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24 Wochen vorher, Donnerstag, 7. April 2005

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Das Wetter hatte sich endlich gebessert und ich fuhr kurz vor elf Uhr bei strahlendem Sonnenschein, der so gar nicht zu dem Anlass meiner Fahrt passte, zu Gertrud Faber. Am Tag zuvor hatte sie mich in der Kanzlei angerufen und mir von Renates Verschwinden erzählt. Sie hatte sich für mehrere Tage aus ihrer Kanzlei abgemeldet und so besuchte ich sie in ihrem Haus in Neu-Bamberg. Das idyllische Dörfchen lag in einem der schönsten Gebiete der Rheinhessischen Schweiz, etwa zehn Autominuten entfernt von Bernheim Richtung Bad Kreuznach. Mein Weg führte mich vorbei am Galgenberg und dem literarisch vielfach beschriebenen Ajaxturm. Während der Fahrt musste ich an das gestrige Telefonat mit Gertrud denken und hatte daher keinen Blick für die pittoreske Landschaft und die Burgruine, die oberhalb auf einem Hügel das Bild der Ortschaft prägte.

Gertrud Faber hatte mir erzählt, dass ihr Schwiegersohn Benjamin am Ostersonntag, also am 27. März, gegen zehn Uhr bei ihr angerufen und sie gefragt hatte, ob sie eine Ahnung hätte, wo Renate sei. Er war aufgewühlt gewesen und hatte ihr erzählt, dass Renate nach einem kleinen Streit, wie er es nannte, mitten in der Nacht die gemeinsame Wohnung auf dem Weingut verlassen hätte, mit der Mitteilung, nie mehr zurückkommen zu wollen. Gertrud war ratlos.

„Ich habe schon seit einiger Zeit gespürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, aber ich kam gar nicht mehr an sie heran. Sie hat seit einigen Wochen so ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt und den Kontakt mit mir auf das wirklich Notwendigste reduziert. Dabei war unser Beziehung doch früher immer so eng! Naja, wenigstens hat Renate sich zwei Tage später gegen fünfzehn Uhr dann doch bei mir gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie bei Marga Preuß, Benjamins Tante, untergekommen sei. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und dass sie einfach ein paar Tage benötige, um sich zu sortieren, wie sie es ausdrückte. Sie würde sichwieder melden. Sie wäre auch mit allem versorgt, was sie brauche – Auto, Kreditkarte und ausreichend Kleidung. Aber als ich dann am nächsten Tag noch einmal versucht habe, sie über ihre Handynummer zu erreichen, nahm sie nicht ab. Ich habe dann bei Marga angerufen, die mir aber auch nicht viel mehr sagen konnte, als dass Renate noch während der Nacht oder am frühen Morgen ohne vorherige Ankündigung das Haus verlassen hätte.”

Seitdem hatte Gertrud nichts mehr von Renate gehört, obwohl sie immer wieder ihre Handynummer wählte. Ihre unbestimmte Befürchtung, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte, verstärkte sich von Tag zu Tag.

„Erst zieht sie sich Stück für Stück von mir zurück, dann verlässt sie ihren Lebenskreis und nun lässt sie schon seit zehn Tagen nichts mehr von sich hören! Sie hätte doch wenigstens anrufen oder auf meine Anrufversuche auf ihrem Handy reagieren können. Das passt alles nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht, das spüre ich.” Für einen Moment herrschte Stille, ich hörte sie nur noch atmen.

„Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Was soll ich nur tun, Darius?”

Ich versprach Gertrud, sie am nächsten Tag zu besuchen und meinen Freund, Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey, hinzuzuziehen. Er konnte die Angelegenheit als Kriminalbeamter bedeutend effektiver beleuchten als ich und ihr bestimmt das Richtige raten.

Ich bog in eine Spielstraße im Neubaugebiet von Neu-Bamberg ein, an deren Ende Gertrud seit etwa 12 Jahren in einem Einfamilienhaus wohnte. Heribert war bereits da. Von Weitem sah ich ihn neben seinem Dienstwagen stehen, wo er auf mich wartete. Er reckte das Gesicht der Sonne entgegen und tankte offensichtlich Glückshormone nach dem wochenlangen Regenwetter.

Während ich im vorschriftsmäßigen Schritttempo auf ihn zu fuhr, fiel mir unsere erste Begegnung ein. Es war im Juli 2002 an dem Acker, an dem meine Hunde die Leiche meines Freundes Horst aufgespürt hatten. Ein freundlich aussehender Mann in Zivil, ichschätzte ihn damals auf Ende 40 – heute ist er 51, sechs Jahre jünger als ich – war auf mich zugekommen. Seinerzeit war er noch etwas schlanker gewesen, aber bei seiner Größe von 1,95 Meter fiel das kaum auf. Allerdings hatten sich seine Haare inzwischen meiner Frisur angeglichen. Sie waren weniger, zum Ausgleich jedoch auch grauer geworden.

Der freundliche Eindruck hatte sich sehr schnell verwischt, als er mich ohne eine erklärende Vorbemerkung gefragt hatte, ob ich Horst umgebracht hätte, was nicht gerade dazu hatte beitragen können, die erste Wahrnehmung des Hauptkommissars Heribert Koman wenigstens neutral zu gestalten. Und als er mich auch noch über Horst ausfragen wollte, der nicht nur mein Freund, sondern auch einer meiner Mandanten gewesen war, konterte ich mit einer hochgestochenen Reaktion: Ich verwies auf meine Verpflichtung zur Verschwiegenheit und zitierte aus meiner Berufsordnung. Ich erinnerte mich noch gut an unsere ebenso kurze, wie lächerliche Auseinandersetzung, die sich daran anschloss. Heribert beendete sie mit der Erklärung: „Wollen wir uns hier Paragrafen um die Ohren schlagen oder möglichst schnell den Tod Ihres Freundes klären!? Ihre Schweigepflicht, verehrter Herr Schäfer, interessiert mich dabei nämlich, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, einen Scheiß.” Seitdem war er mir sympathisch. Allerdings bedurfte es noch mehrerer verbaler Scharmützel bei einem weiteren Fall bis wir, mit der Unterstützung einiger Flaschen Rheinhessenwein, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft à la Rick Blaine und Victor László einläuteten.

Gertrud hatte uns bereits durch das Küchenfenster gesehen und öffnete die Haustür, bevor wir klingeln konnten. Sie sah müde und angespannt aus und ihre sonst stets frische Gesichtsfarbe war einer kränklichen Blässe gewichen. Sie musste meinem Blick entnommen haben, dass mich ihr Anblick erschreckt hatte. Als sie uns in das zum rückwärtigen Garten gelegene Wohnzimmer geführt und gebeten hatte, Platz zu nehmen, erklärte sie, dass sie schrecklich aussehen müsse, seit Tagen habe sie kaum geschlafen.

Während sie uns Kaffee einschenkte, der in einer großen Kanne schon bereitstand, beobachtete ich sie. Gertrud war ansonsten eine attraktive, sehr gepflegte Erscheinung. Nicht nur wegen ihrer zierlichen Gestalt – sie war etwa 1 Meter 65 groß – schätzte man sie auf höchstens Anfang 50, sondern auch wegen ihrer blonden, kurz geschnittenen Haare, denen zumindest ich nicht ansehen konnte, ob sie in einer natürlichen Farbe getönt oder einfach noch nicht ergraut waren. Aber heute sah man ihr ihre 58 Lebensjahre an.

Sie hatte die Kaffeekanne abgesetzt und offerierte mit einer einladenden Geste Milch und Zucker.

„Wo kann sie nur sein, Darius? Du kennst Renate doch auch. Das ist einfach nicht ihre Art!” Gertrud sah dabei aber nicht mich an, sondern Heribert, wobei ihre Mimik vom Zweifel zur Verwunderung wechselte. „Sagen Sie, sind Sie etwa der Heribert Koman, bei dem meine Tochter ihr Polizeipraktikum absolviert hat? Na, sie müssen es sein. Es wird ja kaum mehrere Hauptkommissare in Alzey mit demselben Namen geben.”

