Читать книгу Der Un-Magier - Rabenfreund - Christopher Golden - Страница 7
Kapitel drei
ОглавлениеEs war ein äußerst merkwürdiges Gefühl, durch diese Tür am Strand in einen schattigen Korridor zu treten. Wie oft hatte er seinen Vater zum Abschied umarmt und ihn dann durch genau diese Tür treten sehen, woraufhin die Tür jedes Mal wieder verschwunden war, als habe es sie nie gegeben? Magie. Das war Magie.
Timothys Herz fühlte sich an, als müsse es gleich zerspringen. Während der Junge sich in seiner Umgebung umsah, hielt er die Luft an, bis ihm die Brust schmerzte. Edgar war vorausgeeilt, laut krächzend und aufgeregt, gefolgt von Leander. Nun hockte die Krähe auf der Schulter des Zauberers mit der roten Mähne und sah erwartungsvoll zu, wie Timothy seine nächsten Schritte weiter hinein ins Haus seines Vaters tat.
„Meines Vaters Haus!” flüsterte der Junge und faßte so ganz unbewußt in Worte, was sein Herz bewegte.
„Jetzt dein Haus”, erinnerte Leander, in dessen Augen ein wohlwollendes Zwinkern lag, mit einem warmen Unterton in der Stimme. „Willkommen in Arkanum, Timothy Cade. Willkommen in der Stadt deiner Geburt.”
Der Junge erstarrte. Ivar glitt leise an ihm vorbei, so sehr mit den Schatten verschmolzen, daß er kaum zu sehen war, ein Chamäleon, das den vor ihnen liegenden Flur vorsichtig in Augenschein nahm und sorgsam schnuppernd die Luft prüfte. Der ältere Krieger war auf der Hut; wachsam hielt er Ausschau nach allem, was seinen Freunden zur Bedrohung werden könnte. Wenige Augenblicke später hörte Timothy Metall scheppern, und auch Sheridan betrat zum ersten Mal die neue Welt. Nun waren sie alle durch die Tür gegangen, und die Insel Geduld schien dem Jungen unversehens ganz schrecklich weit entfernt.
„Huck! Huck!” krächzte Edgar und schlug aufgeregt mit den pechschwarzen Flügeln, während er auf Leanders Schulter landete. „Alles in Ordnung, Tim?”
Der Junge zwang sich tief Luft zu holen, ehe er ganz langsam nickte. „Ich glaube schon!” sagte er.
Aber das war eine Lüge. Timothy ging es überhaupt nicht gut. Zwar mochte er auf seiner Insel manchmal einsam gewesen sein, aber Angst hatte der Junge dort kaum haben müssen. Nun breitete sich Furcht wie eine Hitzewelle in seinen Adern aus, als sei er von einem Wolkenfisch gestochen worden. Dessen Gift wirkte im Handumdrehen – aber so eine Infektion verlief nie tödlich. Eigentlich waren ihre Folgen schon bald nicht mehr zu spüren. Aber dies ... diese Angst hier ... Timothy fragte sich, ob die wohl je vorübergehen würde.
Wie oft hatte sein Vater ihm erklärt, wie es dazu gekommen war, daß er allein leben mußte? Dutzende von Malen – Hunderte! Hier war er hilflos, verkrüppelt. Hier schwebte er in Gefahr. Die Leute würden es nicht verstehen, hatte sein Vater gesagt, würden ihn nicht verstehen, und was Menschen nicht verstanden, darüber machten sie sich oft lustig, und manchmal versuchten sie es auch zu vernichten. Eine Mißgeburt, hatte sein Vater gesagt. Die Leute würden Timothy für eine Mißgeburt halten. Auch wenn sein Vater so etwas nie auch nur im geringsten angedeutet hatte, hatte Timothy doch stets gespürt, daß auch Argus auf gewisse Weise so gedacht hatte.
Der Flur, in dem sie standen, wurde von runden Laternen schwach beleuchtet, die in Abständen an der Wand angebracht schienen. Timothy brauchte einen Moment, um zu bemerken, daß diese Laternen gar nicht an der Wand hingen, sondern einfach nur in der Luft schwebten. Die Wände selbst waren aus dunklem Holz, in das man über jeder Tür und um die Türrahmen herum zierliche Muster gebrannt hatte. Die Bodendielen waren heller und schimmerten in einem Glanz, der das flackernde Licht der Laternen widerspiegelte.
Ein Zittern durchlief Timothys Körper, aber diesmal hielt der Junge es nicht für Angst. Ein ganz leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er ging zur Wand und spürte, wie die anderen ihm zusahen, während er neugierig zu den schimmernden Kugeln hinaufstarrte.
„Wie funktioniert das?” fragte er.
Leander antwortete zunächst nicht, und so drehte Timothy sich um und sah ihn an. Der große Mann stand da, strich mit der Hand über seinen Bart, um ihn zu glätten, und zuckte die Achseln. „Ich glaube, diese Frage kann ich nicht beantworten. Es ist Magie. Alles in dieser Welt ist Magie. Die Lampen können mit einem Befehl angezündet werden oder einfach nur, indem man die Hand darunter hält. Sie spüren dein Bedürfnis nach Licht.”
