Читать книгу Der Un-Magier - Rabenfreund - Christopher Golden - Страница 6
Kapitel zwei
Оглавление„Timothy?” Leander starrte den Jungen ungläubig an; er mußte die Stimme erheben, um sich angesichts der tosenden Brandung, die gegen den Strand krachte, Gehör zu verschaffen.
Der dunkelhäutige Junge sah von seinen sandigen Füßen auf‚ Tränen in den großen Augen. „Ja.”
Edgar, der immer noch auf der mystischen Tür hockte, krächzte laut und voller Kummer, ehe er herabglitt, um sich auf der bloßen Schulter des Jungen niederzulassen. „Es tut mir so leid, Kleiner!” krächzte der Vogel, wobei er es fertigbrachte, sowohl mit seiner Stimme als auch mit seinem Blick tiefstes Mitgefühl auszudrücken.
„Dann stimmt es also?” fragte der Junge und sah Edgar an, der sich in seiner Gegenwart deutlich anders verhielt als zuvor. „Dann ist mein Vater wirklich tot?”
Der Vogel hüpfte auf der Schulter des Jungen hin und her, ehe er antwortete: „Krah! Wie ungern ich derjenige bin, der es dir sagen muß! Aber ja, Tim, dein Vater ist von uns gegangen.”
Vom Wasser her drang eine warme, feuchte Brise zur kleinen Gruppe am Strand herüber, und abermals wurde Leander vom ganzen Ausmaß der Täuschung getroffen, mit der er sich hier konfrontiert sah.
„Timothy!” wiederholte er und machte sich auf, durch den Sand zu waten, fort von der offenen Tür, durch die er so rasch wieder hätte in die reale Welt, in die Normalität zurückkehren können. Fassungslos starrte er den Jungen an, diesen außergewöhnlichen, an und für sich vollkommen unmöglichen Jungen, unfähig, den Blick von ihm zu lösen. „Du lebst!” sagte er und kam sich dabei selbst wie ein Trottel vor, sah sich aber nicht in der Lage, sein ungläubiges Staunen zu verbergen.
Empört plusterte die Krähe die Federn auf und schlug aufgeregt mit den Flügeln. „Der Junge hat soeben erfahren, daß sein Vater gestorben ist! Wie wäre es mit ein bißchen Mitgefühl?” schimpfte sie.
Leander hatte Argus Cades Vertrauten noch nie so reden hören und fand es ein wenig beunruhigend. Er fragte sich, ob Edgars neues Sprachtalent – wenn er es auch zugegebenermaßen für eine recht ungehobelte Sprache nutzte – etwas damit zu tun hatte, daß er sich nun auf dieser Insel befand oder ob es sich dabei um eine Begleiterscheinung von Argus Cades Hinscheiden handelte. Oder vielleicht, dachte der Magier, war Edgar ja immer schon solch eine schillernde Persönlichkeit, was auch zu den Dingen gehörte, die man mir vorenthielt! Wie dem auch sein mochte, Leander wußte, die Krähe hatte recht. Er selbst hatte unter einem solchen Schock gestanden, daß er sich den Bedürfnissen und Gefühlen des Jungen gegenüber zutiefst unsensibel verhalten hatte.
„Mein herzliches Beileid, Timothy”, sagte Leander und neigte entschuldigend den Kopf. „Ich bitte dich sehr, mein Verhalten zu entschuldigen. Es tut mir aus ganzer Seele leid, daß du deinen Vater verloren hast. Du mußt nur wissen, daß ich völlig überwältigt bin! Der Schock, dich hier vorzufinden – lebend!”
Der Junge schien gesund und munter zu sein. Er wirkte wach und mobil, war erstaunlich muskulös für sein Alter, und seine sonnengebräunte Haut schimmerte. Leander hatte auch die Rute bereits gesehen, die Timothy über der Schulter trug und sich gefragt, welchem Zweck sie wohl dienen mochte.
„Mein Vater hatte mich gewarnt. Er hatte mir gesagt, daß du anfangs so reagieren würdest”, sagte Timothy, wobei sein Blick zum Meer hinüberglitt und sein ganzer Körper eine solche Traurigkeit ausstrahlte, daß es kaum mit anzusehen war. Dann aber hob er entschlossen den Blick und heftete ihn prüfend auf Leanders Gesicht. „Er sagte mir, wenn ihm irgend etwas zustieße, würdest du kommen, und ich sollte dir erklären, warum ich hier bin.”
„Das hat Zeit, Tim”, mischte Edgar sich ein. „Nimm dir erst einmal Zeit für dich selbst. Auch du hast ein Recht zu trauern, wie wir alle getrauert haben.”
Der Junge lächelte bekümmert, streckte die Hand aus und strich dem Vogel über die glänzenden schwarzen Federn. „Es ist schon in Ordnung, Edgar. Mein Vater hat mich hierauf vorbereitet. Er hat mir schon gesagt, daß Leander nicht gerade der geduldigste aller Magier ist. Wir sollten ihn nicht warten lassen; wir sollten ihm das Geheimnis dieser Insel rasch erklären.”
Von der Schulter des Jungen aus funkelte die Krähe Leander böse an. „Na, dann tu, was du nicht lassen kannst!” meinte sie widerstrebend.
Leander spürte, wie ihn Schuldgefühle packten und kräftig schüttelten – man hätte dem Jungen wirklich Zeit zum Trauern lassen sollen -, aber gleichzeitig vermochte er seine Neugier kaum noch zu zügeln. Er mußte einfach erfahren, wieso sein Freund und Mentor den eigenen Sohn derart hatte aussetzen können, warum er ihn sich selbst überlassen hatte, fernab aller Welt.
„Warum, Timothy?” fragte er denn auch, während er sich bückte, um dem Jungen in die Augen sehen zu können. „Warum diese ganze Scharade – warum wollte dein Vater, daß die Welt dich für tot hält?”
Ganz langsam ließ sich Timothy in den roten Sand sinken und sah so aus, als sei die Last seines Wissens letztlich doch zu schwer für ihn geworden, als drücke sie ihn nun zu Boden. Edgar flatterte von der Schulter des Jungen und landete neben ihm, wo er sich aufbaute und im Sand hin und her stolzierte, als wolle er über den Knaben wachen.
„Weil ich anders geboren bin”, sagte Timothy und ließ die dunkelroten Körnchen durch seine Finger rinnen. Er sah nicht auf, und Leander hatte das Gefühl, der Junge schäme sich für irgend etwas.
„Anders, Junge?” Der Magier hockte sich neben den Kleinen in den Sand und legte ihm tröstend die große Hand auf die Schulter. „Wie anders?”
Weiter ließ Timothy roten Sand durch seine Finger rinnen, während er sich seine Antwort lange und genau durch den Kopf gehen ließ.
„Timothy?” drängte Leander sanft.
„Ich kann Sachen nicht so machen, wie alle anderen es können”, sagte der daraufhin und hob nun endlich den Blick. Eine weitere warme Brise vom Meer zerzauste ihm das dunkle, lockige Haar, und er mußte die Augen zusammenkneifen, denn sonst wäre ihm Sand hineingeraten. „Ich kann nicht zaubern”, sagte er. Dieses Eingeständnis schien ihn die letzte Kraft gekostet zu haben. Er ließ den Kopf sinken und wandte das schamgerötete Gesicht erneut dem rotschimmernden Sand zu.