„Das stimmt, Frau Faber”, er neigte sich ihr leicht zu, „Ihre Tochter Renate war vor sechs Jahren auf meiner Dienststelle. Ich erinnere mich sehr gut an sie.”

Ich traute meinen Ohren nicht. „Weshalb hast du mir denn davon gestern nichts gesagt.”

„Ganz einfach”, grinste er schief. „Hattest du mich über meine Telefondurchwahl erreicht? – Nein, denn dein Anruf wurde auf die Zentrale umgeleitet, weil ich gerade in einer Vernehmung war. Und erinnerst du dich, was der diensthabende Kollege dich fragte?”

„Mhm, er wollte wissen, ob es dringend sei. Und ich sagte, dass es unaufschiebbar sei und ich dich nur ganz kurz etwas fragen müsse.”

„Also hat er dich mit mir verbunden. Du hast gesagt, worum es geht, und ich habe versprochen, heute vorbeizukommen, aber in dieser Situation hatte ich nicht noch Zeit, dir zu erklären, dassRenate mehrere Monate bei mir in der praktischen Ausbildung war.”

„Ein kleiner Hinweis nur …”, nörgelte ich.

„Darius, du solltest wirklich ab und zu meinen Job machen. Willst du gestört werden, wenn du ein Mandantengespräch hast?”

„Rhetorische Frage”, wehrte ich ab.

„Na also.” Er besann sich wieder auf das Wesentliche unseres Besuches. „Entschuldigung, Frau Faber, Herr Schäfer ist manchmal so nervtötend detailversessen. Kann es einfach nicht ertragen, wenn er nicht alles weiß.”

„Ist schon in Ordnung”, Gertrud lächelte zum ersten Mal, „Ich kenne Darius schon länger. Sie dürfen es ihm aber nicht übel nehmen. Das liegt an unserem Beruf.”

Heribert blickte nachdenklich erst sie, dann mich an. „Mhm, vermutlich haben Sie Recht; damit redet er sich auch immer raus. Aber kommen wir zu dem Grund unseres Besuches.”

„Sie haben Recht. Also, das letzte Lebenszeichen meiner Tochter war dieser Anruf bei mir am 29. März. Da sagte sie, sie benötige ein paar Tage, um Abstand zu gewinnen, und sie würde sich bald wieder melden. Außerdem bat sie inständig darum, dass wir ihren Entschluss respektieren und nicht nach ihr suchen sollten. Sie käme schon alleine zurecht.”

„Wen meinen Sie mit ‚wir‘?”

„Mich, ihren Mann und dessen Familie. Sie wohnt ja in Bernheim auf dem Weingut.”

„Und wie steht ihr Mann zu der Sache?”

„Er meint, wir sollen abwarten. Renate würde sich bestimmt bald wieder ‚einkriegen‘. Außerdem will man nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt.”

„Man?” fragte ich.

„Ich denke, mit man ist hauptsächlich Johann Preuß gemeint.” Heribert fragte nach den Familienbeziehungen

„Da ist Benjamin, Renates Mann, der Sohn von Günther und Gerlinde Dohne. Gerlinde ist die Tochter von Johann und TheaPreuß. Thea ist vor 28 Jahren mit meinem Mann bei einem Betriebsunfall auf dem Gut umgekommen.” Sie seufzte kurz. „Ist lange her, aber ich vermisse ihn immer noch. Gerade jetzt, in dieser Situation.”

„Johann Preuß”, erklärte ich Heribert, „ist der Patriarch. Er hat das Weingut aufgebaut. Aber viel mehr weiß selbst ich als Dorfbewohner nicht. Die Preußens leben sehr zurückgezogen.”

„Die gesamte Familie Dohne verhält sich so”, seufzte Gertrud erneut. „Oder hat Renate dich auch nur ein einziges Mal in deiner Kanzlei besucht, obwohl sie über zwei Jahre bei dir gearbeitet hat?”

„Nicht, dass ich wüsste.”

„Wer wohnt noch auf dem Weingut?”, fragte Heribert.

Gertrud überlegte kurz und zählte dann auf: „Da ist noch Benjamins älterer Bruder Andreas, verheiratet mit Marlies, einer geborenen Strack. Sie entstammt einer Weinbaufamilie in Eckelsheim. Und dann natürlich Johann Preuß. Obwohl er nach seinem Unfall vor 20 Jahren seiner Tochter Gerlinde den Betrieb übertragen hat, bestimmt er weiterhin das Geschehen auf dem Weingut. Der Mann ist noch topfit und regiert mit seinen 87 Jahren aus dem Rollstuhl heraus die gesamte Familie. Und die reagiert brav und unkritisch, wie auf Knopfdruck.”

„Klingt so, als ob du mit der Wahl deiner Tochter nicht so ganz einverstanden bist.”

„Ach weißt du, Darius, wenn man ein Mandat seit so vielen Jahren betreut, offenbart sich einem einiges. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.”

Heribert hatte sich Notizen gemacht und stellte noch eine Lücke fest.

„Was ist denn mit der zweiten Tochter, dieser Marga, bei der Renate übernachtet hat?”

„Die hat ein eigenes Haus in Bernheim. Mit ihrer Familie hat sie kaum mehr Kontakt. Eigentlich überhaupt nicht.”

„Weshalb nicht?”

„Keine Ahnung, Herr Koman. Dieses Thema ist ebenso tabu, wie die Ursache für Johanns Behinderung. Es wird gemunkelt, dass Marga als Teenager schwanger war und damit nach Ansicht ihres Vaters Schande über die Familie gebracht hat.”

„Leben wir noch im Mittelalter? Ist die Erde etwa doch eine

Scheibe?” Heribert schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Er ist halt ein typischer Patriarch, im 1. Weltkrieg geboren und auf dem Dorf aufgewachsen. Was will man da anderes erwarten? Und alles, was sich ungünstig auf den Namen Preuß und inzwischen auch Dohne auswirken könnte, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen – nur kein Aufsehen.”

„Das wird dann auch wohl der Grund dafür sein, dass keine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen ist”, stellte Heribert fest.

„Johann Preuß hat Dr. Roland Katzenborn konsultiert, den Familienanwalt in Bad Kreuznach. Der bestätigte ihm, was er wohl wissen wollte: Aufgrund der bekannten und belegbaren Tatsachen läge ein freiwilliger und selbstbestimmter Entschluss, kein Verbrechen und offenbar auch keine Gefahr für Renate vor. Außerdem sei sie volljährig. Also müsse man die Polizei nicht informieren und könne nach eigenem Gutdünken verfahren. Er empfahl, eine Detektei einzuschalten, mit der er bereits gute Erfahrungen gemacht hätte. Wie sehen Sie das, Herr Koman?”

„Zu allererst bin ich absolut skeptisch bei Vorschlägen, die von einem Herrn Dr. Roland Katzenborn kommen. Gegen ihn liefen bereits mehrere Ermittlungsverfahren.”

„Was hat der denn gedreht? Ich kenne ihn nämlich auch. Nicht direkt, einige meiner Mandanten beauftragen ihn gelegentlich”, fragte ich dazwischen.

„Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.”

„Aber dass gegen ihn Ermittlungsverfahren liefen, darfst du erzählen?”

„Herrje, Darius!” Heribert verdrehte entnervt die Augen, „jedenfalls sind alle Verfahren im Sande verlaufen. Er scheint einflussreiche Freunde zu haben.”

Er wandte sich wieder Gertrud zu: „Ich erkläre Ihnen zuerst die Rechtslage, dann unterhalten wir uns darüber, was wir trotzdem unternehmen können.”

Gertrud nickte und ich war gespannt, mit welcher Überraschung unser deutsches Recht in diesem Fall, den ich natürlich nicht objektiv betrachten konnte, aufzuwarten hatte.

„Eine der Polizeidienstvorschriften, die wir zu beachten haben, es ist die 389, regelt unseren Einsatz bei Vermissten, unbekannten Toten und unbekannten hilflosen Personen. Als vermisst gelten danach Personen, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und – das ist entscheidend – wenn eine Gefahr für Leben und Gesundheit angenommen werden kann. Bei Kindern und Jugendlichen wird grundsätzlich von dieser Gefahr ausgegangen. Deshalb nehmen wir bei einem vermissten Kind oder Jugendlichen auch gleich die Ermittlungen auf.

