Читать книгу DIE EWIGEN. Die Zeichen der Schuld - Chriz Wagner - Страница 7
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Als ich Thyri meinen Arm reichte, durchfuhr mich eine angenehm warme Empfindung. Sie lächelte und hängte sich ein. Und obwohl sie wackelig auf den Beinen war, hatte ich das Gefühl, als würde sie mich nach Hause bringen.
Jogo stolperte neben uns her. Ein paar Mal wäre er beinahe über seine eigenen Füße gefallen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er hatte nur noch Augen für den Gesteinsbrocken, fummelte unentwegt daran herum und schwärmte, wie makellos sich die Oberfläche anfühle. Er nannte es Haut. Und den Stein taufte er seinen Himmelsapfel. Hin und wieder erhaschte ich einen schnellen Seitenblick auf Jogos Spielzeug. Wenn er mich dabei ertappte, warf er mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Oder er versteckte den steinernen Apfel unter seinem Arm.
Obwohl der Weg zum Stamm für Menschen mit gesunden Füßen ein Katzensprung war, atmete ich auf, als die Lichtung in Sicht kam. Das Mädchen musste so schnell wie möglich zu ihrem Vater geschafft werden. Wie jeder wusste, war der Schlangenträger von den Göttern bevorzugt. Er würde wissen, was zu tun war. Die Schöpfer würden es ihm einflüstern.
Und tatsächlich: Als hätte er gewusst, dass ein Unheil passiert war, wartete Carr mit offenen Armen auf uns. Er wurde umringt von seinen Frauen und den Müttern. Die Schlange reckte ihren Körper. Die schuppige Haut mit ihren ockerfarbigen Verzierungen wogte um Carrs Kopf herum, bedeckte seine Wangen, dann seine Ohren. Das Tier hob den Schädel. Es schenkte uns einen müden Blick. Gelbe Pupillen blitzten auf. Dann verschwand das züngelnde Maul hinter Carrs Rücken.
„Vater“, rief Thyri und fiel ihm in die Arme. Er drückte sie an sich. Besorgt betrachtete er die Kopfwunde. Mit dem Daumen wischte er eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Schließlich kehrte er ihr den Rücken zu.
Von überall her kamen Kinder zusammengelaufen. Es gab etwas zu sehen. Sie pressten sich von außen an die Traube aus Müttern oder schlüpften zwischen ihren nackten Beinen hindurch. Jemand schob mich weg.
„Es war ein Stein. Vom Himmel. Auf meinen Kopf“, hörte ich Thyri sagen, als müsste sie sich rechtfertigen.
Carr flüsterte unverständliches Zeug. Es klang wie das Zischen einer wütenden Kobra. Jetzt bäumte sich der Körper seiner Schlange auf und zog sich sogleich wieder zusammen. Sie verdaute seine Sprache und schickte sie den Göttern – so sagte man. Es war eine Zeit, als die Menschen und die Tiere noch enger miteinander verbunden waren. Eine Zeit, da man glaubte, mit den Tieren im Dialog zu stehen. Die Antworten erhielt man im eigenen Herzen und im Gewissen.
Endlich drehte sich der Schlangenträger um. Er lächelte.
Und noch einmal warf Thyri sich ihm an den Hals, diesmal erleichtert. „Der Stein hat mich niedergesch…“
„Unachtsamkeit“, unterbrach Jogo. Ich sah ihren verwunderten Blick und konnte selbst kaum glauben, dass er ihr tatsächlich das Wort abschnitt. Noch dazu klang seine Stimme barsch und herrisch.
„Sie sagen, du wirst gesund werden“, sagte Carr und sorgte für Ruhe unter der aufgebrachten Menge. Doch was er dann prophezeite, klang weniger beruhigend: „Aber sie sagen auch: Großes Unheil wird kommen.“
Die Mütter murmelten.
Schließlich sagte Carr: „Er hat dich heil nach Hause gebracht. Dafür sind wir ihm dankbar.“
Thyri schenkte mir ihr schönstes Lächeln. Die wärmende Sonne, die über der Lichtung schwebte, ging auch in meinem Herzen auf. Ich erwiderte ihr Lächeln, als Jogo sich zwischen uns schob.
