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Am gleichen Tag, eine Stunde später

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Wie ein Pennäler, der etwas ausgefressen hatte und sich in Erwartung der unausweichlichen Standpauke befand, stand ich vor meinem ehemaligen Chefschreibtisch. Es fehlte nur noch die demütige Haltung. Das Schlüsselerlebnis einer längst vergessenen Episode befreite sich aus dem Bereich meines Unbewussten und steuerte meine Gefühlswelt:

1961, Oranienschule in Wiesbaden. Ich war ein unangepasster und hyperaktiver Quintaner gewesen. Damals hatte ich mich heimlich in den Musiksaal im Obergeschoss der Schule geschlichen und die Bewegungsfreiheit zweier weißer Mäuse erweitert. Unter diesem kühnen Aspekt hatte ich es zumindest gesehen. Im Gegensatz zu der jungen Musiklehrerin, die absolut kein Verständnis dafür gezeigt hatte, als sie nach dem Aufklappen des Hinterdeckels des Musikflügels die possierlichen Tierchen über die Saiten huschen sah. Das drollige Bild war überhaupt nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Das hatte ich aber erst erkannt, nachdem ich ihre Frage, wer das gewesen sei, wahrheitsgemäß und nicht ohne Stolz beantwortet hatte. Fünf Minuten später hatte ich vor dem monströsen Schreibtisch unseres humorlosen Direktors gestanden. Zu gut erinnerte ich mich an die Aktenberge darauf. An Stöße von mehr oder weniger zerfledderten Schulheften. Und heute noch meinte ich den Gestank in der Nase zu haben, der dem überquellenden Aschenbecher entströmt war, in welchem der Direktor seine abgelutschten Villiger Stumpen entsorgte. In dieser abstoßenden Umgebung hatte ich seine Strafpredigt über mich ergehen lassen. Welche disziplinarische Maßnahme er schlussendlich aus seinem schier unerschöpflichen Repertoire ausgesucht hatte, wusste ich nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass sie meinem Gerechtigkeitsempfinden einen herben Schlag versetzt hatte. Hatte sie doch in keiner Relation zu meinem Akt grenzenloser Tierliebe gestanden. Ich hatte mich verkannt, gedemütigt und irgendwie erniedrigt gefühlt.

Jetzt beschlich mich dasselbe Gefühl in Carlos Büro. Er hatte mich zu sich gebeten, als ich, wie so oft, vorhin kurz in der Kanzlei gewesen war, um die Eingangspost zu durchstöbern.

Es hätte ja etwas für mich dabei sein können. Das kam zwar immer seltener vor, aber man konnte ja nie wissen. Das Kanzleigebäude war nur zehn Schritte über den Hof in dem umgebauten Kelterhaus untergebracht. Vom Wohnhaus aus konnte ich sehen, wenn der Postbote kam und dann schnell rüber springen ins Büro. „Nur mal kurz nach dem Rechten sehen”, wie ich es nannte. Ein paar Worte mit meinen früheren Mitarbeiterinnen wechseln. Ich wusste doch, wie gut es ihnen tat, wenn ihr alter Chef ein paar motivierende Worte an sie richtete. Und ab und zu konnte ich ihnen sogar fachlich helfen. Sie fragten zwar nicht direkt danach, aber ich erkannte schließlich, womit sie sich gerade beschäftigen, wenn ich ihnen über die Schulter sah. Es war allerdings nicht so, dass ich diesen täglichen Kontakt unbedingt brauchte. Geschweige denn, dass ich es bereute, Carlo Dornhagen, einem ehemaligen Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey die Kanzlei übergeben zu haben. Seitdem sind fast sieben Jahre vergangen. Am Anfang hatte ich noch mitgearbeitet, mich dann aber mehr und mehr zurückgezogen. Ich stolperte ja auch immer wieder in irgendwelche kriminellen Geschichten hinein. Das ließ sich ohnehin nicht mit der gnadenlosen Fristen- und Termindisposition in einer Steuerberatungskanzlei vereinbaren.

„Darius, nimm bitte Platz”, Carlo deutete auf den Besucherstuhl.

Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Instinktiv spürte ich etwas Unangenehmes auf mich zukommen. War es seine neutrale Mimik, während man ansonsten recht gut aus ihr seine jeweilige Gemütsverfassung ablesen konnte? Hatte ich etwas falsch gemacht?

