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1. Kapitel Dienstag, 23. September 2003, 7.30 Uhr (Herbstanfang)
ОглавлениеDas Telefon riss uns unbarmherzig aus dem Ansatz frühmorgendlicher Zärtlichkeit. „Lass es klingeln!”, flüsterte Sonja liebevoll.
„Darius, geh ran, wenn du da bist!” Heriberts sachliche Stimme aus dem Anrufbeantworter wirkte auf uns so ernüchternd wie ein Kübel Eiswasser.
Mit missmutigem Brummen nahm ich den Hörer ab. „Du nervst! Was ist los?”
„Was los ist? Mir liegt ein Ersuchen auf Amtshilfe von der Policia de Investigatión Criminal auf La Palma wegen eines Verbrechens an einem deutschen Residente vor. Wieder einmal ein Kollege von dir. Kennst, oder besser gesagt, kanntest du …”
Mehr erfuhr ich erst ein paar Stunden später, Sonja hatte nämlich den Störenfried abgekoppelt, indem sie das Kabel aus der Anschlussdose und mich in ihren Bann gezogen hatte.
Ich erinnerte mich jedoch beim Frühstück wieder daran, dass ich vor vier Tagen, abends gegen 22 Uhr 30 einen merkwürdigen Anruf erhalten hatte.
„Herr Schäfer?”, flüsterte ein Mann ängstlich.
„Was kann ich für Sie tun?”, fragte ich unsicher.
„Sie kennen mich nicht, aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen.” Der Anrufer sprach so zögerlich und leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Andererseits ließ er mir keine Möglichkeit für Zwischenfragen, meine Ansätze gingen in seiner hörbaren Aufgeregtheit unter.
„Es ist sehr wichtig. Ich kenne Ihren Namen aus einem Artikel im deutschsprachigen Wochenspiegel Wir sind Berufskollegen. Mein Name ist … was soll das … lass das … das ist doch verrückt … man kann doch über alles re… meine Tochter …” Dann wurde die Verbindung abrupt getrennt. In der Leitung war nur noch ein Rauschen. Ich zuckte ratlos mit den Schultern und legte auf. Tatsächlich vergaß ich die Sache. – Bis zu dem Anruf von Heribert. Mir fiel plötzlich in Verbindung mit „La Palma” ein, dass es sich bei dem von dem mysteriösen Anrufer erwähnten deutschsprachigen Wochenspiegel um ein wöchentlich erscheinendes Journal handelte. Es wurde auf den Kanaren vertrieben und somit auch auf La Palma.
Nun war natürlich meine Neugierde geweckt. Zum Missfallen von Sonja unterbrach ich unser trautes Frühstück und rief Heribert in der Polizeiinspektion Alzey zurück.
„Was wolltest du in aller Frühe, wenn anständige Menschen noch im Tiefschlaf sind?”, eröffnete ich das Gespräch etwas zu forsch und bevor Heribert sich melden konnte. Ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, Rückschlüsse wegen des rüde unterbrochenen Telefonats zu ziehen. Seine Fantasie lieferte ihm auch ohne meine Unterstützung genug Stoff für boshafte Bemerkungen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass jemand anderes als er das Telefon in seinem Büro abnehmen könnte.
„Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, irgendjemanden, mit dem ich auch noch per du sein soll, zwischen Mitternacht und Morgen angerufen zu haben”, klärte mich eine energische, aber nicht unsympathische Frauenstimme auf.
Mit einem kurzen Blick auf das Display meines Telefons versicherte ich mich, dass ich tatsächlich die korrekteTelefonnummer gewählt hatte. Ich wollte dennoch gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als ich Heribert im Hintergrund sagen hörte:
„Das könnte für mich sein. Wer ist dran?”
Trotzdem offenkundig die Sprechmuschel zugehalten wurde, konnte ich die Fortsetzung des Dialogs auf der anderen Seite, wenn auch nur leise, mitverfolgen.
„Das weiß ich nicht, er hat seinen Namen nicht genannt.”
Dann hörte ich kurzes Tuscheln und endlich die vertraute Stimme von Heribert:
„Kriminalhauptkommissar Koman, guten Tag! Mit wem spreche ich bitte?”
„Ja, du hast richtig getippt. Es ist für dich. Hast du neuerdings eine persönliche Sekretärin, die dich abblockt?”, versuchte ich sofort seiner zu erwartenden bissigen Reaktion auf die abrupte und stilwidrige Unterbrechung unseres frühmorgendlichen Telefonates auszuweichen.
„Du willst nur ablenken”, knurrte er.
„Ablenken? Weshalb? Wovon?”, tat ich ahnungslos.
„Du weißt schon, was ich meine. Weshalb hast du ohne erleuchtende Offenbarung den Hörer aufgelegt?!” Das war keine Frage, sondern klang eher wie eine Rüge.
„Hatte ich nicht klar und deutlich gesagt, dass du nervst? Das sollte doch wohl genügen. Aber Zaunpfähle sind bei dir ja wirkungslos, also musste es der ganze Lattenzaun sein!”, setzte ich mich zur Wehr. Ich wollte dann aber aus dieser Mücke keinen Elefanten machen und fuhr daher in beschwichtigendem Tonfall fort. „Nun sag schon, was gibt es denn so Wichtiges?”
„Das ist nichts fürs Telefon.”
„Sag schon, damit ich wenigstens weiß, was mir droht”, drängelte ich.
„Na gut. Erstens benötige ich deinen Rat als Quasikollege und als Angehöriger des steuerberatenden Berufsstandes, so heißt das doch wohl in eurem offiziellen Jargon.”
„In dieser ungewöhnlichen, fast schon bizarren Kombination steckt eine extravagante Herausforderung”, reagierte ich süffisant. „Hoffentlich nicht wieder so ein Job, der mit viel Ärger und dafür wenig oder gar keinem Honorar verbunden ist. Und zweitens …?”
„Was zweitens!?”, fragte Heribert verwirrt.
„Du sagtest, dass du erstens meinen Rat brauchst. Also folgt nach Adam Riese zweitens – schon vergessen?”
Heribert ging nur knapp darauf ein. „Zweitens, weil du dich mit den Gegebenheiten auf La Palma etwas auskennst. Könntest du also sofort zu mir kommen, oder soll ich …”
Ich unterbrach ihn mit einem Blick auf Sonja, die unser Telefonat mit Kopfschütteln mitverfolgte, sicherte ihm zu, mich umgehend auf den Weg nach Alzey zu machen und legte auf.
„Also wieder einmal eine Aufgabe für Sherlock Holmes und Doktor Watson? Aller guten Dinge sind drei”, nickte Sonja bedächtig und zog die Augenbrauen nach oben. „Aber pass auf, Darius, dass es bei dir nicht einmal heißt, dass aller schlechten Dinge drei sind. Du bist bei deinen absonderlichen Abstechern ins Lager der Kriminalisten innerhalb von …” sie rechnete kurz nach, „14 Monaten bereits zweimal dem Teufel von der Schippe gesprungen. Fortuna ist eine launische Dame, ich weiß, wie wir Weiber sind.”
„Ich liebe sogar deine Launen.”
Sie verdrehte die Augen „Ist denn dein Beruf nicht abenteuerlich genug – auf seine Art zumindest?” stellte siesorgenvoll fest, während sie mechanisch und achtlos ein Brötchen mit Honig bestrich.
Dann richtete sie sich auf und verfiel in einen heroischen Ton. „Pfandfinder im deutschen Steuerdschungel, die letzten Abenteurer der Menschheit!” Dabei grinste sie hämisch. „Eine Steuererklärung auf dem Bierdeckel unterzubringen müsste doch für dich und deine berufliche Mischpoche so aufregend sein wie die Entdeckung Amerikas oder die erste Mondlandung.”
Ich schüttelte den Kopf, als ob ich mit der Weisheit des ach so vernünftigen Erwachsenen die überbordende Fantasie eines kleinen Mädchens abtun wollte. Dabei versuchte ich eine plötzlich aufkommende Unsicherheit, ein flaues Gefühl in meinem Magen zu überspielen und schob meine plötzlichen angsterfüllten Vorahnungen grob fahrlässig zur Seite.
„Ich weiß ja noch gar nicht, was Heribert überhaupt von mir will. Warte es doch erst einmal ab”, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Bitte gib Frau Dengler Bescheid, dass ich erst heute Nachmittag in der Kanzlei sein werde.”
Sonja nickte, reckte das Kinn herausfordernd nach oben und spitzte die Lippen. Nur zu gerne beugte ich mich zu ihr herunter, pflückte sorgsam einen Brötchenkrümel von ihrem linken Mundwinkel und küsste sie zum Abschied. In unserem Kuss lag eine Innigkeit, die mich selbst immer wieder mit Glückseligkeit erfüllte. In der Türfüllung drehte ich mich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu.
„Ruf mich heute Nachmittag nach der Schule an. Es interessiert mich, was Heribert wieder ausgeheckt hat.”
Den Kopf hielt sie dabei leicht schräg geneigt, den Ellbogen des rechten Armes, in dessen Hand sie das inzwischen fertig geschmierte Honigbrötchen hielt, hatte sie aufdem Tisch aufgestützt. Ihr flammendrotes Haar, das in seiner kurz geschnittenen Facon perfekt zu ihrer weiblichen und dennoch sportlichen Figur passte, glänzte in der Sonne, die durch das Fenster schien.
Ich hätte nicht mehr gedacht, dass ich so etwas nach der selbstverschuldeten Trennung von Beatrice, meiner ersten Frau, noch einmal mit dieser Intensität würde erleben dürfen. Und trotz meiner weiterhin starken Empfindungen Beatrice und natürlich meinen erwachsenen Söhnen Mark und Marius gegenüber, hatte ich kein schlechtes Gewissen. Was mich mit Sonja verband war zwar ebenso heftig, aber anders und damit in Ordnung.
Wie so oft überflutete mich bei ihrem Anblick eine Welle unendlicher Vertrautheit und Sicherheit und doch zugleich der Angst, die wunderbare Frau irgendwann einmal zu verlieren. Hätte ich in diesem Moment gewusst, dass die Weichen zu eben so einer schmerzhaften und endgültigen Trennung mit genau diesem Telefonat bereits gestellt worden waren, niemals wäre ich so sträflich leichtfertig mit meiner Vorahnung umgegangen.
