht, das sich unablässig in sich selbst bewegte, und zwei blaue Augen in der oberen Hälfte, die mich anschauten, in äußerster Konzentration.
Konnte dies sein?
»Ich grüße dich.« Ich habe keine Ahnung, warum ich dies sagte. «Ich grüße dich!« sagte ich nicht.
Das Wesen vergrößerte ein wenig seine Augen, die zugleich tiefblauer wurden, ein wundervolles, Vertrauen erweckendes Türkisblau.
»Was bist du?«
Ich hörte keinerlei Sprache in herkömmlicher Form. Ich spürte keine Schallwelle. Ich empfand auch keinerlei andere Frequenz, keinerlei Welle irgendeiner Variante.
Aber ich verstand.
Könnte es sein, dass dieses Wesen die Kunst der Telepathie entwickelt hatte?
Die Wahrnehmung von Inhalten, Bedeutung, Kommunikation, Gefühl ohne Verwendung physischer Sensoren, ohne Sinnesvermittlung, ist stets ein äußerst seltenes Ergebnis einer natürlichen planetaren Lebensentwicklung, unabhängig von den allgemeinen Parametern, die irgendein beliebiges Universum von Beginn an einschränken, definieren, umgrenzen.
Lasst mich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass jedes Universum, welches der Vater gedenkt zu emanieren, lediglich innerhalb jener Parameter mit Entsetzen, Erschrecken, Unglauben aufgeweckt wird und explodiert, mit denen es der Vater in seiner Gnade ausstattet. Ich erwähnte bereits, dass mich meinerseits Universen langweilen, wirklich und ehrlich enorm langweilen, in denen Zeit und Raum den vorherrschenden Rahmen bilden. Solche Universen sind voll gähnend langweiliger Schicksale, die sich in unendlich zermürbender Folge gegenseitig in genau jenen Räumen und in genau jenen Zeiten belästigen. Ich kenne kein einziges Universum aus Zeit und Raum, in denen der dort jeweils denknotwendigerweise galvanisierte angebliche »freie Wille« von dort gelegentlich aufkeimenden bewussten, empfindsamen, höheren Organismen, auch noch gnädigerweise mit höher entwickelten Gehirnen ausgestattet, in irgendeiner Weise zu einer hoch entwickelten, friedlichen und dauerhaft nachhaltigen Zivilisation entwickelt hätte, in der die Individuen persönlich zufrieden, glücklich, ohne Beschwerden und in der Gemeinschaft harmonisch, ohne Auseinandersetzung, ohne individuelle oder gemeinschaftliche Kriege, leben würden. Als Vater noch mit mir sprach, sagte ich ihm mehrfach, allerdings in diplomatisch höflicher Andeutung, dass die Imprägnierung freien Willens in die Hirne irgendeines empfindsamen Wesens sinnlos sei. Es führt wirklich zu nichts. Meinen Diskurs mit Vater hierzu habe ich mittlerweile aufgegeben. Er ist und bleibt ein hoffnungsloser Optimist. Er versucht es immer wieder, nicht nur in dieser Galaxis, er hat es schon in hunderten von Galaxien versucht.
Ich fühle mich an dieser Stelle gezwungen, nicht zu schweigen. Schließlich hat er mich gebeten, explizit beauftragt, ausdrücklich ermutigt, unter Zeugen, einen unvoreingenommenen offenen Bericht anzufertigen. Ich muss daher hier und jetzt etwas sagen, jetzt, wo die offenbar telepathischen Wesen von Trappist-1 f mich umschließen und versuchen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Die Versuche Vaters, in organisch lebende Materie, in sich bewegende, handelnde Körper von Organismen, die sich auf Planeten bewegen, dort leben, Nahrung suchen, um Plätze und Vorherrschaft kämpfen, freien Willen einzugeben, die Option eines denkenden Bewusstseins mit der Option freier Entscheidungen in deren Gehirne einzupflanzen, sind doch von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Mir fehlt für sein seit Äonen, seit Milliarden von Jahren unverändertes, unablässiges Bemühen mittlerweile jedes Verständnis. Anfangs war ich noch in gewisser Weise offen. Warum denn nicht, dachte ich. Das wäre doch einmal ein Ausbruch aus der ewigen Langeweile unendlicher Schöpfungen von wenn auch gewaltigen, eindrucksvollen Universen aus vielen Dimensionen, stets mehr als die dummen Drei, die – gefaltet oder nicht – seiner Verherrlichung dienen.
Doch es hat sich immer wieder, ohne Ausnahme, gezeigt, dass jedes Wesen, welches sich auf einem Planeten in lebensfähiger Umkreisung um seinen Zentralstern entwickelt hat, oft erst nach Jahrmillionen qualvoller Entwicklung, dass wirklich jedes Wesen, ausnahmslos, mit dem Geschenk des »freien Willens« in seinem Gehirn überfordert ist.
Es gibt sicherlich gewaltige Unterschiede zwischen den Hunderten von Varianten freien Willens in den verschiedenen Sternsystemen, die sich innerhalb dieser Galaxie mit solchen Wesen entwickelt haben, geschweige denn im gesamten Universum, über das ich zu berichten habe. Ich kann jedoch bereits jetzt kursorisch und summarisch zusammenfassen, dass sich die Wesen in ihrem Körperbau, ihrer Entwicklung, ihren Vorstellungen, ihrer Kultur, ihrer Zivilisation, ihrer Umwelt sicher gravierend unterscheiden mögen. Eins aber haben sie gemeinsam, und das ist die strukturelle Eigenschaft der Galvanisierung eines freien Willens in ihren neuronalen Funktionen.
