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Donnerstag, 14. Juli 2011, Siefersheim
ОглавлениеGero Arnold war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. „Sie glauben gar nicht, wie viel mir das bedeutet und wie sehr mich das erleichtert! Ich setze voll auf Sie und Ihr kriminalistisches Gespür. Sie haben es ja schon mehrmals erfolgreich unter Beweis gestellt. Herr Schäfer, Sie sind meine letzte Rettung!”, hatte er unsere telefonische Terminabsprache beendet.
Erst wollte ich ihn in seiner pathetisch gefärbten Erwartungshaltung bremsen. Schließlich hatten wir auch schon seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass ihn seine Euphorie öffnen würde. Ich brauchte alles an ungefilterten Informationen, was nur irgendwie mit seinen Problemen zu tun hatte. Er sollte nicht lange überlegen, sondern alles heraussprudeln, was ihm so einfiel. Das Filtern durfte er getrost mir überlassen.
Von Bernheim bis Siefersheim hatte ich mit dem Pkw etwa fünf Kilometer zurückzulegen. Die idyllische Weinbaugemeinde gehört mit ihren knapp 1.300 Einwohnern zur Verbandsgemeinde Wöllstein. Der Ortsname leitete sich aus der fränkischen Zeit, Mitte des 5. Jahrhunderts, ab. Die Franken bevorzugten, im Gegensatz zu den abgezogenen Römern, ländliche Siedlungen. Sie gründeten und besiedelten jene Dörfer, deren Ortsnamen auf „-heim” enden. Die Baustruktur der bäuerlichen Anwesen ließ im Ursprung die fränkischen Hofanlagen heute noch deutlich erkennen. Hofreiten, Bruchsteingebäude aus regionalen Sandstein-Steinbrüchen, Kuhtempel und Gewölbekeller charakterisierten die archaische Architektur. Und nicht nur die bestimmten den Charme von Siefersheim. Hof- und Dorffeste, kulturelle Veranstaltungen, thematisch besetzte Weinbergwanderungen, Bauernmärkte, aber auch attraktive Angebote zur sportlichen Betätigung waren das bestätigende Pendant zur aufgeschlossenen Lebensart des Rheinhessen – falls es ihn überhaupt in Reinform gab.
Bekannt ist Siefersheim jedoch weit über seine Grenzen hinaus durch die hervorragenden Weine, die von annähernd zehn Weingütern angebaut und produziert werden.
Ich erreichte den Betrieb der BEWAG GmbH pünktlich um 18 Uhr, wie wir es vereinbart hatten. Gero Arnold wartete bereits auf der breiten Treppe, die zu der zweiflügeligen Eingangstüre aus Glas führte. Ich war schockiert, als ich ihn sah. Was war aus dem stets adretten Mann geworden, dessen positiver Ausstrahlung man sich nicht entziehen konnte? Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er bereits auf Feierabend eingestellt: Er trug eine ausgebeulte Cordhose in einem undefinierbaren bräunlichen Ton, dazu ein Holzfällerhemd und darüber eine abgewetzte Wollweste. Dieses Ensemble hatte auch schon bessere Tage gesehen. Unfraglich waren Kleidung und sein allgemeines Aussehen absolut authentisch. Der 64-Jährige ewige Junggeselle sah in seiner gebeugten Haltung und mit der fahlen, fast gelblichen Haut gut und gerne zehn Jahre älter aus. Da half es auch nicht, dass er sein noch volles Haar rabenschwarz färbte.
Das Wohnhaus lag oberhalb der beiden Betriebsgebäude, getrennt durch die Firmenparkplätze und einen etwa 20 Meter breiten, ungepflegten Rasenstreifen. Er wurde aufgelockert durch ein paar vor sich hin kümmernde Rosenstöcke.