„Danke Vater“, sagte er. Und ich sah die Hand des Schlangenträgers, wie sie sich auf seine Schulter legte. Ein Fels rutschte durch meinen Hals und nahm mir die Luft. „Der Zufall hat mich zu ihr geführt.“
„Bestimmung“, korrigierte das Stammesoberhaupt.
Thyri wollte dazwischengehen. „Nein Vater. Es war…“
Zum zweiten Mal wurde sie übergangen. Wieder von Jogo. „Nenn es Schicksal, wenn du willst.“ Er klang zufrieden. Entsetzt blickte ich hin und her, suchte ihr Gesicht hinter dem Körper dieses Lügners.
„Du bist mir immer ein treuer Helfer gewesen“, lobte Carr meinen Freund. „Für mich sogar wie ein Sohn.“
Das war unfassbar. Nicht Jogo hatte sich gekümmert. Er hatte nur Augen für den Stein gehabt – jene Waffe, die Thyri verletzt hatte. Wie konnte er jetzt ungeniert den Ruhm ernten? Ich wollte ihn wegstoßen, ihm ins Gesicht spucken und Carr die Wahrheit sagen. Dann würden sie den Scharlatan an den Beinen aufknüpfen.
Endlich fing ich Thyris Blick ein. Von klein auf hatten wir uns wortlos verstanden. Sie nickte und lächelte. Sie wusste es. Und ich wusste es. Das war mir genug.
„Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, an einen Nachfolger zu denken“, sagte der Schlangenträger.
Noch einmal stockte mein Herz. Der Sohn des Himmels wurde von demjenigen abgelöst, der mit seiner erstgeborenen Tochter vermählt war. So erzählten es die Alten uns Kindern wieder und wieder und wir wuchsen mit diesem Gedanken auf. Im Wald spielten wir, wie Carr starb und zu den Göttern fuhr, während sein Schwiegersohn zu seinem Nachfolger ernannt wurde. Doch es war immer nur ein Spiel gewesen. Viel zu weit weg, um jemals wahr werden zu können. Und jetzt sprach Carr wirklich davon?
Thyri war seine älteste Tochter. Sie war die Prinzessin, zur Königin geboren. Die Ehefrau des künftigen Schlangenträgers.
Die sonst so geschwätzigen Frauen verstummten. Jedes Stammesmitglied hielt die Luft an und lauschte Carrs Worten. Sogar die Kinder stellten das Plappern ein, weil sie spürten, dass etwas Besonderes passieren würde.
Der Stammesführer brach die Stille. „Die Zeit ist gekommen“, sagte er so laut, dass es jeder hören konnte.
Er nahm Jogo an der rechten Hand, Thyri an der linken.
„Hört alle her. Ich verdanke diesem jungen Mann sehr viel.“
Obwohl jeder wusste, was Carr sagen wollte, hielten wir dennoch gespannt die Luft an.
„Als Dank für seine Hingabe meiner Familie gegenüber nehme ich ihn zu meinem Sohn. Er soll meine Erstgeborene zur Frau bekommen. Und wenn die Schlange stirbt – wenn ich sterbe – dann wird er sich um eure Seelen kümmern.“
Er hob beide Arme, sodass jeder die Hände der beiden sehen konnte. Dann führte er sie über seinem Kopf zusammen.
Die Menschenmenge jubelte, applaudierte.
Ich hatte das Gefühl, nicht dazuzugehören. Als wäre ich ein unbeteiligter Dritter, der die Szene von außen betrachtete. Ich forschte in Thyris Augen. Sie hatte sich damit abgefunden. Schon lange.
Ich ertrug es nicht, so zu tun, als würde ich mich für die beiden freuen, obwohl es mich innerlich zerriss. Ich stieß ein paar Frauen zur Seite, die es in ihrem Jubel nicht einmal wahrnahmen, und rannte davon. Weg von der Lichtung. Weg von dieser Farce. Und ich wusste nicht einmal, ob mich überhaupt jemand bemerkte…