Timothy brummte wortlos, um zu verstehen zu geben, daß er die Antwort akzeptierte. Wieder starrte er zu den Kugeln hinauf. Kein Öl. Kein Feuer. Auch keine Halterung, um die Kugeln an der Wand zu befestigen. Sein Vater hatte ihm viel von Magie erzählt, aber viele Dinge hatte sich der Junge ohne Wissen aus erster Hand stets nur schwer vorstellen können. Magie, das wußte er, kam ohne Mechanismen aus.
Zögernd fuhr er mit der Hand unter der Kugel hin und her. Sie fuhr fort zu leuchten.
„Dann stimmt es also”, stellte Leander fest.
Auf diese Äußerung ging der Junge nicht ein. Natürlich stimmte es. Sein Vater hatte ihn aus seinem Heim entfernt und ihn all die Jahre lang versteckt gehalten – das hätte er nie getan, wenn er nicht ganz sicher gewesen wäre. Aber auch Leander schien sich seiner Sache sicher zu sein ... Bilder seines Vaters schossen Timothy durch den Kopf. Wieder sah er die freundlichen Augen vor sich, die inmitten des strengen Gesichtes stets so fehl am Platz gewirkt hatten.
Timothy ließ das Kinn sinken. Wie sehr sein Vater ihm fehlte!
Leise zischend stieg Dampf auf, als Sheridan dem Jungen eine Hand auf die Schulter legte. Timothy lächelte und nickte. Der Mann aus Metall schien immer genau zu wissen, wann er traurig war oder sich einsam fühlte!
Entschlossen holte der Junge tief Luft, warf einen letzten Blick auf die Kugel und ging weiter den Flur hinunter. Edgar hob sich kurz in die Luft; ein paar Flügelschläge nur, und er hatte es geschafft, von Leanders Schulter hinüber zu Timothy zu gelangen. Der Junge schaute auf, sah die Krähe an, lächelte, und als der sonst so redselige Vogel nichts sagte, meinte Timothy, in seinem Gesicht so etwas wie ein Antwortlächeln erkennen zu können – soweit man bei einem Vogel überhaupt von Mimik sprechen konnte.
Aber immerhin war Edgar kein gewöhnlicher Vogel.
Leander trat mit einem höflichen Lächeln aus dem Weg und Timothy fing an, seine Umgebung zu erkunden, indem er weiter in den Flur vordrang. Es gab Stellen, wo die Holzarbeiten besonders kunstvoll waren, so daß man hätte meinen können, es seien Bilder ins Holz geschnitzt worden. Natürlich hatte man sie nicht geschnitzt, sondern vermittels Magie aufgetragen. Timothy fiel es schwer, sich das vorzustellen. Er liebte es so sehr, Dinge mit den eigenen Händen herzustellen, alle Einzelheiten eines Gegenstandes sowie seiner Funktionsweise unter den Fingern zu spüren.
Als er an eine Tür kam, blieb Timothy stehen. Auf der hölzernen Oberfläche der Tür tanzte ein Wirbelwind aus Farben: Lilatöne, Grüntöne, umeinander schwirrend wie Seevögel auf dem Balzflug. Timothy zog die Brauen hoch und warf Leander einen fragenden Blick zu.
„Ach ja. Du denkst, das sei ein Symbol, nicht wahr?” meinte Leander. „Es gibt oft Symbole auf oder um Türen, die anzeigen, was sich hinter den Türen befindet. Es gibt aber auch Symbole und Farbzusammenstellungen, die darauf hinweisen, daß hier ein Zauber Unbefugten den Zutritt verwehrt. Hierbei handelt es sich lediglich um Schmuck. Das ist ...”
„Kunst?” schlug Timothy vor.
Leander nickte zufrieden. „Ja, auf gewisse Weise schon. Irgendwie ist es Kunst.”
Ein sichtbarer Riegel oder Türknauf befand sich nicht an der Tür. Vorsichtig streckte Timothy die Hand aus und legte sie aufs Holz. Es fühlte sich warm an. Wie Nebel wallten die Farben des Kunstwerks um das Handgelenk des Jungen.
„Du wirst nicht in der Lage sein ...”, hob Leander an.
Timothy drückte, und die Tür schwang auf. Auf der anderen Seite war ein Zimmer, das fast ganz in Dunkelheit gehüllt dalag. Nur das Licht vom Flur erhellte das, was sich darin befand, darunter ein Regal mit vergilbten Pergamentrollen von verschiedener Länge und Dicke.
„Krah!” rief Edgar, der mit den Flügeln schlug und mit den Klauen auf der Schulter des Jungen hin und her rutschte, um besseren Halt zu finden. „Na, das ist aber mal interessant!”
„Was ist interessant?” wollte Timothy wissen.
Er drehte sich um, weil er Leanders Antwort erwartete, und mußte feststellen, daß der große Magier ihn wieder einmal anstarrte. Betreten verlagerte Timothy das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sheridans Gelenke knirschten leise, als der Mann aus Metall sich vorbeugte, um in den verdunkelten Raum zu spähen. Ivar, der hinter ihm stand, war nur teilweise sichtbar. Die Augen des Kriegers huschten hin und her und suchten nach einer möglichen Bedrohung, seine rechte Hand lag auf dem Knauf eines Messers, das er in einem Schwertgurt an der Hüfte hängen hatte.