Dem Zeitstil der frühen 60er Jahre entsprechend war das Haus als Bungalow konzipiert worden. Alleine schon die geschwungenen, schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern, die blauen, glänzend gebrannten Hohlpfannendachziegel und die edlen Außenleuchten offenbarten, dass Gisela Arnold damals bei der Ausstattung nicht gespart hatte. Ein Renovierungsstau war allerdings auch nicht zu übersehen. Die kupfernen Dachrinnen und Fallrohre wiesen undichte Stellen auf und schrien geradezu nach Reparatur und teilweise auch Erneuerung. Ebenso die Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte und bereits verrottete Stellen sichtbarwaren. Auch an der breiten Marmortreppe hätte es an einigen Stellen einer Restaurierung bedurft.
Gero Arnold forderte mich mit einer einladenden Geste dazu auf, ihm zu folgen. Durch die überdimensionierte Eingangshalle führte er mich ein riesiges, langgezogenes Wohnzimmer. Eine schwere, lederne Sitzgarnitur bestehend aus Couch, drei Sesseln und dazwischen einem niedrigen Tisch verlor sich trotz ihrer Masse im Raum. Über die eine Wand erstreckte sich ein überdimensionales Bücherregal, das wie der Couchtisch aus Eiche rustikal P43 gefertigt war. Ein futuristisch anmutender LED-Fernseher zog meinen Blick auf sich. Darunter entdeckte ich den gleichen Satellitenempfänger mit integrierter Festplatte als Speichermedium, wie ich ihn auch hatte.
Die gegenüberliegende Seite des Raums hätte ein märchenhaftes Motiv für eine Bildtapete ergeben: Durch die Glasfront, die die gesamte Länge des Raumes einnahm, hatte man einen grandiosen Blick über die Terrasse auf die Siefersheimer Weinlagen, das Goldene Horn und den Höllberg.
Jetzt erst bemerkte ich den Geruch eines schweren Parfums. Ich empfand ihn als störend. Nicht etwa, weil er unangenehm war. Er passte nur nicht zu einem Mann und schon gar nicht zu Gero Arnold, wie er sich hier präsentierte.
Wir nahmen jeder auf einem der Sessel Platz. Auf dem Couchtisch hatte Gero Arnold bereits einige Unterlagen, Zeitungsausschnitte, Briefe und Fotos ausgebreitet. Doch bevor wir zum eigentlichen Grund meines Besuches kamen, wurde einem unerlässlichen, rheinhessischen Ritual Tribut gezollt.
„Rot oder weiß? Ich habe hier einen Riesling, eine trockene Spätlese. Aus der Lage, Siefersheimer Heerkretz. Vom Weingut Gebert.” Gero Arnold deutete auf die Kühlbox, aus der ein grüner Flaschenhals herausragte. „Auf Porphyr angebaut”, betonte er.
Porphyr? Ich grinste ihn wissend an, als sei mir die Bedeutung bekannt. Ich nahm mir vor, mich im Internet schlau zu machen.
„Oder lieber den hier?”, unterbrach er meinen Gedanken. „Ein Blauer Frühburgunder? Im Holzfass gereift. Vom Weingut Sommer. Ich kaufe gerne die Weine von hier. Man kennt die Winzer, die Lagen. Ich sehe beim Spaziergang durch die Weinberge, wie sehr auf ökologische Verträglichkeit geachtet wird. Und wenn ich will, kann ich beim Keltern zusehen und im Weinkeller den ersten Jungwein verkosten. Und dann erst den Federweißer.” Er verdrehte genießerisch die Augen nach oben, bevor er mir die bereits geöffnete Flasche mit dem Frühburgunder hinhielt.
„Welchen nehmen Sie?”, wollte ich wissen.
„Den Roten. Sie wissen ja: Rotwein ist für alte Knaben …”
Ich schloss mich seiner Wahl an. Ein Zuprosten, ein nachschmeckendes Verkosten und wir konnten uns endlich dem eigentlichen Thema zuwenden.
