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Montag, 4. April 2005

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„Wo ist dein Problem, Darius?” Heinz stellte sein halbvolles Weinglas auf dem Tresen ab, an dem wir seit einer guten Stunde im Bernheimer Schafbock standen.

Es war einer dieser tristen, nasskalten Tage, an denen man schon absonderlich veranlagt sein musste, um nicht wenigstens einen Anflug von Trübseligkeit zu verspüren. Einer dieser Tage, an denen man den Eindruck haben konnte, das noch junge Jahr stecke mitten in der Pubertät und sei hin und her gerissen, für welche Jahreszeit es sich nun entscheiden solle.

Ich war einfach unzufrieden – mit mir selbst – und die verdrießliche Stimmung die der Tag vor dem Bürofenster verbreitet hatte, war nicht unbedingt dazu angetan, meine eigene aufzuhellen. Dazu war noch Wochenanfang und Sonja hatte sich heute Morgen von mir mit dem Hinweis verabschiedet, dass es wieder einmal spät werden könne und ich nicht auf sie warten solle. „Elternabend”, war ihre lapidare Erklärung, die sie mit einem bedauernden Achselzucken und einem nachgeschobenen Kuss auf meine Wange abzumildern versuchte. Und danach wollte sie sich noch mit ein paar Kollegen beim Lehrer-Lieblings-Griechen in Alzey treffen. „Soziale Pflichtübung” nannte sie das.

Ich konnte Beatrice, meine Ex-Frau, immer besser verstehen. Während der letzten Jahre unserer Ehe war sie es gewesen, die immer häufiger auf ein geregeltes und vertrauenswürdiges partnerschaftliches Zusammensein hatte verzichten müssen. Vor drei Jahren – lange nach unserer Scheidung – hatte ich begonnen, mein Leben umzukrempeln und als Konsequenz meine Steuerberatungskanzlei verkauft, an Carlo Dornhagen, einen ehemaligen Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey. Die Übergabe war mit meiner festen, sogar vertraglich vereinbarten Absicht verbunden, dort nur noch mit halber Fahrt mitzuarbeiten.

Doch wenn mich nicht eine Serie von Schicksalsfügungen immer wieder einmal für mehrere Wochen in die Gefilde der Hobby­kriminalistik entführt hätte, wäre ich schon bald gedankenlos in den alten Trott zurückgefallen. Obwohl ich für mich die Feststellung getroffen hatte, dass Trott nicht allzu weit entfernt war von Trottel. „Lieber ein Löwe am Abgrund, als ein Esel vor dem Karren.” Wie oft und mit welcher Überheblichkeit, hatte ich nach meinem Erwachen aus einem jahrelangen beruflichen Albtraum anfänglich mit diesem Spruch auf andere eingeschlagen, die meine Veränderung nicht nachvollziehen konnten. Und dann, schleichend und kaum von mir bemerkt, verfiel ich wieder in alte Verhaltensmuster. Dass das Kanzleigebäude in dem umgebauten Kelterhaus eines kleinen, ehemaligen Weingutes untergebracht war – nur zehn Schritte von dem Haus entfernt, in dem ich mit Sonja, zwei Hunden und drei Katzen lebte – wirkte sich begünstigend auf meine Rückfälle aus.

Das Anwesen lag am Ortsrand von Bernheim, einem kleinen Winzerdorf in der Rheinhessischen Schweiz. Die Region hatte immer als Garant für die ideale Witterung zum Weinanbau gegolten, während der letzten Wochen allerdings schien diese Auszeichnung nicht mehr zuzutreffen.

Da saß ich also an meinem Schreibtisch, stapelte lustlos Akten von einer auf die andere Seite, verteilte einiges in Hängehefter, suchte nach irgendetwas im Internet und wusste, dass etwas geschehen musste. Aber was?! Sonja nicht da, mieses Wetter und matschige Wege, die einem das Joggen verleideten, Unzufriedenheit mit meiner eigenen Inkonsequenz – was half da? Ein gutes Männergespräch mit Heinz, unterstützt von ein paar Bernheimer Roten.