Verwirrt runzelte Leander die Stirn. „Du bist in der Kunst nicht ausgebildet?” fragte er nach. „Nicht so geschickt wie dein Vater? Aber es besteht doch gewiß kein Grund ...”
Edgar flatterte ärgerlich mit den Flügeln. „Hör dem Jungen doch zu, Leander!” krächzte er. „Er kann nicht zaubern, hat er gesagt!”
Der Magier blickte von dem Vogel zu dem Jungen. Timothy schien geschrumpft zu sein, sich ganz in sich selbst zurückgezogen zu haben.
„Ich kann es nicht anders ausdrücken”, erklärte er. „Mein Vater sagte, die ganze Welt basiere auf Magie, werde von Magie angetrieben, alles und jedes enthalte Magie, und alles sei in einem Kreislauf aus Zauberkraft miteinander verbunden. Aber ich nicht. Ich bin nicht Teil dieses Kreislaufs. In mir ist keine Magie. Ich habe überhaupt keine Magiebegabung.”
Leander war so erstaunt, daß er den Knaben nur anstarren konnte. Diese Worte, die Timothy hier so einfach aussprach, waren schreckliche Worte, die sich anhörten wie ein fürchterlicher, makabrer Scherz. Ganz ohne Magie zu sein – das war, als hätte man keinen Herzschlag, als könne man nicht atmen! Aber was der Junge sagte, war wahr. Natürlich. Daß Argus Cade den eigenen Sohn so lange weggesperrt hatte ... zumindest warfen die Worte des Jungen ein gewisses, wenn auch bizarres Licht auf die Sache. Zumindest schien nun alles einen gewissen Sinn zu ergeben. „Es – es tut mir wirklich leid, daß ich dich so anstarre, Timothy!” Die Worte sprudelten förmlich aus Leander heraus. „Es ist nur so ... so etwas habe ich noch nie gehört!” Wieder schämte sich der Magier seines mangelnden Mitgefühls. „Das ist doch ganz und gar unglaublich!” fügte er hinzu.
„Hört, hört!” krächzte Edgar. „Aber nun verstehst du, nicht wahr? Deswegen hat Meister Argus diese Tür eingebaut, deswegen hat er diesen Anbau hier erschaffen. Wir sind in einer Taschendimension, die direkt an unsere Dimension angrenzt. Einfache Hexerei für einen, der so geschickt war wie er.”
„Was ...?” flüsterte Timothy, der immer aufgeregter wurde und dessen Finger sich immer tiefer in den roten Sand bohrten.
„Hier war er sicher”, krächzte die Krähe. „Hier war er geschützt!”
Die Fragen überschlugen sich so rasch und wütend in Leanders fast schon fiebrigem Verstand, daß der Magier kurz davor war, zur eigenen Beruhigung einen Zauber der Ausgeglichenheit zu sprechen. Auch Timothy schien sichtlich aufgebracht, und Leander streckte eine tröstende Hand nach dem Jungen aus. „Aber, aber ...”, hob er an – da jedoch war Timothy auch schon auf den Beinen, ehe Leander ihn hatte erreichen können.
„Es tut mir leid!” verkündete er mit fester Stimme. „Aber jetzt brauche ich wirklich Zeit für mich. Ich muß ein wenig allein sein.” Mit diesen Worten drehte er sich um und ging auf den smaragdgrünen Ozean zu.
„Natürlich, nimm dir Zeit!” rief Leander ihm nach. Sein eigenes Herz schmerzte zum Zerspringen, als er sich zu verstehen bemühte, was das alles bedeuten mochte. Argus Cade hatte die Welt für ihn bedeutet, und nun hatte Argus diese Welt verlassen – und hier war sein Sohn. Ein Junge, dessen Wohlergehen man in seine, Leanders Hände gelegt hatte. „Laß dir Zeit, soviel du brauchst!”
Von irgendwoher tief in Edgars Schlund drang ein häßliches Geräusch. „Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl!” krächzte der Vogel unheilverkündend und sah zu, wie der Junge in die Fluten des Ozeans stieg. „Ein ganz schlechtes Gefühl habe ich da!”
Leander war sich nicht sicher, wie lange er dort am Ufer dieser tropischen Insel in jener veränderten Dimension gestanden hatte, ganz benommen von der Ungeheuerlichkeit des Geheimnisses, das man ihm gerade enthüllt hatte. Die warme Brise, die vom Meer her kam, spielte mit seinen grünen Gewändern, und der betörend süße Duft blühender Obstbäume, der in seine Nase drang, verführte ihn kurz zu der Annahme, es handele sich bei all dem nur um einen Traum. Oder um einen Zauber — ein Zauber der Verwünschung konnte durchaus bewirkt haben, daß er sich dies alles hier lediglich einbildete!
Leander wandte sich zum Meer und sah den Wellen zu, die an den Strand rollten. In der Ferne wirkte ein kleiner, dunkelhäutiger Junge inmitten der unendlichen See winzig und zerbrechlich. Ein Traum ist das nicht! dachte Leander und spürte erneut schmerzhaft die Trauer um den Freund, um dessen Verhalten — und ein Zauber war es auch nicht.
Leander kehrte dem traurigen Bild, das der trauernde kleine Junge im weiten Meer abgab, entschlossen den Rücken zu und richtete sein Interesse auf das Land, auf dem er stand. Sehr groß schien die Insel nicht zu sein, aber für einen einzigen und noch dazu so jungen Bewohner war sie groß genug. Es mochte sich bei dieser Insel in der Tat um eine Taschendimension handeln, aber Leander wurde schnell klar, daß diese Dimension viele ihrer Eigenschaften mit der Welt teilte, in die er selbst geboren war. Er fragte sich, wie weit die Insel wohl von der nächsten großen Landmasse entfernt sein mochte und ob es hier noch andere empfindende Wesen gab oder nicht.
Der rote Strand war von einem üppigen Urwald gesäumt; eine Überfülle an Yaquisbäumen stand dort, deren lange Wedel sich sanft im stillen Wind wiegten, als wollten sie Leander zuwinken, als wollten sie ihn näher heranlocken. Sein Magen knurrte erwartungsvoll – er hatte den exotischen Geschmack der Yaquisfrucht schon immer sehr gern gemocht und ihm wurde mit einem Schlag bewußt, daß er mehr als einen Tag lang nichts gegessen hatte. Zu sehr war er abgelenkt gewesen von seiner Trauer, von all seinen Aufgaben und nun auch noch von dem schier Unglaublichen, das sich ihm hier langsam enthüllte.
Als Leander weiter den Strand entlangschaute und den Blick dann ins Inselinnere schweifen ließ, konnte er ein Lager erkennen. Dabei handelte es sich wohl um die Behausung des Jungen. Der Magier schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und blinzelte, um weitere Einzelheiten ausmachen zu können. Richtig: In einer besonders dichten Gruppe uralter Yaquisbäume, die oberhalb des Strandes wuchsen, hatte man, von den Bäumen hinabhängend, eine rechteckige Konstruktion angebracht. Aus einem Schornstein stieg ein breiter Rauchstreifen in den gelben Himmel. Unter dieser hängenden Konstruktion befand sich eine weitere, größere. Auf jeden Fall verfügte Timothy also über ausreichend Schutz, sollten die Elemente ihre Laune ändern und das Wetter beschließen, nicht mehr strahlend schön, sondern unangenehm zu werden.