Bei vermissten Personen, die über 18 Jahre alt sind, beginnen wir nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen mit den Ermittlungen. Dazu müssen nämlich konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Zum Beispiel Hinweise darauf, dass ein Unglück oder eine Straftat vorliegen könnte. Stellen Sie sich vor, Frau Faber, Renate hätte eine Bergtour gemacht und würde nach Ende des Urlaubs nicht nach Hause kommen. Wenn sie dann von ihrem Mann oder von Ihnen als vermisst gemeldet würde, würden wir sofort die Ermittlungen aufnehmen. Das Gleiche gilt, wenn jemand verschwindet, der geistig verwirrt oder suizidgefährdet ist.”

„Und wenn wir einfach eine Gefahr unterstellen, etwas konstruieren?”, dachte ich laut nach.

„Vergiss es! Wenn wir Renate tatsächlich auffinden würden und es sich weiterhin herausstellte, dass sie ganz bewusst von zuhause weggegangen ist, dann dürften wir den Angehörigen nur dann ihren Aufenthaltsort preisgeben, wenn sie damit einverstanden wäre.”

„Aber was tun wir nun? Darius? Herr Koman? Ich mache mir halt Sorgen.”

„Frau Faber hat Recht. Dieses Verhalten ist nicht typisch für Renate”, stimmte ich ihr zu.

„Natürlich könnte ihr etwas zugestoßen sein. Aber sie ist ein freier Mensch. Wissen Sie, Frau Faber, jährlich werden etwa 100 000 Menschen in der Bundesrepublik als vermisst Gemeldete registriert, etwa 45 000 Kinder und Jugendliche und 55 000 Erwachsene. Die meisten sind kurze Zeit später wieder zuhause.”

„Und innerhalb wie kurzer Zeit?”, fragte Gertrud unsicher.

„90 Prozent dieser Fälle regeln sich innerhalb eines Monats.”

„Und was ist mit den restlichen zehn Prozent?”

„Solange noch Hoffnung besteht, werden auch die nicht so einfach zu den Akten gelegt. Ein Kollege aus Wien erzählte mir, dass seit 1998 ganz oben auf seinem Schreibtisch der Ermittlungsvorgang eines entführten Mädchens liegt, den er immer wieder aufnimmt. Der Fall dieser Natascha Kampusch, so heißt sie, glaube ich, geistert daher auch immer wieder durch die österreichische Presse. Er wird erst dann abgeschlossen sein, wenn Gewissheit über ihr Schicksal besteht.”

„Also, was schlägst du nun vor?” Ich fand, dass Heribert unsere Geduld etwas zu sehr strapzierte.

„Die Idee mit dem Privatdetektiv ist in diesem Fall grundsätzlich nicht unbedingt schlecht.”

„Aber?”

„Ich betrachte die Erfolgsaussichten ohne weitere Anhaltspunkte als äußerst gering. Wir sind nicht in den USA. Bei polizeilichen Maßnahmen haben wir Möglichkeiten, die einer Privatdetektei nicht zur Verfügung stehen. Wir können eine normale Fahndung anlaufen lassen, das ganze Programm, je nach Sachlage.”

„Und was wäre das? Vielleicht kann ich ja etwas aus diesem Programm, wie du es nennst, übernehmen.”

Heribert runzelte die Stirn. „Das ist eine ganze Palette. Da ist zuerst einmal die Durchsuchung aller Wohnungen, in denen Renate gelebt hat, und die Befragung der Personen im sozialen Umfeld, die Auswertung von Tagebüchern, Adressbüchern, Briefen, Com­puterdaten. Dann der Abgleich mit Daten, also zum Beispiel Passagierlisten, Kreditkartenumsätze, Telefonverbindungen, Krankenhäuser, unbekannte Tote und eventuell die Register der Botschaften. Genügt das?” Er hielt inne.

„Weiter”, forderte ich

„Na gut. Ortungen, Absuchen bestimmter Gebäude und Landstriche, Öffentlichkeitsfahndung mit Kfz-Kennzeichen, Aushang ihres Fotos bei den Polizeistationen, Handzettel, Steckbriefe in öffentlichen Gebäuden, Funkrundsprüche, Aufrufe im Internet und im Rundfunk, Aktenzeichen XY und so weiter. Such dir etwas aus!”

Ich horchte auf. „Ortungen? Sagtest du Ortungen? Ihr Handy …” Die zaghafte Hoffnung wurde durch Heriberts Kopfschütteln schneller erstickt als sie aufgeglommen war. Ich schaute Gertrud an, aber sie schien Heriberts Aufzählung überhaupt nicht registriert zu haben.

Unvermittelt fragte sie: „Und wenn sie sich überhaupt nicht mehr meldet?” Lange genug hatte sie Haltung bewahrt, aber nun war die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören.

„Damit müssen Sie rechnen, Frau Faber. Auch das kommt immer wieder vor. Manche Menschen sehen in ihrer Verzweiflung nur die Flucht aus ihrem sozialen Umfeld als einzige Chance zum Neubeginn.”

„Ist das nicht feige? Das ist doch nicht meine mutige Renate?”, murmelte Gertrud fast unhörbar.

Heribert schüttelte energisch den Kopf. „Im Gegenteil. Es gehört Mut dazu, sein gewohntes Umfeld zu verlassen. Feige ist es, wenn jemand einer Katastrophe entkommt und diese Situation zum Verschwinden nutzt. So, wie es wohl Hunderte bei dem Tsunami vor einem viertel Jahr gemacht haben dürften. Renate ist eine selbstbewusste und erfahrene Frau. Sie bestimmt ihr Leben nach ihren eigenen Regeln und Vorstellungen. Wir müssen das respektieren.”

„Aber sie ist doch mein Kind. Wir hatten doch immer eine enge, vertrauensvolle und innige Beziehung! Seit dem Tod ihres Vaters,sie war damals fünf Jahre alt, gab es nur noch uns. Schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren hat sie in ihrer Freizeit in der Kanzlei mitgearbeitet. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, bis …”. Sie griff zu einem Papiertuch und wischte sich über die Augen.

Heribert hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und fragte mit rauer Stimme: „Bis …? Gibt es ein Schlüsselerlebnis, ein Ereignis, einen Zeitpunkt, an dem Sie eine Veränderung in ihrem Verhalten festmachen können?”

„Jetzt, wo Sie so direkt fragen, fällt mir etwas ein. Schon im letzten Sommer hatte ich den Eindruck, dass sie etwas bedrückt. Auf meine Nachfragen hat sie aber nur ausweichend geantwortet. Sie sagte etwas von der Arbeitsbelastung auf dem Weingut, langwierige Diskussionen mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter wegen Nichtigkeiten. Es wären halt die typischen Konflikte, wenn man Familie und Beruf verquicken würde, nichts Dramatisches, das würde sich schon wieder legen, sagte sie.”

„Sonst noch etwas, Gertrud?”

„Ja, da war noch etwas.” Sie überlegte kurz. „Seitdem wurde sie noch einsilbiger. Renate hat ja auch immer noch ihr Zimmer hier im Haus. Mit Kindheitserinnerungen und all ihren Unterlagen aus der Ausbildung bei dir, Darius, und von der Polizeischule. Auch von später noch, als sie schon in Mainz diese Sonderkommission übernommen hatte, hat sie noch Papiere in ihrem Schreibtisch. Kurz vor Weihnachten letztes Jahr war sie hier, weil sie etwas nachsehen wollte. Es hätte etwas mit ihrem früheren Chef zu tun.”

„Hat sie einen Namen genannt?” Heribert blickte sie angespannt an.

„Darauf besinne ich mich nicht mehr. Aber er war wohl einige Tage zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.”

„Etwa Korfmann, Ulf Korfmann?”

„Ja, genau, das war sein Name. Hat das etwas zu bedeuten?” Heribert zuckte mit den Schultern, wirkte aber plötzlich merkwürdig erleichtert. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Der Kollege Korfmann hatte nach dem Ausscheiden ihrer Tochter als Leiter desKommissariats vorübergehend auch die Leitung der SoKo übernommen. Würden Sie mir denn die Unterlagen überlassen? Vielleicht finde ich doch etwas, was uns weiterbringt.”