Später habe ich mich immer wieder gefragt, weshalb Menschen, und im Besonderen wohl ich, einfach nicht häufiger ihrer Intuition folgen oder doch wenigstens aus ihrer Erfahrung dazulernen können. Aber wieder einmal folgte ich unkritisch einem inneren Drang auf der Suche nach Neuem, nach Unbekanntem. Und bald musste ich erneut feststellen, dass man dabei manchmal etwas entdeckt, das man gar nicht finden wollte.
Ich verließ das Wohnhaus, verdarb meinen beiden Bernersennhündinnen Hanna und Kira die Vorfreude auf einen Spaziergang, indem ich ihnen befahl, sich in einer sicheren Ecke des Innenhofes zu platzieren und öffnete das zweiflüglige Straßentor, um meinen Wagen rauszufahren. Dabei winkte ich Frau Dengler zu, die mich irritiert durch das große Bürofenster des Kanzleigebäudes beobachtete.
Sie arbeitete nicht nur seit mehreren Jahren als Sekretärin bei mir, sondern war auch die Lebensgefährtin von Carlo Dornhagen. Für das nächste Jahr war die Hochzeit geplant. Carlo hatte ich in seiner Funktion als Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey kennen und – es mag den vorurteilsbehafteten Steuerpflichtigen wundern – schätzen gelernt. Er hatte das sichere, pensionsberechtigte Beamtenverhältnis gegen die stressbeladene 60-Stunden-pro-Woche-Tätigkeit und die zeitlich unbegrenzte Verantwortung des selbständigen Steuerberaters getauscht. Er war allerdings mehr als nur Partner in der Kanzlei, die ich wiederum vor über 20 Jahren von meinem Vater übernommen hatte. Entsprechend der vertraglichen Verkaufsbedingungen hatte ich mich inzwischen zu 50 Prozent aus dem Tagesgeschäft verabschiedet und arbeitete als freier Mitarbeiter, wie es der Paragraph 58 des Steuerberatungsgesetzes vorsieht.
Es war ein wunderschöner, stimmungsvoller Herbstbeginn. Die Morgensonne tauchte die Weinberge in ein mildes Licht, als ich auf der Kreisstraße in Richtung Alzey fuhr.
Seit 15 Jahren lebte ich in Bernheim, einem kleinen Winzerdörfchen in der so genannten Rheinhessischen Schweiz. Ein ehemaliges landwirtschaftliches Anwesen, fast mitten im Dorf gelegen, war zu meinem vertrauten Lebens- und Arbeitsraum geworden. 1857, zu der Zeit, als Otto von Bismarck seine politische Karriere als preußischer Gesandter begründete, waren Wohn- und Kelterhaus, Scheunen, Stallungen und die Gewölbekeller errichtet worden. So zumindest besagte es die in einen Fenstersturzgehauene Jahreszahl. Nach typischer Bauart der damaligen Zeit hatte man für die Außenmauern Sandsteine aus den benachbarten Steinbrüchen verwendet, während die Innenwände aus Fachgewerken bestanden, die mit lehmverputzten Grünlingen ausgemauert waren. Die Gebäude erstreckten sich u-förmig um den charakteristischen, kopfsteingepflasterten Innenhof, der mit einem großen Tor von der Straße abgetrennt war. In dem ehemaligen Kelterhaus waren die Kanzleiräume der Steuerberatungspraxis untergebracht, was wohl einen eher beflügelnden, keinesfalls jedoch ungünstigen Einfluss auf die Arbeitsqualität der sieben Mitarbeiterinnen hatte.
Diese Idylle teilte ich mit meinen beiden Hunden und einem Kater; vor allem aber mit Sonja Strobel, die nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen unserer frischen Beziehung immer häufiger für einige Tage mein Domizil ihrer Wohnung vorzog. An einem der Gymnasien in Alzey weihte sie mehr oder weniger willige Jugendliche in die dunklen Geheimnisse der höheren Mathematik ein. Vor einigen Jahren hatte sie sogar einen meiner Söhne unterrichtet. Sie liebte ihren Beruf, obwohl sie aus existentiellen Gründen nicht auf die Anstellung im Schuldienst angewiesen war. Alleine schon durch ihr Elternerbe war sie finanziell unabhängig und wollte es, wenigstens jetzt noch, auch in privater Beziehung bleiben. Daher hielt sie weiterhin an ihrer Eigentumswohnung in Alzey fest, was mir das beruhigende Gefühl gab, dass sie aus Liebe bei mir war – und blieb – und nicht etwa aus Versorgungsgründen.
Das Mittelzentrum Alzey mit seinen circa 19 000 Einwohnern, liegt 15 Kilometer, also eine gute viertel Stunde von Bernheim entfernt. Wie üblich hatte ich auf der Fahrt das Autoradio an und hörte meinen Lieblingssender SWR 1,bei dem auch Beatrice als Redakteurin beschäftigt war. Ich entsinne mich noch, dass es in der Sendung, die gerade lief, um die verzweifelten Beschwichtigungsversuche von Verkehrsminister Stolpe hinsichtlich der Mautpleite ging und um die Mannesmannaffäre.
Normalerweise ist eine Autofahrt durch die Rheinhessische Schweiz ein Vergnügen für das Auge und die Seele. Ein fast fühlbarer Zusammenklang von beruhigenden Sinneseindrücken überwältigt einen, wenn man die Reize der Landschaft auf sich wirken lässt. Auch wenn es ein wenig werbeträchtig erscheinen mag, der oft geprägte Vergleich mit der Toskana ist doch recht treffend: Romantische Weindörfer und Winzerhöfe, stille, verträumte Winkel in denen die Zeit still zu stehen scheint, Gaumenfreuden einer traditionellen Küche und die lebensbejahende, vielleicht auch von den exzellenten Weinen beflügelte Lebensart der Menschen mit ihrer abwechslungsreichen und teilweise absonderlichen Mundart – das alles schafft ein beinahe südländisches Flair.
Aber all das konnte mich an diesem Morgen nicht von meinem schlechten Gefühl abbringen. Zunächst ärgerte ich mich über das, was im Rundfunk über den Mannesmannprozess berichtet wurde. Es gehörte schon immer zu meiner Kanzleiphilosophie, dass für meine Mandanten, die Mitarbeiter und mich Fairness und Rechtsbewusstsein auf einer höchstmöglichen Ebene selbstverständlich sein sollten. So schwer es auch manchmal sein mochte, ich betrachtete das als berufliche und menschliche Herausforderung. Umso mehr verstimmte es mich, als wieder einmal mit Chuzpe elementare ethische Werte auf dem Altar der Selbstgefälligkeit geopfert und damit der Selbstbedienungs- und Ellenbogenmentalität Auftrieb gegeben wurde.
Ein Rechtsanwalt, der aufgrund seiner Anzeige denSkandal ins Rollen gebracht hatte kam zu Wort: „Nach einem sehr emotional geführten und teuren Abwehrkampf gegen die Übernahme, gab man innerhalb von Stunden diesen Widerstand auf. Gleichzeitig wurden alleine an Herrn Esser über 60 Millionen Mark Abfindung gezahlt. Ich denke, da drängt sich doch jedem der Verdacht auf, dass hier eine Käuflichkeit vorgelegen haben könnte.”
Ein wegen Bestechlichkeit angeklagte Manager aus dem Mannesmannvorstand verteidigte seine Handlungen mit der Anmerkung: „Ich stehe zu dem, was ich gemacht habe. Ich finde das gut. In der Schweiz hat jemand gerade einen vergleichbaren Bonus bekommen.”
Wie sollte ich meinen Mandanten bei derartigen Selbstverständnissen Verhaltensnormen im Umgang mit der Steuergesetzgebung, den Banken und den vielen anderen Partnern im unternehmerischen Prozess klar machen, die in ihrem eigenen Interesse notwendig waren. Zum Beispiel, dass sie nicht nur alle ihre Einnahmen ordnungsgemäß zu deklarieren, sondern auch ihre Rechnungen formgerecht zu stellen hatten und zudem tausend weitere zeitintensive Vorgaben beachten sollten, die sie davon abhielten, überhaupt erst einmal einen Umsatz zu tätigen.
Dennoch wich meine Verstimmung sehr schnell dem einlullenden Fatalismus, den die Leipziger Popgruppe „Die Prinzen” in einem ihrer Songs so treffend beschrieben: „Das alles ist Deutschland, das alles sind wir.” Außerdem wurde mein Unmut zusehends überlagert von der Erinnerung an eine Fahrt vor einem halben Jahr, mit dem gleichen Ziel und aus ähnlichem Anlass.
Peter Simonis, ein Berufskollege aus Alzey, hatte anonyme Drohungen erhalten und war dann auch tatsächlich auf entwürdigende Art und Weise umgebracht worden. Erst nach einem weiteren Mord konnten wir die Schuldigen ermitteln: Sabine Ulmer, eine bei ihm angestellte Rechtsanwältin, die, wie es sich im Lauf der Recherchen herausgestellt hatte, zudem seine nichteheliche Tochter war. Das hatte er selbst allerdings erst im Moment seines gewaltsamen Todes erfahren. Ein weiterer Mitarbeiter Simonis‘, der außerdem der Halbbruder der Ulmer war, wurde als Komplize verhaftet. Beide warteten nun auf ihren Prozess, er in der Untersuchungshaft, und sie hatte man aufgrund ihres labilen psychischen Zustandes in dem gesicherten Bereich der Landesnervenklinik in Alzey untergebracht.
Dass man mich bei dieser Geschichte kaltblütig umlegen wollte, hatte ich zwar nicht verdrängt, aber auch immer noch nicht richtig verarbeitet. Wenn, so wie jetzt auf der Fahrt zu Heribert Koman, die alten Bilder wieder vor meinem inneren Auge auftauchten, reagierte mein Körper mit mehr als nur einem leichten Frösteln. Meine Kehle wurde trocken und im Mund hatte ich einen widerlichen, metallenen Geschmack. Adrenalin ließ meinen Blutdruck steigen, als ob die Bedrohung immer noch real wäre.
Ich hatte mehrmals überlegt, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber dann hatte ich stets davon Abstand genommen. Ich meinte, aufgrund der bei mir gegebenen, besonderen Umstände drauf verzichten zu können. Im Gegensatz zu vielen anderen, die eine ähnliche Situation hatten durchleben müssen, war nämlich mein persönliches Umfeld – damit meine ich Sonja und Heribert – ebenfalls unmittelbar in das Geschehen eingebunden. Das heißt, ich konnte mit Menschen darüber sprechen, die mich verstanden. So fühlte ich mich nicht alleine gelassen und Abkapseln und Verdrängung ergaben sich erst gar nicht für mich.