Als Leander seine Gedanken zu ordnen begann, begann sich auch seine Stimmung zu wandeln. Er malte sich das Leben des Jungen aus, so ganz allein an diesem einsamen Ort, und diese Vorstellung stimmte ihn traurig und gleichzeitig sehr besorgt. Völlig egal, welche Gründe Argus bewogen haben mochten, seinen Sohn auf diese Insel zu verbannen – Leander spürte eine höchst unwillkommene Wut auf den alten Magier in sich aufkeimen. Sein Mentor hätte ihm sagen können, was vorgefallen war, was er geplant hatte! Er, Leander, hätte ihm auf jeden Fall davon abgeraten. Die Welt konnte doch unmöglich so grausam sein, daß sie einem derart hilflosen Jungen etwas antat!
Als nächstes schlich sich eine ganz andere, viel düsterere Überlegung in Leanders Gedanken. Was, wenn Argus Timothy nun nicht aus reinem Beschützerinstinkt versteckt hatte, sondern weil ihm die Existenz des Knaben peinlich gewesen war? Diese Überlegung machte dem jungen Magier außerordentlich zu schaffen.
„Denk nicht schlecht von ihm!” krächzte Edgar, schlug mit den Flügeln und flog mehrere Fuß näher an Leander heran, ehe er sich wieder am Strand niederließ und durch den dichten, roten Sand auf den Magier zuhüpfte. „Ich sehe in deinem Gesicht, was du denkst. Aber Meister Argus liebte den Jungen. Er wollte, daß er sicher sei; das war sein ganzes Bestreben. Diese Insel ist einsam, aber in gewisser Weise ist sie auch ein Paradies. Niemand kann Tim hier etwas tun. Der Junge hat gelernt, für sich selbst zu sorgen. Was er braucht, nimmt er sich aus der Welt, die ihn umgibt. Er ist brillant, wie sein Vater.”
Mit gerunzelter Stirn wandte Leander den Blick von der Krähe. Gewiß, Argus Cade war ein feiner Mann gewesen, der beste, den der junge Magier je gekannt hatte. „Ich weiß nicht, Edgar”, sagte er mit rauher Stimme. „Ein Kind derart von allem abzuschotten, auch wenn es sich um ein Kind handelt, das so schwer behindert ist wie Timothy ... es fällt mir schwer, mir selbst glaubhaft einzureden, es habe wirklich keinen anderen, keinen besseren Weg gegeben.”
Dann schwieg der Magier einen Augenblick lang, ehe er die Krähe wieder direkt ansah. „Was ist mit dir, Vogel? Du kannst viel besser reden und weißt auch viel mehr, als ich je ahnte. Gibt es vielleicht noch andere Geheimnisse, in die du mich gern einweihen möchtest?”
Mit leichten Schlägen seiner ebenholzschwarzen Flügel hüpfte der Vogel näher an Leander heran. „Laß uns eins ganz klarstellen”, krächzte er. „Ich weiß, daß du mich nicht leiden kannst, das habe ich immer schon gespürt, und ich mache mir, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch nicht gerade allzuviel aus dir. Du bist ein aufgeblasener, humorloser Esel. Aber genau wie du habe auch ich Argus Cade ein Versprechen gegeben, ehe er starb.”
Zwar fühlte sich Leander durch die Offenheit des Vogels mehr als nur leicht vor den Kopf gestoßen, kam aber nach einer Weile nicht umhin zu nicken. Edgar hatte recht, und zwar mit allem, was er gesagt hatte. Wie ein Blitz zuckte die Erinnerung an Argus’ letzten Atemzug durch Leanders Kopf; noch einmal sah er den Ausdruck genau vor sich, mit dem der alte Magier ihn angesehen hatte, als er seine Bitte vortrug, erinnerte sich an die Bitte selbst. „Argus hat mich gebeten, mich um Timothy zu kümmern, wenn er selbst nicht mehr in der Lage wäre, dies zu tun.”
„Genau das habe ich auch versprochen!” sagte Edgar. „Ich als Timothys Vertrauter, du als sein Vormund.”
Leander nickte, denn mittlerweile sah es ganz so aus, als ergäben zumindest ein paar Dinge in dieser Sache letztlich doch einen Sinn. „Das erklärt, warum du nicht gestorben bist, als dein Herr starb. Er hat dich Timothy vermacht. Ist das auch der Grund dafür, daß sich ... daß sich dein ganzes Auftreten derart verändert hat? Spiegelt dein Verhalten jetzt Timothys Jugend wider und nicht mehr das Alter und die Würde deines früheren Herrn?”
Die Krähe plusterte sich auf. „Hast du dir das alles ganz allein zurechtgelegt?” krächzte sie. „Langsam verstehe ich, warum du einer von Argus’ besten Schülern warst.”
Der Magier schenkte dieser respektlosen Bemerkung keine Beachtung, sondern richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das eigentliche Thema ihrer Unterhaltung: auf den Jungen, der da so ganz allein in den grünen Fluten stand. In der Welt, in die Timothy Cade hineingeboren war, würde der Junge als Mißgeburt gelten, wäre er unfähig, auch nur die allereinfachsten Arbeiten zu erledigen – das würde sich vom simplen Licht einschalten bis hin zur Zubereitung einer Mahlzeit erstrecken. Verfügte er wirklich über keinerlei Magie, dann wäre er auch nicht in der Lage zu lernen, wie andere Kinder es taten. Die ganz gewöhnlichen Freuden der Jugend – das Spiel mit Verwandlungszaubern oder Schwebezaubern zum Beispiel – wären ihm verwehrt.
Aber er war doch dein Sohn, Argus! dachte Leander. Dein Sohn! Ihn derart vor der Welt zu verstecken und die Welt vor ihm zu verstecken ... der junge Magier verstand immer noch nicht, warum sein alter Lehrer gemeint hatte, dies tun zu müssen.
Mit einem lauten Krächzen flog Edgar auf und schraubte sich in einem langen, weitgezogenen Kreis in die Lüfte. Leander blickte hinaus auf das Meer und sah, daß der Junge zurückkam. Langsam trottete er durch den Sand und entfernte sich immer mehr von den Wellen, die hungrig an ihm zerrten. Die weiße Kugel, die in dieser Dimension die Sonne darstellte, wollte gerade untergehen, und ihre letzten Strahlen tauchten den ohnehin schon roten Sand in noch dunklere Töne.
„Denk daran!” warnte Edgar leise. „Wir haben geschworen, die Interessen des Jungen zu wahren.”
Leander sah zu, wie der immer noch tief erschütterte Knabe näher kam und gab der Krähe keine Antwort. Die Interessen des Jungen, sagte er im Geiste laut vor sich hin. Was genau soll das heißen?
Dann stand der Junge vor ihm. „Weißt du”, sagte Leander, „wir müssen das nicht unbedingt sofort machen. Wenn du mehr Zeit brauchst, dann nimm sie dir ruhig.”