„Ich weiß nicht. Wenn Renate …”, Gertrud blickte mich fragend an.

Ich nickte aufmunternd und sie forderte Heribert auf, mit ihr in Renates Zimmer zu gehen, da er sich mit den Dokumenten bestimmt besser auskennen würde als sie.

Ich erhob mich von der weichen Couch, um mir ein wenig Bewegung zu verschaffen und trat an das große Blumenfenster. Es nahm fast die gesamte Länge des Wohnzimmers ein und gab über eine Terrasse den Blick in einen gepflegten Garten frei, in dem sich endlich der Frühling breitmachen durfte. Gertrud beschäftigte einen Gärtner, der sporadisch kam und den Garten in Schuss hielt.

Ich dachte über ihre Situation nach. Wir trafen uns mehrmals im Jahr in einem Netzwerk mit anderen gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt zum Erfahrungsaustausch. Da war sie stets der fröhliche und schlagfertige Mittelpunkt. Aber ich glaubte, diese Treffen gehörten zu den seltenen Momenten in ihrem Leben, in denen sie ihren persönlichen Ballast für kurze Zeit abwerfen konnte. Seit dem Tod ihres um fast zwanzig Jahre älteren Mannes hatte sie nur noch für Renate und ihre Kanzlei gelebt. Sie hatte ihre Tochter zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht. Ohne diese fehlte ihr ein Teil ihres Selbst.

Gertrud und Heribert kamen wieder zurück, als ich mir gerade eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Heribert legte einen cirka 20 Zentimeter hohen Packen, bestehend aus mehreren, unterschiedlich gefüllten Hängeheftern auf dem Couchtisch ab.

„Offensichtlich Kopien von Ermittlungsakten der SoKo Rheinhessennetz”, sagte er mit bedenklicher Miene. „Das ist mir völlig unverständlich. Renate weiß, dass so etwas nicht gestattet ist. Ich werde die Unterlagen behalten müssen, Frau Faber.”

Gertrud deutete bedrückt auf Heriberts Ausbeute. „Da hätte ich Ihnen das wohl besser nicht erzählt?”

„Ich schaue mir zuerst einmal an, worum genau es sich handelt. Wenn Renate wieder da ist, werde ich sie dazu befragen, bevor ich weitere Maßnahmen einleite. Ohne Renate läuft da nichts. Das nehme ich vorläufig auf meine Kappe. Das bin ich ihr einfach schuldig … als ihr Pate in der Inspektion.”

„Sie mögen sie”, stellte Gertrud fest.

„Ja, ich mag sie. Sehr sogar.” Heribert senkte seinen Blick. „Sie ist ein ganz besonderer Mensch, eine ganz besondere … Kollegin”, bestätigte er zögerlich, fast andächtig.

Ich wunderte mich ein wenig über seine Anwandlung, schob aber jeden weiteren Gedanken beiseite und schloss mich seiner Würdigung vorbehaltlos an. Schließlich hatte auch ich mir über zwei Jahre lang ein Urteil über sie bilden können.

Am Sprachgebrauch von Gertrud und Heribert war mir etwas aufgefallen. „Ich betrachte es übrigens als gutes Zeichen, dass ihr beide in der Gegenwartsform von Renate sprecht. Also, Heribert, was meinst du, was kann man nun tun? Die Fakten sind: Renate ist verschwunden, die Polizei darf nicht ermitteln, Frau Faber möchte etwas unternehmen. Das verstehen wir doch beide – oder?”

„Natürlich verstehe ich das, aber …” In Heribert fochten Kopf und Bauchgefühl einen heftigen Kampf aus.

„Können Sie nicht … inoffiziell sozusagen … oder Urlaub nehmen … ich würde natürlich auch für alle Kosten aufkommen.” Gertrud musste sich ganz offensichtlich überwinden, Heribert diese Bitte zu unterbreiten, von der sie genau wusste, dass sie eigentlich unzumutbar war.

„Frau Faber, ich unterliege dem Beamtengesetz. Das macht nicht halt vor Privataktionen, die ursächlich mit meinen hoheitlichen Aufgaben zu tun haben.”

„Und wenn ich …?”

„Was willst du denn tun, Darius? Mit einem Bild von Renate durch die Fußgängerzonen laufen und die Passanten befragen? Wenn wir wenigstens den geringsten Anhaltspunkt über ihren Aufenthaltsort hätten. Aber so?!”

„Gibt es einen Ort, den sie mag, wo sie sich auskennt, oder hat sie Freunde, bei denen sie für einige Zeit unterkommen könnte?”, fiel mir ein.

Gertrud schüttelte den Kopf. „Wenn ich darauf eine Antwort wüsste, hätte ich schon von mir aus etwas unternommen. Seit sie verheiratet ist, weiß ich auch in dieser Beziehung rein gar nichts mehr von ihr.”

„Und wenn sie in ein Hotel geht oder Geld abhebt oder einkauft, dann müsste man doch feststellen können, wo sie mit ihrer Kredit- oder mit ihrer Scheckkarte bezahlt hat. Sie hat ein eigenes, gut gefülltes, Konto bei der Kreissparkasse in Wöllstein. Das weiß ich, da ich ihre Steuererklärung in meiner Kanzlei mache.”

„Gertrud, du weißt es doch am besten, dass auch die sich hinter ihren Gesetzen verschanzen. Höchstens Heribert könnte das.”

„No way! Oder denkst du, nur aufgrund meines Dienstausweises öffnen die mir ihre Konten? Da benötige ich selbst bei einer offiziellen Ermittlung Unterstützung vom Staatsanwalt.”

Ich gab nicht auf. „Könnte man eventuell aufgrund der Kleidung die sie mitgenommen hat, auf eine Spur schließen?”

„Woher soll ich denn wissen, was sie mitgenommen hat. Vielleicht weiß Benjamin etwas darüber oder Marga. Soll ich ihn anrufen?” Gertrud war schon aufgestanden, als Heribert sie zurückhielt.

„Einen Moment noch.” Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach, bevor er aufstand und vor dem Tisch auf und ab ging.

„Die Idee, ihre Banktransaktionen zu verfolgen, finde ich eigentlich ganz gut. Frau Faber, Sie sollten vielleicht doch versuchen über den Kontoführer bei der Kreissparkasse einen Auszug zu bekommen. Sagen Sie einfach, Sie benötigen ihn für eine steuerliche Angelegenheit. Und wenn das nichts hilft, dann könnten Sie auf, ich sage einmal, zwischenmenschlicher Basis, mit dem Filialleiter ein Arrangement treffen. Innerhalb von zehn Tagen müsste Renate ja irgendwo Geld abgehoben oder mit einer Karte bezahlt haben. Und selbst wenn sie den Ort wechselt, ließe sich daraus eine Art Spur mit einem Muster ableiten”

Gertrud ging sofort auf den Vorschlag ein. Sie wollte sich gleich nach unserem Gespräch darum kümmern.

„Und du, Darius, sprichst mit Marga Preuß und Benjamin Dohne.”

Ich nickte. „Gertrud, avisierst du mich bitte für heute Abend, so ab neunzehn Uhr?”

„Natürlich. Falls es bei einem nicht passen sollte, rufe ich dich an.”

„Und ich”, Heribert hatte seinen Spaziergang eingestellt und stand nun ruhig vor uns, „ich werde nach Durchsicht von Renates Kopien ein paar unverfängliche Gespräche mit einigen Kollegen in Mainz führen. Die SoKo Rheinhessennetz wurde kurz nach Korfmanns Tod aufgelöst, da es zu keinen greifbaren Ergebnissen gekommen war. Das liegt nun schon einige Monate zurück, und da ist man dann schon eher einmal dazu bereit, einem Kollegen von einer anderen Inspektion etwas aus der Gerüchteküche kosten zu lassen.”

Als Gertrud uns vor die Haustür brachte, blieb sie zwischen uns stehen, legte ihre Arme um unsere Schultern, drückte uns leicht und sagte leise. „Danke, vielen Dank.” Dann drehte sie sich ohne weiteren Abschiedsgruß um und schloss die Tür hinter sich.