„Herr Schäfer, ich weiß inzwischen nicht mehr, was ich tun soll. Die Polizei kann oder will nicht helfen. Der Rechtsanwalt, für den ich alles aufbereitet habe”, er wies auf die auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen, „hat die Segel gestrichen. Der beste Rat, den er mir anscheinend geben konnte oder wollte, war, einen Privatdetektiv zu beauftragen. Aber was weiß ich, an wen ich da gerate. Sie aber … wissen Sie, meine Mutter hielt große Stücke auf Sie. Und auch ich habe grenzenloses Vertrauen in ihre Integrität und Verschwiegenheit.”
Es war mir peinlich und ich winkte ab.
„Nein, nein”, er lächelte mich an, „was Recht ist, muss Recht bleiben. Sie haben uns niemals enttäuscht und waren immer für uns da.”
Seine erneute Beweihräucherung war mir inzwischen unangenehm. Ich zog es vor, zur Sache zu kommen. „Was haben Sie denn selbst unternommen, um den Ursachen auf den Grund zu gehen?”
„Natürlich habe ich versucht, den offenkundigsten Ereignissen nachzugehen. Teilweise waren sie erklärlich, da musste ich gar nicht erst nachfragen. Verpfuschte Aufträge, Liefertermine nicht eingehalten. Dass da selbst langjährige Kunden abspringen, mussich einfach akzeptieren. Aber auch Neukunden zogen ihre Aufträge mit fadenscheinigen Argumenten zurück. Irgendjemand schien Unsinn über mich und die Druckerei zu erzählen. Soweit ich es mitbekommen habe, sind die Kunden dann zu Knober gegangen. So wie einige meiner langjährigen Mitarbeiter. Zu Knober – das ist doch bezeichnend und gibt zu denken. Oder?”
„Mit welcher Begründung?”
„Nur ausweichende Antworten, Ausflüchte. Dem einen war die Anfahrtstrecke plötzlich zu lang, ein anderer beklagte die verschlechterten Arbeitsbedingungen.”
„Und ist das so?”
„Herrgott nochmal. Wir sind hier nicht auf einem Ponyhof. Es gab immer Probleme. Früher gehörte das zum Tagesgeschäft. Allerdings haben ja, wie Sie wissen, mehrere bewährte Mitarbeiter gekündigt. Die kannten das Geschäft noch von Anfang an und haben alle Entwicklungen mitgemacht. Die neuen Kräfte sind entweder Angelernte oder kennen sich nur noch mit den heutigen Betriebsmitteln aus. Die denken nicht mehr. Denen wird das Denken von den Maschinen weitgehend abgenommen.”
In seiner Rage war er aufgestanden und ging nun auf und ab.
„Aber wehe, wenn diese Maschinen nicht reibungslos funktionieren.”
„Na ja, das haben sie ja auch nicht, oder?”
„Ich war ja selbst überrascht davon. Ungewöhnliche Maschinenausfälle. Mal spielte die Software verrückt, mal hatten wir es mit mechanischen Ausfällen zu tun. Von der EDV habe ich ja nicht viel Ahnung, der traue ich auch nicht so. Aber die mechanischen Probleme …”, er schüttelte verzweifelt den Kopf und sah mich durchdringend an. „Wissen Sie, ich achte peinlich genau auf die Einhaltung der vorbeugenden Wartung. Das ist so etwas wie ein persönliches Anliegen von mir. Aber was hilft’s, wenn eine Welle steckt. Oder wenn sich plötzlich ein Sicherungsstift löst, obwohl er eigentlich arretiert ist.”
„Ich würde gerne etwas besser verstehen, was in einer Druckerei abläuft. Was macht ein Drucker eigentlich heutzutage?”
Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ihn meine Frage etwas verwunderte.