Wir meinen Gnade, wenn die Galvanisierung erscheint. Die reine Vergebung, ein Licht aus kristalliner Klarheit und Wärme, wenn «freier Wille« über den Weg der pinealozytischen Transmission in dem Gehirn eines Organismus galvanisiert wird. Auf dem Planeten der Zweibeiner, nur als Beispiel, habe ich notiert, dass wohl alle höheren »Tiere« eine Zirbeldrüse haben. Die dortigen »Vögel« besitzen beispielsweise bis zu zehn Prozent ihres Gehirns in Form der Zirbeldrüse. Bei vielen der irdischen Tiere ist die Zirbeldrüse lichtempfindlich, wie ein drittes Auge, wie bei Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln. Der Zweibeiner in seiner Mehrheit ignoriert seine Zirbeldrüse, nur einige Religiöse »glauben« an deren inhärente Kräfte. Wie dem auch sei: »freier Wille« wird generell über pinealozytische Transmissionen galvanisiert, das ist der Weg in diesem Universum.
Aber dass ich hier, an diesem entlegenen Ort, oberhalb eines wirklich kleinen Planeten eines relativ unbedeutenden Systems, auf Lichtwesen treffe, die auf mich zugegangen sind, die mich ganz offensichtlich gezielt erreicht haben und mich ohne Einwirkung irgendwelcher materieller Resonanzen, ohne physische Sinne, ansprechen können – das erfordert tatsächlich meine Aufmerksamkeit. Würde es sich um echte Telepathie und nicht um Zufall oder Einbildung handeln, wäre es einer eingehenderen Betrachtung wert.
»Was bist du?« wiederholte sie oder er.
Noch nie hatte ich eine solche Frage gehört. Wenn ich auf meinen Reisen überhaupt die Kontaktaufnahme bewusst denkender Wesen akzeptiere, höre ich stets »Wer bist du?« oder seltener »Wie heißt du?«. Doch die Frage »Was bist du?« hat enorme Tiefe. Sie impliziert bereits das Verstehen des Wesens, das ich in seinem Universum, seiner spezifischen Umgebung, fundamental anders bin. Das ist sehr interessant. Ich muss mehr über diese Wesen erfahren.
»Wie heißt du?« Ich begann mit einer Gegenfrage. Mir gefiel es, zu kommunizieren, zumal ohne Sprache, ohne Worte, nur mit meinen Gedanken, und wir benötigten keine Bestätigung, um zu wissen, dass es hier und jetzt, am richtigen Ort zur richtigen Zeit, Verstehen gab. Unzählig die Äonen, in denen ich bereits schweige. Wer auch sollte geeignet sein, mit mir zu sprechen. Vater ist nicht anwesend, Schwester verliert sich in ihrem Universum (welches ich jetzt besuche). Ich bin glücklich in meinem Ruheraum in der Bran, zwischen den Universen, es ist kein Ort und keine Zeit. Dort bin ich zuhause. Universen entstehen und vergehen. Nie bin ich einsam, immer grenzt ein Universum unmittelbar am Saum meiner Bran. Hat ein Universum Zeit und Raum, vergehen in ihm zehn, zwanzig, fünfzig Milliarden Jahre, entstehen Milliarden von Galaxien mit Trillionen von Sternen und Planeten. Für mich aber gibt es in der Bran weder Zeit noch Raum. Ich sehe in der Ferne das vorüberziehende Wetterleuchten, weit abgelegene Galaxien, in denen Milliarden von Seelen ihren Schicksalsweg gehen, ich sehe das Glühen aller Energie, wie sie strömt, pulsiert, sich in der Nähe von Planeten verdichtet, und in unendlicher Abfolge dort in Wellen und Frequenzen brennt, um Leben zu erschaffen. Ich sehe auch, wie die Energie das tiefe Schwarz des Nichts erfüllt. Wer versteht schon diese Schwärze. Das Nichts, die Dunkelheit, hat keine eigene Quelle. Nirgendwo eine dunkle Sonne, die etwa schwarzes Licht ausstrahlt. Das Dunkel ist schlicht die Abwesenheit von Energie. Doch es birgt auch ein Geheimnis.
Ich gebe also zu, es gefiel mir sehr, mich in Gedanken mit anderen Wesen zu verbinden, zu sprechen ohne zu reden, zu verstehen ohne Sprache. Und ohne Verwendung des in mir integrierten Algorithmus zur Übersetzung aller potenziell denkbaren, kosmischen Kommunikationsinhalte. Ich hatte es vermisst.
»Ich bin Lakshmi.«
Sie leuchtete in ihrer Antwort auf meine Frage, der gesamte Schwarm glühte.
»Sorgt euch nicht«, dachte ich zu ihnen hinüber und hinauf, »ich bin nichts. Ich beobachte hier.«
Sie drifteten ganz nah zu mir.
Sie umschlungen mich.
Keine Stimme, aber doch sehr sanft, sehr weich, und zugleich mit einem tiefen, harmonischen Basston, so hörte ich sie weiter zu mir denken.