Ich wollte gerade in mein Auto steigen, als Heribert hinter mir herrief: „Einen Moment noch.” Er kam zu mir. „Bitte kein Wort darüber zu Dagmar.” Ich sah ihn irritiert an. „Ich will sie da nicht mit hineinziehen. Sie fühlt sich wohl bei uns in der Inspektion und hat eine Aufgabe, die sie erfüllt. Das möchte ich nicht gefährden, falls in dieser Sache doch noch eine Bombe hochgehen sollte.”

„An was denkst du? Etwas Konkretes?”

„Weiß ich nicht. Nur so ein Gefühl. Das ist wie bei einer Melodie. Du meinst, dass du sie schon einmal gehört hast und dass sie dich an einen Ort, an eine Begebenheit erinnern müsste, aber es fällt dir partout nicht ein, wo und was. Na ja, lass mal. Mach‘s gut.”

„Ich rufe dich spätestens übermorgen an und informiere dich, was ich von Marga Preuß und Benjamin Dohne erfahren habe.”

„Aber morgen bitte nicht vor elf. Ich habe eine Vernehmung und davor ist die wöchentliche Frühbesprechung, du verstehst.”

Das hohe, zweiflüglige Holztor in der Langgasse, die den östlichen Ortsrand begrenzte, war geschlossen. Die holzgeschnitzte Hausnummer 12, die auf dem rechten Flügel angebracht war, konnte man nicht übersehen. Aber erst nach intensiver Suche entdeckte ich das kleine Namensschild mit der Inschrift Marga Preuß und den kleinen Klingelknopf darunter an der Hausmauer, die in der Verlängerung des Tores das Grundstück zur Langgasse begrenzte.

Ich hatte den Eindruck, dass sie schon hinter dem Tor auf mich gewartet hatte, so schnell wurde es geöffnet und hinter mir wieder geschlossen. In dem etwa einhundert Quadratmeter großen, mit altem Kopfsteinpflaster befestigten Innenhof begrüßte mich eine grauhaarige, schlanke Frau. Sie war einen guten Kopf kleiner als ich und beobachtete mich, trotz der stahlblauen Augen, mit fast ängstlicher Zurückhaltung. Die Inkarnation der verblühten Schönheit, dachte ich, als ich in ihr Gesicht blickte. Nicht ihr Alter, denn sie war erst Anfang 40, sondern das, was sie erlebt haben musste, hatte seine Spuren hinterlassen. Trotz ihres dunklen Teints, der ihr ein gesundes Aussehen verlieh, hätte ich sie auf über fünfzig geschätzt, wenn Gertrud mir nicht ihr Alter verraten hätte. Sie war mit einer grünen Latzhose und einem kurzärmligen, braunen T-Shirt bekleidet. Ihre Füße steckten in weißen Clogs, wie man sie oft bei Ärzten sah.

„Schauen Sie sich nur um, Herr Schäfer”, sagte sie und begleitete ihre Aufforderung mit einer sanften, raumgreifenden Geste, „das ist mein Lebensraum. Hier fühle ich mich wohl, seit über 20 Jahren, wie Sie ja auch an meiner Aufmachung erkennen.” Sie grinste und strich mit der Rechten über ihre Arbeitshose. „Ursprünglich war das einmal ein bäuerliches Anwesen, kein großes, eher ein ärmliches. Das sieht man an der Konstruktion. Ständerbauweise, ausgefüllt mit Sandsteinen, aber nicht von den Steinmetzen aus den Bernheimer oder Flonheimer Steinbrüchen, son­dern Bruchsteine vom Feld. Doch es steht sicher, seit über 200 Jahren. Dieses Haus hat die napoleonische Herrschaft und mehrere Kriege überstanden.” Stolz klang aus ihrer Stimme. Man spürte, dass das Haus für sie ein Eigenleben hatte und dass sie sich über seine Standhaftigkeit definierte. Es schien ihr Sicherheit zu geben.

„Ich habe im Laufe der Zeit alles authentisch saniert, allerdings technisch auf den neuesten Stand gebracht und so eingerichtet, wie es mir gefällt. Auch wenn der Vorbesitzer schon vieles gemacht hatte, er war Handwerker, ein verrückter Kerl. Was der nicht alles eingebaut und umgebaut hat. Aber auch ohne aberwitzige Ideen ist so ein altes Gebäude wie ein Fass ohne Boden.” Wem sagte sie das, fragte ich mich. „Aber mir kann das egal sein. Don Johann Preuß zahlt schließlich alles, nur damit ich mich von der Familie fern halte.”

Ihre Stimme verhärtete sich, als sie den Namen ihres Vaters aussprach. Und ich war irritiert. Nicht, weil sie über ihn sprach, als sei er eine fremde Person, sondern weil sie sich mir so schnell öffnete. Gut, Gertrud hatte mich avisiert und ihr erzählt, weshalb ich sie aufsuchte, und sie wusste mich als Dorfbewohner einzuordnen. Aber weshalb sie mir ohne Not derart persönliche Dinge so schnell offenbarte, war mir unerklärlich.

„Ich kenne inzwischen jede Ecke und jeden Winkel hier. Diese alten Häuser stehen oft auf den Grundmauern noch älterer Häuser, die irgendwann abgetragen wurden, um an der gleichen Stelle ein neues zu errichten. Da stößt man auf allerhand außergewöhnliche und merkwürdige Dinge.”

Auf ihren Vorschlag hin blieben wir im Freien. Die Sonne hatte schneller, als es die letzten Tage hatten vermuten lassen, die Temperaturen nach oben getrieben und es war auch jetzt, kurz nach 19 Uhr, noch angenehm warm.

„Bitte nehmen Sie Platz”, sie deutete auf eine wetterfeste Sitzgruppe, die von einem überdimensionalen blauen Sonnenschirm und mehreren in Holztrögen eingepflanzten Ligusterhecken geschützt wurde. „Ich hole uns ein Glas Wein. Rot oder weiß?”

Ich entschied mich für einen Weißwein und sie ging über die drei Terrazzostufen in ihr Wohnhaus.

„1786” verkündete stolz die Zahl, die man in den steinernen Türsturz gemeißelt hatte, das Baujahr. Es war die Zeit der französischen Revolution, die Zeit, als George Washington der erste Präsident der USA war und Goethe seine berühmte Italienreise machte. Die Jahreszahl war noch ergänzt worden um den Namen des ehemaligen Bauherrn: August Hehl.

Annähernd zwanzig Familien in der 735-Seelengemeinde Bernheim trugen diesen Namen. Irgendwie waren sie alle miteinander verwandt. Inzwischen waren sie natürlich weiträumiger und stärker gemischt als noch im 18. Jahrhundert. Selbst denen, die hier geboren und miteinander aufgewachsen waren, erschlossen sich die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Hehls, der Langs, der Lahrs, der Schöns und noch einiger weiterer – bewusst – nur mit Mühe.

Trat man allerdings einem von ihnen auf die Füße, bildlich gesprochen natürlich, im Gesangverein, im Gemeinderat, im Landfrauenverein oder auch nur beim Stammtischgespräch im Bernheimer Schafbock, wurde man innerhalb kürzester Zeit gewahr, wo die Blutsbande verknüpft waren. Mit offenbar genetisch gesteuertem Instinkt solidarisierten sich Namensgleiche und gleichnamig geborene Dorfbewohner in einhelligem Schulterschluss gegen den Frevler. Böse Blicke, ein nur noch knapper oder erst gar nicht gebotener Gruß, schroffe oder patzige Antworten auf freundlich gestellte Fragen waren die offen erkennbaren Signale kollektiver Abstrafung.

Marga Preuß hatte sich diesem dörflichen Kult durch ihre Abschottung ebenso entzogen wie ihre Familie, die mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte.

Ich schaute hinüber zur Scheune, die den Hof parallel zur Langgasse begrenzte.

„Dahinter habe ich meinen Gemüsegarten, aus dem ich mich verpflege. Ich ernähere mich vegan und da ist es schwer, die Pro­dukte zu bekommen, die man will. Man gelangt direkt durch die Scheune in den Garten. Das ist sehr praktisch für mich.”

Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie wieder neben mir stand. Sie nahm zwei gefüllte Weingläser von einem Tablett und stellte eine Schale mit Käsegebäck dazu. Sie prostete mir zu, nahm einen Schluck und sah mich erwartungsvoll an.

„Ich sehe Sie oft in ihrem Garten arbeiten, wenn ich zur Dunzelquelle oder zum Bernheimer Wald gehe. Aber Sie sind stets so eifrig mit ihren Pflanzen beschäftigt, dass sich noch nie ein Wort über den Zaun ergeben hat.”

„Ja, ich weiß. Ich gehe dem aus dem Weg. Dorfgetratsche ist meist grässlich und böse. Ist nicht gegen Sie gerichtet, ich meine das allgemein. Aber ich habe Sie auch schon oft gesehen, mit Ihren Hunden. Schöne Tiere. Wissen Sie”, nun lächelte sie sogar, „ich kann natürlich alle beobachten, die hinter meinem Garten vorbeigehen, mit einem Seitenblick, wenn ich mich nach unten bücke.”

Ich nippte von dem Wein. „Riesling?”

Sie nickte.

„Von Preuß & Erben?”

Ihr „Nein” klang hart, beinahe schroff. Blödmann, schalt ich mich, musst du dir die Fettnäpfchen auch noch selbst aufstellen?

„Nicht von Preuß und nicht von Dohne, Herr Schäfer. Den beziehe ich von Heinz Gebhard, direkt nebenan. Der ist gut, nicht wahr?” Sie trank hastig und wartete meine Antwort nicht ab. „Geld ja, sonst aber nehme ich nichts. Ich muss schließlich physisch leben, auch wenn man mich psychisch vegetieren lässt.” Und kaum vernehmlich sagte sie, wohl mehr zu sich selbst, als zu mir: „Ich weiß nicht einmal weshalb, was ich getan haben soll. Man weigert sich einfach, mit mir zu reden. Ich habe es aufgegeben. Außer meinem Neffen Andreas und einem Mitarbeiter vom Weingut ist Renate die einzige, die sich mit mir befasst. Sie hat mir zugehört. Aber auch ihr hat man nicht den Grund verraten, weshalb man mich verstoßen hat wie eine Aussätzige.”

„Ich weiß, Frau Preuß, dass es mich nichts angeht. Aber Sie ver­trauen mir freimütig einiges von Ihrem Leben an und das lässt mich natürlich nicht kalt. Ich frage mich allerdings, weshalb Sie noch hier sind, in Bernheim? Weshalb ziehen Sie nicht einfach fort?”

„So, wie Renate, meinen Sie? Ich beneide sie um ihre Entschlusskraft, um ihren Mut, ihr Rückgrat. Ich habe hier mein Haus, das kann ich aber nicht verkaufen. Ich bin zwar die Besitzerin, aber Eigentümer ist der Alte.”

Ich sah sie verdutzt an.

„Ich kann ihn einfach nicht mehr als meinen Vater bezeichnen, verstehen Sie?” Sie zuckte mit den Schultern, setzte dann aber ihre Erklärung wieder fort, ohne eine weitere Reaktion von mir abzuwarten. „Ich habe nichts gelernt und keinen finanziellen Rückhalt, nichts. Ich bin auf die Zuwendungen dieser Menschen angewiesen. Was also sollte ich tun?”

Es folgten einige Sekunden des Schweigens. Sie starrte in ihr Weinglas und brachte die zartgrüne Flüssigkeit darin wie in einem Cognacschwenker zum Kreisen.

„Sprechen wir jetzt über Renate, Frau Preuß?”

„Wir sprechen schon die ganze Zeit über sie.” Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Weshalb meinen Sie wohl, habe ich Ihnen schon so viel über mich erzählt?”

Ich sah sie fragend an.

„Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.”

Ohne auf meine Zustimmung zu warten, erhob sie sich und ging voraus zur Scheune, die wir durchquerten, um durch eine schmale Tür an der Rückseite in den Garten hinauszutreten. Auf einem mit Rindenmulch bedeckten Pfad lotste sie mich zwischen zwei Beeten hindurch, bis wir kurz vor dem Gartenzaun an einem anscheinend wild wachsenden Strauch anlangten. Liebevoll griff sie mit gespreizten Fingern unter eine Knospe.

„Sie wird sich bald öffnen wie die vielen anderen auch. Wunderschöne, leuchtendgelbe Blüten werden sich bald öffnen, die abends einen betörenden Duft ausströmen. Ich weiß nicht, was fürein Gewächs das ist und wo es herkommt. Auf einmal war es da. So, wie Renate.”

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte und musste sie wohl recht belämmert angesehen haben.

Sie lachte ein eigenartiges Lachen. „Irgendwann einmal dachte ich, der Strauch würde zu groß. Wie nennt man das bei Menschen? Zu selbständig werden? Einem über den Kopf wachsen? Also, was tat ich?”

„Frau Preuß, ich verstehe nicht.”

„Gleich werden Sie es, warten Sie nur ab. Ich nahm also eine Heckenschere und schnitt alles weg, was mir nicht gefiel. Ich stutzte ihn zurecht. Und im nächsten Jahr? Keine Knospen, keine Blüten. Ich habe ihn angefleht, mich entschuldigt, aber es dauerte fünf Jahre, bis er mir den Eingriff verziehen hatte. Und plötzlich, vor zwei Jahren hatte er sich erholt. Verstehen sie jetzt?”

„Nicht so ganz. Ich vermute, Sie vergleichen den Strauch mit Renate?”, fragte ich unsicher.

Sie drehte sich um und ging den Weg zurück zur Scheune voraus. „Richtig. Renate wäre auf dem Weingut zurechtgestutzt worden. Und ob sie dann irgendwann noch einmal aufgeblüht wäre, das möchte ich bezweifeln. Ich glaube, wenn der Strauch den Garten verlassen könnte, er wäre damals auf und davon. So wie Renate.”

Als gälte es, die Worte von Marga Preuß zu untermalen, drang, als wir gerade wieder die Scheune betraten, gedämpft, wie durch Watte, eine Melodie an mein Ohr, die nach wenigen Tönen abbrach. „War das nicht der Anfang des Titelsongs aus Titanic: My heart will go on?”

„Was meinen Sie?”

„Die Musik eben.”

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gehört. Vielleicht von nebenan; das kommt schon mal vor, je nachdem, wie der Wind steht und wie laut die Gebhardkinder ihre Musikanlage aufdrehen.”

Inzwischen waren wir wieder an dem Freiplatz angelangt und hatten uns gesetzt.

„Nun, Renate stand am Karsamstag, spät abends bei mir vor der Tür. Sie war völlig aufgelöst, so hatte ich sie noch nie erlebt.”

„Hatten Sie vorher häufiger Kontakt mit ihr?”

„Sie wohnt, besser wohnte, ja seit fünf Jahren auf dem Weingut. Seitdem besuchte sie mich unregelmäßig. So etwa einmal im Monat. Die Familie versuchte, sie davon abzuhalten. Aber Renate hat erklärt, solange man ihr nicht sagen würde, was ich verbrochen hätte, würde sie den Kontakt mit mir pflegen. Ich glaube, sie musste ab und zu aus dem geschlossenen Clansystem des Weingutes ausbrechen. Sie kennen es?”

„Nein.”

„Es ist sehr großräumig. Die haben während der letzten Jahre erweitert. Dadurch, dass es am Ortsrand liegt, war das kein Problem. Der Alte wohnt weiterhin im Hauptgebäude, obwohl es viel zu groß ist – acht Zimmer. Für meine Neffen mit ihren Frauen und meine Schwester mit ihrem Mann gibt es drei große Wohnungen. Da bekommt jeder mit, was der andere tut. Und dann gibt es noch das 2-Zimmer-Appartement in dem Klaus Zerfass wohnt.”

„Klaus Zerfass?”, ich war überrascht, „der Name ist mir neu.”