„Also, in Kürze: Wir stellen die unterschiedlichsten Druckerzeugnisse her. Der Drucker bedient dazu ganze Systeme von Druckmaschinen. Zu seinem Arbeitsbereich gehören das Vorbereiten von Druckformen, Bedruckstoffen, Druckfarben und Druckmaschinen zur Produktion. Dazu kommen noch die Optimierung der Fertigungsprozesse und der Druckqualität. Das sind die wesentlichen Aufgaben beim Fortdruck. Dabei setzen wir ….”
„Wissen Sie, was ein BilMoG ist?”, unterbrach ich ihn.
Er schüttelte irritiert den Kopf.
„Sehen Sie, und ich weiß nicht, was ein Fortdruck ist.”
Gero Arnold versuchte gar nicht erst, seinen Unmut zu verbergen: „Wenn´s denn hilft, erkläre ich Ihnen das halt.” Dann schob er aber doch noch ein „gerne” hinterher. „Zuerst kommt der sogenannte Andruck. Das ist ein Probedruck, mit dem die Qualität der Druckvorlagen überprüft wird, besonders bei mehrfarbigen Arbeiten an einer Druckmaschine. Wenn der Andruck dann vom Auftraggeber genehmigt ist, dient er dem Drucker an der Fortdruckmaschine als Vorlage für ein möglichst ähnliches Druckergebnis.”
„Wenn ich es richtig verstehe, ist ein Fortdruck der Druck der vereinbarten Auflage, nachdem alle vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen sind und die Genehmigung zum Fortdruck durch den Besteller vorliegt.”
„Exakt!”
„Na, da war meine Nachfrage doch gar nicht so dumm.” Diese Spitze musste ich loswerden. „Die verpfuschten Aufträge, die Sie erwähnten, um was ging es dabei?”
Mit einem Seufzer ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen. „Wir mussten komplette Produktionschargen vernichten. Mal stimmte die Schrifttype oder Schriftgröße nicht. Mal gab es Abweichungen in der Farbgestaltung. Bilder wurden an den falschenStellen platziert oder gar verwechselt. Fotos von Auftrag X landeten plötzlich im Auftrag Y. Sehen Sie selbst.”
Er wies auf zwei aufwändig gestaltete Flyer. „Das ist zu Mamas Zeiten nie vorgekommen.”
Ich begutachtete die Flyer: Eine Eröffnungsanzeige eines griechischen Restaurants – mit einem Bild von einem chinesischen Koch vor seinem Wok. Der andere Flyer warb für ein Toyota-Autohaus – mit einem Logo von Mercedes.
„Makulatur – beide Chargen. Mal eben Material und Arbeitszeit für 5.000 Euro durch den Kamin gejagt. Puff. Und das sind nur wenige Beispiele.”
„Aber Sie gehen doch den Mängelursachen nach, oder?”
„Klar doch. Wir haben ein Qualitätsmanagement-System und sind sogar ISO-zertifiziert. Wir halten uns an die Vorgaben.”
„Also betreiben Sie eine systematische Suche nach den Fehlerursachen”, stellte ich fest.
„Na ja”, er wog bedenklich den Kopf, „das ist so ein Schwachpunkt. Wir sammeln zwar erst einmal die Fehler, aber die Reparaturen und Neuauflagen der verpfuschten Aufträge haben natürlich Vorrang. Wenn wir die verärgerten Kunden überhaupt bei der Stange halten können. Der Flyer für das Autohaus ist in diesem Zustand”, er hielt ihn mir nochmals hin, „sogar ausgeliefert worden. Und zwar nicht an den Kunden, sondern an die Vertriebsgesellschaft, die für die Verteilung sorgt. Da”, er legte mir einen Zeitungsausschnitt vor, „das war natürlich ein gefundenes Fressen für eine Glosse. Und hier sogar verhöhnende Leserbriefe. Klasse Werbung, kann ich da nur sagen.”
„Sie müssen aber doch wenigstens eine Ahnung haben, wo die Ursachen liegen!”