Gerade eben, als ich die Kanzlei betreten hatte, war mir Klaus Köhler, ein Mandant, entgegengekommen. Er hatte nur kurz meinen Gruß erwidert, den Kopf geschüttelt und war ohne ein weiteres Wort verschwunden. Ich wunderte mich. Letzte Woche nochwaren wir uns zufällig in Alzey begegnet, hatten eine Tasse Kaffee miteinander getrunken und ein bisschen gequatscht, weil man sich schon jahrelang kennt: Familie, Gesundheit, Geschäft – er war gerade dabei, seinen Maschinenpark zu modernisieren.

Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich. Verdammt noch mal. Ich war 63 Jahre alt und kein kleiner Junge mehr. Mein Gegenüber hätte mit seinen 45 Jahren mein Sohn sein können.

Mit einem schnoddrigen „Keine Zeit, du weißt ja”, quittierte ich Carlos Aufforderung, Platz zu nehmen.

Ich versuchte mein inneres Gleichgewicht zu festigen. Blöde Floskel, „du weißt ja!” Was sollte er „ja” wissen?

„Dann will ich es kurz machen und gleich zur Sache kommen. Darius, darf ich direkt werden? Ohne Umschweife sagen, was mich ärgert?”

„Klar doch. Ich kann einiges verkraften. Das weißt du doch.” Ich hoffte inständig, dass mein Lächeln nicht zu verkrampft wirkte.

„Um es auf den Punkt zu bringen: Darius, du nervst!”

„Das ist nichts Neues für mich. Das wirft mir Sonja seit einiger Zeit auch vor. Aber es ist halt …”

Er unterband meinen Ansatz eines Einwandes mit einer abwehrenden Geste: „Nein, warte! Lass mich einfach ausreden! Du hast Langeweile. Und statt dich nach einer sinnvollen Beschäftigung umzusehen oder deinen Ausstieg endlich einmal zu genießen, gehst du uns hier auf den Wecker. Du verbreitest Unruhe und schaffst Chaos, sowohl bei Mitarbeitern, als auch bei Mandanten. Du hältst die Mitarbeiterinnen von ihrer Arbeit ab. Natürlich sagen sie dir das nicht. Schließlich warst du mal ihr Chef. Und du mischst dich ungefragt in Mandantengespräche oder deren Probleme ein. Dabei greifst du nicht nur in meine Kompetenzen ein. Nein, du bist auch fachlich nicht mehr auf der Höhe. Das kann ja auch niemand mehr von dir verlangen. Aber etwas Zurückhaltung wäre sinnvoll und angebracht, wenn du nicht ausdrücklich um deine Meinung und deinen Rat gebeten wirst.”

Ich schüttelte den Kopf. Ich und Einmischen, wann sollte denn das gewesen sein?

„Doch, es ist so. Ganz konkret: Du gibst Hinweise, die nicht mehr im Einklang mit der neuesten Rechtsprechung stehen. Es mag ja sein, dass du dir dessen nicht bewusst bist – aber das macht es nicht besser. Du hast dich letzte Woche in Alzey mit Klaus Köhler unterhalten. Dabei hast du ihm etwas von Ansparrücklage erzählt und ihn ganz kirre gemacht. Er war eben bei mir, um sich zu beschweren, dass wir ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätten. Darius, die Ansparrücklage, wie du sie kennst, gibt’s seit 2007 beziehungsweise 2008 nicht mehr.”

Ich konnte mich nicht mehr an alle Einzelheiten des Gespräches erinnern. Gut möglich, dass ich etwas in dieser Hinsicht erwähnt hatte. Aber das war doch nur eine Nebenbemerkung. Aus einem Gespräch heraus ohne Beratungshintergrund. Klaus Köhler hatte auch nicht den Eindruck vermittelt, dass diese Sache bei ihm auf größeres Interesse gestoßen war.

Carlo fuhr fort: „Und nicht nur bei den Mandanten fällt das auf, auch die Mitarbeiter sind irritiert. Ich muss dann die Kohlen aus dem Feuer holen und deine Fehler korrigieren, ohne dich in die Pfanne zu hauen. Auf Dauer geht das aber nicht. Mir fallen nämlich langsam keine glaubwürdigen Ausreden mehr ein. Die Konsequenz ist, dass du drauf und dran bist, den Respekt, den du dir in jahrelanger Arbeit zu Recht erworben hast, zu verspielen. Und das hast du nun wirklich nicht verdient.”