„Er arbeitet schon seit vielen Jahren auf dem Gut. Er ist Weinchemiker und -technologe. Gehört irgendwie zum lebenden Inventar. Er ist so ein Mädchen für alles, Faktotum nennt man das, glaube ich, obwohl sie ihn eher wie einen Domestiken behandeln, nur weil er … Er kommt auch ab und zu bei mir vorbei und lässt den neuesten Hoftratsch hier. Es interessiert mich zwar nicht, aber bevor er gar nicht mehr kommt, höre ich ihm zu. Er hat sich übrigens auch mit Renate angefreundet, zum Ärger ihres Mannes.”

„Läuft da etwas zwischen den beiden? Das könnte doch auch ein Grund dafür sein, dass sie durcheinander ist.”

„Das kann ich mit absoluter Sicherheit ausschließen.” Wieder einmal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Klaus hat nichts übrig für Frauen, er ist schwul. Der Alte war ganz schön sauer, alsKlaus sich vor vier Jahren mit den Worten: Ich bin schwul, und das ist gut so, öffentlich geoutet hat. Das Beispiel seines Namensvetters aus Berlin hatte ihm Mut dazu gemacht. Am liebsten hätte der Alte ihn hochkant rausgeworfen, der scheinheilige Moralapostel. Aber er braucht ihn.”

„Lassen Sie uns wieder zurückkommen zum Karsamstag. Was hat Renate erzählt?”

„Nicht viel mehr, als ich bereits wusste. Renate hat ja Ende 2003 ihren Dienst bei der Polizei quittiert und arbeitet seitdem hauptberuflich in der Verwaltung des Gutes mit. Sie ist zuständig für die Buchhaltung.”

„Hauptberuflich?”

„Ja, sie hatte die Buchhaltung schon lange zuvor über die Kanzlei ihrer Mutter betreut. Mit dem Unterschied, dass sie direkt vor Ort einiges an Mängeln entdeckt hat, die sie abgestellt hat. Eigenmächtig, wie man ihr vorwirft. Sie hat mir nur ganz kurz erzählt, dass es sich unter anderem um Steuerhinterziehung bei der Perlweinproduktion handeln würde.”

Ich musste unwillkürlich grinsen, da mir die verlockende Möglichkeit, der sich einige Winzer nicht entziehen konnten, hinlänglich bekannt war.

„Und natürlich wollte Renate diese Mängel auch rückwirkend beseitigen, was den nächsten Stein ins Rollen brachte.”

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Die hätten doch froh sein müssen. Wieso soll man riskieren, dass bei einer Betriebsprüfung Dinge hochkommen, die man rechtzeitig hätte abstellen können. Wenn die einmal den Anfang eines Garnknäuels gefunden haben, wickeln sie den bis zu seinem Ende auf.”

„Sie musste dazu in alte Vorgänge einsteigen, Ordner der letzten Jahre durchforsten und … Fragen stellen. Man hat ihr schließlich vorgeworfen, sie würde nur rumschnüffeln, statt ihre Arbeit zu machen.”

Ich entsann mich, dass Gertrud Faber mir von einigen Äußerungen Renates erzählt hatte, die sich nun konkretisierten. Von Ar­beitsbelastung hatte sie gesprochen, von langwierigen Diskussionen wegen Bagatellen.

„Wer warf ihr das vor? Ihr Mann, ihre Schwiegermutter? Oder auch Ihr Vater?”

„Der Alte schien sich da rausgehalten zu haben, obwohl er die Begabung besitzt, andere so zu manipulieren, dass sie gar nicht merken, dass sie sich geistig wie Marionetten verhalten. Nein, meine Schwester stänkerte und Benjamin spielte mit.”

„Und die anderen?”

„Die hielten sich ebenfalls zurück. Da will es sich doch keiner mit ihm verderben. Ich funktioniere hervorragend als abschreckendes Beispiel dafür, wozu der Alte in der Lage ist, wenn man bei ihm in Ungnade fällt. Noch einen Wein?”

Ich hatte gar nicht registriert, dass ich bereits das zweite Glas geleert hatte, lehnte nun aber dankend ab.

„An dem Abend nun bestand Renate auf einer Aussprache mit ihrem Mann. Er muss sich so geäußert haben, dass er gar nicht wisse, was sie wolle und hat ihr Hysterie vorgeworfen und gefragt, ob sie wohl endlich schwanger sei.”

„Ist sie es denn?”

„Nein. Sie verhütet, seitdem sie sich ihrer Liebe und ihrer Ehe nicht mehr sicher ist.”

„Und weshalb fragt er dann so etwas?”

„Weil Renate ihm verheimlicht hat, dass sie die Pille nimmt. Bis zu diesem Abend. Benjamin rastete aus, ein Wort ergab das andere und … das Resultat kennen Sie ja.”

„Was geschah dann weiter?”

„Benjamin rief etwa eine Stunde später an und fragte, ob Renate bei mir sei. Sie hatte mich aber vorher schon gebeten, ihren Aufenthaltsort nicht zu verraten. Er glaubte mir wohl nicht so ganz, denn er hängte wütend ein. Na ja, inzwischen weiß er, dass Renate bei mir war. Gertrud hat es ihm gesagt.”

Sie zuckte mit der Schulter, als wollte sie sagen, dass ihr das jetzt egal war.

„Renate ging dann zu Bett. Sie schlief lange, auch die nächsten Tage. Es war Ostern, ein Wetter wie in den letzten Tagen. Wir haben gelesen, ferngesehen und gequatscht. Aber nicht über ihre Situation. Sie wollte das nicht mehr. Am Dienstag hat sie dann ihre Mutter angerufen. Aber das wird Ihnen Frau Faber alles schon erzählt haben, nehme ich an.”

Ich nickte. „Und dann war sie am Morgen des 30. März spurlos verschwunden?”

„Ich habe nicht gehört, wann sie das Haus verlassen hat. Ich habe Durchschlafstörungen und nehme Schlaftabletten. Da habe ich noch nicht einmal mitbekommen, wie sie den Wagen aus der Scheune und auf die Straße gefahren hat. Als ich dann am nächsten Morgen, so gegen acht Uhr aufgestanden war, war nichts mehr da von ihr. Kein Kleidungsstück, kein Buch, keine Toilettenutensilien. Es war, als ob sie nie bei mir gewesen sei.”

„Hat sie nicht erwähnt, wo sie hingehen wollte?”

„Nein, obwohl ich sie gefragt hatte. Sie meinte, es wäre besser so, dann könnte ich mich auch nicht verplappern.”

„Und Sie haben keine Idee, keinen noch so vagen Hinweis? Hat sie etwas von Bekannten erzählt, von Kollegen, die sie von der Polizeischule kennt oder von Lehrgängen, Urlaubsbekanntschaften, Schulfreunden?”

„Nein, kein Wort.”

„Hat sie außer mit ihrer Mutter mit anderen telefoniert?”

„Wenn, dann höchstens über ihr Handy. Die ausgehenden Gespräche habe ich schon im Speicher meiner Telefonanlage überprüft. Da ist keines dabei, das sie geführt hat, außer dem mit ihrer Mutter.”

„Was für ein Auto hat sie?”

„Einen dunkelroten Nissan 350 Z, so einen Sportwagen. Das Kennzeichen ist AZ-RF-3636.”

„Haben Sie ihre Handynummer?”

„Natürlich. Ich durfte sie ja nie auf dem Festnetz anrufen. Das wäre aufgefallen.”

„Und haben Sie versucht, Renate zu erreichen, nachdem sie Ihr Haus verlassen hatte?”

„Daran gedacht habe ich schon, aber ich respektiere ihren Wunsch, dass man sie in Ruhe lässt. Wenn sie mich sprechen will, wird sie schon anrufen.”

Ich hatte von Marga Preuß alles erfahren, was sie zu dem Bild, das ich mir machen musste, beitragen konnte. Ich stand auf und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft und das offene Gespräch. Sie wollte noch wissen, ob ich jetzt auch zu ihrem Neffen gehen würde. Aber der hatte über Gertrud einen Termin für den nächsten Morgen ausgemacht.