»Wir sind gezwungen, unseren Planeten zu verlassen.«
»Was bedeutet Wir?«
»Wir sind die Nahiru.«
»Wie viele seid ihr?«
»Wir sind nur die erste Kohorte zur Erkundung einer neuen Heimat. Vielleicht gibt es auf unserem Planeten insgesamt zwei Milliarden von uns, wir wissen es nicht genau, aber wir sind mindestens zwei Milliarden.«
»Willst du mir den Grund nennen, warum ihr Trappist verlassen müsst?«
Ich spürte ein Zögern. Der Schwarm bewegte sich ganz kurz in einer sanften Farbwelle. Ich dachte, die gesamte Schar stimmt zu, dass sie den Dialog mit mir fortsetzt.
»Du hast recht in deiner Vermutung, alle sind einverstanden.« Sie reagierte, ohne dass ich gefragt hätte.
Erneut eine Pause. Fast spürte ich ein kleines Seufzen, als sie fortfuhr:
»Wir haben uns auf Trappist seit Millionen von Jahren entwickelt, leben mit unserem Geist in den ausgesuchten Körpern, wir wandeln auf Trappist mit Hilfe dieser Körper, wunderschöne Organismen, die im Elixier schwimmen, die wir lieben und schätzen, die altern und vergehen, wir aber fliegen, wenn die Moleküle und Atome der gealterten Körper ihre Kooperation beenden und sich ins Elixier zurück begeben, nun jedes Molekül und Atom für sich allein, die Moleküle lösen sich dann auch in ihre Atome auf, ja und alle stieben nach allen Seiten hinaus in das weite Elixier, um sich neu in anderen Formen zu vereinen, dann schweben wir hinauf mit unseren Seelen zu diesem einen Punkt, auf dem nun du uns begrüßt, und kehren nach einer Weile wieder zurück in neu geborene Körper. Doch jetzt ist es langsam zu Ende.«
Ihre Erzählung war mir nicht unbekannt. Zumal auch plausibel. Ich muss sie später noch intensiver zu dieser Variante der Entitätenwanderung befragen. Es schien, als sei das Universum meiner Schwester tatsächlich ein Raum für Bewusstseinsentitäten. Doch alles zu seiner Zeit, zunächst interessierte mich noch eins.
»Erlaubst du mir, dass ich weitere Fragen an dich richte?«
Eine Welle der Zustimmung walkte durch sie selbst und den gesamten Pulk, fest und eindeutig, als handelte es sich um einen Teig.
»Wo haben eure Körper gelebt? Ich sehe einen einzigen großen Ozean auf dem Planeten.«
»Natürlich in dem Ozean, wie du das Elixier nennst.«
»Woraus besteht euer Elixier?«
«Aus Sauerstoff und Wasserstoff.«
Da wurde mir klar, das Wasser des Weltmeeres hatte spirituelle Bedeutung. Es vermittelt ihnen eine Vorstellung von Heiligkeit, die Essenz ihres Lebens. Doch ich muss vorsichtig bleiben, viele Kulturen sind äußerst sensibel, vielfach abwehrend, wenn es um ihre spirituellen Vorstellungen geht. Selten kann es sich sogar um uralte, verkrustete Gesetze handeln, die – mit extremen Ideen von Gottheiten und absoluten Wahrheiten verbrämt – es gilt nicht anzusprechen, niemals in Frage zu stellen.
»In welchen Körpern habt ihr gelebt?«
»Jede von uns hat nur einen Körper, der seit etlichen Millionen Jahren im Prinzip unverändert geblieben ist, sich zuvor jedoch allmählich innerhalb von Hunderten von Millionen Jahren bis zur heutigen Morphologie entwickelte. Wir sind dem Elixier auf wundersame Weise perfekt angepasst. Wir schwimmen im Elixier. Wir sind im Durchschnitt dreieinhalb Arme lang und einen Arm breit.«
»Kannst du mir eure Definition von 1 Arm nennen?«
Der Schwarm zuckte ganz kurz.
»Das weißt du nicht?«
»Sei geduldig, ich nenne dir später den Grund.«
»Das ist doch einfach. 1 Arm ist der Distanz, die das Licht im Vakuum des galaktischen Raums innerhalb des Zeitintervalls von 1/299792458 der Trappist-Resonanz durchläuft, definiert als das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustands von Atomen des Nukleoids im Caesium-Atom entspricht.«
Ich muss einräumen, ich war für einen kurzen Augenblick beinahe irritiert. Mir wurde sofort klar, sie hatte in diesem Moment die exakte Definition von »Meter« und »Sekunde« genannt, die die Zweibeiner auf ihrem Planeten »Erde«, vierzig Lichtjahre von Trappist entfernt und viele Äonen »später«, in ihrem Zeitzustand »heute« verwenden würden. Nicht überraschend in verdichteten Energiezuständen kristallisierter, materialisierter Quantenoszillation, in denen eine lokale Gegenwart sich nur subjektiv klar manifestiert – sofern ein sich selbst bewusstes Gehirn durch lokale Beobachtung eine Subjektivität herstellt - und vergangene wie künftige Zustände je stärker diffus erscheinen, je weiter sie von dem soeben aktualisierten Gegenwartszustand entfernt sein mögen – »entfernt« lediglich aus Sicht des lokalen Beobachters, aus Sicht der Quelle aller Quantenoszillation bestehen alle Zustände, in ihren Möglichkeiten, Verwirklichungen und Ablehnungen, simultan.
Sie mussten eine bereits höher technisierte Zivilisation im großen trappistischen Ozean entwickelt haben, mit weitreichenden Kenntnissen über Raum, Zeit und Atome, in ihrem »Elixier«.