Sein Tonfall war keinesfalls anklagend oder vorwurfsvoll. Er war väterlich, verständnisvoll. Es wäre mir anders lieber gewesen, denn so verpuffte meine kurz aufkeimende Empörung und löste sich in Luft auf. Dennoch – ich war beunruhigt und wollte seinen Vorwurf nicht stoisch und ohne Diskussion akzeptieren.

„Bist du nun fertig?” erwiderte ich. „Wenn ich ein derartiger Störfaktor bin, weshalb hast du dann nicht schon früher etwas gesagt?”

Carlo ging nicht auf mein Ablenkungsmanöver ein. Ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass er auf diesen uralten Argumentationstrick, den Ankläger zum Mitbeklagten zu machen, reinfallen würde.

Stattdessen blieb er sachlich: „Ich mache dir einen Vorschlag.”

„Soll ich das Archiv aufräumen?”

Er ging nicht direkt auf meine zynische Bemerkung ein.

„Hör doch einfach zu. Du wirst sehen, dass uns beiden damit geholfen ist. Es handelt sich um eine merkwürdige Geschichte. Dafür bist du genau der Richtige.”

„Also, um was geht es?”

„Es geht um Gero Arnold. Da tun sich merkwürdige Dinge. Da stimmt etwas nicht. Die ganze Sache stinkt und er ist nicht in der Lage, sich zu helfen.”

Gero Arnold wohnte in Siefersheim. Direkt neben der Druckerei BEWAG GmbH, die er seit seinem 30. Geburtstag führte und die er von seiner Mutter übernommen hatte. In den 50er Jahren hatte sie einen kleinen Betrieb, in dem sie das Druckerhandwerk gelernt hatte, übernommen und zu einem florierenden Unternehmen entwickelt. Die Bedeutung der Firmierung hatte sie stets geheim gehalten. Zeitweise hatte sie mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt. Im laufenden Jahr waren durchschnittlich nur noch 30 Personen beschäftigt, was vor allem auf den hohen Automatisierungsgrad zurückzuführen war. Die Angebotspalette der BEWAG GmbH erstreckte sich von Visitenkarten über Briefpapier bis hin zu Prospekten. Aber auch Bücher produzierten sie, für Book on Demand- und Selbstverlage.

Im Jahr 2005, Geros Mutter Gisela arbeitete noch jeden Tag vier Stunden im Betrieb mit, hatte sie festgestellt, dass sich ihr Gedächtnis dramatisch verschlechterte. Vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Dadurch war es zunehmend zu Fehlern in der Disposition, die man der Seniorin allerdings nicht nachtrug, gekommen.

Die Diagnose eines Neurologen hatte ihre Vermutung bestätigt: Demenz im Anfangsstadium. Mit der ihr eigenen Mischung aus intuitivem Realitätssinn und unerbittlicher Konsequenz, mit der sie das Unternehmen geführt und auch ihren Sohn erzogen hatte, hatte sie auch ihre eigene Zukunft geregelt. Solange sie noch „alle Murmeln beisammen” hatte, wie sie selbstironisch bemerkt hatte, wollte sie autonom über ihr Leben entscheiden. Dreizehn Kilometer entfernt von ihrer langjährigen Wirkungsstätte war sie in ein Seniorendomizil in Bad Münster am Stein gezogen. Vor drei Jahren war sie gestorben.

Doch einige Monate nach ihrem Umzug in das Seniorendomizil, so erfuhr ich nun von Carlo, war es zu Entwicklungen gekommen, die inzwischen ein Stadium erreicht hatten, welches auf kriminelle Machenschaften deutete. Ob eventuell außer dem zeitlichen auch ein sachlicher Zusammenhang mit dem Umzug von Gisela Arnold bestehen könnte, fragte ich mich spontan. Aber wie sollte das zusammenhängen?

Ich hatte mich inzwischen gesetzt. Meine Neugierde war nun doch geweckt. Auch Carlo hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Wie so oft staunte ich über seine perfekte Ordnung. Wie schaffte es ein normaler Mensch nur, eine derart akribische Architektur seiner Unterlagen aufzubauen? Wohl ein Relikt aus seiner Zeit beim Finanzamt, beruhigte ich mein aufkeimendes schlechtes Gewissen.