„Ich sagte ja schon: Fehler bei den Mitarbeitern und bei der Software. Wir haben ein komplexes EDV-System. Von der Anfrage über Kalkulation, Angebot, Kundenauftrag, Produktionssteuerung bis hin zur Rechnungsschreibung läuft alles über die EDV.”
„Und?”
„Manche Aufträge verschwanden komplett nach ihrer Fertigstellung. Es kam auch vor, dass nur Teile davon, zum Beispiel Nachträge oder Änderungen, nicht mehr vorhanden waren. Sie waren einfach nicht mehr im System.”
„Mal abgesehen von der Chose mit dem Autohaus – wann stellen Sie so etwas fest? Oder besser, wer stellt das fest?”
„Meist erst dann, wenn der Kunde einen Liefertermin oder einen Mangel reklamiert. Und wenn dann noch Mitarbeiter ausfallen oder gar nicht mehr da sind, die den Kunden kennen oder den Auftrag ausgeführt haben, wird es ganz kritisch. Es ist hochnotpeinlich, beim Auftraggeber mit fadenscheinigen Erklärungen um eine Kopie der Auftragsbestätigung zu bitten.”
„Lässt sich das eingrenzen, zum Beispiel auf bestimmte Kunden, Auftragstypen oder Mitarbeiter?”
„Es handelte sich immer um größere Aufträge. Und um solche mit einem hohen Materialeinsatz. Bei Spezialpapier, Sonderformaten, aufwendiger Bindetechnik oder Ähnlichem.”
„Also dort, wo ein maximaler Schaden entsteht. Nicht nur für Ihre Reputation, sondern auch materiell. Um es betriebswirtschaftlich auszudrücken: Laufender Umsatz, potenzieller Umsatz und Materialeinsatz belasten den Ertrag.”
„Nicht zu vergessen die anonymen Anzeigen.” Er knallte mehrere Schriftsätze vor mir auf den Tisch. „Hier: Beschäftigung von illegalen Arbeitskräften. Und: Steuerhinterziehung wegen nicht deklarierter Bargeschäfte. Und hier: Verstoß gegen die Hygienevorschriften im Aufenthaltsbereich. Und da habe ich etwas besonders Feines: Strafvereitelung gemäß § 258 StGB, weil ich einem polizeilich gesuchten Straftäter Zuflucht gewährt und ihn bei mir beschäftigt haben soll. Aber damit nicht genug, hier habe ich noch eine Anzeige wegen des Verstoßes gegen die Arbeitssicherheit. Zoll, Gewerbeaufsicht, Finanzamt und sogar die Polizei gingen bei mir ein und aus. Und natürlich war auch immer die Presse sofort zur Stelle. Weiß der Teufel, wer die informiert hatte. Ein anonymer Anrufer, erklärte man mir.”
„Und sind das alles erfundene Anschuldigungen? Bei der Richtigstellung wegen der angeblichen Steuerhinterziehung konnten wir ja helfen.”
„Nichts, aber auch gar nichts von alledem stimmte. Aber Sie kennen ja den blöden Spruch: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Wer will denn mit so einem noch Geschäfte machen?”
Er entschuldigte sich: „Der Wein will raus” und verschwand mit hängenden Schultern durch einen Rundbogen in der Bücherwand.
Ich blickte resigniert auf die Unterlagen vor mir. Was sollte ich tun? Wie vorgehen? Ich wollte ihm ja helfen und herausfinden, was hinter den Vorkommnissen steckte. Aber dieses Gewirr von Ereignissen … Das konnte doch nicht nur eine Person angerichtet haben!
Natürlich blieb ihm mein Anflug von Mutlosigkeit nicht verborgen, als er wieder Platz nahm.
„Und ich habe keine Ahnung, wie das alles geschehen kann”, jammerte er, „außer …”
„Ja, das stinkt nach Sabotage. Aber da auch Mitarbeiter demotiviert sind und sich umorientieren, dürfen wir Abwerbung oder auch Mobbing nicht ausschließen. Herr Arnold, kann es …”, ich überlegte, wie ich es diplomatisch ausdrücken könnte und entschied mich dann doch für den direkten Weg, „… könnte es sich nicht eventuell auch um ein Führungsproblem handeln?”