Heinz Runde, ein begnadeter Softwarespezialist und bekennender und praktizierender Demeter-Ökologie-Nebenerwerbslandwirt, gehörte mit seiner Frau Karin zu meinen engsten Freunden. Beatrice hatte beide ursprünglich als eine Art Mitgift in unsere Ehe eingebracht und mir nach der Scheidung anteilig zum weiteren Nießbrauch überlassen.

Ich griff spontan zum Telefon.

„Wir treffen uns im Schafbock, um acht, ich muss zuerst noch die Tiere füttern”, war seine prompte Reaktion auf meine Bitte, ein Gläschen mit mir zu trinken. Er war einer meiner Mandanten, aber er kam auch zu mir, wenn er ein Problem abseits steuerrechtlicher Belange hatte. Und ich konnte ebenso auf ihn zählen.

Wir standen am Tresen in unserer Dorfgaststätte. Die Werbeuhr der Kirner Brauerei an der Wand zeigte kurz vor halb zehn. Obwohl sich die Kochkünste von Paul Herbst, der seit fast zwei Jahren das Lokal führte, inzwischen rumgesprochen hatten und Gäste aus der gesamten Umgebung anlockten, waren die Tische heute kaum besetzt. Kein Wunder – es war Montag, der Teuro verleidete den Leuten weiterhin das Ausgehen und das dritte deutsche Wirtschaftswunder hatte sich immer noch nicht herbeireden lassen.

Am Tresen waren Heinz und ich alleine. So konnte ich meinen Frust loslassen, ohne dass ich auf unerwünschte Zuhörer hätte achten müssen. Maitre Paul, wie wir ihn anerkennend nannten, stand wie immer, wenn es in der Küche nichts zu tun gab, auf der anderen Seite des Ausschanks. Angetan mit seiner burgunderroten Schürze, mit dem eingestickten goldfarben und ineinander verschlungenen Namenskürzel PH, wartete er in diskretem Abstand im Hintergrund auf einen Wink, unsere Gläser mit Bernheimer Spätburgunder zu füllen. Jeder von uns hatte bereits fünf Striche auf seinem Deckel.

Nebeneinander stehend, unsere Rücken dem Gastraum zugewandt, mussten wir ein imposantes Bild abgeben. Von hinten sahen wir uns, soweit es unsere Statur betraf, zum Verwechseln ähnlich. Heinz war mit 1 Meter 85 nur knapp größer als ich. Von vorne betrachtet erkannte man natürlich den Unterschied von zehn Jahren, die ich Heinz voraus hatte. Er war in seinem Farmerlook – kariertes Hemd und speckige Glattlederhose – ich immer noch im anthrazitfarbenen Kanzleianzug, was darauf hinwies, dass ich Sonjas Abwesenheit zu Überstunden missbraucht hatte. Den Schlips hatte ich allerdings abgelegt.

Einen Fuß auf der Trittstange abgestellt, leicht nach vorn über den Tresentisch gebeugt hielten wir unsere Gläser in der Rechten und starrten in das dunkle, satte Rubinrot. Ich hatte mich ausgequatscht, Heinz hatte zugehört und nun konnten wir … schweigen. Eine Szene wie in einer alten Westernschnulze. Ich schmunzelte vergnügt vor mich hin, mir ging es besser, Heinz hatte mich verstanden. Oder etwa doch nicht?

„Wo ist dein Problem, Darius?” Er stellte sein halbvolles Glas auf dem Tresen ab. „Gut, Beatrice hat dich vor acht Jahren mit euren beiden Söhnen verlassen. Aber, die sind ohnehin schon längst aus dem Haus und mit Beatrice besteht eine Freundschaft, die anscheinend besser funktioniert als eure Ehe.”

„Schon, aber …”

„Und seit fast drei Jahren bist du mit Sonja zusammen. Ihr passt zusammen, ergänzt euch und seid offenbar glücklich.”