Zielsicher zog er eine blaue Mappe aus einem der Aktenstapel und öffnete sie. Er entnahm das oben aufliegende Schriftstück. Dabei schilderte er, dass er schon seit einiger Zeit einen ungewöhnlichen Umsatzrückgang in der Druckerei von Gero Arnold registriert hätte. Aber Arnold habe stets plausible Gründe dafür genannt. Mal war es in langjähriger Großkunde, der seinen Betrieb aufgegeben hatte. Mal war ein potenzieller Neuauftrag geplatzt, weil die Konkurrenz ihn, trotz engster Kalkulation, unterboten hatte. Dann wieder hatte ihm ein wichtiger Mitarbeiter gekündigt, der nur schwer zu ersetzen war. Zudem war es wegen unterschied­licher Dinge zu anonymen Anzeigen gekommen, deren Abwehr Zeit und Kosten verursacht hatte.

Vorige Woche endlich hatte Gero Arnold Carlo um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Auch ich sollte nicht über den Inhalt informiert werden. Gestern hatte er jedoch auf Drängen von Carlo meiner Einschaltung zugestimmt.

„Du sprichst von den anonymen Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Zollvergehen und Schwarzarbeit? Ich dachte, das hättest du geklärt.”

„Nein, die rechtliche Seite ist geklärt. Da war nichts dran. Aber was noch im Raum steht ist, dass hinter den anonymen Beschuldigungen irgendjemand stecken muss. Und diese Person oder Personengruppe wird ja wohl etwas damit bezwecken wollen. Ich vermute Wirtschaftskriminalität oder etwas Ähnliches. Vielleicht aber auch Erpressung.”

„Das heißt, wir haben es mit einem kriminellen Motiv zu tun. Entweder ist die BEWAG GmbH im Fokus oder aber Gero Arnold persönlich. Im Klartext: Da will jemand das Unternehmen in Misskredit bringen. Vielleicht, um es zu ruinieren, damit es dann billig übernommen werden kann?”, spekulierte ich.

„Oder es geht ausschließlich um Gero Arnold? Man will ihn verunsichern, um ihn für irgendetwas weich zu klopfen?”, spielte Carlo den Ball weiter.

„Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Klingt nach einer verzwickten Angelegenheit.”

„Also hatte ich recht: Genau das Richtige für dich. Etwas Abwechslung wird dir gut tun!”

„Hat Arnold denn eine Vermutung geäußert, wen er als diesen dubiosen Jemand vermutet?”

„Mmhm”, Carlo machte es spannend, „du kennst ihn auch.”

„Das Sandmännchen? Peter Pan?” Seine Verzögerung empfand ich als unangemessen. Außerdem sind solche Albernheiten in der Regel mein Part. „Sag schon!”

„Dieter Knober. Sein ärgster Konkurrent.”

„Mit seinem Vater Sigurd hatte Frau Arnold doch über viele Jahre Streit. Weißt du eigentlich, worum es dabei ging? Mir hat sie nie etwas gesagt, obwohl ich sie mehrmals darauf angesprochen habe.”

„Nein. Noch nicht einmal ihr Sohn kennt die Hintergründe. Er vermutet etwas Persönliches. Vielleicht gab es da mal eine unglückliche Beziehung?”

„Vom Alter her durchaus möglich. Wer ist eigentlich Gero Arnolds Vater?”, wollte ich wissen.

„Im Krieg geblieben oder unbekannt. Ich weiß es nicht genau. Sie war auch nie verheiratet. Arnold ist ihr Mädchenname und …”, er stutzte, „du meinst es könnte sein … das hieße ja …”

„Genau, dass Gero Arnold und Dieter Knober Halbbrüder sind”, beendete ich seinen Satz.

„Und keiner weiß etwas vom anderen. Diejenigen, die das Rätsel auflösen könnten, sind tot. Sigurd Knober, seine Frau und auch Gisela Arnold. Falls das stimmen sollte, haben die drei das Geheimnis mit ins Grab genommen.”

„Was hältst du von einem Gentest?”, platzte ich heraus, ohne zu überlegen.

„Du spinnst. Was ist denn das für eine abstruse Idee? Erstens, wie sollten wir das den beiden verkaufen und zweitens glaube ich kaum, dass uns das im vorliegenden Fall weiterhelfen würde.”

„Weiß man`s? Da können doch ganz andere Dinge eine Rolle spielen.”

„An was denkst du?”

„Sigurd Knober war ein unverbesserlicher Alt-Nazi. Und sein Sohn ist der beste Beweis dafür, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.”