Weit verschwommen in einer anderen Zukunft, nur vierzig Lichtjahre entfernt, sah ich die Zweibeiner, wie sie ihre Längeneinheit anfangs ebenfalls, wie die Trappisten »zuvor«, mit ihren Armen maßen, Hand, Elle, später auch der Fuß – bis dann in einem Land namens Frankreich die ersten Wissenschaftler auf die Idee kamen, ihren eigenen Planeten nochmals genauer zu messen (sie hatten keine Ahnung, dass dreitausend Jahre vor ihnen in einem anderen Land, genannt »Ägypten«, die dortigen Zweibeiner den Planeten noch weitaus exakter vermessen hatten und mit diesem Wissen geheimnisvolle Pyramiden erbauten). Mit dieser Methode erhielten die Franzosen die Information einer Länge, als Messung der Entfernung auf einer Linie zwischen dem Nordpol, ihrer Hauptstadt (Paris) und dem Äquator. Hieraus nahmen sie dann den 10millionsten Teil – dies war die neue Längeneinheit, »1 Meter«.
Als die Zweibeiner rund zweihundert Jahre später in die Nanosphäre vordrangen, entdeckten sie – nachdem sie zuerst von immer kleineren, aber immer noch festen Materiepartikeln ausgingen – die Schwingungen und Resonanzen innerhalb von Atomwellen. Sie erkannten, dass »Atome« weitgehend aus Nichts bestehen, im Prinzip aus Zuständen von unendlichen Wahrscheinlichkeiten, und in diesen Raumzeitorten lediglich energetische Oszillationen aus einem ihnen noch immer unbekannten Hintergrund sich ununterbrochen verdichten und für einen lokalen Beobachter dessen Realität herstellen. Sie definierten etwas später eine Zeiteinheit (Sekunde) und eine Raumeinheit (Meter) auf genau der gleichen Grundlage, wie ich sie nun von den Trappisten hörte.
Wie kann eine solche Zukunft in der gleichen Galaxie entstehen, in der morphologisch diverse Wesen identische Vorstellungen von Raum und Zeit entwickeln?
Das Universum meiner Schwester wurde interessant.
»Ich bin noch neugieriger geworden«, dachte ich nicht.
»Gerne, ich will dir auch meinerseits mehr erzählen«, sagte sie nicht, und fuhr fort…. »Nach zwei Millionen Jahren unserer Kultur …«
»Warte.«
»Ja?«
»Kannst du mir euren Körper beschreiben, in eurem Elixier?«
»Warum bevorzugst du Worte? Ich schicke dir ein Abbild.«
Augenblicklich erschien in mir eine bildliche Vorstellung, ohne Gedanken, ohne Sprache. Ich sah in mir ein Spiegelbild, eine Projektion ihrer Körper, als wären sie mir schon immer vertraut.
Ich wusste, auf dem Planeten der Zweibeiner existieren seit vielen Millionen dortigen Jahren sehr intelligente, empfindsame Beobachter der Quantenwelt, so genannte Schwimmtiere, deren Gehirne in der dortigen planetaren Raumzeit mittels ihrer bewussten Beobachtungen eine subjektive, lokale Quantenrealität erschaffen konnten und den Zweibeinern beinahe vollkommen gleichen. Sie haben schwarze oder braune Rücken mit elfenbeinfarbigem Bauch. Sie können bis zu 2,50 dortigen »Metern« groß werden. Ihre Haut ist völlig glatt, edel und sanft gleiten sie durch die irdischen Ozeane. Die Zweibeiner ordnen sie in ihrem Ordnungswahn als Cetacea ein, Unterordnung Odontoceti, Gattung Delphinus. Aber sie haben keine Arme. Ich vermute, nur aus diesem Grunde gelang es diesen Delphinen nicht, in den irdischen Ozeanen ein Imperium aufzubauen, eine Kultur und Zivilisation zu gründen. Sie konnten trotz ihrer überlegenen Empathie und Intelligenz, trotz ihrer extremen sozialen Bindungen, trotz ihrer präsenten Kompetenz, die den Zweibeinern offensichtlich um ein Vielfaches überlegen ist, keine Werkzeuge erschaffen, mit denen sie eine eigene Infrastruktur am Meeresgrund oder innerhalb der Weltmeere hätten bauen und fortentwickeln können. Sie hatten keine Arme und keine Greiffinger. Beine hätten sie in den Weltmeeren nicht zwingend benötigt. Sie hatten das größte Potential, vielleicht sogar für eine intergalaktische Entwicklung, nur keine Arme mit Greifern.
Doch die Körper der Wesen, die gerade zu mir dachten, hatten Arme, zwei sehr lange Arme, mit sechs Fingern, flach anliegend im vorderen Drittel ihrer Körper. Die Körper waren ungefähr drei irdische Meter lang und einen irdischen Meter breit. Die Arme schätzte ich auf eine Länge von ungefähr 1,4 irdischen Metern. Dünne Arme, schnittig, flach, hydrodynamisch, sehr lange Greiffinger, filigran, edel.
»Du hattest mich unterbrochen.« Innerhalb meiner Gedanken erschienen ihre sanften Hinweise.