„Herr Schäfer”, sein bis dahin eher larmoyanter Tonfall nahm plötzlich eine Schärfe an, die mir bedeutete, dass ich wohl in den Busch geschossen hatte, „ich benötige wasserdichte Fakten. Sabotage, Mobbing, wie soll ich denn das beweisen? Und von wegen Führungsproblem!” Aus seiner pointierten Wiederholung ließ sich selbst für den Unsensibelsten heraushören, dass er meine neutral gemeinte Frage als Vorwurf aufgenommen hatte.
„Ich kann doch nicht überall gleichzeitig sein. Konnten Sie das früher? Man muss sich doch auch auf seine Leute verlassen können. Und sie dürfen nicht außer Acht lassen, wie viel Zeit ich alleine dadurch verloren habe, dass ich mich mit der Polizei, dem Zoll,der Gewerbeaufsicht und dem Finanzamt rumschlagen musste. Das waren ja nicht nur die Befragungen und die Telefonate. Alle paar Tage kam ein Brief von irgendeiner Stelle, die etwas wissen wollte. Diese Briefe mussten gelesen und beantwortet werden, um keine Frist zu versäumen. Dazu kamen die schriftlichen Stellungnahmen, Einsprüche, und was sonst noch alles. Aber hinter alle dem kann doch nur einer stecken: der Knober!”
Zum zweiten Mal schon erwähnte er seinen schärfsten Konkurrenten. Doch als hätte er mit dem Namen ein heißes Eisen angefasst, zuckte er erschrocken zusammen.
Unvermittelt änderte er anschließend Thema und Tonfall. „Darf ich nachschenken?” Er ergriff die Rotweinflasche, erhob sich und wollte mein inzwischen fast leeres Glas auffüllen.
„Nein, danke”, ich deckte es mit meiner Hand ab. „Mehr als ein Glas trinke ich nicht, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin.”
„Aber ich genehmige mir noch eines.” Es war schon sein viertes. Seine Hand zitterte leicht, als er sein Glas füllte. Er erhob es in meine Richtung, nickte mir zu, nahm einen tiefen Schluck und stellte es bedächtig ab. Dann lehnte er sich zurück. Ein oberflächlicher Betrachter dieser Szene hätte Gero Arnold als entspannt bezeichnet. Sein tiefes Einatmen und die kurzfristig geschlossenen Augen ließen jedoch seine innere Belastung erkennen.
Ich war froh über die weitere kurze Pause. Ich gab vor, mich mit den Aufzeichnungen, die ich während seiner Ausführungen gemacht hatte, zu beschäftigen. Tatsächlich irritierte mich jedoch die Sprunghaftigkeit, mit der er mir seine Situation geschilderte hatte – unsortiert und unstrukturiert. Und vor allem, weshalb wurde er mit seinem Verdacht gegenüber Dieter Knober nicht konkreter?
„Sie erwähnten, dass Dieter Knober dahinter stecken könnte. Wie ist denn Ihr Verhältnis zu ihm?”
„Bis vor zwei Jahren gab es keine Berührungspunkte.”
„Und dann? Was war dann?”
„Seitdem hat er mich mehrmals angerufen, um sich mit mir zu verabreden. Er wollte mir ein Angebot machen. Für die Druckerei.”
„Und haben Sie sich …?”
Er unterbrach mich schroff: „… mit ihm getroffen? Wo denken Sie hin? Ich will mit dem nichts zu tun haben! Das habe ich ihm zig Mal gesagt.”
„Gibt es Zeugen für die Telefonate?”
Er überlegte kurz. „Nein, ich glaube nicht. Nein!”