„Da weißt du mehr als ich”, wunderte sich Carlo.

„Ich bringe dir nachher ein Buch rüber. Der Autor nennt darin Fakten und Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Einige der Hundertprozentigen haben ihre Nachbarn denunziert, jüdische Mitbürger verraten und sich deren Eigentumangeeignet. Nach dem Krieg lebten sie unbescholten und hoch angesehen weiter. In dem Buch sind in diesem Zusammenhang auch Sigurd und Erna Knober genannt. Sie gehörten zu den Nazis der ersten Stunde, das kann man an der niedrigen Nummer ihrer NSDAP-Mitgliedschaft erkennen. Deren Druckerei in Alzey gehörte übrigens bis Anfang 1939 einem Natan Selig. Sigurd Knober war zu dieser Zeit Soldat und konnte sich gar nicht um den übernommenen Betrieb kümmern, das machten französische Kriegsgefangene. Die Aufträge bekamen sie von der Gauleitung Hessen-Nassau.”

„Weshalb hast du dich so intensiv mit Knober befasst, dass du seine braune Vergangenheit aus dem Ärmel schüttelst?”

„Anfang 1990, kurz nachdem ich die Kanzlei hier nach Bernheim umgezogen hatte, wollte eben dieser Sigurd Knober seinen Berater wechseln. Er wollte mir das Mandat übertragen. Aber er war mir irgendwie suspekt. Er machte ein paar fremdenfeindliche Bemerkungen, die mit meinem Weltbild kollidierten. Und du weißt, dass ich erst an zweiter Stelle an das Honorar denke. Die Chemie muss von Anfang an stimmen. Damit bin ich bisher gut gefahren. Außerdem hatte ich kurz zuvor das Mandat von Gisela Arnold übernommen. Ich wollte während der vertrauensbildenden Phase keine unnötige Störung riskieren. Aber das ist noch nicht alles.”

„Das wird ja eine abendfüllende Story”, spottete Carlo.

„Sagt dir der Name Peter Simonis noch etwas?”

„Klar doch, ich hatte ja damals als Betriebsprüfer oft genug mit diesem schwarzen Schaf aus unserer Zunft zu tun. Gott habe ihn selig, obwohl er ein Ganove war!”

(Simonis war 2003 unter paradoxen Umständen tot aufgefunden worden. Es war mein zweiter Fall, den ich als Hobbyermittler lösen konnte.)

„Siehst du. Simonis war Knobers Berater und ich wollte keinen Mandanten übernehmen, der mit einem solchen Berater garantiert einige Leichen im Keller verbuddelt hat.”

„Jetzt verstehe ich. Als du dann das Buch gelesen hast, ist dir natürlich der Name Sigurd Knober aufgefallen. Und Dieter Knober?”

„Ja, der steht ziemlich weit oben auf der Landesliste der NPD. Er sponsert unter anderem Plakate. Hast du noch nie die NPD-Plakate mit seinem Konterfei gesehen?”

„Ach, das ist er?”

Ich nickte bestätigend und Carlo atmete tief durch.

„Das ist ja …”, statt sein Einschätzung abzuschließen, schob er mir das Schriftstück, das er vorher seiner Mappe entnommen hatte, über den Tisch.

„Arnold und ich haben hier stichwortartig protokolliert, was während der letzten Jahre vorgefallen ist. Über Details unterhältst du dich am besten mit ihm selbst. Er ist übrigens sehr froh darüber, dass du die Angelegenheit in die Hand nimmst.”

„Wie, das hast du schon mit ihm vereinbart? Ohne vorherige Absprache mit mir?”

„Wie du siehst”, grinste er. „Betrachte es als Notwehr. Oder auch als therapeutische Maßnahme.” Er sah mich mit schief gehaltenem Kopf an. Dann verzog sich sein anfängliches Grinsen und ging in schallendes Gelächter über. Dabei zog sich seine Glatze in ein Faltengebirge. Es verlieh ihm die frappierende Ähnlichkeit mit einem Shar-Pei, diesem chinesischen Knautschhund. „Therapiemaßnahme finde ich gut”, freute er sich über sein Bonmot, blickte mich aber dann sofort wieder ernst an. „Du offenbar nicht?”

„Na ja, ich habe schon bessere komödiantische Ergüsse erlebt. Aber nicht von dir. Ziemlich laienhaft, aber dafür war es schon ganz gut. Einfach üben.”