Ich stellte mein Auto auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion Alzey ab und begab mich in das zweite Obergeschoss. Ich kam durch einen langen, schlauchartigen Flur. Die Wände waren in einem merkwürdig anmutenden Grau-Grün gestrichen und ich fragte mich, ob ein farbenblinder oder ein griesgrämig veranlagter Mensch diese geschmacklose Abtönung ausgesucht hatte. Vielleicht hatte man die Farbe aber auch im Schnäppchenmarkt erworben, nach dem Motto: Geiz ist geil.
Am Ende dieses deprimierenden Flures hatte Heribert sein Büro. „Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar” verkündete das glänzend-frische Namensschild rechts neben dem grau lackierten Türrahmen. Als ich ihn das letzte Mal besucht hatte, gab es nur eine Zimmernummer. Ich klopfte an, trat dann aber ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten ein, schließlich hatte Heribert mich herzitiert.
Sein Schreibtisch war mit Aktenstößen überhäuft, aus denen wie zum unbotmäßigen Trotz ein hochmoderner Flachbildschirm wie der berühmte Fels aus der Brandung ragte. Dahinter saß der Kriminalhauptkommissar; neben ihm stützte sich, leicht über ihn gebeugt, eine äußerst reizvolle weibliche Erscheinung auf dem Tisch ab. Ich schätzte sie auf etwa 40 Jahre. Sie hatte halblanges, kastanienbraunes Haar und trug einen farblich kontrastierenden, sportlichen Hosenanzug in einem kräftigen Blau. Er schien wie für sie gemacht und sie wusste ihn – im Gegensatz zu manch anderen in der Öffentlichkeit stehenden Frauen – zu tragen.
Als die beiden mich bemerkten, flogen ihre Köpfe, die sie zuvor wohl zur gemeinsamen Begutachtung eines Dokumentes zusammengesteckt hatten, auseinander. Sie kamen mir vor wie Kinder, die man bei etwas Verbotenem ertappt hatte. Ich musste unwillkürlich grinsen.
Heriberts Kollegin oder Mitarbeiterin (dafür hielt ich sie) fing sich als erste, richtete sich auf und lächelte mich an. „Sie müssen Darius Schäfer sein”, stellte sie voller Überzeugung fest und fügte sogleich als Begründung für Ihre Erkenntnis eine Kurzanalyse hinzu. „Mit dem Düsenjäger durch die Kinderstube, kein Fettnäpfchen auslassend und trotz seiner sichtbar über 50 Lenze auf die Wirkung des kindlichen Charmes vertrauend.” Dann blickte sie erst Heribert und dann wieder mich herausfordernd an, bevor sie uns mit einem „Habe ich Recht?!” die Möglichkeit zu einer Reaktion einräumte.
Wir fühlten uns beide gleichermaßen angesprochen und reagierten daher auch gleichzeitig. Was allerdings dabei herauskam, war die Überlagerung von Heriberts untauglichem Versuch, mich in ein günstigeres Licht zu rücken, und meine gestammelte Entschuldigung – wofür auch immer. Heribert tat dann aber das einzig Richtige: Er stellte uns gegenseitig vor.
„Dagmar, das ist, wie du richtig vermutet hast, Steuerberater und Hobbykriminalist Darius Schäfer. Und das, Darius, ist eine Kollegin aus Mainz, Dagmar Keller.”
„Das mit dem Hobbykriminalisten”, wandte ich mit plötzlich belegter Stimme ein und räusperte mich, „also, das muss man natürlich, äh, ja, differenziert sehen.” Statt einmal im richtigen Moment die Klappe zu halten, bemühte ich mich um eine Aufklärung, die meinen unglücklichen Einstand bei Heriberts Kollegin etwas korrigieren sollte.
„Das, na ja, das war nämlich jedes Mal mehr einer Tugend als einer Not gehorchend. Nein, natürlich umgekehrt, Sie wissen schon, was ich meine.”
Unter ähnlich peinlichen Bedingungen hatte ich Sonja damals bei dem Hoffest eines Weingutes im Nachbarort kennen gelernt. Und genau wie damals kam ich mir einmalmehr vor, wie ein stammelnder Primaner. Zur Komplettierung des Bildes hätten jetzt nur noch die spätpubertäre Akne und die Schamesröte gefehlt. Das ging mir immer so, wenn mich eine Frau besonders beeindruckte. Ich konnte dann nur noch auf ihr stillschweigendes Einverständnis hoffen, diese für mich hochnotpeinliche Situation zu übergehen.
Aber natürlich nicht bei einer Frau, wie Dagmar Keller. In ihrer undiplomatischen Offenheit glich sie meiner Sonja, als hätte man sie geklont. Sie sagte nämlich … überhaupt nichts. Aber wie sie nichts sagte, indem sie mich schweigend und anscheinend hochkonzentriert bei meiner selbstquälerischen Mitteilung betrachtete, ja geradezu mit den Augen sezierte, war eines seitenstarken Romans von Dostojewski würdig. Ich sah förmlich den Titel auf meine Stirn geschrieben: Der Idiot. In solchen Situationen fragte ich mich immer wieder, was mich eigentlich an solch selbstbewussten und schlagfertigen Frauen so sehr faszinierte.
„Bevor du nun weiter blödelst …”, Heribert unterbrach sich kurz und bedeutete mir mit einer einladenden Geste, auf dem noch freien der beiden Besucherstühle Platz zu nehmen. Auf den anderen war inzwischen Frau Keller geglitten.
Heribert lehnte sich zurück, faltete die Hände im Nacken zusammen und reckte sich kurz, bevor er seinen unterbrochenen Satz wieder aufnahm. „Also, um die Sache abzukürzen, Dagmar Keller ist eine langjährige Kollegin. Früher war sie ebenfalls bei der Kripo, hat sich aber vor …”
„Vor drei Jahren”, half sie Heribert aus.
„Genau – vor drei Jahren hat sie sich in den Verwaltungsbereich versetzen lassen und arbeitet jetzt im Personalreferat in Mainz. Es geht um unser Leistungsbeurteilungssystem. Sie soll Kriterien zur Überarbeitung der Beurteilungsmerkmale zusammenstellen. Dazu recherchiert sie zurzeit bei uns.”
„Genügt denn für eine Beurteilung nicht die Aufklärungsquote und die Schnelligkeit, mit der ihr eure Fälle löst?”
„Damit ich dann arbeitslos werde?”, schaltete sich Dagmar Keller ein, lachte aber dabei.
„Sehen Sie, Herr Schäfer, es geht doch nicht nur um die Kollegen von der Schutz- oder der Kriminalpolizei. Es gibt so viele Innendienststellen, die ebenfalls in dieses Beurteilungssystem eingebunden sind. Und wir versuchen, ein einheitliches System zu gewährleisten, um keine Ungerechtigkeiten aufkommen zu lassen.”
„Darius”, seufzte Heribert, „sei doch nicht so blauäugig. Du erzählst mir doch auch immer, was sich bei euch so abspielt. Gestern schon wissen müssen, was morgen bereits ungültig sein wird, um heute die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Ich dachte auch immer, es geht darum, dass ich schnell und zuverlässig Aufklärung betreibe. Aber nicht nur in der großen Politik, auch bei uns wird dauernd eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Dabei haben wir in der Kriminalitätsbekämpfung einen Höchststand bei der Aufklärungsquote – fast 60 Prozent. Und das bei inzwischen jährlich rund 300 000 Straftaten.”
Heribert war nun in seinem Element. Obwohl dieses Thema wohl kaum etwas damit zu tun haben konnte, weshalb ich nach Alzey gefahren war, ließ ich ihn ausreden. Auch Dagmar Keller hielt sich erstaunlich bedeckt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrem tiefsten Inneren mit Heribert solidarisch fühlte.
Er war inzwischen aufgestanden und an eines der Fenster hinter seinem Schreibtisch getreten, die auf den benachbarten Schulhof hinausgingen. Er drehte uns den Rücken zu und schwieg für einen Moment. Während ich ihn dabei beobachtete, schweifte ich kurz mit den Gedanken ab.
Was hatten wir in der kurzen Zeit unserer Freundschaft schon alles erlebt und dabei bewiesen, dass wir uns in jeder Beziehung blind aufeinander verlassen konnten. Vielleicht verbanden uns ja die vielen Gemeinsamkeiten, die wir hatten. Beide waren wir nach langjährigen Ehen geschieden, weil wir unsere Frauen hinter den Beruf gestellt hatten. Wir hatten ähnlich gelagerte Interessen und Wertvorstellungen, die manche boshaft als „antiquiert” bezeichneten. Wir mochten und verabscheuten die gleichen Dinge und liebten provokative, jedoch nicht verletzende Streitgespräche. Hin und wieder gönnten wir es uns auch, entgegen unserer beruflich gebotenen und altersgemäßen Seriosität, während der unmöglichsten Situationen herumzualbern wie kleine Jungs. Dennoch wirkten wir dabei, glaube ich, durchaus nicht wie die Komikerpärchen Pat und Patachon oder Dick und Doof. Zumindest nicht, was unsere äußere Erscheinung betraf. Die ehemals volle, inzwischen ergraute, Haarpracht, die wir beide als Jugendliche zur „Elvisfrisur” gestylt hatten (wie alte Fotos unwiderlegbar bewiesen), lichtete sich zusehends.
Heribert war mit seiner Länge von 1,95 Meter nur knapp fünf Zentimeter größer als ich und etwas schlanker, obwohl er in der letzten Zeit etwas zugelegt hatte. Das lag nach seinem Bekunden an den Kochkünsten von Monika Ballmann, seiner neuen Liebe, wie er sagte. Seit ein paar Monaten schwebte er auf „Wolke Sieben”. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt und sie hatte die Chance genutzt, als ihr zufällig innerhalb der Hotelkette, in der sie beschäftigt war, angeboten wurde, sich von Düsseldorf nach Frankfurt versetzen zu lassen. Und nun sahen und bekochten sich die beiden jede freie Minute.
Vielleicht gründete unsere Freundschaft aber auch auf der Tatsache, dass wir beide es als Glückstreffer betrachteten, in unserem Alter – er Anfang und ich Mitte 50 – noch einmal die Chance bekommen zu haben, eine derart kameradschaftliche Beziehung aufzubauen.
„Da”, sagte Heribert und riss mich aus meiner Betrachtung. Auch Dagmar Keller zuckte zusammen. Sie war offenbar ebenfalls mit ihren eigenen Gedanken spazieren gegangen. „Schaut euch die Kids dort an. Um die geht es! Da steckt unsere Zukunft und da liegt die Entscheidung zwischen sozialem Frieden oder Krieg.”