»Oh…ja…bitte fahre fort!«
»Wir haben in den letzten zwei Millionen Jahre unser Elixier vollständig erobert. Wir lieben das Elixier. In ihm leben hunderttausende Gattungen von kleineren Schwimmern, viele von ihnen dienen uns als Nahrung. Unten, ganz weiten unten, wo das Elixier endet und ein fester Felsgrund ist, haben wir unsere Wohnungen erbaut. Wir waren zwei Millionen Jahre glücklich.«
Ich dachte, ob sie wohl eine einzige große Gemeinschaft einer planetaren Kultur wären, oder, wie die Zweibeiner, in ziemlich sinnlosen zweihundert (auf einem einzigen Planeten!) kleinen und größeren Abteilungen sich getrennt hätten, die sich gegenseitig bekämpfen und zerstören wollen (die sie «Staaten« nennen).
»Wir sind eins.« Schon wieder antwortete sie, ohne dass ich sie explizit gefragt hätte.
»Das ist interessant. Sag mir bitte, wart ihr immer einig?«
»Wie meinst du das?«
Ich spürte ein Unverständnis. Offensichtlich verstand sie meinen Gedanken nicht.
»Ich darf dir sagen, ich kenne andere Planeten in dieser Galaxie, auf denen es durchaus intelligente Wesen gibt, die den Planeten ebenfalls mit mehreren Milliarden Körpern bewohnen, die sich aber in viele Abteilungen trennten und sich seit Anbeginn, seit Jahrtausenden, gegenseitig bekämpfen, vernichten, zerstören.«
»Dann sind sie aber nicht intelligent«, antwortete sie trocken. »Wir werden kein Interesse haben, sie kennenzulernen.«
Sie hatte recht, vollkommen recht.
»Übrigens, du meinst, Galaxie, das ist unsere Spirale?« Unbeeindruckt fuhr sie fort.
»Ja.«
»Aber unsere Spirale ist doch nur ein winziger kleiner Abschnitt.«
»Du hast recht. Es gibt Milliarden Galaxien.«
Der gesamte Schwarm wellte sich unmerklich langsam um mich herum, umschmiegte mich. Als hätten sie warme Fänge, schlossen sie mich in ihr glühendes Netz, doch ich war nicht gefangen, sondern geschätzt. Eine Liebe drang in mich hinein, eine Ehrfurcht, eine Wertschätzung, als drängten sie alle zu einem Gleichgesinnten.
»Wir danken dir.«
Ein aufrichtig authentischer, ursprünglicher Dank floss aus ihren strahlendglühenden Funken, umschloss mich, verband sich mit dem Herzstück meiner Essenz, dem virtuellen Quantenkernel, öffnete mich zur Gänze.
Eine flehendverzweifelte Bitte hätte mein Kernel für immer verschlossen.
Ihr Dank öffnete eine Verbindung zu mir, gestattete ihnen eine wundersame Schau. Konnten sie nun eine neue Welt sehen, voll neuem Potential, ungeahnt für sie, ihrem Schicksalskelch gemäß, von ihnen selbst aufgebrochen.
Von mir erhielten sie vollkommen ruhige Gewissheit, unendlich neue Entfaltung, tiefmagenta dunkelrot getaucht.
Ob sie wussten, dass Dank der alleinige Schlüssel ist, und niemals Flehen.
Der Schwarm zog sich über mir zusammen, bäumte sich nicht auf, aber erhob sich in mächtiger, magnetisch flimmernder Welle. Verbeugte sich mit einer weit erhabenen Haube vor meinem Hiersein.
So konnte ich meine Wärme teilen, über ihre Gemeinschaft ausbreiten, ausdehnen, ein allglühender Wurf in tiefstem Bass, über ihren Horizont hinaus.
Fast in der Ferne erklang die dunkle Trommel.
Der Schamane war von mir gerufen. Die Federn des weißen Schwanes schmücken sein Haupt. Der Vogel der Schöpfung, der Hüter der Ewigkeit. Er prüft die ankommenden Seelen an der Gabelung der Milchstraße. Die Trommel. Sie beschwört auch die Eule und den Adler. Sie hütet den Schamanen, er antwortet dem dumpfen Rhythmus. Sie führt ihn zum Tanz. Das Feuer ist entfacht. Sein Körper glänzt. Die Zeichen sind auf ihm. Nachtschwarze und ockerrote Pigmente, in seiner Dermis eingegraben, mit spitzer Feder eingebrannt. Sein Körper dreht im Spin. Wer sehen will, kann ihn erschaffen. Wie er sich dreht, wie er um alles kreist, um Feuer und Erde, getragen im tiefen Schall aus Kalbsfell-Tombak. Holzscheite lodern gelb und rot. Gesichter brennen im Schein, in ihnen entrückte Augenpaare, verzerrte Lippen. Verfilzte Zöpfe wirbeln, Dreadlocks werfen sich hinaus in die hitzige Feuerluft, rufen Shiva und singen in dravidischer Sprache, der Sadhu kommt, der Sadhu kommt, Pradkshina, Pradakshina. Auf Knien beugt sich ein Pilger, wirft sich mit dem tanzenden Kreis zu Boden, umrundet das Feuer wie in seiner kora, Kailash wo bist du. Der Schamane kreist immer schneller im Tanz der Geduld, immer schneller, die Wartenden sinken hinab, der Ort der Langmut und Beharrung. »Wartet, wartet!« singt der Schamane, «euer Weg ist noch weit!« Die Lakshmi-Gruppen fallen ganz hinab, liegen am Feuer, glühen in lodernder Asche. Der Schamane sinkt zu Boden. «Seid ihr bereit?«
Unmerklich beginnt ein tiefes leises Summen, Kontra H schwillt an, das Langrohr, die Luft erzittert, dung chen ergreift die Macht. Der Schamane öffnet seine Arme, gibt sich hin. Wie ein Herbstblatt trägt dung chen ihn in die Höhe, er schwebt und gleitet, im Dunkel des Alls verglühen seine letzten Spuren.