Keiner der Freunde von der Insel schien so verblüfft zu sein wie Leander. In fassungslosem Staunen schüttelte der Magier den Kopf, ehe sich ihm ein leises, nicht recht lustig wirkendes Lachen entrang.
„Wie es scheint, müssen wir neu definieren, was es heißt, daß du über keinerlei Magie verfügst”, sagte er nachdenklich. Dann nahm er Timothys verwirrten Gesichtsausdruck zur Kenntnis und wies mit dem Kinn auf die Tür. „Mach sie zu”, befahl er.
Timothy tat, wie ihm geheißen. Er zog die Tür zu sich heran und ließ sie mit einem leisen Klicken wieder ins Schloß gleiten. Leander winkte Ivar heran.
„Komm. Nun bist du dran. Bitte, öffne die Tür.”
Der Krieger tauchte aus der Finsternis auf, wobei sein Körper beim Näherkommen mehr und mehr an klaren Konturen gewann, als sei es schwieriger in nächster Nähe ungesehen zu bleiben. Die schwarzen Stammessymbole auf seinen Armen und im Gesicht veränderten sich vor Timothys Augen, manche verblaßten ganz, andere dehnten sich aus, bis es aussah, als trüge er Kratzspuren von großen Klauen im Gesicht. Wieder andere wirbelten umher und wurden zu fremdartigen Symbolen.
Ivar sah Timothy wortlos an, dann streckte er vorsichtig die Hand nach der Tür aus. Er legte die Handfläche flach gegen das Holz, spreizte die Finger und drückte.
Es geschah nichts.
Erneut sah Ivar Timothy an, und die Stammessymbole auf seiner Haut verblaßten. Diese Muster kamen und gingen. Der Junge hatte den Freund mehrfach diesbezüglich befragt, aber der Krieger war der Letzte seiner Art und betrachtete diese Muster als seine ureigenste, persönliche Sache. Ihren Zweck und ihre Bedeutung mochte er mit anderen nicht erörtern.
„Ich verstehe das nicht!” meinte Timothy mit einem raschen Seitenblick auf Leander.
Der Magier beugte sich vor und wedelte mit der Hand vor der Tür herum, die sich sofort öffnete.
„Türen sind so verzaubert, daß sie nur diejenigen einlassen, die ihr Herr oder ihre Herrin willkommen heißen würden. Die Tür erkennt Ivar nicht. Also hat sie sich nicht geöffnet. Wenn sie dich erkannt hätte, dann hätte sie sich von allein geöffnet, sobald du die Hand danach ausstrecktest.”
Timothy runzelte die Stirn. „Aber sie hat sich für mich geöffnet.” Er schüttelte den Kopf und wies auf die Türkante. „Das ist albern, sieh sie dir doch an. Es gibt ja noch nicht einmal ein Schloß oder einen Riegel, der die Tür zuhält. Jeder sollte sie aufstoßen können.”
Erneut strich sich Leander nachdenklich über den Bart. „Nicht jeder, junger Meister Timothy. Ivar nicht. Auch ich nicht, wenn die Tür mich nicht kennen würde. Du hast keine eigene Magie, soviel wissen wir. Aber scheinbar ist noch mehr an der Sache. Wenn diese Tür sich für dich öffnet, kann das nur bedeuten, daß der Zauber, der mit dem Holz verbunden ist, deine Gegenwart nicht spüren kann. Ich ... nun, um ganz ehrlich zu sein – ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt.”
In diesem Moment keimte in Timothy ein kleiner Funke auf. Sein ganzes Leben lang hatte er, wann immer er an sich im Zusammenhang mit der Welt seines Vaters gedacht hatte, gewußt, was er war. Eine Mißgeburt. Ein Greuel. Nutzlos. Aber nun, vor dieser Tür, flackerte leise ein neuer Gedanke in ihm auf, und er fing langsam an, sich mit der Idee anzufreunden, daß es vielleicht gar keine allzu schlechte Sache war, eine Mißgeburt zu sein.
Aber bereits einen Augenblick später war der Funke auch schon wieder erloschen, erstickt unter Jahren dunkelster Erwartungen.
Dennoch – als Timothy nun von einem Freund zum anderen sah und von deren Gesichtern hin zur magischen Tür und den schwebenden Laternen, da erfüllte ihn plötzlich ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. Der Junge war darauf vorbereitet gewesen, sich sofort wieder auf die Insel zurückziehen zu müssen. Er hatte die Furcht wohl gespürt, die in ihm brodelte. Aber diese Furcht war nun plötzlich wie weggeblasen, und vor sich sah Timothy nur noch Möglichkeiten.
Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Insel mochte sein Zuhause sein, aber die Wände dieses großen Hauses hier hielten seine gesamte Geschichte verborgen, das Vermächtnis seines Vaters. Timothy hatte keineswegs vor, ständig hierzubleiben, aber das Haus erkunden wollte er auf jeden Fall. Prüfend betrachtete er die Wände, die Türen; er dachte daran, wie einfach es sein würde, ein paar Öllampen anzubringen und damit das Haus zu erleuchten.
Ivar glitt in die Schatten. Sheridan sah Timothy erwartungsvoll zu, ein kleiner Dampfstrahl kringelte sich aus der Öffnung an seinem Kopf und seine Augen glänzten hell.