Er deutete nach unten, auf den Schulhof und drehte sich dann wieder zu uns um. „Da lernen oder verweigern sich junge Menschen. Sie tragen auf jede nur erdenkliche Art ihre Konflikte mit sich und mit anderen aus. Sie versuchen sich zu orientieren, finden ihren Weg oder werden verführt und enttäuscht. Da müssen wir Prophylaxe betreiben! Dort müssen wir präsent sein, dann klappt es. Hier …”, er nahm das Dokument vom Tisch, in das er und seine Kollegin so versunken gewesen waren, als ich das Büro betreten hatte. Wie ein Werbefähnchen von McDonalds schwenkte er es durch die Luft. „Da kannst du es schwarz auf weiß lesen. Unsere Kriminalstatistik beweist eindeutig, dass sich die Art der Straftaten beängstigend verschoben hat. Waren- und Warenkreditbetrug, Fälschungsdelikte, Kinderpornografie im Internet, Wohnungseinbrüche haben zugenommen. Das Aggressionspotenzial ist gewachsen. Gewaltdelikte, also gefährliche und schwere Körperverletzung, sind auf circa 10 000 Fälle angestiegen.”
Er ereiferte sich, als ob es darum ginge, uns für eineDemonstrationsveranstaltung zu gewinnen. „Und nicht zu vergessen: Rauschgiftdelikte. Die sind um ca. 2 000 auf rund 17 500 Fälle angestiegen. Und …”
Ich unterbrach ihn. „Heribert, hast du mich deshalb nach Alzey kommen lassen? Das hättest du mir auch per Fax schicken können.”
Er war so in Fahrt, dass ich ihn mit meiner Bemerkung nur kurz abbremsen konnte. Dagmar Keller legte ihre Hand auf meinen Arm, als wollte sie sagen: Lassen Sie ihn, er braucht das. Er muss ein wenig Dampf ablassen, um den Kopf frei zu bekommen.
„Natürlich ist das nicht der Grund. Aber auch das beschäftigt mich. Überleg doch mal, Darius, wir hätten es in der Hand, etwas zu ändern. Wenn nur unsere Steuergelder mehr in Ausbildung, in Jugendarbeit, in Streetworker und in polizeiliche Vorbeugungsmaßnahmen investiert werden würden!”
„Hör mal, ich bin Steuerberater und nicht Steuerverteiler”, versuchte ich noch einmal, ihn zu bremsen. Sinnlos. Sag dem Sturm, er soll nicht toben.
„Es gibt ja bereits greifbare Ergebnisse. Die Polizeipräsidien haben mehr als 30 operative Einheiten an Brennpunkten der Straßenkriminalität eingesetzt. Und was glaubst du wohl war das Ergebnis?” Wollte er wirklich eine Antwort von mir?
Nein, die wollte er selbst geben, doch Dagmar Keller kam ihm zuvor: „Dort wo Zivilfahnder und die Kollegen vom Streifendienst präsent sind, funktioniert die Brandverhütung hervorragend.”
„Die Straßenkriminalität”, nahm Heribert wieder den Faden auf, „ist um mehr als 2 500 Straftaten zurückgegangen. Alleine die Sachbeschädigungen sind um mehr als 1 600 Delikte rückläufig, Kapitaldelikte, also Mord, Raub,Vergewaltigungen – rückläufig, sexuelle Nötigungen, Bedrohung mit und Einsatz von Schusswaffen – rückläufig. Aber das sind doch nur ein paar Tropfen auf immer mehr werdende heiße Steine.”
Endlich schien seine Tirade beendet. Heribert setzte sich wieder, schloss die Augen und verharrte für einen Moment, wie ein Schauspieler, der auf seinen wohlverdienten Applaus wartet.
„Heribert, bitte, du sagtest, du benötigst meine Hilfe wegen eines Kollegen auf La Palma. Ich weiß bis jetzt noch nicht, um was es geht. Aber …” und jetzt klopfte ich mit der flachen Hand mehrmals auf seinen Schreibtisch, um den nächsten Satz zu unterstreichen, „ich habe auch etwas für dich. Vor vier Tagen erhielt ich einen merkwürdigen Anruf. So, wie es scheint, von einem Berufskollegen von den Kanaren.”
Ich dachte, dass Heribert nun endlich zur Sache kommen würde, jedoch schien er es irgendwie darauf angelegt zu haben, mich zur Verzweiflung zu bringen. Offensichtlich hatte er mir überhaupt nicht zugehört und setzte nach der kurzen Verschnaufpause zu einem neuen Wortschwall an.
„Wie schon gesagt, wir hätten es in der Hand. Aber was machen wir? Wir vergeuden die für unsere Zukunft notwendige Zeit in Rückwärtsbetrachtungen. Nach dem Motto: ‚Wer kriecht seinem Chef am weitesten in den Allerwertesten‘. Da, lies!”
Mit einem schiefen Seitenblick auf seine Kollegin reichte er mir ein Papierknäuel, das er zuvor aus seinem Papierkorb gefischt hatte, entzog es mir aber sofort wieder mit der Bemerkung: „Gib her, ich lese es dir vor, damit du siehst, womit Dagmar und ich, wie auch all die anderen Kolleginnen und Kollegen, uns tatsächlich auseinandersetzen müssen, weil unser aller Wohl davon abzuhängen scheint.”
Er glättete das Dokument und las mit aufgesetzter Feierlichkeit. „Grundsätze der Beurteilung – das war die Überschrift. – Bedienstete sind unabhängig von Beurteilungen auf Leistungs- und Verhaltensmängel aufmerksam zu machen. Ihnen ist rechtzeitig Gelegenheit zur Beseitigung dieser Mängel zu geben. Die Art und Weise, in der sich der Beurteilungsprozess vollzieht, ist von wesentlicher Bedeutung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und für die Transparenz des Beurteilungsverfahrens. Sie eröffnet zugleich die Möglichkeit der Standortbestimmung der Beurteilten und der Rückkopplung für die Vorgesetzten. Deshalb haben vor allem die vorbereitenden, begleitenden und abschließenden Gespräche besonderes Gewicht. Das Beurteilungsverfahren soll, um eine geschlechtsbezogene Benachteiligung auszuschließen, diskriminierungsfrei und geschlechtsneutral sein und …”
An dieser Stelle unterbrach er sich plötzlich und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde er mich erst in diesem Moment wahrnehmen.
„Was hast du da gesagt? Du hast vor vier Tagen, am …” Er warf einen Seitenblick in seinem Tischkalender. Dann nahm er einen E-Mail-Ausdruck zur Hand, den er ebenfalls kurz überflog und sah mich nachdenklich an. Blitzschnell hatte er auf die sachliche Ebene umgeschaltet und war endlich wieder der „Alte.”
Ich sollte es bald bereuen.
„Dagmar, lässt du uns jetzt bitte alleine?”
Sie beteuerte, dass sie das auch gerade hatte vorschlagen wollen, nickte mir freundlich zu und verschwand durch die Tür. Heribert wartete bis sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, bevor er fortfuhr.
„Ja, dann muss es tatsächlich am Freitag dem 19. gewesen sein. Du sagst also, dass du einen Anruf bekommen hast? Um was ging es dabei?”
„Ich kann mir keinen Reim darauf machen”, begann ich zögernd. „Ein Mann, er muss schon älter gewesen sein, er flüsterte ängstlich meinen Namen.”
„Kam dir die Stimme bekannt vor?”
„Nein. Der sprach auch so leise. Ich fragte dann, um was es denn geht. Und er sagte, auch …, warte, jetzt entsinne ich mich wieder: Er sagte auch, dass ich ihn nicht kenne, aber wir wären Berufskollegen und er müsse mich dringend sprechen und es wäre wichtig. Na ja, er war überaus aufgeregt. Oder sagte er sehr wichtig?”
Ich blickte Heribert fragend an, als ob er mir die Antwort darauf geben könne. Er hatte während meiner Schilderung mehrmals auf seine Uhr gesehen und kurze Notizen auf einem Stück Papier gemacht. Trotzdem schien er mir zugehört zu haben. Auf meine eigentlich sinnlose Frage reagierte er jedenfalls mit Schulternzucken. Dann bedeutete er mir mit einer Handbewegung fortzufahren, schloss dann aber doch erst einmal einen Fragekatalog an.
„Woher kannte er dich eigentlich? Was wollte er? Weshalb rief er gerade dich an? Hat er seinen Namen genannt?”
„Es war wirklich merkwürdig. Er sagte, er sei durch einen Artikel im deutschsprachigen Wochenspiegel auf mich gestoßen. Später erst ist mir eingefallen, dass es sich dabei um das wöchentlich erscheinende Journal handeln könnte, das auf den Kanaren vertrieben wird, auch auf La Palma.”
„Und seinen Namen?”, hakte Heribert nach, „hat er den denn nicht genannt?”
„Nein, dazu kam er nicht. Ich entsinne mich zwar, dass er dazu ansetzte. Dann stammelte er aber etwas wie: Wassoll denn das .., das ist doch idiotisch …, lass das …, wir können doch darüber reden …, meine Tochter … So, als ob er verwirrt war. Und dann war die Verbindung auf einmal unterbrochen. Es knackte nur noch in der Leitung. Da habe ich aufgelegt.”
Wieder sah Heribert auf seine Uhr. „Um welche Zeit war das?”
„Das muss so gegen 22 Uhr 30 gewesen sein. Ich weiß das daher so genau, weil Sonja kurz danach von der Chorprobe ihrer Gesangsgruppe in Siefersheim bei mir vorbeikam.”
Heribert schüttelte den Kopf und blickte noch einmal auf den E-Mail-Ausdruck. Dann stellte er lakonisch fest,
„Das kann nicht sein.”
„Natürlich kann das sein, weil nämlich …”
Ohne zu realisieren, dass ich zu einer Erklärung angesetzt hatte, unterbrach mich Heribert, um seinen Gedankengang fortzusetzen.
„Es sei denn, du hast mit einem Geist telefoniert. Da war der nämlich schon eine Stunde tot. Vorausgesetzt, die Angaben von Inspector Muñoz von der …” wieder sah er auf den Ausdruck und las zögernd „Politsia Juditsial de Santa Crutz de La Palma, sind korrekt. – Das ist die Kripo dort.”