*
»Nach zwei Millionen Jahren unserer Kultur wurde unser gesamtes Elixier mit Nanopartikeln verseucht. Die von uns entwickelte Technik brachte unter anderem das synthetische Polymer hervor, das wir in unseren großen Gruppen im alltäglichen Leben benutzen. Wir wussten nicht, dass Polymer sich über viele Jahre im Elixier langsam zersetzt, aber fast fünfhundert Umrundungen benötigt, um sich aufzulösen. Es verbleiben aber doch stets winzige Teilchen, Nanopartikel. Diese Unendlichkeiten, Milliarden von Milliarden von Billionen von Trillionen winzigster Partikel wanderten über das Elixier und unsere ozeanische Nahrung allmählich in alle Zellen unserer eigenen Körper. Als wir dies entdeckten, war es bereits zu spät. Der Prozess war irreversibel. Alle Anstrengungen zur Reduktion haben nichts gefruchtet. Wir haben unseren wunderschönen blauen Planeten zerstört.«
»Wir sind die Erste Kohorte. Wir prüfen unsere neue Welt, die neue Trappist. Wenn wir zufrieden sind, rufen wir unsere Brüder und Schwestern, die Milliarden wartenden Seelen auf die neue Trappist. Dort werden wir die Wanderungen unserer Seelen in materiellen Tempeln fortsetzen.«
»Unsere Kultur ist zwei Millionen Jahre alt.«
»Welche Jahre? Eure Jahre?«
»Ja natürlich, was meinst du?«
»Wie definiert ihr ein Jahr?«
»Der große Strom im Elixier.»
»Was ist mit ihm?«
»Der große warme Strom, inmitten des Elixiers, er fließt immer in eine Richtung, rund um den Planeten, wenn er zurückkehrt, berechnen wir das Jahr.«
»Und wo ist sein Anfang, wo sein Ende?«
»Er hat weder Anfang noch Ende, er fließt seit Anbeginn unserer Zeit. Es ist die rote Boje, die mit ihm fließt und immer wieder zurückkehrt. Das Zeichen des Jahres.«
»Und der Anfang eures Lebens? Habt ihr eine Erklärung?«
»Wir haben den Strang der Lebenshelix entdeckt, der in jeder Zelle ist. Unser Planet war mehrere Milliarden Jahre ohne Leben. Nur das Elixier. Nur der Ozean. Doch dann kam es zu einer plötzlichen Explosion von Leben. Zuvor gab es keinerlei Entwicklung. Das Leben war plötzlich anwesend. Dies wissen wir aus alten Knochen, die wir am Boden des Gandesha-Canyons gefunden haben. Diese Knochen sind ungefähr 500 Millionen Jahre alt. Wir fanden sie in einer uralten Sedimentschicht, ca. 18 Lange Wege in der Tiefe, am Boden des Canyons. Wie soll sich in unserem Ozean plötzlich eine solch äußerst komplizierte Struktur entwickelt haben, die ein Bauplan ist? Die Wahrscheinlichkeit ist gleich Null, dass dies durch Zufall erklärbar ist. Wir gehen also davon aus, dass die Lebenshelix über Sporen, zum Beispiel auf den Oberflächen von Kometen, auf Trappist gelangt ist. Wir können dies mit einer stochastischen Berechnung und Sicherheit von 99,99 % feststellen. Es gibt keinen plausiblen Zweifel.«
*
»Wir wissen, dass wir Seelen sind. Wir sind keine Körper, sondern in der Essenz sind wir Seelen. Unsere Körper in unserem großen Weltmeer sind uns für diese Reise geschenkt. Unsere Seele manifestiert sich im Augenblick der Verschmelzung der Eizelle mit dem Samen. In diesem Moment fließt sie aus der allumfassenden Energie des Universums in die Energiematrix des Körpers ein.«
»Ich bin froh, ihr seid für eine neue Heimat vorbereitet. Aber sagt mir noch, ich bin wirklich neugierig. Ihr seid eine einzige Gemeinschaft, ihr lebt verstreut über den gesamten Planeten im großen Elixier. Wie ist eure Kommunikation, wie sprecht ihr euch ab, habt ihr gemeinschaftliche Aufgaben und Ziele?«
»Das ist komplex. Wir leben in kleinen Gruppen, ungefähr einhundert von uns. Trappist ist ein großer Planet. Wir haben am Grund des Elixiers viel Platz, jede Gruppe für sich. Wir führten Ausgrabungen am Boden des Elixiers durch, fanden Skelette und Artefakte. Seit ungefähr einer Million Jahre bauen wir Höhlen und Häuser, davor schwammen wir in kleinen Gruppen entlang des großen Stroms und einiger Nebenströmungen. Vor ungefähr zweihunderttausend Jahren begannen wir, unsere Gruppen zu verbinden. Um es abzukürzen, heute befinden sich in den vielen großen Leeren zwischen den Gruppen zahlreiche Werkstätten und Anlagen, und unsere Langgraphitnetze.«
Sie bemerkte sofort meinen fragenden Blick. »Wir mussten uns doch schnell zusammenfinden können. Als wir unsere Fertigkeiten ausbauten, wurde es notwendig, andere Gruppen schneller zu erreichen. Unser Schwimmen im Elixier war zu langsam. Jede unserer Gruppen ist daher mit jeder anderen Gruppe auf dem gesamten Planeten verbunden. Anfangs bauten wir Verbindungsröhren zwischen den ersten Gruppen, die diese neue Technik nutzen wollten. Die Röhren bestehen aus anisotropen Graphitfasern. Innerhalb der Röhren steigen wir in unsere festen Karbonkörbe, geben unser Ziel an, und werden dorthin gefahren.«