Ich nahm das Protokoll vom Tisch, erhob mich und ging zur Tür. Dort drehte ich mich noch einmal um und wedelte mit dem Papier.

„Damit das von vornherein klar ist: Ich entscheide, wie ich vorgehe! Die Kompetenzen liegen bei mir”, bestimmte ich.

„Genauso, wie du die Verantwortung trägst. Bis hin zu etwaigen haftungsrechtlichen Konsequenzen. Du bist schließlich weiterhin Berufsständler und weißt, in welchem gesetzlichen Rahmen du dich zu bewegen hast.”

„Soweit es meine Verschwiegenheitsverpflichtung betrifft”, schränkte ich ein.

„Klar doch. Bei allem anderen bist du ja sowieso nicht zu bremsen. Ich sage nur Hausfriedensbruch, Fälschung von Dokumenten, Zurückhaltung von Informationen bei der Staatsanwaltschaft und so weiter.”

„Wenn du auf die Mittel anspielst, derer ich mich ab und zu bei der Aufklärung bedienen musste, dann solltest du dabei aber nicht vergessen, wie erfolgreich diese den Zweck heiligten. Immerhin habe ich in den letzten sieben Jahren mehrere unnatürliche Todesfälle und eine Entführung aufgeklärt, Familien zusammengeführt und nicht zu vergessen … ach, was rede ich denn. Ich muss mich doch vor dir nicht rechtfertigen.”

„Deine Erfolge ändern nichts daran, dass du dich abseits der Legalität zu bewegen pflegst. Und ich habe den Eindruck, dass dir das sogar Spaß macht.”

„Alles Definitionssache”, frotzelte ich.

„Wie belieben?”

„Nimm nur mal das, was du in deinem konservativen Sprachgebrauch als Hausfriedenbruch bezeichnest. Was für ein böses Wort! Für mich handelt es sich dabei nur um eine banale Besitzstörung. Und das, was du Dokumentenfälschung nennst, ist in Wirklichkeit eine legale Eigeninterpretation.”

„Ach ja. Und Informationszurückhaltung nennst du dann wohl selektive Kommunikation.”

„Siehst du, du hast es kapiert. Das klingt nicht nur schöner, sondern es handelt sich auch nicht um strafbare Tatbestände.”

„Nach deiner Auslegung, Darius. Wenn es nicht deinen Freund Heribert Koman, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey gäbe, hätte man dich schon zig Mal am Kanthaken gekriegt.”

Carlos abwertende Handbewegung brachte mich wieder in die Realität zurück und ich verließ ohne weitere und zwecklose Erwiderung sein Büro.

Im ehemaligen Prüferzimmer war eine Art Notarbeitsplatz für mich eingerichtet. Ein Schreibtisch voller Prospekte und Fachzeitschriften, dahinter ein Sessel für mich und davor einen für eventuelle Besucher, eine Schreibtischlampe, ein Bildschirm, den ich an meinen Laptop anschließen kann, ein alter Drucker, ein antiquiertes Regal mit ebensolchen Fachbüchern und anderen Druckwerken. Dieses Ensemble kennzeichnete auf eindrückliche Art meine berufliche Endstation. Ich ließ mich in den Sessel fallen. Das Schriftstück mit der Problem-Chronologie der BEWAG GmbH ließ ich auf die Tischplatte flattern. An der Wand gegenüber hing, kostbar eingerahmt, meine Bestallungsurkunde.

„1976, mein Gott”, murmelte ich. „Seit 33 Jahren bin ich jetzt Steuerberater.”