Trotzdem ich mir sicher war, dass mein Freund sich verrannte, mich andererseits die Angelegenheit aber auch verwirrte und meine Neugierde weckte, dominierte mich meine berufstypische Korinthenkackerei. Ich konnte nicht anders, als zuerst eine Korrektur anzubringen. „Die Übersetzung stimmt, aber an deiner Aussprache musst du noch feilen. Ein Spanier würde dich nur mit allergrößter Mühe verstehen, obwohl du buchstabengetreu abgelesen hast. Ein c vor den Selbstlauten i und e und wenn es der letzteBuchstabe in einem Wort ist, wird in der Regel mit der Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen gesprochen. So, wie du es vom englischen th kennst. Also, Poli-th-ia Judit-th-ial de Santa Cru-th de La Palma.”
Heribert seufzte. „Und das ist alles, was dich nun interessiert? Dann kann ich ja kurz deine Aussage zu Protokoll nehmen und an den Kollegen nach Spanien schicken.”
„Wie kommen die überhaupt auf mich und worum geht es?”, überging ich seinen verständlichen Zynismus.
„Vor drei Jahren habe ich bei einem internationalen Polizeiseminar in Hamburg einen spanischen Kollegen kennen gelernt und mich ein wenig mit ihm angefreundet. Wir haben die Adressen ausgetauscht und zu den Feier- und Geburtstagen schicken wir uns seitdem ein Kärtchen. Er heißt Muñoz mit Nachnamen und mit Vornamen, du wirst es nicht glauben, Heribert.”
„Ich wusste gar nicht, dass dein Vorname aus dem Spanischen kommt? Eribert klingt ja auch irgendwie melodischer und weniger profan. Dabei dachte ich immer Heribert kommt aus dem Althochdeutschen, hat was mit Heer und Krieger zu tun. Aber jetzt verstehe ich, weshalb mir bei dir ab und zu etwas spanisch vork…”
„Umgekehrt wird ein Schuh draus”, unterbrach er mich heftig. „Die Erklärung ist ganz simpel. Seine Mutter ist Deutsche und sein Vater Palmero. Er hat mir erzählt, dass sie sich Anfang der Siebziger bei einem Aufenthalt auf La Palma in seinen Vater und die Insel verliebte. Sie blieb dort und ein Jahr später kam er zur Welt. Sein Taufpate, der Bruder seiner Mutter, heißt Heribert. Daher der für einen Palmero ungewöhnliche Vorname. Mit dem zweiten Vornamen heißt er übrigens José, den benutzt er aber nicht. Er ist zweisprachig aufgewachsen und spricht daher fließend deutsch, sogar mit rheinischem Akzent.”
„Und was hat das nun mit mir zu tun?”
„Er hat sich gestern Morgen telefonisch direkt mit mir in Verbindung gesetzt und im Laufe des Tages auch über seine vorgesetzte Behörde. Er benötigt meine Hilfe, schnell und daher unbürokratisch.”
„Aber, ich verstehe immer noch nicht.”
„Ich gehe am besten mal der Reihe nach vor. So, wie inzwischen mein Informationsstand durch Heribert und meine eigene Recherchen beim Einwohnermeldeamt und der Steuerberaterkammer ist. Ich habe es bereits chronologisch sortiert.” Heribert nahm seinen kleinen zerfledderten DIN-A 5-Notizblock, mit Ringheftung, der mich immer wieder an Colombo erinnerte. Er blätterte ihn nervös durch und suchte offenkundig den Anfang seiner Aufzeichnungen.
„Da ist es. Am Abend des 19. Septembers 2003 – also, Freitag letzter Woche – wurde die Feuerwehr von Breña Baja abends wegen eines Brandes im Wohnhaus einer Finca oberhalb der Wohnsiedlungen zugewanderter Residente alarmiert. Kennst du die Gegend?”
„Aber ja. Das ist eine kleine Ortschaft, cirka fünf Kilometer südlich der Inselhauptstadt Santa Cruz, nicht weit weg vom Flughafen. Dadurch, dass Breña Baja etwa 300 Meter hoch liegt, hat man von den meisten Grundstücken aus einen herrlichen Blick auf den Atlantik. Bei gutem Wetter kannst du von dort aus sogar den Teide auf Teneriffa erkennen. Dort haben viele Deutsche ihren Dauerwohnsitz, ohne eingebürgert zu sein. Die so genannten Residente, wie du ja schon gesagt hast.”
Heribert machte sich eine kurze Notiz.
„Und? Was war da nun?”, wollte ich weiter wissen.
„Der Brand verursachte nur einen geringen Schaden. Die Feuerwehr ist nicht weit entfernt und wurde offenbarauch unmittelbar nach dem Ausbruch des Feuers alarmiert. So konnte sie zwar die Flammen innerhalb kurzer Zeit unter Kontrolle bringen, aber den Hausbesitzer, einen 69-jährigen Deutschen, namens Conrad Hauprich, fand man tot in seinem Wohnzimmer. Dort wird nach dem ersten Stand der Ermittlungen auch der Brandherd vermutet. Die Leiche befand sich trotzdem noch in einem so guten Zustand, dass bereits der Notarzt, den man aus dem in der Nähe gelegenen Krankenhaus herbeigerufen hatte, erkennen konnte, dass der Tod nicht durch die Verbrennungen oder den Rauch, sondern wahrscheinlich durch mehrere Stichwunden verursacht worden war. Das wurde auch kurz danach von dem Polizeiarzt, der mit der Kripo eingetroffen war, bestätigt.
Heribert Muñoz und der Fiscal …, das scheint wohl der Staatsanwalt zu sein?” Heribert sah mich fragend an.
„Kann sein. So gut sind meine Spanischkenntnisse nun auch wieder nicht”, antwortetet ich gereizt. Ich wusste immer noch nicht, worauf das hinauslaufen sollte.
„Na gut”, fuhr Heribert mit einer beschwichtigenden Handbewegung fort. „Er heißt Feliciano Garcia und leitet jedenfalls die Untersuchung. Man hatte zuerst wegen des Verdachts auf Brandstiftung ermittelt, dann aber die Untersuchung auf ein Tötungsdelikt ausgeweitet.
Der Todeszeitpunkt war übrigens wegen des schnellen Einsatzes ziemlich genau zu ermitteln, plus/minus zehn Minuten.”
Langsam dämmerte es mir, dass vielleicht der Tote der unbekannte Anrufer gewesen war. Aber weshalb sollte er telefonisch Kontakt mit mir aufgenommen haben? Was hatte ich mit ihm zu tun? Und, was mich noch weitaus mehr interessierte, wie hätten Heribert Muñoz oder Heribert Koman das wissen können?
„Jetzt erklär mir doch endlich einmal, was in Dreiteufelsnamen dich dazu bewogen hat, mich zu dieser Sache zu befragen?”
„Gleich weißt du es. Unweit des Hauses, auf dem Tisch einer Sitzgruppe im Garten, lag der aufgeschlagene Kalender von Hauprich. Laut einem Eintrag in seiner Handschrift hat er an diesem Abend einen Besucher erwartet. Die Eintragung war in Deutsch und lautete: 20.30 Uhr, letzter Mandant, E.-B., 250 000. Und jetzt kommst du ins Spiel.”
Den nächsten Satz leitete er mit bedeutsamem Nicken ein. „Neben dem Kalender lag die Inselzeitung von Mitte August. Sie war umgefaltet bei einem Artikel über Hera Simonis. Darin ist unter anderem ein Darius Schäfer, Steuerberater in Bernheim bei Alzey erwähnt. Und dieser Name war dick unterstrichen. Am Rand ist eine Nummer gekritzelt – 0049. Das ist die Vorwahl von Deutschland. Und dann ….”
Er hielt mir seine Notizen hin und deutete auf die Ziffernfolge, die mit einem Bindestrich von der Landesvorwahl getrennt war. „Lies selbst!” Seine Aufforderung klang fast beschwörend.
„Mein Telefonanschluss! Das gibt‘s doch nicht!”
„Doch, siehst du ja. Und jetzt, Darius, bist du dran!” Heribert legte sein Notizbuch zur Seite und lehnte sich zurück.
„Ich bin erst einmal sprachlos”, entgegnete ich und atmete tief durch.
„Das war es wert”, grinste Heribert zufrieden, erkannte jedoch sofort die Unangemessenheit seiner Bemerkung und schwächte sie mit einem entschuldigenden „Sorry, war nicht so gemeint, dafür ist die Angelegenheit zu ernst” ab.
Ich dachte einige Sekunden nach. Hera Simonis! Sie war die Ehefrau des von seinen Mitarbeitern ermordeten Kollegen aus Alzey. Wir hatten im Umfeld der Aufklärung des Mordes mehrere Male miteinander zu tun gehabt. Ihre Ehe hatte an dem Tag aufgehört glücklich zu sein, als ihre kleine Tochter Corinna spurlos aus dem Garten der Großeltern verschwand. Jede Suche nach dem Kind blieb erfolglos. Es hatte auch nie Lösegeldforderung gegeben, so dass eine Entführung schließlich ausgeschlossen wurde. Während ihr Mann über die Jahre hinweg immer mehr verbitterte, wurde Hera Simonis krank.
Man hätte erwartet, dass der grausame Tod von Peter Simonis zu ihrem endgültigen Zusammenbruch führen müsste, aber das Gegenteil war der Fall. In dieser traumatischen Situation war sie über sich hinaus gewachsen und hatte schließlich die Ermittlungsarbeit durch ihre Mithilfe wesentlich beschleunigt.
Beatrice, meine geschiedene Frau, hatte die langjährige Leidensgeschichte der Witwe und ihren Weg in eine lebenswerte Zukunft zum Anlass für eine inzwischen erfolgreiche Sendereihe mit dem Titel „Wer nicht am Abgrund steht, dem wachsen keine Flügel” gemacht. Das hatte ein derartiges Aufsehen erregt, dass man Hera Simonis daraufhin geradezu vermarktet hatte. In Zeitungsartikeln und Talkshows hatte man sie zur Vorbildfigur für Menschen stilisiert, die sich nicht mehr mut- und kampflos ihrem Schicksal ergeben wollten.
„Artikel!”, fuhr es mir durch den Kopf. „Heribert, was ist das für ein Artikel mit Hera Simonis und mir? Wir sollten sie umgehend anrufen oder aufsuchen und nachforschen, ob sie dazu etwas sagen kann.”