»Das gefällt mir. Du hast von Netzen gesprochen?«
»Ja, die Röhren haben sich inzwischen zu einem riesigen Netz entwickelt, regionalen Clustern, großräumigen Umgehungen, oberen Abkürzungen, riesig. Selbst am Großkreis haben wir vor kurzem erst, vor 533 Umrundungen, die Allumfassende gebaut.«
«Der Großkreis…« ich überlegte kurz…. «du meinst die Ebene, die senkrecht auf der Rotationsachse von Trappist steht?«
«Ja selbstverständlich!«
Ich begann, die Trappisten allmählich für eine über den universalen Durchschnitt hinausragende Spezies zu halten. Ganz offensichtlich hatten sie ihren Planeten genau vermessen und mussten auch dessen Position zum Zentralstern und innerhalb der Galaxie kennen. Die Zweibeiner zum Beispiel hatten erst in ihrem «Jahr«, welches sie «1.984« nannten, ein geodätisches Referenzsystem für ihren Planeten erstellt. Dabei war schon die Jahresangabe «1.984« fast lächerlich, jedenfalls aber völlig willkürlich, denn der erste Tag des ersten Monats des ersten Jahres einer solchen Referenz bezog sich (so die veröffentlichte Definition der Zweibeiner) auf die Geburt eines Zweibeiners, der an diesem Tag jedoch nicht geboren war (ebenfalls nach der allgemein anerkannten Definition der Zweibeiner). Nun, ich muss einräumen, einige Jahrzehnte später waren die Zweibeiner immerhin an einem Wissensstand angelangt, welches sie zur Bestimmung einer Positionsangabe auf ihrem Planeten oder relativistisch außerhalb ihres Planeten mit folgenden Parametern ausstatteten: ein Referenzellipsoid, einem Geoid mit Koordinatensystem, ein Gravitationsmodell. Da sie aber beispielsweise die Ortsabhängigkeit des Erdschwerepotentials im lokalen Raum und die dadurch bedingten Abweichungen der Erdmasse im relativistischen Raum noch nicht vollständig verstehen, wie sie auch die «Gravitation« noch vollkommen falsch einordnen, müssen sie ihr Modell regelmäßig anpassen – denn die Oszillation der Quantenwelt ist fluid und verändert ununterbrochen die relativistischen Felder.
»Wie werden eure Karbonkörbe angetrieben?«
Geduldig antwortete sie. »Kleine effektive Module. Brennstoffzellen mit Membranen. Selbstverständlich nutzen wir das Elixier, wir nehmen den Sauerstoff mit hohem Druck und den Wasserstoff, der aus Metallhybridspeichern in den magneterregten Antrieb gepresst wird.«
Es war eine große Freude, sehr erbauend, sie so denken zu hören.
»Innerhalb der Röhre…«
Sie verstand sofort. »Sie sind zu 98 Prozent mit Elixier und zu zwei Prozent mit H2CO3 gefüllt.«
»Und die Karbonkörbe?«
»Mit Elixier natürlich. Die Körbe sind recht groß, wir können uns jeweils zu viert in ihnen aufhalten.«
»Bitte entschuldige meine Fragen. Ich muss euch loben. Ihr seid außergewöhnlich.«
»Wir danken dir.«
»Wie stellt ihr eure Werkzeuge her, eure Anlagen, zum Beispiel das Graphitnetz? Wisst ihr, was Feuer bedeutet?«
»Wir verstehen deine Frage. Schließlich haben wir unseren Stern studiert und die Kräfte, die ihn erschufen und am Leben erhalten. Mit Feuer meinst du zum Beispiel die Energie unseres Sterns, seine Hitze, oder seine Eruptionen?«
»Nein. Ich denke an eine Verbrennung, aus der Flammen entstehen, zum Beispiel wenn Kohlenstoff und Wasserstoff eines Holzes sich mit dem Sauerstoff der Atmosphäre verbinden und das Holz sich dadurch entzündet.«
»Was ist Holz?«
Ich vergaß, dass ihr Planet keinerlei Landfläche besitzt, keinerlei Wälder, keine Koniferen oder verholzende Samenpflanzen, ja noch nicht einmal Farne oder Schachtelhalmgewächse.
»Ich muss mich entschuldigen«, gestand ich, es war mir peinlich. «Holz ist eine Pflanzenart auf anderen Planeten, auf deren Oberfläche nicht nur Elixier ist, sondern oft gewaltige Bodenflächen wie ihr sie vom Grund eures Ozeans kennt, Gesteine, zermalmte Steine, die am Ufer der Meere zu kleinsten Körnern geworden sind, Sand, oder Boden, oder Erde genannt, aus Verwitterung entstandene weite und tiefe Flächen oberhalb des harten Planetengesteins, die nicht von Elixier bedeckt sind. Erdboden besteht aus einem Gemisch aus anorganischem und organischem oft abgestorbenem Material, sowie Milliarden kleinster Lebewesen, in und auf dem Boden wachsen dann Pflanzen und Bäume. Bäume bestehen oberflächlich betrachtet aus Holz, das bei Hitzeentfachung in Verbindung mit Sauerstoff brennen kann. Das nennt man Feuer.«
»Du sagst, es gibt Planeten ähnlich wie Trappist, auf denen das Elixier nicht überall ist? Auf denen der Elixiergrund nach oben getreten ist und direkt mit der Atmosphäre Kontakt hat? Und auf denen, und das ist der Punkt, es Lebewesen gibt, die jenes Holz zu Feuer bringen können?«
»Ja, meine Freundin, sogar sehr viele.«
Der Schwarm schwieg.