„Ja, das stimmt ja alles, aber …”

„Was denn aber. Dir könnte es doch nicht besser gehen. Wie kann man nur so wehleidig sein, nur weil mal nicht alles so geht, wie man es sich vorstellt. Du könntest wirklich etwas entspannter sein.”

„Du musst gerade reden. Wie war das denn letzten Monat, als ihr Oskar geschlachtet habt, weil trotz mehrmaliger Deckungsversuche keine eurer Kühe trächtig wurde.” Heinz winkte ab, aber ich wollte einfach zeigen, dass auch er seine Grenzen hatte. „Und kurz danach habt ihr festgestellt, dass er doch seiner Bullenpflicht erfolgreich nachgekommen war. Der wollte nur nicht, dass ihr dabei zuseht. Nur war da der verhätschelte Zuchtbulle schon im Topf.”

„Klar hat mich das geärgert.”

„Geärgert? Tagelang gab es kein anderes Thema. Ganz Bernheim musste an deinem Kummer teilnehmen. Und als der Metzger dann wegen eines Missverständnisses fast das ganze Fleisch zur Wurst verarbeitet hat, sogar die Filetstücke, da bist du gänzlich ausgeflippt. Dabei ist es doch nur dein Hobby und soll der Entspannung dienen.”

Beide hatten wir unsere Gläser geleert und ich erweckte Paul aus seiner Erstarrung. „Noch mal dasselbe” forderte ich und tippte mit dem Zeigefinger auf meinen Deckel. Ich hatte Heinz attackiert, dafür gab ich einen aus.

Als wir mit den Gläsern anstießen, kam ihm die Erleuchtung: „Weißt du, was dir fehlt? Du müsstest wieder einmal über eine Leiche stolpern. Kriminalabstinenz führt bei dir zu Entzugserscheinungen.”

„Abgesehen davon, dass deine Bemerkung nur knapp an der Grenze zur Geschmacklosigkeit vorbeischrammt, schreibe ich deinen Mangel an Einfallsreichtum übermäßiger Alkoholzufuhr zu.”

Er zählte demonstrativ die Striche auf seinem Zettel und tippte sich dann an die Stirn.

Doch ich fuhr ungerührt fort: „Falls du es übersehen haben solltest: Ich habe bisher nur dann den Privatermittler gespielt, wenn ich persönlich auf irgendeine Weise betroffen war. Horst war mein Freund und Peter Simonis und Conrad Hauprich waren Kollegen. Wenn überhaupt, würde ich mich nur dann reaktivieren lassen, wenn es wieder um jemanden aus meinem persönlichen Umfeld ginge – um dich zum Beispiel.” Ich übersah sein theatralisches Entsetzen. „Nein Heinz, mir geht es um etwas ganz anderes, etwas Existenzielles: Ich will nicht wieder in mein altes Leben abdriften, darum geht es mir!”

„Nun, dann habe ich mit meinem Gedankenflug doch Recht – oder? Es muss ja nicht immer ein Mord sein. Eine kleine Entführung oder eine saftige Erpressung oder ein bisschen Wirtschaftskriminalität würde ja auch schon genügen. Warte nur ab, der nächste Fall kommt bestimmt. Vielleicht schon morgen”, frotzelte er und klopfte mir jovial auf die Schulter. „Auf mich brauchst du als Opfer allerdings nicht zu hoffen. So leicht werde ich es dir nicht machen. Und bei dem guten Berater, den ich habe, ist ja noch nicht einmal das kleinste bisschen Steuerhinterziehung drin.”

Ich besann mich wieder auf männliches … Schweigen und Heinz schloss sich freundschaftlich an.

Aber schon wenige Tage später fühlte ich mich bemüßigt ihn zu fragen, ob er etwa heimlich einen Volkshochschulkurs in Hellseherei absolviert hatte, mit Bestnote.

Mordsverlust

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