Was hatte sich alles seitdem geändert. Nicht nur im Beruf, nein auch privat hatte ich dramatische Umwälzungen zu verkraften gehabt. Die Kanzlei, damals noch in Wiesbaden, hatte ich von meinem Vater übernehmen müssen. Quasi in Erbfolge. Widerspruch war zwecklos gewesen! Schließlich hatte er mir das Studium bezahlt. Wie nicht anders zu erwarten, hatte es ab dem ersten Tag Meinungsverschiedenheiten über die Kanzleiführung gegeben. Damals war ich schon drei Jahre mit Beatrice verheiratet gewesen und Mark, unser erster Sohn, war gerade zur Welt gekommen. Drei Jahre später war Marius dazugekommen. Kurz danach war mein Vater gestorben und meiner Mutter nachgefolgt. Ich hätte nie gedacht, dass er mir einmal so fehlen würde. Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt, die Kanzlei war rasant gewachsen und die 80-Stunden-Wochen hatte Einzug gehalten. Mit ihnen waren die ersten Konflikte mit Beatrice gekommen, die sich rasch verschärft hatten. Genauso oft wie ich Besserung und Reduzierung meiner Arbeitszeit gelobt hatte, hatte ich meine Versprechen gebrochen. Acht Jahre lang hatten wir versucht, unsere Ehe zu retten – dazu waren wir umgezogen nach Bernheim, Beatrice Heimat. Ich hatte die Kanzlei verkleinert. Wir hatten unser kleines Weingut gekauft, da man dann etwas anderes zu tun hat, als nur im Büro zu sitzen.Die Arbeit war jedoch an Beatrice hängen geblieben. Wir hatten uns zwei Hunde angeschafft, da man dann gezwungen ist, mit ihnen an der frischen Luft spazieren zu gehen. Aber lediglich Beatrice und die Jungs hatten sich um sie gekümmert. 1997 war es zur Scheidung gekommen. Gedankenlos hatte ich meinen Anspruch an berufliche Verfügbarkeit übertrieben und dafür mein weiteres Zusammenleben mit Beatrice und meinen Söhne geopfert.

Die drastische Änderung meiner Lebenseinstellung, ausgelöst durch die aufrüttelnden Erlebnisse bei der Aufklärung des Mordes an Horst, meinem besten Freund, sie kam zu spät. Der Verkauf der Kanzlei an Carlo war nur noch eine logische Konsequenz gewesen. Ein Notverkauf. Nicht in finanzieller Hinsicht, sondern als lebenserhaltende Maßnahme.

Carlo, ich musste schmunzeln. Hier in diesem Zimmer hatte er früher gesessen. Beauftragt mit Betriebsprüfungen. Ein wenig übergewichtig war er damals gewesen. 85 Kilo bei einer Körpergröße von 1,72 Metern. Seine einleuchtende Erklärung dafür: „Ich bin net zu schwer, Herr Schäfer, ich bin zu klaa für mei Gewicht.” Idiomatisch Geübte konnten die sprachliche Vermengung heute noch heraushören: Ein Hesse in Rheinland-Pfalz. Carlo war zudem ein lebendes Chronometer. Mit absoluter Zuverlässigkeit konnte man die Uhr nach ihm stellen. Auch sein Tagesablauf war systematisch geregelt. Von acht bis zwölf Uhr und von ein bis sechs Uhr. Montags bis freitags. Abweichungen davon würde ihm Irene, seine Frau, auch verübeln. Und ich wusste, wie sie sein konnte. Ich hatte ihre diesbezüglichen Dispositionen lange genug genießen dürfen, als sie noch Dengler hieß und meine Sekretärin war. Integer, zuverlässig, schlagfertig, kompetent. Aber auch launenhaft. Nun war sie Carlos Sekretärin und Ehefrau in Personalunion.

Dennoch ließ sie es sich heute nicht nehmen, mich aus alter Gewohnheit mit ihrem einmaligen Cappuccino zu verwöhnen. Sanft stellte sie die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Zuvor hatte sie noch störenden Papierkram (ihre Bezeichnung) zur Seite geschoben. Statt anschließend wie üblich wieder an ihren Arbeitsplatz zugehen, bleib sie dieses Mal stehen.

„Danke für den Cappuccino.” Beinahe hätte ich gedankenversunken vergessen, mich zu bedanken. Doch das schien es nicht gewesen zu sein, sie schien etwas loswerden zu wollen. „Ist noch etwas?”

Sie setzte sich und strich sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.

„Es geht um Arnold. Ich möchte dir nur einen Tipp geben. Mit Carlo konnte ich darüber nicht sprechen. Er wollte nichts davon hören. Er meinte, wir sollten uns nicht am Dorfklatsch der Siefersheimer beteiligen.”

Ich sah Irene aufmunternd an. „Ich höre?”

„Da ist seit einiger Zeit eine Kampagne gegen Gero Arnold im Gange. Das ging kurz nach dem Tod seiner Mutter los.”

„Kampagne? Was meinst du damit?”