„Wenn Sie wieder einmal durch die Langgasse kommen, Herr Schäfer … Sie wissen ja jetzt wo die Klingel ist. Sie sind immer willkommen, jederzeit. Bringen Sie dann auch einmal Ihre Frau mit, ich würde mich sehr freuen.” Fast flehentlich signalisierte sie, dass sie in dem gewonnenen Kontakt mit mir einen Weg sah, ihrer Einsamkeit zu entfliehen.

Sie begleitete mich zum Tor, wo ich ihr noch versprechen musste, sie umgehend zu informieren, wenn ich etwas von Renate erfahren sollte.

Sonja war im Hof und spielte mit Kira und Siwa. Die 200-Watt-Lampe, die in fünf Metern Höhe an einem Drahtseil leicht im Wind schwankte, spendete das notwendige Licht dazu.

„Na, ist dein Tête-à-tête mit der mysteriösen Marga vorbei?” Sie empfing mich mit einem vielsagenden Blick, gefolgt von einem herzhaften Kuss, den sie allerdings sehr schnell unterbrach. „Puh, du riechst nach Alkohol. Du hattest mir doch gesagt, es ginge nur um ein kurzes Gespräch, und nun rieche ich, dass es sich um ein ausschweifendes Bacchanal gehandelt haben muss. Ich bitte um eine nachvollziehbare und ehrenhafte Erklärung, mein Liebster!”

Während wir ins Haus gingen, erinnerte ich mich an eine ähnliche Szene, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Und heute, wie damals, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Nur mit dem Un­terschied, dass ich vor drei Jahren dieses Gefühl noch nicht – oder besser gesagt nicht mehr – hatte einordnen können.

Ich war gerade auf dem Hoffest eines Weingutes in Flonheim eingetroffen, als eine Dixieband eines meiner Lieblingsstücke – Petit Fleur, von Sidney Bechet – spielte. Ohne genau hinzusehen hatte ich gedankenverloren am Ende eines der langen Tische Platz genommen, als sich neben mir eine angenehme Frauenstimme bemerkbar machte: „Aber gerne”, immer noch hatte ich den Klang ihrer Stimme und ihre fast schon provokative Ironie im Ohr, „nehmen Sie ruhig Platz.” Als ich mich, eine Entschuldigung stammelnd, umdrehte, strahlte mich eine attraktive Rothaarige, Mitte vierzig, frech aus ihren grünen Augen an. Mit einer leichten Neigung ihres Kopfes, einer Geste, die charakteristisch war für sie, vermutete sie, dass ich ohne elterlichen Beistand bestimmt Probleme mit den elementarsten Anstandsregeln hätte. Vor lauter Verzweiflung leerte ich die Weinschorle, die man mir inzwischen gebracht hatte, auf einen Zug, was sie mit der Bemerkung, das sei ja wohl eindeutig Überschreitung der gesetzlich zulässigen Trinkgeschwindigkeit kommentierte. Ja, so lernte ich Sonja kennen, so lernte ich sie nach ein paar Wirrungen einige Monate später lieben und so, genau so, liebte ich sie immer noch, jeden Tag ein bisschen mehr.

Jetzt berichtete ich ihr von dem Besuch bei Gertrud und bat sie gleichzeitig, Dagmar nichts davon zu erzählen. „Überlass das bitte Heribert.”

„Ich weiß zwar nicht weshalb, aber wenn du das willst, werde ich kein Sterbenswörtchen davon verlauten lassen”, versprach sie.

Anschließend erzählte ich ihr von dem Gespräch mit Marga Preuß. „Sie hat eigentlich ein recht sympathisches Wesen. Natürlich ist sie in Bezug auf ihre Familie ziemlich verbittert, aber mir gegenüber war sie sehr offen und freundlich. Sie hat mich, uns sogar eingeladen, einmal vorbeizukommen.”

„Soll das heißen, dass wir mit ihr nun einen auf Freundschaft machen?”, war Sonjas erster Kommentar, nachdem sie mir schwei­gend zugehört hatte. „Ich möchte nicht in das gleiche Horn tuten wie einige aus meiner Gesangsgruppe, die sich auf alles stürzen, was nicht in ihre kleine Welt passt. Die bezeichnen sie als … durchgeknallt.”

„Wie bitte?! Durchgeknallt? Was soll das denn jetzt?”

„Entschuldige, Darius, das ist ja nicht mein Sprachgebrauch. Frau Preuß ist Opfer vieler Umstände. Ich glaube ja, dass sich alles, was mit Renate zusammenhängt, so abgespielt hat. Erstens ist es identisch mit dem, was Gertrud euch erzählt hat, und zweitens, weshalb sollte sie die Unwahrheit sagen. Dazu ist das, was sie in dieser Sache erlebt hat, einfach zu banal.”

„Na also, weshalb bezeichnen dann so ein paar deiner Singschwalbentussis sie als durchgeknallt?”

„Darius, nimm einfach nur das, was du in der kurzen Zeit mitgekriegt hast. Sie ist zutiefst eigenbrötlerisch, geradezu asozial im pathologischen Sinn, sie spricht mit niemandem im Dorf – außer mit Pflanzen.”

„Da kenne ich aber noch ganz andere Typen. Denk nur mal an deinen Kollegen, der mit bajuwarischem Akzent Französisch unterrichtet, was der sich für hanebüchene Dinger erlaubt. Damit könnte man eine ganze Abteilung in der Nervenheilanstalt füllen.”

Sonja schaute mich skeptisch von der Seite an, ohne weiter auf meine Bemerkung einzugehen. „Sie nimmt seit Jahren Tabletten, weil sie nicht durchschlafen kann. Und das werden nicht die einzigen pharmazeutischen Teufelsdinger sein. Mensch, Darius, hast du dir denn nicht überlegt, mit wem du es zu tun hast?”

„Mit wem denn?”

„Mit einer Frau, der man die Jugend gestohlen hat, die gedemütigt und verstoßen wurde und ohne Liebe aufwachsen musste, ohne zu wissen, weshalb. Kannst du dir vorstellen, wie es in ihr aussehen muss, zerrissen zwischen Selbstzweifeln, unergründlichen Schuldgefühlen und Hass?”

„Du hast sie ja nicht gesehen, sie wirkte ganz normal auf mich”, setzte ich zu einer Rechtfertigung an.

„Klar, weil sie sich jeden Tag mit Psychopharmaka vollstopft. Sie war bereits mehrmals in Alzey in der Rheinhessenklinik, von der du meinst, dass die Verrücktheiten meines Kollegen sie alleine füllen würden.”

„Woher weißt du das?”, fragte ich kleinlaut.

„Ich kenne die Gerüchte, die über Marga Preuß kursieren, und während du bei ihr warst, habe ich ein wenig recherchiert, weil ich Gerüchte ebenso verabscheue wie du. Der Vater eines meiner Schüler ist …”, sie unterbrach sich, „besser nicht. Du weißt ja: Schweigepflicht. Ich habe einer Person mit Insiderwissen einige Fragen gestellt, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden mussten. Nicht ganz sauber, aber vertretbar.”

„Aber das heißt doch nicht, dass das, was sie mir über Renate erzählt hat, nicht stimmt.”

„Nein, das habe ich ja schon gesagt. Ich will nur keinen persönlichen Kontakt mit ihr. Mein soziales Engagement erschöpft sich im Übermaß in der Schule. Und auch ich habe nur ein begrenztes Kontingent zur freien Verfügung. Ich brauche auch noch etwas für dich.”

Beim letzten Satz sah sie mich so tiefgründig an, dass ich mich auf Wolke Sieben katapultiert fühlte. „Es ist schon spät”, sagte ich und versuchte das Raue aus meiner Stimme zu nehmen, was gründlich missglückte. „Ich gehe schon mal nach oben – Zähneputzen und so.”

„Einen halben Liter Mundwasser und eine ausgiebige Runde Duschen würde die ganze Sache noch attraktiver gestalten”, lockte Sonja. Als sie dann auch noch in Aussicht stellte, gleich nachzukommen, ließ sie damit nicht nur mein Herz vor Vorfreude höher hüpfen. Wir haben eine große Dusche, die es gewohnt ist, zarte Geheimnisse zu bewahren. Licht aus!

Mordsverlust

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