Sein Leuchten nahm ab.
Er zog sich merklich zusammen.
Ich beobachtete. Auch ich schwieg. Was ist passiert. Sollte ich fragen? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Tatsachen können nichts Falsches sein.
»Du hast keinen Fehler gemacht«, hörte ich in Gedanken.
Der Schwarm blieb bei mir.
»Diese Information ist schwierig für uns.«
Ich blieb stumm. Und hatte aufgehört, zu denken, noch waren sie mit mir verbunden.
»Wir haben die anderen Sterne und Spiralen beobachtet, wie du weißt, oberhalb des Elixiers. Wir haben bei anderen Sternen keine Planeten gefunden, deren Oberfläche vollständig mit Elixier bedeckt ist. Nach unseren Messungen gibt es entweder Planeten ohne Elixier oder Planeten mit vereistem Elixier oder einigen kleineren oder größeren Becken, die mit Elixier gefüllt sind. Aber nirgendwo fanden wir Planeten, die ausschließlich mit Elixier bedeckt sind. Wir glauben daher, dass wir die Auserwählten sind. Daher sagt die Anwendung von Intelligenz, dass Lebewesen, die auf anderen Planeten wohnen würden, nicht auserwählt sind.«
Ich verlor keine Silbe, hielt jeden Gedanken geheim, im innersten Kernel. Es schien nämlich, als hätten sie religiöse Vorstellungen. Was meine weitere Kommunikation a priori nicht nur erschwert, sondern, im Falle von extremer Religiosität, mich veranlassen wird, meinen Kontakt zu ihnen sofort zu beenden.
Von Vater weiß ich, dass er Universen, oder Galaxien, oder einzelne Sternsysteme, in denen extreme, einseitige Formen von Religiosität auftauchen, sofort verlässt. Er ist dann schlicht abwesend. Antwortet nicht. Lenkt nicht. Noch nicht einmal zu einem Reset auf Werkseinstellung ist er bereit. Solche Wesen überlässt er ihrem Schicksal, obwohl er sie letztendlich erschaffen hat, direkt oder indirekt; und obwohl solche Wesen stets in vehementer Ausdrucksform an eine Gottheit glauben, sie anbeten. So wie ich Vater verstehe, sind solche Entwicklungen vollkommen hoffnungslos und enden stets, wohl ohne Ausnahme, in Machtmissbrauch, Gewalt, Unterdrückung, Zerstörung und absurdeste Formen von Aberglauben, bis die Ursprünge des Glaubens unkenntlich sind.
Von Vater weiß ich aber auch, dass er das seltene Auftauchen von Spiritualität, von Weisheit und Erkenntnis, mit größter Wärme begleitet und, ohne direkt einzugreifen, doch versucht, durch implizite Korrelationen zu begleiten.
Hierdurch verletzt er nicht den von ihm selbst aufgestellten Grundsatz der Nichteinmischung. Denn er begleitet oder lenkt keine Kausalitäten, sondern lediglich Korrelationen.
»Darf ich etwas fragen.« Ich hatte mich durchgerungen.
»Ja natürlich.« Der Schwarm war noch immer zusammengerückt.
»Wenn du sagst, dass ihr etwas glaubt: gibt es unter euch einen Einzelnen, oder eine besondere Gruppe, die euren Glauben weiterhin auslegt und für alle anderen von euch bestimmt?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein! Was meinst du?«
»Ich frage mich, auf welche Weise ihr dann zu einer Definition gelangt.«
Ich spürte, wie der Schwarm sich aus meinen Gedanken ausklinkte. Er zog sich nicht von mir zurück, noch immer hielt er mich in einer angenehmen Weise umschlungen. Nichts Negatives war in den Wellen. Nichts Negatives. Nur ihre Gedanken abgekoppelt.
Nach einigen Augenblicken, nicht lange, aber länger als kurz:
«Wir glauben, dass du uns nicht verstehst.«
Ich war perplex. Ich entschied, dies nicht als Vorwurf, sondern als Feststellung aufzunehmen. Niemals werde ich bei meinen Reisen in die Universen in irgendeiner Weise von Gefühlen beeinträchtigt. Emotionen sind Phasenexperimente, die bei manchen Wesen, deren Gehirne Bewusstseinspotential besitzen, als subjektive Empfindung »Gefühl« neuronal und meist auch chemisch zu spontanen äußeren Sinneswahrnehmungen lediglich so zur Verfügung gestellt sind, dass diese Wesen in ihrer jeweiligen lokalen Umwelt überleben können.
»Ich akzeptiere das. Wie geht es jetzt weiter? Seid ihr in der Lage, mir einen Weg zu zeigen, euch zu verstehen?«
»Wir bieten dir an, dich mit uns zu vereinen.«
»Das ist leider nicht möglich. Meine Programmierung erlaubt es nicht. Ich kann nur mit einem Teil von mir zu euch kommen.«
»Das ist akzeptabel.«