Die Krähe krächzte; Timothy blickte nach links und befand sich Auge in Auge mit dem großen Vogel.
„Du bist mir zu ruhig, Junge. Rede mit mir. Wasmeinstu?” fragte Edgar.
Timothys Blick glitt zu Leander, dann zu Ivar und blieb schließlich auf Sheridan ruhen. „Ich will es sehen”, sagte er und spürte, wie ein Schauder der Erregung ihn durchlief. „Ich will alles sehen!”
Erneut machte er sich auf den Weg den Flur hinunter, diesmal aber wesentlich schneller. Timothy entging keine Tür, keine Verzierung an den Türen. Am hinteren Ende des Flurs befand sich ein Fenster – aber dorthin kam er nie. Der Flur machte eine Biegung, Timothy folgte ihr, und bald rannte er fast. Edgar krächzte, schwang sich in die Luft, schoß über den Kopf des Jungen, schlug einen Bogen und kam zurück, um über Timothys Kopf zu kreisen.
Timothy wollte in jedes einzelne Zimmer schauen. Er wollte in seinem Kopf alles auflisten, was er in diesem Haus über seinen Vater lernen konnte, über Magie, über die Welt, in der er nun war. Dieses Haus so umzugestalten, daß auch ein Junge mit nicht einem einzigen Funken Zauberkraft im Leibe darin würde wohnen können – das wäre ein gewaltiges, kaum vorstellbares Unterfangen.
Dennoch faszinierte ihn die Idee eines solchen Umbaus in gewisser Weise, denn es wäre das größte Projekt, das Timothy sich je vorgenommen hatte.
Timothy kam an eine weitere Biegung in dem ganzen Gewirr aus Fluren und kleinen Korridoren und befand sich nun am oberen Ende einer Wendeltreppe, die sich hinab ins Herz des Hauses wand. Ivar war gleich neben ihm und hielt scheinbar mühe- und lautlos mit ihm Schritt. Sheridan schepperte auf den Fußbodendielen einher und versuchte, die beiden nicht aus dem Auge zu verlieren, wobei seinem metallenen Schädel zischende Dampfwolken entstiegen. Leander kam hinter den dreien her, einen fragenden, staunenden Ausdruck im Gesicht.
Auch wenn es im Haus noch so viel zu entdecken gab, hatte Timothy erst einmal andere Prioritäten. Das, was er jetzt als erstes sehen wollte, lag unten. Also machte er sich daran, die Treppe hinabzueilen. Interessiert schaute er zu dem großen Kronleuchter hinauf, dessen magische Energie weiß glühte, und hinein in die Flure, an denen er vorbeikam. Als er das Foyer erreichte, blickte er nach oben und sah die anderen ebenfalls die Treppe herabsteigen. Leander schien sich erheblich langsamer zu bewegen als zuvor.
Der massige Magier beugte sich über das Treppengeländer und blickte besorgt zu seinem Schützling hinunter.
„Timothy? Wie hast du denn so schnell all die Treppenstufen geschafft?”
Die Frage verwunderte den Jungen. Stirnrunzelnd sah er zu, wie Leander langsam die Treppe herunterkam – der Magier hatte noch nicht einmal die Hälfte der Stufen bewältigt. Selbst Sheridan war dem Fußende der Treppe näher als er; Dampfwolken waberten um seinen quadratischen Kopf und es zischte heftig.
„So viele Treppenstufen sind das doch gar nicht! Warum gehst du so langsam?” rief Timothy. „Geht es dir gut?”
Leander blieb auf der Stufe stehen, die er gerade erreicht hatte und kniff die Augen zusammen, um den Jungen erkennen zu können. Fast sah es aus, als habe er Mühe, seinen Blick gerade auszurichten. Der große Mann schwankte leicht. Dann verrenkte der Magier den Hals, sah sich vorsichtig nach allen Seiten um und schaute zum Schluß nach oben, hin zu dem riesigen zentralen Kristallkronleuchter. Erst dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Timothy zu. „Ich wußte, daß diese Treppe verzaubert ist!” sagte er. „Aber bislang hatte ich nie verstanden, warum.” Ganz langsam schüttelte er den Kopf, und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. „Auf diesen Stufen liegt ein Bann. Argus muß befürchtet haben, seine Besucher könnten die Treppe nicht prächtig genug finden. Also hat er ... hat er die Wahrnehmung seiner Gäste verändert!”
Timothy hatte keine Ahnung, wovon der Magier sprechen mochte, aber ohnehin entglitt ihm die Unterhaltung im Moment. Sein Herz schlug schneller, und seine Brust war ganz eng vor Aufregung und ja, auch von einem kleinen bißchen Angst. Die Angst hatte der Junge noch nicht gänzlich verbannen können. Er hielt den Atem an, seine Nackenhaare richteten sich langsam auf, und ein warmer Schauder lief ihm über die Haut. Mit einem Ruck drehte Timothy sich um und stand der massiven Eingangstür gegenüber.
Über ihm krächzte Edgar laut auf, landete geräuschvoll flatternd auf dem unteren Treppenabsatz und ließ sich zum Ausruhen auf einer großen Statue nieder – dem Abbild eines Tieres, das Timothy in all den Pergamentrollen, die sein Vater ihm im Laufe der Jahre gebracht hatte, nie zu sehen bekommen hatte.