„Anfangs und alleine für sich gesehen, waren es scheinbar nur Belanglosigkeiten. Oder besser: Dinge, die halt im Geschäftsleben vorkommen. Aber im zeitlichen Verlauf und unter Beachtung der Häufigkeiten ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es wird schlecht über ihn geredet. Er sei unzuverlässig. Kunden springen ab und auch bei den Mitarbeitern gibt es eine hohe Fluktuation. Seit er alleine lebt, soll er angefangen haben zu trinken. Er ließe sich häufig nachts Frauen von zweifelhaftem Ruf – du weißt schon – ins Haus kommen.”

„Und, ist da etwas dran?”

„Das ist es ja. Ich glaube das stimmt hinten und vorne nicht. Er ist einfach nicht der Typ dazu. Ich kenne ihn recht gut durch unsere Theatergruppe. Er ist für die Kulissen, die Plakate und unser Programmheft zuständig. Ich habe ihn jedenfalls noch nie alkoholisiert gesehen. Und uns Frauen und den Mädchen gegenüber verhält er sich zwar kameradschaftlich, aber stets korrekt. Da versucht jemand, ihn gezielt mit Gerüchten zu diskreditieren.”

„Hast du eine Idee, wer das sein könnte und weshalb?”

Sie schüttelte zögernd den Kopf und erhob sich.

„Ich habe eine Vermutung. Ich habe das Gefühl, da steckt noch mehr dahinter. Eine Riesenschweinerei. Aber ich will nicht, dass du eventuell in eine falsche Richtung recherchierst. Falls du eine Spur hast, kannst du gerne mit mir darüber sprechen. Vielleicht kommst du auf dasselbe Ergebnis wie ich.”

Nachdem Irene die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich dem Protokoll zu. Es war ordentlich strukturiert und dank Carlos gestochener Handschrift sehr gut lesbar. Neben seinem penibel geordneten Schreibtisch ein weiteres Indiz für seine fast schon pathologische Ordnungsliebe, für die ich ihn jedoch insgeheim bewunderte. Meine Hieroglyphen konnte ich nämlich manchmal selbst nicht mehr entziffern. Gedankenverloren rührte ich in meinem Cappuccino, während ich mich mit dem Inhalt des Protokolls befasste. Ich versuchte es in Einklang zu bringen mit dem, was sich aus dem Gespräch mit Carlo und aus Irenes Hinweisen ergeben hatte.

Zahlen:

Seit 2009 überproportionaler Umsatzrückgang. Prognose 2011 2,1 Mio EUR/Ist 2009 3,3 Mio EUR = Rückgang um fast 30 %
gleichzeitig Anstieg der Materialkosten von 29 % 2009 auf prognostiziert 38 % 2011
2011 wird erstmals in der Geschichte des Unternehmens ein Verlust erwirtschaftet, geschätzt 150.000 EUR

Ereignisse:

Auftragseingang geht zurück
Altkunden gehen zur Konkurrenz (meist zu Knober, Hunoldsheim)
sie springen sogar von vertraglichen Vereinbarungen ab, sodass sich auch die Auftragsvorlage verschlechtert
ähnliches Bild bei Neukunden
bei der Suche nach Gründen über direkte Nachfragen geben sie an, dass Knober preiswerter sei oder
sie flüchten sich in Ausreden oder erzählen von Informationen über das Unternehmen, aufgrund derer sie kein Vertrauen mehr in Qualität der Produkte und Zuverlässigkeit haben
wichtige Mitarbeiter kündigen
die Gewerbeaufsicht kommt aufgrund anonymer anzeigen und findet Unregelmäßigkeiten
beim Finanzamt gehen anonyme Anzeigen wegen Steuerhinterziehung und Zollvergehen ein
die Presse veröffentlicht Leserbriefe, in denen Unwahrheiten über Unternehmen und Unternehmer stehen

Vermutung:

Bereits vor vielen Jahren hatte es Querelen zwischen Gisela Arnold und dem Vater ihres Konkurrenten, Sigurd Knober, gegeben
Dieter Knober versucht, Gero Arnold zum Verkauf seines Unternehmens an ihn zu bewegen und unterbreitet ihm immer drängender Angebote, die im Laufe der Zeit nötigende Ausmaße annehmen – nur im Vier-Augen-Gespräch, ohne Zeugen.
Eine Einschaltung der Kriminalpolizei Alzey scheitert daran, dass kein strafbarer Tatbestand zu erkennen ist. Man empfahl, sich mit einem Rechtsanwalt oder einem Privatdetektiv zu beraten.
Bilanz einer Lüge

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