„Hat er Sie auf Ihre Misere angesprochen? Konnte man aus seinen Worten erkennen, dass er Sie in die Enge treiben will?”
„Sie meinen im Sinne von: sturmreif schießen?”
„Ja, das trifft´s.”
„Direkt nicht, aber er wusste immer ganz schnell, wenn wieder etwas vorgefallen war. Als hätte er einen Zuträger im Betrieb oder beim Finanzamt, bei der Gewerbeaufsicht. Der hat offenbar überall seine Netzwerkkumpel.”
„Wie wäre es”, fiel mir plötzlich ein, „wenn Sie auf das nächste Angebot eingehen und wir ihm dabei eine Falle stellen? So, dass er sich verrät.”
„Wie wollen Sie denn das machen?”
„Weiß ich noch nicht. Da wird mir schon etwas einfallen. Ich werde das mit einem Freund bei der Kripo Alzey besprechen und gebe Ihnen dann Bescheid.”
„Hhm, klingt gut. Wir schlagen das Schwein mit seinen eigenen Waffen”, freute er sich, relativierte dann aber „wenn er wirklich dahintersteckt” und trank einen großen Schluck Rotwein.
„Nicht doch noch einen?”
„Nein, danke”, ich schüttelte den Kopf und wechselte dann das Thema: „Ihre Mutter hatte aber offenbar auch Berührungspunkte, wie Sie es nennen. Allerdings viel früher. Mit Sigurd Knober.”
„Ja, sie hasste ihn wie die Pest. Aber fragen Sie mich nicht, weshalb! Mir gegenüber hat sie sich dazu nicht geäußert. Es ginge mich nichts an, hat sie gesagt, als ich einmal danach gefragt habe. Und es sei eine alte Geschichte, um die ich mir keinen Kopf machen sollte.”
Ich nahm die Erklärung schweigend hin, obwohl mir eine innere Stimme sagte, dass Gero Arnold mir etwas verheimlichte. Denn seine Antwort klang zu sehr danach, als habe er meine Frage erwartet und sich vorbereitet. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet. Nur kurzfristig, aber es war mir nicht entgangen. Ich hatte ihn bewusst genau beobachtet. Außerdem irritierte mich, dass er nicht den Grund meiner Frage wissen wollte. Und auch nicht, woher ich überhaupt wusste, dass seine Mutter und Dieter Knobers Vater sich gekannt hatten.
„Hat Sigurd Knober eigentlich den Betrieb gegründet?”
„Soviel ich weiß, hat er ihn gekauft.”
„Im Gegensatz zu Ihrer Mutter. Ich habe sie ja immer bewundert. Ganz alleine, kurz nach dem Krieg und dazu noch als Frau.” Ich blickte ihn forschend an. „Darf ich Sie, bevor ich gehe, noch etwas ganz Persönliches fragen?”
„Natürlich. Ich bin ja ohnehin fast schon so etwas wie ein offenes Buch für Sie.” Er lachte. Etwas zu gequält wie ich fand.
„Ihr Vater – haben Sie ihn jemals kennen gelernt?”
Statt einer Antwort stand er auf, ging zur Bücherwand und kam mit einem Foto zurück, das er mir reichte. Es steckte in einem kostbaren silbernen Bilderrahmen.
„Das ist er. Oder besser, das war er.”
Ich hielt das Bildnis eines jungen Soldaten in der Hand. Er trug eine schwarze SS-Ausgeh-Uniform und eine Schirmmütze. Auf dieser waren der silberne Parteiadler und ein Totenkopf zu erkennen. Ich schätzte ihn auf knapp 20 Jahre. Ich drehte das Foto um. Es war am 27. 05. 1939 von Foto Gerber, Dietz an der Lahn, aufgenommen worden. Ich reichte es Gero Arnold zurück, der es vorsichtig, fast liebevoll, entgegennahm.