„Vorsicht, Junge!” warnte die Krähe.
Timothy ging auf die Tür zu, streckte die Hand danach aus ... und trat hastig einen Schritt zurück, als die drahtige Gestalt Ivars aus der Unsichtbarkeit neben ihm auftauchte. Der Krieger ging leicht in die Hocke, so daß sich sein Gesicht auf derselben Höhe befand wie das des Jungen.
„Bist du sicher, daß das klug ist?” fragte er.
Timothy holte tief Luft und schüttelte den Kopf. „Nein. Gar nicht. Aber ich werde nicht zulassen, daß dies mich aufhält.”
Einen langen Moment sah Ivar Timothy prüfend an und seine goldenen Augen glänzten in ihrem ganz eigenen, von innen kommenden Licht. Dann nickte er langsam, trat beiseite, deutete auf die Tür, und Timothy streckte erneut die Hand danach aus. Entschlossen legte er die Handfläche auf das dunkle, tief geäderte Holz und drückte zu.
Die Tür schwang auf.
Timothy spürte, wie ihm der Mund offen stehenblieb und der Unterkiefer herunterfiel – offenbar schien sein Körper zu machen, was er wollte. Pfeifend drang ein Atemstoß aus seinem Mund, ein unendlich leiser, feiner Laut.
Er sah alles: Die breiten Steintreppen vor dem Haus endeten im Nichts. Am Fußende der Treppe schwebte irgendein Fortbewegungsmittel in der Luft. Sobald er, Timothy, den Fuß von der untersten Treppenstufe nahm, würde er in einem nächtlichen Schlund versinken, würde hinuntergeworfen werden, immer weiter hinunter, hunderte Fuß tief, um irgendwann einmal gegen die Bergkuppe zu prallen, über der das Haus seines Vaters schwebte. Timothy reckte den Hals, drehte den Kopf und entdeckte die Stelle, wo eine Ecke des Hauses in dem Felsen verankert war. Er fragte sich, ob dies geschehen war, um zu verhindern, daß das Haus abstürzte oder aber um zu verhindern, daß es davonschwebte. In jedem Zentimeter Architektur hier steckte Magie.
Der Nachthimmel war mit Schwaden milchiger Lumineszenz bedeckt, und jenseits dieses Schleiers lag ein Himmel voller Sterne und geisterhafter Himmelskörper, die Monde sein mochten oder nicht allzuweit entfernte Planeten. Timothy riß sich vom Anblick des Himmels los und sah nach unten, über die Vortreppe hinaus zu einem blassen glitzernden Regenbogen aus Lichtern, der über die weitgedehnte Landschaft der unter ihm liegenden Stadt huschte.
Arkanum.
Mein Zuhause? fragte er sich.
Es war atemberaubend. Alles. Aber er war noch nicht bereit, hinab in den Schlund zu treten. Timothy Cade streckte den Arm aus und schloß die Tür, dann drehte er sich um, um zurück ins Haus seines Vaters zu schauen. Noch stand er in dessen Foyer, umgeben von seinen Freunden. Ivar hockte, alle Sinne gespannt, neben der Tür, wie immer auf der Hut. Leander war gerade erst am Fuß der geschwungenen Treppe angelangt und blickte den Jungen erwartungsvoll an.
Timothy lächelte. „Ich glaube, ich fange lieber klein an!” sagte er.
Eine Woche später – es war ein wunderschöner Morgen, an dem Zugvögel den Himmel über Arkanum mit ihrem Gesang erfüllten – kehrte Leander zum Anwesen der Cades zurück, und zwar unter ganz anderen Voraussetzungen als beim ersten nächtlichen Besuch gleich nach Argus’ Tod. Noch immer trauerte die Welt um Argus Cade, noch immer wurde auf jeder Parlamentssitzung seiner gedacht, und auch noch die unansehnlichste Zaubergilde hatte geschworen, seinen Namen ehren zu wollen. Von all diesen Menschen, die um Argus trauerten, wußte keiner um die außergewöhnlichen Ereignisse, die sich in der Nacht zugetragen hatten, als Leander Maddox aufgebrochen war, um sich mit den Auswirkungen von Argus Cades Tod zu befassen, dessen Nachlaß zu ordnen, seine Forschungsarbeiten zu sichten und seinen letzten Wunsch zu erfüllen.
Noch wußte die Welt nichts von Timothy Cade.
Seit jener Nacht hatte Leander auch alle folgenden im Haus auf der Spitze des Erhabenen Hügels verbracht, zudem noch jede Stunde des Tages, soweit es seine Pflichten an der Universität von Saint Germain zuließen. In dieser langen Woche war Timothy mehrmals zurück zur Insel Geduld gereist, um Nachschub aus seiner Werkstatt zu holen. Ivar und der mechanische Mann, der Leander immer noch mit jeder einzelnen Bewegung, mit jedem Wort in Erstaunen versetzte, hatten ihn jedes Mal begleitet. Timothy sah alles als Herausforderung, als Rätsel, das es zu lösen galt. Er hatte sich darangemacht, das Haus seines Vaters möglichst rasch seiner magischen Behinderung anzupassen.
Ein außergewöhnlicher Junge! dachte Leander wohlwollend.