„Das ist bereits geschehen. Ich habe heute Morgen mit ihr telefoniert und mit der Redaktion des Wochenspiegel inGran Canaria. Die haben tatsächlich in einer der letzten Ausgaben aller kanarischen Inseln über die Artikelserie von Beatrice berichtet. Dazu wurde im Nachdruck der etwas reißerisch aufgemachte Artikel, den ein Redakteur der Regenbogenpresse über Hera Simonis geschrieben hatte, verwendet. Da wird ihr ganzes Leben breitgetreten. Und zwar ziemlich voyeuristisch, wenn du mich fragst. Frau Simonis hat, wie sie mir gesagt hat, über Ihren Rechtsanwalt juristische Schritte gegen die Zeitschrift eingeleitet. Außer einer formelhaften Erklärung zum Pressegesetz und dem üblichen Blabla der Regenbogenpresse ist nichts dabei herausgekommen. Sie wusste nichts von dem Artikel im Wochenspiegel. Davon hat sie erst durch mich erfahren. Offenbar geht der noch mehr ins Detail als seinerzeit dieses Boulevardblatt. Und im Wochenspiegel ist auch die Rolle beschrieben, die du bei der Aufklärung des Mordes gespielt hast, mit Nennung von Ross und Reiter.”
„Ja, jetzt ist mir die Sache vom Ablauf her schon etwas klarer, aber mir fehlt der Hintergrund. Was, bitte schön, habe oder hatte ich mit Herrn Haurich zu tun?”
„Hauprich, Darius, mit p, Conrad Hauprich”, stellte Heribert richtig. „Was ich auf die Schnelle bisher herausbekommen konnte, ist Folgendes: Er führte als Steuerbevollmächtigter eine mittelgroße Kanzlei in Bingen-Büdesheim, die er vor etwa 25 Jahren verkaufte. Sagt er dir als Kollege etwas? Kann es sein, dass ihr euch schon einmal begegnet seid? Auf einer Fortbildungsveranstaltung, bei einem Vortrag oder einer Versammlung vielleicht?”
„Nicht dass ich mich erinnern könnte. Ich bin ja auch erst seit 14 Jahren mit der Kanzlei in Bernheim.”
„Hätte ja sein können.”
Heribert sah wieder in seine Aufzeichnungen. „Anscheinend hatte er alle Zelte abgebrochen, denn seine Spur verlor sich in Deutschland ab dem Verkauf der Kanzlei. Aber genau zu diesem Zeitpunkt tauchte er mit seiner Familie auf La Palma auf. Dort besaßen sie schon zu einer Zeit, als es noch nicht in war, eine alte Finca, die sie danach im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Anwesen umgebaut haben. Mit Blick auf das Meer, Swimmingpool und allem drum und dran. Muss eine tolle Lage sein – laut meinem Namensvetter und wie du ja auch schon beschrieben hast.”
„Da hat er seine Kanzlei ja gut verkauft, wenn er seit 25 Jahren das geruhsame Leben eines Rentners genießen kann”, stellte ich mit etwas Sehnsucht fest.
„Nur kein Neid, Darius. Im Gegensatz zu ihm kannst du das Leben noch genießen. Er hat nichts mehr davon. Außerdem hat er wohl auch auf La Palma gearbeitet und gut verdient. Heribert recherchiert noch. Hauprichs Frau, Ilona, ist vor vier Jahren gestorben und es existiert noch eine Tochter”, er sah wieder in seine Notizen, „Isabelle. Aber da gibt es offenbar einige Merkwürdigkeiten, zu denen mir Heribert auch noch nichts sagen konnte.”
„Wenn du den Namen Heribert aussprichst, dann habe ich den Eindruck, als ob du von dir in der dritten Person sprichst. Sag einfach Eribert. Im Spanischen wird das H nämlich nicht gesprochen.”
„Danke für die weitere Lektion Spanisch sprechen in fünf Minuten”, nickte Heribert mit gespieltem Ernst, klappte die umgeblätterten Seiten seines Notizblockes wieder zu und sah mich erwartungsvoll an.
„Was willst du nun von mir wissen?”, beendete ich das sekundenlange Schweigen.
„Ob du mir die Wahrheit gesagt, dich nur geirrt odermich angelogen hast!” Sein Tonfall verriet, dass er sich inzwischen immer weniger wohl fühlte in seiner Haut.
„Wie meinst du das?”
„Darius, wir sind befreundet. Das kann ich nicht einfach negieren. Die Kollegen in Spanien haben uns um Amtshilfe ersucht, zugegeben noch inoffiziell. Aber du weißt ja, dass das im Rahmen der EU-Harmonisierung inzwischen nur noch reiner Formalismus ist.”
Ich setzte zu einer Frage an, was Heribert jedoch mit einer energischen Handbewegung abwehrte.
„Die derzeit einzige Spur auf der Suche nach dem Täter führt nach Deutschland, hierher, zu dir. Und es ist meine Aufgabe, der Sache auf den Grund zu gehen. Egal, was dabei herauskommt. Je mehr ich die inzwischen bekannten Tatbestände miteinander verbinde und die potenziellen Möglichkeiten dazu addiere …”, er schüttelte den Kopf. „An der Geschichte stimmt etwas nicht!”
„Wovon sprichst du? Welche Tatbestände? Was soll nicht stimmen?”
„Darius, ich bin ja überzeugt davon, dass sich alles aufklären wird. Bevor sich ein anderer einschaltet, zum Beispiel, weil mir wegen unserer Freundschaft Befangenheit unterstellt wird, lass uns in Ruhe alles auf die Reihe bringen. Wir müssen alles dokumentieren, was auch nur irgendwie auf eine Verbindung zwischen dir und dem Mordopfer hinweisen könnte.”
„Dann fang an.” Ich nickte und war gespannt, wie sich die Sache entwickeln würde.
„Erstens: Conrad Hauprich kommt ursprünglich hier aus der Gegend. Zweitens …”, er zählte mit den Fingern mit, „Bingen liegt etwa 30 Kilometer von deinem Wohnort entfernt. Drittens: Ihr seid Berufskollegen und zudem im gleichen Kammerbezirk. Zu der Zeit, als Hauprich noch inBingen seine Kanzlei führte, warst auch du schon Steuerberater. Viertens: Dein Name ist im Wochenspiegel unterstrichen – dick unterstrichen. Fünftens: Deine Telefonnummer ist neben deinem Namen aufgeschrieben. Sechstens und am wichtigsten: Ihr habt tatsächlich miteinander telefoniert, das ist bereits bewiesen. Deshalb hat mich der Kollege Muñoz auf dich angesetzt. Ob als möglicher Tatzeuge oder als Verdächtiger, das ist zuerst einmal nebensächlich.”
„Was soll denn da noch bewiesen werden, wenn ich es dir doch bereits gesagt habe. Ich habe dir ja aus freien Stücken von dem Anruf am Freitag erzählt. Das müsste doch genügen, mehr weiß ich nicht.”
„Die Sache ist nur die: Conrad Hauprich besaß einen ISDN-Telefonanschluss und der bewusste Anruf ist mit deiner Nummer, dem Datum, der Uhrzeit und sogar der Dauer gespeichert.”
„Ja also, dann ist doch alles paletti.”
Ungerührt fuhr Heribert fort. „Um wie viel Uhr sagtest du war das Telefonat?”
„So gegen 22 Uhr 30.”
„Siehst du, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Zu diesem Zeitpunkt war Conrad Hauprich nämlich bereits eine Stunde lang tot. Der Todeszeitpunkt, ich sagte es bereits, konnte recht exakt bestimmt werden, und zwar auf 21 Uhr 30. Und der Anruf mit dir war, laut Telefonspeicher, genau um 21 Uhr 27 und 16 Sekunden. Außerdem dauerte das Gespräch bedeutend länger, als es aufgrund deiner Schilderung hätte dauern dürfen.”
„Würdest du mir das bitte etwas ausführlicher erklären?” Langsam kam mir jetzt doch die Galle hoch.
„Herr Schäfer …” zitierte Heribert das Telefonat aus dem Gedächtnis, „was kann ich für Sie tun? … Sie kennenmich nicht … ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen … es ist wichtig … wir sind Kollegen … Ihren Namen habe ich aus einem Artikel im Wochenspiegel … ich bin … lass das … was soll denn das … lass uns doch darüber reden … das ist doch verrückt … meine Tochter. Das dauerte”, er sah auf die Notiz, die er sich bei meiner Schilderung gemacht hatte, „… maximal 25 Sekunden. Ich habe auf die Uhr gesehen. Das Telefonat mit dir dauerte aber, laut der gespeicherten Zeit, tatsächlich vier Minuten und 33 Sekunden.”
Er hatte sich zu mir gebeugt und sah mir direkt in die Augen. „Denk genau nach: Wann hast du den Anruf bekommen? Vielleicht verwechselst du etwas.”
Ich schüttelte halsstarrig den Kopf.
„Bist du vielleicht zwei Mal angerufen worden?”
„Daran könnte ich mich erinnern.”
„Vielleicht ist Sonja beim ersten Mal drangegangen”, schlug Heribert vor.
„Quatsch, das habe ich doch schon gesagt, dass Sonja bei der Chorprobe war. Deshalb kann ich mich ja auch so genau an die Uhrzeit erinnern”, erklärte ich genervt.
Heribert seufzte resigniert: „Wir brauchen eine schlüssige Antwort, oder aber …!”
Ich überlegte kurz, tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn, als ich den logischen Fehler erkannt hatte, und lachte dann zu Heriberts sichtlichem Erstaunen lauthals auf. Bevor er sich von seinem Staunen wieder erholte, wurde ich schlagartig ernst.
„Zu welchen Schlussfolgerungen aus all dem, was nun schwarz auf weiß bekannt ist, könnte denn einer deiner Kollegen kommen? Einer, dem ich so unsympathisch bin, dass er seine Animosität bewusst zügeln muss, und der zudem von seiner Kombinationsgabe überzeugt ist.”
„Du meinst so einen übereifrigen, karrieregeilen Typen mit überbordender Fantasie? So einer, wie er als Realität getarnte Persiflage in schlechten Fernsehkrimis vorkommt?”
„Jetzt sag bloß, in deinen Reihen gibt es nur unfehlbare Computer, statt Menschen, normale Menschen, mit normalen Schwächen, die sie zu ihrer eigenen Karikatur machen können.”
„Das mag ich jetzt nicht diskutieren”, wehrte Heribert ab. „Aber auch ohne die Kombinationsgabe eines Sherlock Holms liegen mögliche Schlussfolgerungen offen auf der Hand: Ganz einfach – du lügst!”
