Читать книгу DIE EWIGEN. Die Zeichen der Schuld - Chriz Wagner - Страница 6
ОглавлениеMein Name ist Simon.
Ich lebe ewig.
Solange ich zurückdenken kann, bin ich auf der Erde.
Ich habe außergewöhnliche Dinge gelernt auf der Suche nach einer
Antwort auf die Frage:
Wer bin ich?
Ich kann nicht sterben. Ich darf nicht lieben.
Ich bin Simon.
Die Zeichen der Schuld
I
Dilmun, Mesopotamien, irgendwann um 4000 vor Christus
Mein Leben ist seit jeher eine Suche: Die Suche nach dem letzten Ziel, nach der Ursache für mein Schicksal, nach gleichartigen Menschen und nach Individuen aus einer fernen Vergangenheit – meiner Familie. Schon oft habe ich überlegt, ob der Grund für meine Unsterblichkeit in meiner ältesten Erinnerung verborgen liegt. Ob er darauf wartet, ausgegraben zu werden. Es ist schwer für mich, die uralten Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Vor allem, weil viele davon nur sehr verschwommen durch mein Gedächtnis geistern.
Eine Stütze ist meine Kindheit. Ich war ein junger Bursche und unter den Achseln so nackt wie am Hintern. Die meisten anderen Kinder und vor allem Mädchen waren mir ziemlich gleichgültig. Ich kümmerte mich nur um mich selbst. Ich vermute, so ist das bei den meisten Jungen.
Doch es gab eine Ausnahme. Ich bekomme heute noch Herzklopfen, wenn ich an dieses Mädchen denke. Wie sie vor meinem geistigen Auge gewaltige Früchte von den Sträuchern pflückt. Sie legt sie sorgsam in einen Fellbeutel, der an ihrer Hüfte baumelt. Waren meine Hände so klein oder waren Birnen, Trauben und Zitronen damals tatsächlich so riesig, wie es meine Erinnerung behauptet?
Nachts lag ich in meiner Hängematte und suchte zwischen dicht belaubten Baumkronen nach den Sternen. Ich stellte mir vor, wie ich diesem Mädchen – ihr Name war Thyri – einen Apfel anbot. Ich musste die Frucht mit beiden Händen umfassen. In Wirklichkeit hätte ich mich nie getraut, Thyri anzusprechen. Schließlich war sie die Tochter des Stammesführers Carr, des Sohns des Himmels, des Schlangenträgers.
Sie war ein bisschen größer als ich. Wenn ich beobachtete, wie ihre feingliedrigen Finger sanft das Laub zur Seite strichen, sah ich eine Frau – eine blutjunge aber richtige Frau. Doch ich schaute mit den Augen eines Kindes.
Bei Jogo war das anders. Er war erwachsener als Thyri. Wenn er sie erblickte, hatten seine Gesichtszüge etwas Lüsternes. Er betrachtete sie nicht nur, nein, er stellte sich dabei etwas vor.
„Irgendwann wird sie mein Weib“, sagte er.
Jogo saß neben mir hinter kräftigen Zweigen mit dickfleischigen Blättern. Und obwohl mich bei dem Gedanken an das Paar ein bösartiges Gefühl zerfraß, glaubte ich seinen Worten …
*
Unsere Welt war von Grün überwuchert. Wir siedelten in einer Oase aus Bäumen, Sträuchern und Lichtungen mit unzähligen Quellen, an deren Ursprung die Sippen sesshaft waren. Wir lebten im Überfluss. Es war das ganze Jahr über warm genug, um halb nackt durch die unberührte Landschaft streifen zu können. An kühlen Tagen trug ich eine Weste aus Rindsleder. Und ich trug einen Lederrock um die Lenden gebunden.
Ich kann es geschichtlich nicht belegen und möglicherweise ist es auch ganz und gar unwahr. Aber wenn ich heute gefragt werde, wo das verborgene Paradies lag, antworte ich: die Insel Bahrain im Persischen Golf im damaligen Mesopotamien. Wir nannten unser Land Dilmun, was für uns die gleiche Bedeutung wie das heutige Wort Heimat hatte. Heute ist Bahrains Erdreich trocken und karg. Eine Welt, die Gott aus den Augen verloren hat. Vor über 6000 Jahren jedoch hatte er den Boden frisch bestellt und mit Flüssen bewässert.
*
Thyri trat auf die Lichtung der Liebenden. Jogo und ich wechselten den Busch, sodass wir eine bessere Sicht hatten. Sonnenlicht umspielte ihre Haut. Es gab Blaubeeren, so prall mit Fruchtfleisch gefüllt, dass sie bei der leichtesten Berührung platzten. Sie las sie mit den Fingerspitzen auf. Jogo und ich hingen unseren Gedanken nach. Die Blätter rauschten wie das Meer an einem luftigen Tag und das Mädchen summte ein Kinderlied. Sie beugte sich vor. Das tiefschwarze Kopfhaar umschmeichelte ihren Nacken. Ich stellte mir das süße Aroma der Früchte vor – wie das Fruchtmark an meinem Gaumen zerging. Und um ein Haar konnte ich die Früchte schmecken. Wie einen fruchtigen Kuss.
*
Wir hatten es nicht kommen sehen. Dafür war es zu schnell. Es platzte aus dem Himmel. Das Ding sauste hernieder und schlug mit voller Wucht gegen ihre Schädeldecke. Wie ein gefüllter Sandsack brach sie zusammen, stürzte in die Beerensträucher und blieb reglos liegen. Ich weiß noch, wie das eigenartige Geschoss mit einem dumpfen Geräusch in die Pflanzen neben ihrem leblosen Körper fiel. Thyri war tot, da war ich mir sicher.
Ich brach aus der Deckung. Da lag sie, den Leib verdreht, einen Arm unter dem Rumpf, den anderen über dem Kopf. Mein Herz stolperte. Eine Wunde klaffte auf ihrem Kopf. Blut schimmerte in ihrem Haar. Ich kniete mich auf den Erdboden und rückte ihren Körper zurecht. Dann hob ich ihren Kopf leicht an.
„Thyri. Thyri. Sag etwas. Bitte. Thyri!“
Ich klatschte sanft auf ihre Wange.
„Thyri. Was ist los?“
Jogo krabbelte auf allen Vieren um uns herum und kümmerte sich gar nicht um das Mädchen.
Ich brüllte ihn an: „Was soll das? Lass das. Sie ist tot.“ Jetzt erst wurde mir die Tragweite meiner Worte bewusst. Nein. Unmöglich. Die Tochter des Schlangenträgers durfte nicht sterben. Ich wischte mir Tränen aus den Augen. Dann legte ich meine Finger an ihren Hals. Jogos künftiger Partnerin so nahe zu kommen, kam mir falsch vor. Aber er kümmerte sich ja nicht. Stattdessen schnüffelte er wie ein Spürhund in den Beerensträuchern herum.
Meine Hand fand die richtige Stelle. Ich hatte Angst. Ich ertastete nichts.
„Es ist hier irgendwo“, sagte Jogo.
„Sei still!“, rief ich verzweifelt.
Ich konzentrierte mich auf das Feingefühl in meinen Fingerspitzen. Dann fühlte ich es. Sanft, aber er war da. Da war ein fühlbarer Herzschlag. Es steckte noch Leben in ihrem Körper.
Endlich sah ich, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Wieder schossen Tränen in meine Augen. Diesmal jedoch Tränen der Erleichterung, Freudentränen.
„Thyri. Alles in Ordnung?“, fragte ich und schlug noch fester gegen ihre Wange.
„Aua“, sagte sie und sah mich vorwurfsvoll an. Es war dieser Blick, der mir das Versprechen abrang, für ihren Schutz zu sorgen, solange ich dazu imstande war.
„Hab’s“, rief Jogo und hob einen Gegenstand auf. Es war mir eigentlich egal. Das schönste Mädchen der Welt brauchte meine Hilfe.
Jeder Stamm der Insel hatte seine Wasserstelle. Viele frei zugänglich für jedermann. Eine winzige Quelle trat wie eine kleine Fontäne unter einer Ansammlung von Farnen hervor. Wenn wir spielten, taten wir so, als wären wir ein eigenes Stammesvolk. Und das Quellwasser war die Quelle unseres Stammes. In Wirklichkeit waren echte Stammesquellen viel reichhaltiger. Ich riss eine Ecke von meinem Rock, befeuchtete ihn und wischte damit sanft das Blut von ihrer Stirn. Der Anblick der Wunde nahm mir die Luft.
Unterdessen fingerte Jogo unentwegt an dem Fluggeschoss herum. Es war ein Apfel, wie sich herausstellte. Und ein Stein. Ungenießbar und so hart, dass Thyris Überleben ein Wunder war.
„Wunderschön“, sagte Jogo auf eine eigenartig abwesende Art und Weise. In den Augen des Mädchens erkannte ich, wie sehr ihr seine Faszination für das Geschoss wehtat. Vielleicht aber hatte sie auch eine Vorahnung von dem, was der Apfel, der aus dem Himmel fiel, noch alles anrichten würde…