„Er ist kurz vor Kriegsende gefallen.” Er blickte dabei auf das Foto. „Bei einem Tieffliegerangriff der Amerikaner in der Nähe von Kronberg, im Taunus. Drei Monate vor meiner Geburt. Wenn man überlegt …”, er schüttelte den Kopf, „nur eine knappe Autostunde entfernt von Bad Kreuznach und einen Monat vor Kriegsendemusste es ihn noch erwischen. Da war er erst 23 Jahre alt.” Er sah mich durchdringend an. Seine Augen waren feucht. „Dieses Jahr wäre er 89 Jahre alt geworden. Er könnte heute vielleicht sogar noch leben. Mama und er waren noch nicht einmal verheiratet. Er war die Liebe ihres Lebens. Sie hat ihn bis zu ihrem Tod vermisst.” Für einen flüchtigen Moment hatten sich seine Gesichtszüge verhärtet. Danach verweilte sein Blick noch für einen Moment zärtlich auf dem Konterfei seines Vaters, bevor er es wieder in das Regal stellte.
„Und so kam es, dass Mama und ich bis fast zu ihrem Tod alleine geblieben sind.” Er klang jetzt wieder gefasst und dennoch hatten seine Augen etwas Verträumtes, als er mir schilderte, wie sehr ihn seine Mutter geprägt und nach ihren Werten erzogen hatte. „So hätte es auch dein Vater gewollt sagte sie immer. Wenn ich so überlege, war er dadurch doch irgendwie immer mit dabei.”
„Und Sie hatten nie den Wunsch nach einer eigenen Familie?”
Er zögerte einen Moment. „Nein. Die Frage hat sich auch nie gestellt. Das heißt aber nicht, dass ich als absolutes Muttersöhnchen wie ein Mönch in Askese gelebt habe. Ich bin zwar Junggeselle, aber meine Bedürfnisse habe ich auch und kann ihnen nachgehen, wie ich will und wann ich will, ohne irgendwem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Auch als Mama noch lebte, war das völlig unproblematisch. Ich hatte ja immer meinen eigenen Bereich hier im Haus, den sie respektierte. Aber eine dauerhafte Beziehung im Sinne einer Ehe, mit Kindern, das war nichts für mich. Vielleicht scheute ich auch die Verantwortung. Na ja, und heute ist der Zug abgefahren. Ich habe mich jedenfalls gut mit der Situation arrangiert.”
Ich musste an Irenes Worte denken: „Man sagt von ihm, dass er heimlich Frauenbesuch hätte.” Und wenn schon, das ist doch seine Sache. Wen geht das etwas an? Ich jedenfalls hatte darüber nicht zu urteilen. Für mich war es wichtig, dass ich seinen Aussagen vom Grundsatz her vertrauen konnte. Und selbst wenn mich einiges an seinem Verhalten irritieren mochte, so war das der Situation geschuldet, in der er sich befand: Ein gestandener Unternehmer wusste sich – abseits steuerrechtlicher Belange – nicht mehr anders zu helfen, als seinen ehemaligen Steuerberater um Hilfe zu bitten.
Auf der Rückfahrt nach Bernheim hatte ich eine Szene immer noch vor Augen, die mich berührte und nicht los ließ: Gero Arnold hatte seinen Vater doch nie kennen gelernt. Er war mit seiner Mutter allein aufgewachsen. Das war für ihn Normalität. Er hatte es nicht anders erlebt. 64 Jahre lang. Und dennoch diese ungewöhnlich tiefe Empfindung seinem Vater gegenüber. Die Zärtlichkeit, die er dem Bild eines Toten entgegenbrachte. Wie konnte es zu einer solchen emotionalen Bindung kommen? Konnte so etwas genetische Ursachen haben? Oder hatte Gisela Arnold einen verherrlichenden Kult betrieben und ihren Sohn darin einbezogen? Es beschäftigte mich in diesem Moment mehr als alles andere. Ich musste mit Sonja darüber sprechen.