„Und warum, bitte sehr, sollte ich lügen?” forderte ich Heribert heraus, dem der logische Fehler immer noch nicht aufgefallen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht um jemanden zu decken. Jemanden der um halb zehn noch kein Alibi hat, wohl aber um halb elf, wenn ihn ein Duzend Zeugen in einer Taverne bei einem guten Wein gesehen haben. Oder aber du hast gar nicht mit Hauprich gesprochen, sondern mit dem Täter, der dich um Hilfe bittet oder – schlimmer noch – der dir mitteilt, dass der Auftrag erledigt ist.”
„Und das Motiv?” bohrte ich nach.
Heribert blies die Backen auf.
„Siehst du, das Schweigen im Walde, du hast nichts, was beweisbar wäre”, trumpfte ich auf. „Das Ganze steht und fällt doch damit, dass es als Tatsache gilt, dass nicht Conrad Hauprich mit mir telefoniert hat, sondern eine unbekannte Person. Und zwar von Hauprichs Anschluss aus”, resümierte ich.
„Ja, und zwar, da du ja auf Beweiskraft pochst, nachweislich 4 Minuten 33 Sekunden lang.”
Ich sah Heribert durchdringend an, bevor ich ihn mit der Feststellung „du warst doch erst dieses Jahr in deinem Urlaub auf den Kanaren”, sichtlich überraschte.
„Ja, auf Fuerteventura, das weißt du doch. Was hat das mit dieser Sache zu tun?”
„Sehr viel. Kurz vor der Landung in Puerto del Rosario, was hat der Flugkapitän da über die Ortszeit und das Stellen der Uhren gesagt?”
Heribert runzelte die Stirn, blickte irritiert erst auf seine Uhr und dann wieder auf mich, bevor er mit der flachen Hand laut klatschend gegen seine Stirn schlug.
„Wie kann mir so etwas nur passieren?!”, Heribert schüttelte ärgerlich der Kopf. „Seit wann war dir klar, dass es nach der kanarischen Ortzeit eine Stunde früher als bei uns ist?”
„Seit dem Moment, als du so händeringend eine schlüssige Antwort gesucht hast. Da wollte ich den Gedankenfehler noch aufklären, aber du warst so im Rausch deiner potenziellen Beweisführung, dass ich dir deinen Spaß gönnen wollte.”
„Das ist kein Spaß, Darius!” Heriberts Stimme klang fast verzweifelt. „Mir geht es vor allem auch darum, dass du nicht in irgendeine Schweinerei hineingezogen wirst und ich nichts mehr daran ändern kann, wenn du von anderen Kollegen in die Mangel genommen wirst. Was meinst du, wie unsere Freundschaft und deine Aktivitäten bei der Aufklärung der Mordfälle deines Freundes Horst Scheurer und deines Kollegen Peter Simonis im Kollegenkreis kolportiert werden. Da ist Neid im Spiel, der mit dem Mäntelchen der massiven Verstöße gegen unsere internen Regeln zugedeckt wird. Was meinst du, was ich mir deswegen schon alles habe anhören müssen. Und dir ans Zeug zu flicken wäre für einige ein wahres Festival.”
Ich sah ihn ungläubig an. Fast beschwörend redete er daher auf mich ein. „Vermutlich ist es ja wirklich einer dieser verhängnisvollen Zufälle, aber als Kriminalist muss ich in verschiedene Richtungen denken. Vielleicht”, mutmaßte er, „bist du jemanden auf die Füße getreten und diese Person, oder auch ein Personenkreis, will dich diskreditieren. Man will dich persönlich und beruflich fertig machen!”
Ich sah ihn fragend an. „Auch wenn es der größte Schwachsinn ist? Kein Mensch bringt am anderen Ende der Welt einen Menschen um, nur um einem dritten an diesem Ende der Welt ans Zeug zu flicken!”
„Und wenn einer nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will?”, hielt Heribert dagegen.
„Aber dann würde das Ganze doch nur Sinn machen, wenn es eine Verbindung zwischen Hauprich und mir gäbe. Aber ich kenne den Mann gar nicht! Bin ihm nie begegnet, ich weiß nicht einmal, ob ich einen Mandanten habe oder hatte, der vor Urzeiten zu seinem Mandantenstamm gehörte.”
„Das könntest du aber herausfinden.”
„Das kann ich versuchen. Trotzdem, deine Schlussfolgerungen, lieber Heribert, kommen mir nun wirklich etwas paranoid vor. Verzeih bitte diesen Ausdruck, aber mir fällt momentan nichts Besseres ein.”
„Was du als Verfolgungswahn abtust, nenne ich Wachsamkeit, meinetwegen auch Argwohn.”
Ich merkte, dass Heribert von meiner Reaktion über seine Sorge um mich gekränkt war, und nahm daher ihm zuliebe den Gedanken an eine Rache gegen mich auf.
„Da fällt mir spontan nur eine Person ein, der ich einerseits die nötige kriminelle Energie, die Skrupellosigkeit und andererseits den Verstand zutraue, etwas derartigesauszuhecken und auch durchzuführen. Ein Mensch, der mich tatsächlich abgrundtief hassen muss …”
„Sabine Ulmer!”, sagten wir gleichzeitig.
„Die kann es aber nicht sein. Sie ist weiterhin hier in Alzey in der Landesnervenklinik. In der Forensischen Psychiatrie sind die Sicherungsmaßnahmen so streng, dass sie keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Höchstens ihre Mutter kann sie kurz besuchen, sonst niemand. Ärzte, Pflegepersonal, ihr Anwalt, wir und ihre Mutter, das sind die einzigen Personen, mit denen sie Kontakt hat”, erklärte Heribert.
„Und woher sollte sie Hauprich kennen? Die Ulmer hatte ja noch nicht mal Abitur, als der nach La Palma ging!”
„Tja …”, sagte Heribert ratlos und verfiel ins Nachdenken.
„Hast du sie denn noch einmal vernommen?”, unterbrach ich seine Grübeleien.
„Nein, das macht jetzt Bert Heusinger, der zuständige Staatsanwalt. Letzte Woche haben wir kurz miteinander gesprochen. Da ging es auch um Sabine Ulmer. Er schilderte mir, dass sie sehr kooperativ ist und offensichtlich langsam erkennt, dass ihre vermeintliche Rache bitteres Unrecht war. Es sieht so aus, als würde sie ihre Taten bereuen. Vor allem macht ihr auch der Mord an Tilo Sommer zu schaffen.”
„Kann das nicht auch ihre Verteidigungsstrategie sein?”, fragte ich misstrauisch.
„Das glaube ich nicht. Heusinger ist erfahren genug, um sich von solchen dramaturgischen Tricks nicht hinters Licht führen zu lassen. Man hat ihr eine feste Betreuerin zugeteilt, eine Erika Sembach, die Heusinger in meiner Anwesenheit über Sabine Ulmer befragt hat. Sie ist Psychologin und hat einen sehr souveränen Eindruck auf michgemacht. Sie hat uns bestätigt, dass Sabine Ulmer sich mit Selbstmordgedanken trägt, weil sie an ihrer Schuld zu zerbrechen droht. Aber trotzdem, auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass sie aus der Klinik heraus nichts an derartigen Dingen unternehmen kann, weder über Dritte, geschweige denn selbst, werde ich das noch einmal genau überprüfen lassen. Alleine schon aus Prinzip.”
„Es wäre auch zu schön gewesen, wenn die Ulmer die gesuchte Person gewesen wäre”, klagte ich. „Mir fällt sonst wirklich niemand ein, der mich dermaßen verabscheut. Aber”, kam mir plötzlich eine Idee, „vielleicht liegst du ja völlig falsch und es geht überhaupt nicht um mich. Vielleicht will man ja über eine Kampagne gegen mich den Hauptkommissar Koman fertig machen. Man schlägt den Esel, obwohl der Reiter gemeint ist, weißt du. Hast du denn einen Kollegen, dem du das zutrauen würdest?”
„Einen? Da fallen mir einige ein. Eigentlich jeder, der Probleme mit Gradlinigkeit, Offenheit und meiner oft unkonventionellen Vorgehensweise hat. Allen voran mein früherer Chef, Karsten Wehmut. Du weißt, dass ich im Fall Simonis nicht nur seine Ermittlungsschlamperein, sondern vor allem seine Mauscheleien aufgedeckt habe und er daraufhin in den Verwaltungsbereich versetzt worden ist.”
„Aber andererseits … wie sollte das denn einer machen, auch noch von La Palma aus, was für eine abwegige Idee”, gab ich irritiert zu bedenken.
„Wir sind beide nicht der Typ, der abwartet, bis ihm jemand das Messer in den Rücken stößt, wenn er erkennt, dass dieser jemand ausholt.”
Ich nickte, obwohl mich dieses – aus meiner Sicht überzogene – Beispiel immer noch nicht überzeugte. Andererseits hatte ich während der letzten Monate mehrmals die Erfahrung machen müssen, dass Fiktion und Realität eine geradezu gespenstige Symbiose eingehen können und aus vermeintlich abstrusen Gedankenspielen tödlicher Ernst werden kann.
Auch im Laufe meiner Berufsjahre hatte ich gelernt, dass selbst eine noch so ausschweifende Fantasie nicht dazu ausreicht, menschliche Abgründe auch nur annährend auszuloten. Es gibt, so meine Erfahrung, nichts, was es nicht gibt. Und dennoch – widerwillig schüttelte ich den Kopf.
Heribert entging meine Skepsis nicht und präsentierte mir daher einen Vorschlag zur Güte: „Was hältst du denn davon, wenn wir diese Sache zum Anlass nehmen, das zu tun, was wir ohnehin vorhatten. Du wolltest mir La Palma zeigen, wie es der normale Tourist nicht zu sehen bekommt. Und dabei nutzen wir meine Kontakte zu Inspector Muñoz und versuchen, den Ungereimtheiten vor Ort auf die Spur zu kommen. Außerdem würde ich Heribert gerne einmal wiedersehen.”
„Welche Ungereimtheiten?”, fragte ich.
„Vier Minuten und 33 Sekunden gegen 25 Sekunden.”
Ich gab mich geschlagen und überlegte bereits, wie ich Sonja eine halbwegs akzeptable Begründung liefern und mit ihrer zu erwartenden Ironie umgehen könnte.