Der Navigationsmagus auf seinem hohen Sitz hielt die Hände ausgestreckt, die Finger gespreizt; die Zügel aus kobaltblauer Energie hoben und lenkten die Kutsche. Kaiphas schwieg; wie immer verdeckte ein dichter Schleier sein Gesicht. Leander wußte jedoch genau, daß der Mann erschöpft sein mußte, hatte er doch in dieser Woche praktisch ständig den steilen Aufstieg und ebenso schwierigen Abstieg zum und vom Erhabenen Hügel bewältigen müssen. Leander nahm sich fest vor, Kaiphas bei der nächsten Lohnrunde dafür zu entschädigen.
Der Magier lehnte sich vor, um aus dem Kutschfenster zu spähen. Unverwandt hielt er den Blick auf die Bergspitze und auf den Turm gerichtet, den er von hier aus kaum sehen konnte – einen Turm, der von den ohnehin schwindelerregenden Höhen noch höher hinaufschoß. Kalter Schmerz legte sich wie ein Ring um das Herz des Mannes, und einen Moment lang mußte er die Augen schließen. Die vergangenen Tage waren so voller Wunder und Fragen gewesen, so angefüllt mit Aufregung und Neuem, daß er den Kummer um den Tod seines Freundes und Mentors zeitweise hatte verdrängen können. Wenn er dann aber in den Zügen von Timothy irgend etwas von seinem alten Freund wiederzuerkennen meinte, sobald er in einer ruhigen Minute an den alten Magier denken mußte, kehrte die Trauer mit unverminderter Wucht zurück.
„Sein Tod ist ein Verlust für uns alle”, krächzte neben Leander eine Stimme, die so tief und kalt klang wie das Meer.
Bei diesen Worten schlich sich so etwas wie Friede in Leanders Gemüt, und er wandte sich seinem Mitreisenden zu. Fürst Nikodemus war alt, noch viel älter, als Argus gewesen war, aber er war von einer Lebendigkeit, die sein Alter Lügen strafte. Sein feines Haar und der lange Schnurrbart, der ihm weit bis über das Kinn reichte, waren schlohweiß, seine Augen so blaß und blauschimmernd, daß sie an Gletschereis erinnerten. Auf dem Sitz neben dem alten Magier thronte eine graue, unbehaarte Katze – Alastor, Nikodemus’ Vertrauter. Nicht alle Magier besaßen Vertraute, und beim Anblick dieser häßlichen, schnurrenden Kreatur auf dem Kutschbock wußte Leander auch wieder, warum er sich entschieden hatte, lieber keinen zu haben.
„Natürlich, mein Fürst”, sagte Leander. Er hätte gern noch mehr gesagt, wollte erklären, daß ihm anders als Nikodemus, der sich mit seinem Satz auf Argus’ Talente als Magier bezogen hatte, der Mensch fehlte, nicht der Zauberer. Daß Argus sein Freund gewesen war. Aber Leander wußte genau, daß Nikodemus ihn auf seine Art zu trösten versucht hatte, und so ließ er es dabei bewenden.
Einige Augenblicke lang saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander, während der Navigationsmagus die Kutsche den Erhabenen Hügel hinauflenkte. Leander wußte, daß es eine Ehre war, Nikodemus bei sich zu haben. Der Mann war Großmeister des Alhazred-Ordens, der Zaubergilde, der auch Argus angehört hatte und zu deren Mitgliedern Leander selbst immer noch zählte. Nikodemus gehörte zu den mächtigsten Männern im Parlament der Magier und genoß allenthalben große Hochachtung, sowohl als Diplomat als auch als Zauberer.
Die Welt war auf zweierlei Art geteilt: in Nationen und in Gilden. Arkanum war die Hauptstadt der Nation Sunderlund. Im Laufe der Jahrhunderte jedoch hatten sich die Gilden überall auf der Welt ausgebreitet, woraufhin das Konzept der Nationen immer mehr an Bedeutung verloren hatte. In jedem Land wohnten Mitglieder einer Vielzahl von Gilden, und so kam es, daß eigentlich das Parlament der Magier das Sagen hatte und nicht irgendeine unabhängige nationale Regierung.
So hatte also Leander in seiner Kutsche an diesem wunderschönen, sonnigen Morgen einen der mächtigsten Männer der Welt sitzen.
Fürst Nikodemus rutschte auf dem Samtpolster der Kutsche hin und her – entweder saß er nicht bequem, oder er fing langsam an, ungeduldig zu werden. Leander warf ihm einen Seitenblick zu, und seine Besorgnis wuchs. Der Großmeister hatte sich bereit erklärt, Leander in dessen eigenem Fahrzeug zum Haus der Cades zu begleiten, um Aufsehen zu vermeiden. Als Leander ihm von dem Jungen erzählt hatte, hatte Nikodemus befunden, die Entscheidung, Timothy von der Insel zu holen und in diese Welt zu verpflanzen, sei richtig und angemessen gewesen, aber er hatte Leander auch gewarnt und gesagt, falls wirklich alles zuträfe, was Leander ihm mitgeteilt habe, könnte Argus Cade unter Umständen recht daran getan haben, sich derart um seinen Sohn zu sorgen.
Falls, dachte Leander nun. Nikodemus wollte den Jungen selbst kennenlernen. Warum auch nicht? Immerhin war Timothy trotz seiner Behinderung aufgrund seiner Herkunft von Geburt an Mitglied des Alhazred-Ordens. Da war es nur normal, daß Nikodemus den einzigen Nachkommen des Argus Cade mit eigenen Augen sehen, sich selbst ein Bild von dessen bedauerlichem Zustand machen wollte.
Der Navigator lenkte die Kutsche bis an die Stufen, die zum Eingang des Hauses Cade führten und hielt sie dort in der Luft schwebend an. Es schien Leander, als arbeite der Kutscher noch ruhiger als sonst, als halte er sein Fahrzeug noch stabiler. Er fragte sich, ob Kaiphas sich wohl seines hochverehrten Passagiers wegen besondere Mühe gab.
Leander stieg aus der Kutsche und hielt Nikodemus die Tür auf; der wiederum hob die Katze vom Sitz und trug sie auf dem Arm, während er dem Fahrzeug mit einer Behendigkeit entstieg, die man ihm angesichts seines Alters eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Wie vielen Zauberern der Alten Zeit schien das Alter Nikodemus nichts anhaben zu können. Leander durfte nicht hoffen, je auch nur einen Bruchteil der Macht dieses Mannes in Händen halten zu können – der junge Magier war jedoch mit seinen Aufgaben in Lehre und Forschung mehr als zufrieden. Dennoch – es war ein großer Trost, einen so mächtigen Großmeister wie Nikodemus einer war, an der Spitze der eigenen Gilde zu wissen.
„Du kannst abspannen, Kaiphas”, sagte Leander zu dem Navigationsmagus.
Dieser nickte, blickte aber trotz des Schleiers, der sein Gesicht verbarg, weder seinen Arbeitgeber noch dessen Mitreisenden oder das Anwesen der Cades lange an. Fast schien es, als finde er, was Leander dort vorhabe – was immer es auch sein mochte – sei nicht für seine Augen bestimmt.
Die beiden Alhazred-Magier stiegen gemeinsam die breite Steintreppe empor. Leander fuhr mit der Hand durch die Luft vor der Tür, und sie schwang auf. Sobald sie das Haus betreten hatten, blieb Nikodemus stehen und sah sich kichernd und mit funkelndem Blick im Foyer um. Er ließ Alastor fallen, woraufhin die Katze durch das gesamte Foyer rannte und sich anschickte, das Haus in Augenschein zu nehmen. Nachdenklich strich sich Nikodemus über den langen Bart.
Leander winkte, und die Tür schloß sich hinter den beiden Magiern. Nun waren Sonne und Wind ausgesperrt. Auf den ersten Blick sah das Foyer nicht viel anders aus als zu Argus Lebzeiten, aber Leander wußte, daß der Großmeister nicht lange brauchen würde, um die feinen Unterschiede zu erkennen.
„Was ist ...”, hob Nikodemus da auch schon an, und ein Stirnrunzeln vertiefte noch die Falten in seinem weisen, alten Gesicht. „Diese Lichter! Was ist das?”
Er trat auf einen großen Holztisch zu, auf dem ein Instrument aus geriffeltem Glas stand. In diesem Glasbehälter brannte ein Feuer – aber nicht das Feuer, das die beiden Männer kannten, kein Geisterfeuer.
„So etwas nennt man eine Öllampe, mein Fürst”, erklärte Leander.
Nikodemus sah sich um, und sofort fiel sein Blick auf weitere Öllampen in der Eingangshalle, von denen zwei an der Wand befestigt waren. Eine weitere stand auf einem Tisch unter einem Spiegel, und eine andere hatte man auf den Kopf eines der beiden Greife montiert, die die Endfiguren am Fuße der Wendeltreppe darstellten.
„Aber das sind doch ... die Flammen in diesen Lampen sind hungriges Feuer, zerstörerisches Feuer!” meinte der Großmeister erstaunt.
„So ist es.” Leander nickte stolz, als sei Timothy sein eigener Sohn. „Der Junge ist clever. Er hat das hungrige Feuer gezähmt, weshalb es nun für ihn so arbeitet wie Geisterfeuer für uns Zauberer. Aber wartet, bis Ihr die Küche seht – die meisten Veränderungen hat er dort vorgenommen. Weil er einen magischen Ofen nicht benutzen kann, hat er seine eigene Kochvorrichtung gebaut, einschließlich eines mechanischen Ofens. Das Badezimmer ist auch ein Schmuckstück. Ich habe ihm einen Wasserfluß geöffnet, und der Junge hat aus Metallrohren und anderem Zubehör selbst eine Dusche gebaut.”
Nikodemus blinzelte mehrere Male, offenbar sehr bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. „Das alles hat er innerhalb einer einzigen Woche bewerkstelligt?”
„In weniger als einer Woche! Innerhalb einiger Tage. Die meisten Materialien hat er sich aus seiner eigenen Werkstatt geholt. Ein paar Dinge waren auch bereits konstruiert.”
Leander hatte noch viel mehr sagen wollen, erhielt dazu aber keine Gelegenheit mehr. Aus einem Flur links der Treppe hallte das Klappern von Metall durch das Foyer, und wenig später tauchte Sheridan auf. Mit einem Summen drehte sich der Kopf des mechanischen Mannes den beiden Besuchern zu, die roten Augen schimmerten heller, und er eilte zu den Magiern hinüber.
„Ach, die Herren!” begrüßte er sie mit knisternder Stimme und schaffte es dann, eine formvollendete, höfische Verbeugung hinzulegen. „Ich dachte doch, ich hätte Euch kommen hören, Meister Maddox. Der andere Herr ist gewiß Fürst Nikodemus? Es ist mir eine Ehre, Sir!”
Leander lächelte dünn und hoffte, sein Bart würde einen Großteil seines Gesichtsausdrucks verbergen. Er hatte einige Zeit darauf verwendet, Sheridan Manieren beizubringen. Der mechanische Mann war ein aufmerksamer Schüler; er lernte schnell.
Nikodemus stand eine ganze Weile einfach nur da und starrte Sheridan aus eisblauen Augen an, wobei er unablässig über die Enden seines weißen Schnurrbarts strich. Der Großmeister in dem langen, jadegrünen Mantel war eine imposante Erscheinung, und Leander bewunderte nicht zum ersten Mal die Fähigkeit des Mannes, auch unter außergewöhnlichen Umständen stets die Ruhe zu bewahren.
Dann löste Nikodemus langsam und nachdenklich den Blick von Sheridan und richtete ihn nach oben. Er starrte die Wendeltreppe empor, als sei er in der Lage, durch alle Wände und Decken hindurch ganz tief ins Herz des Hauses zu schauen, genau dorthin zu schauen, wo Timothy immer noch arbeitete. „Ich will den Jungen sehen”, sagte der uralte Magier.
Leander nickte. „Natürlich. Sofort.” Er wandte sich an den mechanischen Mann. „Sheridan, suche deinen Herrn und ...”
Da aber zerriß ein gellender Schrei die Luft. Ein Schlachtruf, der von den Wänden widerhallte, der von der Treppe her bis ins Foyer hallte. Auf den Schlachtruf folgte das Krachen splitternden Holzes, und irgendwo in der Ferne ging lautstark Glas zu Bruch. Leander blickte gerade noch rechtzeitig auf, um mit ansehen zu müssen, wie der Asurakrieger Ivar gegen das hölzerne Treppengeländer geschleudert wurde, das daraufhin zerbarst. Sich überschlagend stürzte der Wilde herab, und mit ihm die Schatten, die um seinen Körper herumhuschten, ihn einmal verbargen, dann wieder sichtbar werden ließen. Die Muster seiner Stammessymbole flossen über Ivars Haut. Mit atemberaubender Geschwindigkeit stürzte Ivar durch das Treppenhaus und schaffte es dennoch, mitten im Flug eine Drehung zu machen, einen Satz zu tun und mit der rechten Hand eine Ecke der Treppe zu erwischen, nur einen Absatz unterhalb der Ebene, von der er gestürzt war.
Der Asura schickte sich umgehend an, die Treppe wieder hinaufzuklettern.
„Bei den Augen des Alhazred – was ist das?” rief Nikodemus heiser. „Was ist dieses ... Wesen? Es kann nicht das sein, was ich denke, oder? Die Wilden sind alle tot!”
„Alle nicht”, murmelte Leander, der dem Großmeister allerdings nicht mehr allzuviel Beachtung schenkte. Gerade wollte er selbst auf die Treppe zugehen, da hörte er über sich Edgar krächzen. Aufgeregt schoß die Krähe über die Köpfe der beiden Männer hinweg und kreiste um den großen kristallenen Kronleuchter.
„Beeilt euch, Magus!” schrie er. „Eindringlinge! Krah! Krah! Meuchelmörder! ”
Beim letzten Wort gefror Leander das Blut in den Adern. Er stand schon auf der untersten Treppenstufe und blickte nun noch einmal nach oben. Im selben Augenblick, in dem Leander Timothy entdeckte, hörte er auch, wie der Junge seinen Namen rief. Tim rannte die Treppe herab auf Leander zu. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, er rutschte ein Stück weit auf dem Geländer, er tat alles, um möglichst schnell nach unten zu kommen.
Hinter ihm kamen die Eindringlinge. Meuchelmörder hatte Edgar sie genannt. Drei zuerst, aber dann erkannte Leander noch einen vierten, einen fünften und schließlich einen sechsten. Es waren Cuzcotec; die Eindringlinge gehörten alle einer Gilde an, die sich ausschließlich aus kleinwüchsigen Hexern zusammensetzte. Die Männer und Frauen, die zu dieser Gilde gehörten, waren klein und schmächtig wie Kinder. Sie traten aber mit einer barbarischen Grausamkeit auf, die alles, was die Mythen je über die Asura verbreitet hatten, bei weitem übertraf.
Dicht am Boden rannten die Cuzcotec wie Tiere; sie jagten die Treppe hinunter, und einer von ihnen tauchte sogar im Sprung hinab, um das unter ihm liegende Treppengeländer zu erreichen. Ein anderer tat einen Satz in die Luft und hängte sich an den Kronleuchter, dessen Kristalle leise Musik machten, während der Eindringling hin und her schwang.
Leise lachend fielen sie über den Jungen her, und Timothy Cade, der Unmagier, war völlig hilflos.