Der Junge bückte sich, um den merkwürdigen Ast aufzusammeln, den er zuvor hatte fallen lassen. „Mir geht es soweit gut”, sagte er und warf sich die Rute über die Schulter. „Ich mußte mich nur von meinem Vater verabschieden.” Diese Worte klangen schwer und bedeutsam, und während er sie sagte, blickte der Junge hinaus auf das weite Meer. Dann richtete er sich kerzengerade auf und sah Leander in die Augen. „Vater sagte, ich solle dir die Insel Geduld zeigen. Ich solle dir alles zeigen, was ich hier getan habe – was ich angefertigt habe.”
Mit diesen Worten schickte der Junge sich an, auf die Konstruktion zuzugehen, die Leander bereits zuvor aus der Ferne gesehen hatte.
„Angefertigt?” hakte Leander nach, der Timothy den Strand entlang folgte, während Edgar in den warmen Luftströmen über ihren Köpfen dahinglitt.
„Ich stelle Dinge her”, erklärte der Junge und hielt Leander als Beispiel die Rute hin, die er aus dem Zweig eines Baumes angefertigt hatte. „Dinge wie dies hier.”
„Was genau ist das?” wollte der Magier neugierig wissen.
„Das ist meine Rute, um Fische zu fangen”, verkündete der Junge stolz. „Die habe ich mir gebaut, als ich sechs Jahre alt war.”
Timothy führte die Angelrute, die Leander höchst merkwürdig fand, vor, indem er an der Kurbel drehte und so eine Schnur abwickelte, an deren Ende ein gebogener Knochen befestigt war. „Auf den Knochenhaken dort steckt man Köder für die Fische, und dann läßt man den Haken ins Wasser hinab. Wenn ein Fisch bereit ist, sich fangen zu lassen, frißt er den Köder und zieht damit an der Leine.” Er tat, als habe er gerade im Sand etwas gefangen. „Dann drehe ich an der Kurbel und ziehe den Fisch aus dem Wasser.”
So etwas wie diese Rute hatte Leander noch nie zuvor gesehen, und doch fand er die simple Logik, nach der sie funktionierte, wunderbar. „Clever”, lobte er beeindruckt.
Edgar, der vor den beiden herflog, krächzte dazu nur laut. Der Vogel war bereits bei den Konstruktionen angekommen, und nun beeilten Timothy und Leander sich, um ihn einzuholen. Bald waren auch sie bei der Behausung angelangt, von der Leander annahm, es handle sich um die Wohnräume des Jungen. Die Wände dieser Behausung bestanden aus grauem Metall und Holzbalken; eine Reihe Yaquiswedel über der nächsten bildeten das Dach. Durch das Dach des unteren Baus ragte eine Leiter, die zu einer Tür führte, welche sich im Boden der zweiten Konstruktion befand. Dieses Bauwerk hing wie ein Nest in den Bäumen über dem ersten. Rauchwolken stiegen von der Rückseite des am Boden befindlichen Gebäudes und aus dem auf Baumhöhe auf.
„Hat dein Vater diese Behausungen errichtet?” wollte Leander wissen.
Timothy blieb an der Tür des unteren Hauses stehen und zuckte die Achseln. „Beim Bau der Rahmen hat er mir geholfen, nach meinen Entwürfen. Den Rest habe ich allein gebaut.”
„Das hat doch aber sicher einige Zeit in Anspruch genommen.”
Timothy lehnte seine Rute gegen die Außenwand des unteren Hauses. „Ja”, sagte er. „Aber die Dinge brauchen nun einmal so lange, wie sie brauchen, und es ist ja auch nicht so, als hätte ich noch andere Verpflichtungen”, sagte er und näherte sich der geschlossenen Tür des unteren Hauses, die aus demselben grauen Material hergestellt war wie auch die Wände.
Wäre dieses Haus eine der Heimstätten in einem der zahlreichen Distrikte Arkanums gewesen, dann hätte Timothy jetzt lediglich die Hand vor ein mystisches Auge halten müssen, und die Tür hätte sich geöffnet und ihn willkommen geheißen. Leander kniff die Augen zusammen und sah genau hin, als der Junge statt dessen einen Riegel zur Seite schob, die Handfläche gegen das graue Metall legte und die Tür mit der eigenen Körperkraft öffnete.
„Das ist meine Werkstatt”, sagte Timothy stolz und forderte Leander mit einer Handbewegung auf einzutreten. Edgar holte zu einem kraftvollen Schlag mit den mächtigen Schwingen aus und schwebte über den Köpfen der beiden ebenfalls durch die Tür, hatte im Innern des Hauses aber Mühe, auf einem mit höchst ungewöhnlichem Müll überladenen Tisch einen Platz zum Landen zu finden. „Hier stelle ich die Dinge her, die ich mir im Kopf vorstelle”, fuhr Timothy mit seiner Erklärung fort.
Zu sagen, Leander hätte es beim Anblick dieser Werkstatt die Sprache verschlagen, wäre gelinde gesagt eine Untertreibung gewesen. Der Magier warf einen raschen Blick durch den ganzen Raum, mußte dann aber feststellen, daß es damit keineswegs getan war. Er fing noch einmal von vorne an, diesmal jedoch sah er sich seine Umgebung sehr langsam und sorgfältig an, bemüht, sich keine Einzelheit entgehen zu lassen. Wo er auch hinschaute, fiel sein Blick stets auf irgend etwas, das seine Neugier erregte. Er sah Holz in allen Größen und Formen auf dem Boden gestapelt, das zum Teil vom Yaquisbaum stammte, der auf der Insel in Hülle und Fülle wuchs. Aber auch edleres Holz war vorhanden, das man wahrscheinlich aus der Welt draußen hereingebracht hatte.
Dann gab es da in der Werkstatt große Steinblöcke sowie Barren und dünne Bleche aus demselben grauen Metall, aus dem auch die vier Wände der Werkstatt bestanden. Rings um das große Zimmer herum standen Arbeitstische, und auf den Tischen lagen Werkzeuge, deren Funktion Leander nur erraten konnte. Auch befanden sich hier einige recht merkwürdig anmutende Gebilde in den unterschiedlichsten Stadien der Fertigstellung, bei denen der Magier davon ausging, daß es sich um Timothys Erfindungen handelte.
„Krah! Krah!” meldete sich Edgar, der auf der Kante eines Werktischs hin und her hüpfte. „So etwas hast du noch nicht gesehen, oder? Komm schon, gib es ruhig zu!”
Die Krähe hatte recht. Der gesamte Werkraum hatte etwas Primitives, Rohes an sich – als habe man die Welt aufgeschnitten, um zu sehen, wie sie in ihrem Innern funktionierte und doch, fand Leander, lag auch etwas atemberaubend Schönes über dem Raum und seinem Inhalt.
„Dein Vertrauter ist stolz auf dich, Timothy!” sagte Leander. „Ich bin sicher, dein Vater war es ebenfalls. Das alles hier ist so ... nun, ich finde es ganz und gar faszinierend!”
Noch immer blickte der Magier sich forschend um, wobei er ständig etwas Neues entdeckte, das er zuvor noch nicht gesehen hatte. Die hintere Wand der Werkstatt öffnete sich zu einem Durchgang, durch den der Magier in einen weiteren Raum blicken konnte. Dort glühten in einer Einfassung aus Fels und Metall große Steine weiß und heiß. Diese Heizstelle, schloß Leander, war offenbar die Quelle der Rauchwolke, die er zuvor von draußen hatte sehen können. Das ist hungriges Feuer! dachte Leander. Der Junge hat keinen Zugriff auf Geisterfeuer, also macht er sich das hungrige Feuer so zu eigen, daß es seinen Zwecken dient!
„Dort hinten erledige ich einen Großteil meiner Metallarbeiten”, sagte Timothy, der mit einer gewissen Belustigung auf die Art und Weise reagierte, mit der sein Besucher die Werkstatt bestaunte.
Leander sah sich noch einmal um. Wieder ließ er den Blick auf jedem der ihm unbegreiflichen Gegenstände ruhen, mit denen die eigentliche Werkstatt vollgestellt war. „Du denkst einfach nur an diese Dinge?” wollte er wissen, während er einen Gegenstand aufnahm, der so aussah, als habe jemand versucht, aus einzelnen Holzstücken das Skelett eines Vogels zu bauen. „Das hier – das hast du dir einfach so vorgestellt und dann nachgebaut?”
Der Junge nahm dem Magier den hölzernen Gegenstand vorsichtig aus der Hand, wobei er sehr darauf achtgab, die zierliche Konstruktion nicht zu beschädigen. „Ich bin der Überzeugung”, sagte er, „daß sich die meisten der mittels Magie hergestellten Dinge auf mechanische Art und Weise reproduzieren lassen.”
Leander sah interessiert zu, wie Timothy einen winzigen Hebel am Skelettrahmen betätigte, woraufhin die Flügel der Vorrichtung zu schlagen begannen. „Das hier ist lediglich ein Modell”, erklärte der Junge und stellte den hölzernen Vogel so auf einem der Arbeitstische ab, daß Edgar ihn sehen konnte. „Wenn sich das Modell bei meinen Testversuchen bewährt, dann baue ich eine viel größere Version, und dann werde ich in der Lage sein zu fliegen, wie Edgar hier.”
Der große Vogel flatterte aufgeregt mit den Flügeln; die Ankündigung des Jungen schien ihn ebenso zu verwirren, wie sie Leander verwirrte.
„Hattest du diese Gabe immer schon?” wollte der Magier wissen.
Schüchtern zuckte Timothy die Achseln. „Mein Vater hat mich stets sehr ermutigt. Er brachte mir alles, was ich brauchte, um hier auf der Insel zu überleben und Dinge zu erschaffen.” Als er dies sagte, schien sich ein Schatten auf den Jungen zu senken und die freudige Erregung zu dämpfen, mit der er bislang den Besuchern seine Schätze vorgeführt hatte. Seine eigenen Worte hatten ihn daran erinnert, daß sein Vater die Insel Geduld nun nie wieder betreten würde.
„Ich denke an Dinge, die ich tun möchte, und irgendwann dann taucht ein Bild eines Gegenstands, den ich zu diesem Zweck vervollkommnen könnte, in meinem Kopf auf, und dann baue ich diesen Gegenstand”, sagte Timothy, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt. Geistesabwesend rückte er ein paar Werkzeuge gerade, die auf der Werkbank lagen, neben der er stand.
Ein absolutes Wunder! dachte Leander. Die Gabe der Magie war dem Jungen versagt geblieben, statt dessen aber hatte er ganz andere Fähigkeiten ausgebildet, die ihn durchaus entschädigten. Seine ganz eigene, besondere Art der Magie hatte sich herausgebildet.
Leander wollte sich auch noch nach anderen Erfindungen und Modellen erkundigen, die er in der Werkstatt sah, wurde jedoch unterbrochen, als eine Tür, die sich an der Rückseite der Werkstatt befand, scheppernd aufging. Das Ding, das daraufhin durch diese offene Tür trat, verblüffte Leander so sehr, daß es ihm erneut die Sprache verschlug, mehr als all die Wunder zusammen, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Das Ding, ein menschenähnliches Wesen, aber doch kein Mensch, betrat die Werkstatt, indem es einen Karren auf Rädern vor sich herschob. Der Karren war hochbeladen mit glitzernden schwarzen Gesteinsbrocken. Fassungslos starrte Leander diesen Menschen-der-kein-Mensch-war einfach nur an: Der Neuankömmling hatte die Gestalt eines Mannes, bestand aber aus Metall, und zwar aus Metall, das die Farbe von Münzen hatte. Aus einem zylindrischen, offenen Rohr, das mit der einen Seite des quadratischen Kopfes verbunden war, drang zischend Rauch – nein: Dampf. Das Wesen hatte runde Augen, die hell aufleuchteten, als ihr Blick auf die Anwesenden fiel.
„Oh, Timothy, du bist wieder da!” sagte das metallene Wesen erfreut, wobei seine Stimme klang, als käme sie aus der Tiefe eines Brunnens. „Ich bin ganz per Zufall über eine wunderschöne Wärmsteinader gestolpert – eigentlich hatte ich nach ein paar Mannawurzeln für das Abendessen suchen wollen!” Das Wesen schob den Karren weiter in den Werkraum hinein, wobei seine Füße auf dem hölzernen Fußboden ordentlich hallten, und stellte seine Last neben der Tür ab, die zum Heizungsraum führte. „Wie ich sehe, hast du Besuch mitgebracht!”
Leander starrte Timothy Cade völlig entgeistert an. „Bei Alhazred”, stammelte er, „was ist das?”
„Das ist Sheridan”, sagte Timothy und sah zu, wie der Mann aus Metall den Karren ablud. „Ihn habe ich auch gemacht.”
„Ja, und wie gut du mich gemacht hast!” lobte Sheridan, wobei er sich leicht verbeugte und eine weitere Dampfwolke zischend dem Rohr an seiner Kopfseite entwich.
„Noch dazu ist er ein guter Freund”, ergänzte Timothy mit einem leisen Kichern. Dann stellte der Junge der Maschine seinen Gast vor. „Das ist Leander Maddox, Sheridan. Ein Freund meines Vaters. Edgar ist auch da – aber den kennst du natürlich”, fügte er hinzu.
„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Maddox”, sagte Sheridan mit einer weiteren Verbeugung. „Dich hier zu sehen, Edgar, ist immer schön.”
Der Rabe quietschte: „Auch du hast mir gefehlt, Hübscher!”
„Hat denn auch Meister Argus dich auf diesem Besuch begleitet?” erkundigte sich Sheridan vergnügt bei der Krähe.
Leander senkte den Blick. Er zögerte, und weder Timothy noch Edgar sprangen ein, um das Schweigen mit einer Erklärung zu überbrücken. Aber dieses düstere Schweigen reichte aus, damit der Mann aus Metall in etwa verstand, was geschehen war. „Ach du liebe Zeit.” Sheridans rote Augen trübten sich. „Wie schrecklich, schrecklich traurig!” Mit diesen Worten schüttelte er bekümmert den ziegelförmigen Kopf.
Im Zimmer blieb es ungemütlich still.
„Du hast ihn – erschaffen?” erkundigte sich Leander leise, in der Hoffnung, so die betretene Stimmung etwas aufzulockern, die sich auf die kleine Versammlung gelegt hatte.
Der Junge hockte sich auf die Kante eines der Werktische. „Sheridan war schwer zu bauen. Wahrscheinlich ist er meine komplizierteste Konstruktion”, erklärte er. „Alle Mängel an ihm habe ich auch noch nicht beheben können, nicht wahr, Sheridan?”
Die Maschine streckte die Arme aus, präsentierte an jeder Hand drei Finger mit einzelnen Gliedern sowie einen Daumen, und wackelte damit. „Wenn es bald Regen gibt, werden meine Hände immer noch ein wenig steif”, meinte er. „Davon abgesehen, komme ich prima zurecht.”
Leander lachte ein herzliches, dröhnendes Lachen, das ganz tief aus seiner Brust drang und das er mit einem ungläubigen Kopfschütteln begleitete. „Ich weiß wirklich nicht, wie viele Überraschungen an einem einzigen Tag ich noch vertragen kann!” sagte er. Der willkommene Klang seines Lachens erwies sich als ansteckend; bald kicherte auch Timothy stillvergnügt vor sich hin.
Aber ebenso rasch, wie das Lachen aufgekommen war, erstarb es auch wieder und erneut legte sich ein ungemütliches Schweigen über die Gruppe, das diesmal erst dann gebrochen wurde, als Leanders Magen laut und vernehmlich knurrte.
„Ach du liebe Güte!” rief der Magier verlegen und legte sich die Hand auf den grummelnden Bauch. „Ich bitte herzlich um Entschuldigung.”
„Was hast denn du da unter der Robe, Schreckenswölfe?” erkundigte sich Edgar spöttisch, hob sich von der Werkbank, auf der er gesessen hatte und ließ sich auf der Schulter des Jungen nieder. „Ich sollte den Magus nicht aufziehen”, schalt er sich selbst in einem Flüsterton, den man allerdings eher als Bühnengeflüster bezeichnen mußte, denn jeder konnte ihn hören. „Ich bin auch hungrig. Ob es hier wohl etwas zu essen gibt?”
In den Fenstern der Werkstatt war kein Glas, auch wenn Leander keinen Moment lang daran zweifelte, daß Timothy, wenn er dies gewünscht hätte, Mittel und Wege gefunden haben würde, durchsichtiges Material herzustellen, um die Funktion des Durchsichtigkeitszaubers zu übernehmen, dessen die Magier sich bedienten. Angesichts des tropischen Klimas der Insel waren die Fenster einfach offen, wohl aber mit Fensterläden versehen, so daß Timothy sie bei Sturm oder heftigen Regenfällen schließen konnte. Als vom Essen die Rede war, blickte der Junge aus einem der offenen Fenster und stellte fest, daß die Sonne untergegangen war und die Insel friedlich im Dämmerlicht dalag.
„Wie unhöflich von mir”, sagte der Junge und sprang vom Tisch. „Es ist ja schon weit über die Abendbrotzeit hinaus. Bitte verzeiht mir. Mein Vater war bisher der einzige Gast, den ich hier je hatte, und der hat nie vergessen, mir zu sagen, wenn es Zeit für eine Mahlzeit war.”
Der Junge schritt durch die Werkstatt auf eine Kurbel zu, die aus der Wand ragte. Sie ähnelte der, die er an der Angelrute befestigt hatte, war aber größer und aus Metall. Timothy drehte an der Kurbel und sah gleichzeitig nach oben zu einer Öffnung in der Decke, aus der sich nun langsam eine Leiter herabsenkte. Als er sie komplett heruntergelassen hatte, wies er darauf und auf die Öffnung direkt über der kleinen Gruppe. „Kommt mit hoch, und ich schaue mal, ob ich ein Abendessen zusammenstellen kann.” Mit diesen Worten fing er an, die Leiter hinaufzuklettern.
„Schön, Euch kennengelernt zu haben, Meister Maddox”, sagte Sheridan und winkte Leander zu. „Ich werde noch ein wenig die Werkstatt aufräumen, aber vielleicht sehe ich Euch noch, ehe Ihr wieder geht.” Mit leisem Zischen löste sich ein Dampfstrahl aus der Öffnung am Kopf des mechanischen Mannes, als dieser den Karren anhob um ihn weiter nach hinten in die Werkstatt zu schieben.
„Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite!” erwiderte Leander, der den Metallenen immer noch voller Staunen und Respekt betrachtete. Dann begann er, über die Leiter aus der Werkstatt hinauf in Timothys Wohnbereich zu klettern. Dies war zweifellos ein Abend voller Überraschungen, und Leander war gespannt, welch wundersame Dinge wohl als nächstes kommen mochten.
Edgar flatterte durch die Öffnung in der Decke, und Leander folgte ihm, obgleich er seine massige Gestalt förmlich durch das enge Loch zwängen mußte. Die Wohnung des Jungen erwies sich als kurios, aber anheimelnd, und ausgestattet mit einfachen, praktischen Möbeln aus dunklem Holz. Ein großer schwarzer Topf hing über dem Herdfeuer, und in der Luft lag ein gar köstlicher Geruch, der Leander das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Eigentlich schien dieser Wohnraum gar nicht so anders zu sein als andere, die der Magier von zu Hause her kannte – als er sich aber genauer umsah, entdeckte er doch einige Dinge, durch die sich dieses Haus deutlich von anderen unterschied. Die Wände waren mit Yaquiswedeln behangen, und der Blick aus dem Fenster zeigte eine unvertraute Welt. Ein eisblauer Mond hing dort am Himmel, umgeben von vier weiteren, kleineren Monden, die allesamt schwerelos über der bewegten fremden See hingen.
„Willkommen in meinem Heim”, sagte Timothy, und ein warmes Lächeln erhellte sein sonnengebräuntes Gesicht. Trotz seiner Trauer schien der Junge den für ihn so seltenen Kontakt mit einem Außenstehenden zu genießen.
Wie einsam er sich in all den Jahren hier gefühlt haben muß! Nur selten Besuche von seinem Vater, einen Mann aus Metall als einzigen Gefährten, dachte Leander, der immer noch nicht ganz von seinen früheren Gedanken Abstand genommen hatte. Ganz gleich, wie hart Timothy daran gearbeitet hatte, die Insel zu verändern – Geduld war nicht die eigentliche Heimat des Jungen!
„Irgend etwas riecht hier wirklich lecker!” krächzte Edgar, der auf der Rückenlehne eines Stuhls hockte, welcher neben einem kleinen Eßtisch stand. Die Krähe schlug erwartungsvoll mit den Flügeln und plusterte die dichten, tiefschwarzen Halsfedern auf.
Timothy strahlte und wandte sich dem Topf zu, der über dem Herd blubberte. „Ivar hat anscheinend schon angefangen zu kochen, ehe wir in die Werkstatt kamen. Er wollte wohl nicht, daß wir zu lange auf unser Essen warten müssen.”
Daß Timothy noch einen neuen Namen nannte, riß Leander aus seinen Gedanken. „Ivar?” erkundigte er sich erstaunt. „Wer ...”
Ein rundes Gemüse, das die Farbe des Ozeans draußen vor der Tür hatte, schien plötzlich aus einem geflochtenen Korb herbeigeflogen zu kommen, der vor dem Herd stand. Zögernd schwebte es einen Moment lang über dem Topf und fiel dann mit einem lauten Platschen hinein.
Leanders Gedanken überschlugen sich. Sollte etwa doch Magie im Spiel sein? fragte er sich, blickte sich suchend um, konnte jedoch außer einem leichten Schimmern in der Luft vor dem steinernen Kamin nichts erkennen.
„Auch er ist nicht an Besuch gewöhnt”, meinte Timothy, der die Augen auf dieselbe schimmernde Stelle gerichtet hielt. „Ist schon gut, Ivar”, fuhr er fort. „Du kennst Edgar. Meister Maddox – Leander – ist ein Freund. Sie sind gekommen, weil mein Vater ...”
Die Luft vor dem Herd schien dichter zu werden und wurde immer dunkler, während irgend etwas dort sich materialisierte. Nein, nicht materialisierte! korrigierte Leander sich. Der Mann war die ganze Zeit dagewesen, Leander hatte ihn nur nicht erkennen können.
„Ivar ist ein Asura”, sagte Timothy, wobei er Leander einen verstohlenen Seitenblick zuwarf.
Leander erwiderte den Blick, indem er den Jungen ebenfalls von der Seite her ansah. „Sicher nicht. Die Asura sind ausgestorben. Es ist ein halbes Jahrhundert oder länger her, daß der Letzte des Stammes ums Leben kam.”
Timothy kicherte leise. „Ich finde, Ivar wirkt ziemlich lebendig. Die ganze Geschichte kenne ich nicht, aber Ivar lebte schon lange vor mir hier. Mein Vater hat ihn hergebracht, genau wie mich. Ivar hat sich um mich gekümmert, als ich ein Baby war. Er und Sheridan sind die besten Freunde, die ich habe.” Er senkte den Blick, während sich ein trauriges Lächeln in sein Gesicht stahl. „Eigentlich die einzigen Freunde, nun, wo mein Vater tot ist.”
Obwohl Leander die Trauer des Jungen ganz deutlich fühlen konnte, vermochte er den Blick nicht von dem Asura zu wenden. Erstaunt starrte er den Krieger an. Also war der wilde Stamm doch nicht ganz ausgestorben; mindestens einer der Krieger war eindeutig am Leben. Wieder etwas, das Argus Cade ihm verschwiegen hatte! Leander konnte nicht anders – er fragte sich, was sein Mentor wohl noch alles vergessen hatte zu erwähnen.
Die Asura waren, soweit Leander wußte, eine uralte Rasse, die viel mehr mit dem natürlichen Lauf der Dinge im Einklang gelebt hatte als mit dem übernatürlichen. Die Geschichtsschreibung berichtete von wilden Kriegern und geschickten Jägern, die sich geweigert hatten, sich allzusehr auf Magie zu verlassen und die von daher als Wilde, als Primitive geächtet worden waren. Als „zivilisiertere” Völker versucht hatten, in die angestammten Länder der Asura einzudringen, hatten diese sich gewehrt und waren dabei vernichtet worden.
Ivar stand neben dem Herd, beugte sich über den Topf, in dem es heftig brodelte, und rührte den Inhalt mit einem Holzlöffel um. Die Haut des Mannes war hell, von einem sehr fahlen Weiß, aber diese Farbe konnte sich im Handumdrehen ändern, was es ihm ermöglichte, sich seiner Umgebung anzupassen und mit ihr zu verschmelzen. Ein einzigartiges Talent, das die Asura zu ausgezeichneten Jägern hatte werden lassen.
„Alle, die jetzt hier sind, sind Freunde des Arguscade”, sagte der Mann am Herd mit einer tiefen Stimme, die dem Grollen eines weit entfernten Gewitters glich. „Wir werden diese Mahlzeit ihm zu Ehren einnehmen. So wird die Freude, die das Essen uns bereitet, in den großen Ländern, die hinter diesem Land hier liegen, auch ihm zuteil werden.”
Ivar wandte das blasse Gesicht den anderen Anwesenden zu, um zu prüfen, ob auch alle mit seinem Vorschlag einverstanden waren. Leander, der bislang nur Porträts von Vertretern dieses uralten Volkes gesehen hatte, war von der gesamten Erscheinung des Asura völlig eingenommen. Wie merkwürdig der Mann wirkte, wie faszinierend! Er war relativ klein, aber kräftig gebaut, die Haut blaß, fast durchscheinend. Nicht die Spur eines Haars befand sich an seinem Körper. Leander hatte von fremdartigen Mustern gelesen, die auf der Haut eines Asura auftauchen konnten und Auskunft über die Stimmung des jeweiligen Menschen gaben, aber in diesem Moment präsentierte sich ihm die Haut von Ivar rein und makellos. Die Augen des Mannes waren dunkel, sein Blick durchdringend, die markanten Wangenknochen breit und hoch. Am Leib trug er nichts als eine Hose, die aus getrockneter Tierhaut gefertigt war.
Alle waren damit einverstanden, die Mahlzeit Argus Cade zu Ehren einzunehmen, und schon bald erfreuten sie sich an einem Eintopf aus exotischen Früchten und Fisch, Gaben der Insel, die den Namen Geduld trug.
„Normalerweise ziehe ich rohes Fleisch vor”, sagte Edgar und fischte einen Brocken aus der Schüssel, die man in der Mitte des Tischs vor ihn gestellt hatte, ließ den Fisch weit hinten in seine Kehle gleiten und schluckte laut und vernehmlich. „Aber das hier schmeckt gut. Mein Kompliment an den Koch.”
Ivar, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte, nahm das Lob, das Timothys Vertrauter ihm gespendet hatte, mit einem kurzen Nicken des kahlen Kopfes entgegen.
Leander saß gegenüber von Timothy auf einem der beiden Stühle und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Junge seine Mahlzeit verzehrte. Sie hatten sich vor wenigen Stunden erst kennengelernt, aber der Magier empfand bereits deutlich eine tiefe Zuneigung zu dem Jungen. So viel an Timothy erinnerte an Argus: die Art, sich zu bewegen, die Art, wie er beim Sprechen den Kopf hielt. Leander wollte es scheinen, als sei ein Teil seines alten Freundes gar nicht gegangen, sondern weile immer noch bei ihm, und der Gedanke, diesen Teil hier auf dieser einsamen Insel versteckt zu wissen, gab dem Magier Anlaß zur Besorgnis.
Nachdem alle die herzhafte Mahlzeit beendet hatten, räumten sie gemeinsam den Tisch ab. Dann entschuldigte sich Ivar, der sich in seine eigene Behausung zurückziehen und dort mit den Geistern seiner Vorfahren kommunizieren wollte, wie es bei seinem Volk Sitte war. Es war ruhig und friedlich auf Geduld, aber Leander merkte dennoch, wie er selbst immer unruhiger wurde. Mehr und mehr drehten sich seine Gedanken um die Hilflosigkeit, die Unzufriedenheit, die er verspürte, sobald ihm Timothys Verbannung vor Augen stand.
Edgar hockte auf der Rückenlehne von Timothys Stuhl, und der Junge zeigte dem Magier eifrig eine Zeichnung nach der anderen, alles Entwürfe von Erfindungen, die zu bauen er bislang noch keine Zeit gefunden hatte. Gerade hatte er eine Vorrichtung erklärt, die es ihm ermöglichen würde, unter Wasser zu atmen, da ergriff Leander die Gelegenheit und stellte die Frage, die ihm auf den Nägeln brannte, seit er durch die Geheimtür in Argus Cades Haus getreten war und sich mit einem Mal an den Gestaden der Insel Geduld befunden hatte.
„Bist du hier glücklich, Timothy?” wollte er wissen.
Bei dieser Frage erstarrte der Junge. Dieser junge Mann, der da neben Leander saß, dieser Unmagier, blinzelte und warf seinem Besucher einen raschen Seitenblick zu. „Natürlich”, versicherte er. „Die Insel – das ist Schönheit und Frieden, und meine Freunde sind hier, und ich ...” Timothy hielt inne. Es war gut möglich, daß er zum ersten Mal über diese Frage nachdachte. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten und er legte die Zeichnung, die er gerade in der Hand hielt, zurück auf den Stapel zu den anderen.
„Ich glaube, über diese Frage habe ich nie wirklich nachgedacht!” sagte er dann. „Ich habe ja nie etwas anderes kennengelernt als dies hier. Ich nehme also an, ich bin glücklich – oder?”
Leander streckte die Hand aus und legte sie dem Jungen tröstend auf die Schulter. „Das kann ich nicht beantworten”, sagte er. „Das kannst nur du selbst. Aber wenn ich es wäre, der hier lebte, so würde bereits das einfache Wissen darum, daß es auch noch etwas anderes gibt – etwas, das sich außerhalb von Geduld befindet – ausreichen, mich zumindest neugierig werden zu lassen, und es würde in mir den Wunsch erwecken, auf Entdeckungsfahrt zu gehen – die Welt zu entdecken, aber auch meinen Platz darin.”
Timothy senkte traurig den Kopf. „Dann werde ich wohl nie wirklich in der Lage sein, deine Frage zu beantworten. Ich werde nie wissen, ob ich unglücklich bin. Etwas anderes außer Geduld kennenzulernen ist mir nicht gestattet.”
„Davon bist du überzeugt?” wollte Leander wissen.
Der Junge blickte auf, und in seinen Augen spiegelten sich die vielfältigen Gefühle, die ihn in diesem Moment bewegten. „Ich darf Geduld nicht verlassen”, erklärte er dann, wobei ihm die Stimme zu brechen drohte. „Das wäre zu gefährlich. Ich würde es nicht überleben.”
„Ja – aber bist du dir dessen auch wirklich sicher?” hakte Leander nach. „Es wäre nicht einfach, daran kann keinerlei Zweifel bestehen, aber ich bin voller Zuversicht, daß du es mit meiner Hilfe schon schaffen würdest.”
Noch während er sprach, regten sich bei dem Magier leise Zweifel an den eigenen Worten, wußte er doch, daß der Vorschlag, den er dem Jungen da gerade unterbreitete, ganz und gar den Wünschen seines verstorbenen Lehrers widersprach. Andererseits jedoch hatte er geschworen, sich um den Jungen zu kümmern und über ihn zu wachen, als sei Timothy sein eigener Sohn, und wenn er die Sache aus dieser Sicht betrachtete, wußte er genau, daß er das Richtige tat. Argus Cade mochte einer der mächtigsten Hexer der Welt gewesen sein und der engste Freund, den Leander vielleicht je besitzen würde, aber als er seinen Sohn auf diese Insel verbannte, da hatte der alte Mann nicht recht getan. Ganz gleich, was seine Gründe gewesen sein mochten. Er hätte Timothy nie verstecken dürfen. Leander wollte den Fehler seines alten Mentors wieder gutmachen.
„Laß mich dich fortbringen von diesem Ort – in die Welt, die um die deine herum liegt und in die du hineingeboren wurdest!” sagte er mit einem strahlenden Lächeln und strich sich über den Bart. „Ich zeige dir, daß zu einer Welt mehr gehört als nur Geduld!”
Timothy sprang auf und schob seinen Stuhl zurück, wodurch er Edgar aus dem Schläfchen aufscheuchte, das der Vertraute sich gegönnt hatte. Timothys Puls raste, ihm wurde abwechselnd kalt und heiß, was nichts mit dem Wetter zu tun hatte, sondern ausschließlich etwas mit der Angst und der Erregung, die unversehens in seinem Herzen im Widerstreit lagen.
„Das ist unmöglich!” sagte Timothy und starrte Leander ins Gesicht, als wolle er in den Augen des löwenähnlichen Magiers nach der Wahrheit suchen.
„Krah!” krächzte Edgar und flatterte aufgeregt mit den Flügeln. „Was ist? Was ist los?”
Timothy kraulte den Vogel am Hinterkopf und gab sich Mühe, ganz tief und langsam durchzuatmen, um sich wieder zu beruhigen. Dann aber fing er an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Leander sah ihm zu; die von dichten Haaren umstandenen Augen des Magiers schienen Funken zu sprühen. Abrupt blieb Timothy stehen und sah Leander an. „Kann ich Geduld denn verlassen?” wollte er wissen, und die Frage kam ihm auf seinen Lippen ganz fremd vor.
„Du mußt mir durch die Tür im Sand folgen, mehr brauchst du nicht zu tun.”
Mittlerweile flatterte Edgar derart hektisch mit den Flügeln, daß jede weitere Unterhaltung unmöglich war. Es half nichts, Leander und Timothy mußten sich erst einmal dem Vogel zuwenden. „Was ist los?” krächzte der. „Was habe ich verpaßt? Wer folgt wem?”
Timothy drehte sich um und sah den Vogel flehentlich an. „Du hast gehört, was er gesagt hat! Mein Vater hat behauptet, ich könne nicht gehen – es sei nicht sicher! Er sagte, es gäbe Menschen in der Regierung und in den Gilden, die mir vielleicht Böses antun, mir Schaden zufügen würden.”
Der Vogel plusterte sich auf. „Na ja, das hat er gesagt, aber ...”
„Lächerlich!” Mit diesem Wort und einer knappen Bewegung seiner massigen Hand fegte Leander die Worte seines alten Mentors beiseite. „Man wird deinen Zustand als Behinderung sehen, und so wird man dir auch gegenübertreten. Du hast von der Außenwelt nichts zu befürchten.”
Timothy war verschreckt. Er trat an das Fenster, sah hinaus in die einzige Welt, die er je gekannt hatte und stellte sich zum ersten Mal in seinem Leben vor, wie es wäre, würde er einen Schritt darüber hinaus wagen.
„Einen Moment mal!” warf Edgar von seinem Platz aus ein. „Vielleicht geht das alles zu schnell!”
„Unsinn!” verkündete Leander strahlend. „Der Junge war lange genug verbannt.”
Angemessen geknickt neigte der Vogel nachdenklich den Kopf. „Vielleicht könnten wir mit Tagestouren anfangen”, meinte er mit einem Seitenblick auf Timothy. „Du weißt ja gar nicht, ob es dir dort, wo wir herkommen, gefällt. Dort ist alles ziemlich anders als hier auf deiner kleinen Insel, das laß dir gesagt sein!”
Timothy drehte sich vom Fenster weg. Seinen Körper durchzuckten Schauer der Erregung – ganz anders als alle, die er je gekannt hatte. So muß es sich anfühlen, wenn man Magie in sich hat! dachte er. Dann sprach er die drei Worte aus, die sein Leben für immer verändern würden.
„Ich möchte gehen.”