Heribert unterbrach jedoch meinen Gedankengang. „Es bleiben halt zu viele Fragen offen, an deren Beantwortung dir doch auch gelegen sein muss. Woher sollte dich Conrad Hauprich gekannt haben? Weshalb könnte er dich angerufen haben? War sein Tod geplant oder das Ergebnis einer Eskalation? Tja, und dann die erwähnte Diskrepanz zwischen deinen Angaben über die Dauer des Telefongesprächs und die Aufzeichnungen im Telefonspeicher.”
„Vielleicht lässt sich das technisch manipulieren?” Irgendwie rebellierte ich immer noch.
„Durchaus möglich”, stimmte Heribert zu, „aber das würde doch erst recht auf eine geplante Aktion hindeuten. Und wenn wir dabei Heribert Muñoz noch bei der Suche nach dem Mörder von Conrad Hauprich unterstützen können …?”
„Also, auf nach La Palma”, sagte ich und versuchte meiner Stimme einen beherzten Ausdruck zu verleihen. „Wann kannst du?”
„Jederzeit. Mit Dieter Erb habe ich das schon geklärt. Er ist einverstanden damit, dass ich das erst einmal als Kompensation meiner Überstunden mache, damit der Anstrich des Privatvergnügens gegeben ist, falls es notwendig sein sollte. Du erinnerst dich noch an ihn?”
„Das ist ja wohl mehr eine rhetorische Frage.”
Der inzwischen zum Polizeidirektor avancierte, ehemalige BKA-Beamte war nicht nur der Vorgesetzte von Heribert, sondern auch freundschaftlich mit ihm verbunden. Seinen Dienstsitz hatte er in Worms. Er war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass mein letzter kriminalistischer Ausflug so glimpflich ausgegangen war. Ohne seine Entschlossenheit, sich über bürokratische Formalia hinwegzusetzen, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. „Um die Unterkunft brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, das Haus ist zurzeit frei. Erst ab November hat es meine Agentur in Los Llanos wieder vermietet. Ich werde Paloma anrufen. Sie kümmert sich um die Reinigung und kann die Betten vorbereiten”, plante ich endgültig. „Wir müssen nur die Tickets buchen. Das ist ein bisschen problematisch so auf die Schnelle”, gab ich zu bedenken. „Und bitte nicht von Düsseldorf aus”, bat ich mit gespieltem Ernst.
„Was wäre falsch an Düsseldorf?”
„Du schaust wohl keine Nachrichten. Am Sonntag letzter Woche haben deine Kollegen wegen mehrerer Bombendrohungen Terminal und Zufahrtsstraßen geräumt. Da standen dann Tausende vor den Eingängen des Flughafens. Nichts ging mehr.”
„Gegen solche kranken Hirne sind wir halt nicht gefeit. Spinner gibt es immer und überall. Ich regle das mit den Tickets über Monika. Sie hat durch das Hotel immer Möglichkeiten, selbst in den unmöglichsten Situationen eine Lösung zu finden. Ich rufe dich an, sobald sie etwas erreicht hat, und werde dann auch Eribert informieren.”
Wir verabschiedeten uns, wobei ich ausdrücklich darum bat, Dagmar Keller zu grüßen, und ich machte mich wieder auf den Heimweg nach Bernheim.
Als nächstes musste ich Carlo Bescheid sagen, dass ich für unbestimmte Zeit in der Kanzlei ausfallen würde. Aber an diese Eskapaden waren er und die Mitarbeiter bereits gewöhnt. Unsere Arbeitsabläufe waren inzwischen bewusst darauf abgestimmt, dass ich immer einmal wieder für einige Tage ohne großartige Vorausplanung nicht zur Verfügung stand. Noch vor zwei Jahren wäre das für mich unvorstellbar gewesen. Ich hatte mich als unabkömmlich betrachtet, und diesem – fast schon an Arroganz grenzenden Trugschluss – meine Ehe geopfert. Ich war es ja nie anders gewohnt. Mein Vater, meine Kollegen und sogar meine Mitarbeiter lebten nicht nur in dem für unseren Berufsstand typischen Irrtum, ein Steuerberater müsse jeder Zeit und zu allererst für seine Mandanten da sein. Nein, sie suggerierten mir das auch beständig durch ihr Verhalten. Schließlich würden wir ja von unseren Klienten bezahlt, die dieses Verhalten für sich ungefiltert übernahmen.
Der Witz bei der Sache ist nur, dass man mich ja eigentlich wegen meiner Kenntnisse, meiner Fähigkeiten und meiner Verantwortung für das, was ich tue und sage, bezahlt. Ich werde nicht bezahlt für den – wenn auch unbedachten – hemmungs- und teilweise rücksichtslosen Zugriff auf meine Person. Das käme für mich einer besonderen Form der Prostitution gleich.
Nachdem ich dies einmal erkannt hatte, änderte ich konsequent einige beruflichen Selbstverständnisse. Ich nahm mir wieder den Spielraum an Selbstbestimmung zurück, den ich mir über viele Jahre hinweg Stück für Stück hatte beschneiden lassen. Und mit zunehmendem Interesse stellte ich fest, dass dabei weder die Mandanten noch die Mitarbeiter weniger betreut wurden, geschweige denn zu kurz gekommen wären. Zur Rettung meiner Ehe war es allerdings zu spät. Beatrice hatte sich bereits von mir scheiden lassen. Schon lange vorher hatte sie sich innerlich aus unserer Gemeinschaft verabschiedet. Unsere Beziehung lebte jedoch, verbunden durch unsere Söhne, in einer echten Freundschaft fort, die auch für Sonja kein Problem darstellte.
Sonja!, fiel es mir wieder siedendheiß ein, vor allem sie musste von meinem Ausflug nach La Palma und den Beweggründen dafür wissen. Das heißt, ich musste sie nicht nur beruhigen, ich würde sie auch von der Notwendigkeit überzeugen müssen. Da stand mir also ein gutes Stück Arbeit bevor. Zum Glück blieb mir dazu noch etwas Zeit, bis sie aus der Schule kam. Außerdem würde sie mir nicht Auge in Auge gegenübersitzen, ich konnte das im ersten Anlauf telefonisch regeln. Sie würde die nächsten Tage in ihrer Wohnung verbringen, da sie einige Klausuren zu korrigieren hatte. Bei einer unserer abendfüllenden Diskussionen, die die „Demarkation” beiderseitiger Erwartungshaltungen in unserer Beziehung zum Ziel hatten, vertrat sie einmal die absurde Ansicht, „sie könne nicht ungestört arbeiten”. Weil ich dann „dauernd wie ein liebesbedürftiger Kater um sie herumscharwenzeln” würde, wie sie meine Fürsorge um ihr Wohlergehen niederträchtigerweise missinterpretierte. Sie meinte, das würde sie ablenken und beunruhigen. Meine Reaktion darauf, es sei „für einen Mann beunruhigend, wenn er anfange, auf Frauen beruhigend zu wirken”, bezeichnete sie als zwar schlagfertige, in diesem Zusammenhang aber missglückte, spätpubertäre Fußnote. Dass dieser Ausspruch nicht auf meinem Mist gewachsen war, sondern Jean Gabin zugeschrieben wird, habe ich dann auch tunlichst verschwiegen.
Nachdem ich wieder in Bernheim angekommen war, verbrachte ich den Rest des Tages damit, in meiner Kartei erfolglos nach ehemaligen Hauprich-Mandanten zu fahnden, ein paar aufschiebbare Termine zu verlegen und mit Carlo die dann noch verbleibenden Angelegenheiten vorzubereiten, damit einer plötzlichen Abreise auch ja nichts im Weg stehen würde.
Was würde ich ohne „kleines, dickes Carlo” nur anfangen? Fast zärtlich nannte ich ihn so bei mir, in Erinnerung an den Spitznamen von Gerd Müller, dem er äußerlich ähnelte. Ich war glücklich einen derart loyalen und kompetenten Nachfolger für meine Kanzlei gefunden zu haben. Bereitwillig hatte er sich mit meinen Vorstellungen über meinen Zeiteinsatz im Büro arrangiert. Denn für ihn stellten sie keine unüberwindbaren Probleme dar.
Wie es seine Art war, saß er mir aufrecht und in gespannter Haltung gegenüber und hörte bedächtig zu. Auf Menschen, die nur vordergründig und oberflächlich mit den Ohren hören, statt alle ihre Sinne einzusetzen, mochteer wie ein phlegmatischer Schweiger wirken, nicht so auf mich. Wie oft in „Gesprächen” mit ihm, genügte bereits der Einsatz seiner Körpersprache und seines mimischen Instrumentariums, um unmissverständliche Signale zu senden.
So auch, als ich ihm den Grund meiner geplanten Abwesenheit erklärte. Wie sich die Bilder gleichen, dachte ich, als er mir bedeutete, ich müsse doch langsam einmal respektieren, dass ich nicht mehr der Jüngste sei. Derartige Eskapaden solle ich doch besser denen überlassen, die dafür ausgebildet und bezahlt würden. Doch trotz aller Skepsis wollte er wissen, ob und wie er mir helfen könne.
„Danke, Carlo”, wehrte ich ab, „es genügt vollauf, dass du hier deine Arbeit machst.”
Am späten Nachmittag rief ich Sonja an. Mehrmals hatte ich nach dem Hörer gegriffen, um ihn sofort wieder aufzulegen und spontan, man könnte auch sagen feige, erst noch eine weitere unaufschiebbar-wichtige Unwichtigkeit zu erledigen. Schließlich blieb mir aber nichts anderes mehr übrig, als endlich den Anruf zu wagen.
Zu meiner Überraschung hatte ich mir unnötige Gedanken über Sonjas Reaktion gemacht. Sie verstand unsere Motivation und bemühte sich, den Sachverhalt objektiv zu betrachten. Auch bot sie sofort an, während meiner Abwesenheit in Bernheim zu wohnen, um sich um die Hunde und Katzen kümmern zu können.
Allerdings hätte sie mich zutiefst desillusioniert, wenn sie nicht abschließend einen ihrer typischen Kommentare losgelassen hätte, die einen stets zu Interpretationen herausforderten. Als ich mich nämlich zum Ende des Gespräches für ihr unvermutetes Verständnis bedankte, antwortete sie: „Nichts zu danken, ich halte es da ganz einfach mit Nietzsche.”
„Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht?”, lachte ich.
„Oink, oink, sagte das Machoschweinchen! Nein, ich dachte eher an:
Das Glück des Mannes heißt: Ich will.
Das Glück des Weibes heißt: Er will.
Und wenn es denn sein muss, dann ist es deine Entscheidung und ich trage sie mit. Naja, und ich kann‘s ja auch verstehen.” Ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme.