Читать книгу Die Ewigen. Stimmen aus der Zukunft - Chriz Wagner - Страница 8

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III

– Das Radio spielt Paint It Black von den Rolling Stones. –

Dicke goldene Ahornblätter wirbelten in die Luft, als ich den Ford Mustang vor der Veranda unseres Wohnhauses zum Stehen brachte. Ich liebte dieses Haus. Die breite Treppe mit dem schneeweißen Geländer sollte Besucher zum Hereinkommen einladen. Es war Cynthias Idee gewesen, die Wände hellgrau zu streichen, das kleine Spitzdach über der Haustür aber weiß. Die Zimmer verteilten sich im ersten Stock und bis ins Dachgeschoss hinauf, wo das Schlafzimmer lag, mit Blick auf die Sterne. Und wenn ich spätabends nach Hause kam, Licht hinter den Fenstern brannte und Buchenholzrauch aus dem Kamin quoll, dann fühlte ich mich an diesem Ort schlicht und einfach daheim.

Lisa hüpfte aus dem Auto und knallte die Fahrzeugtür übermütig zu. Jeffrey schlenderte uns nach, die Gitarre auf dem Rücken. Ich sperrte auf. Dann nahm ich noch eine genüssliche Nase voll Herbstluft, die erfrischend und eigentümlich beruhigend auf mich wirkte, und wir traten ein.

Der Junge stampfte lustlos die Treppe hoch und verschwand wie gewöhnlich in seinem Zimmer. Ich fand, dass wir zu wenig miteinander redeten. Der heutige Tag hatte mir gezeigt, dass viel mehr in ihm steckte, als mir bewusst war.

„Daddy, Woogie“, rief Lisa. Ihre Füße polterten über die Holzdielen.

„Ja, Ducky?“

„Rumfahren ist so toll!“

„Findest du?“

Ich dachte daran, dass ich heute noch Cynthia von der Arbeit holen musste und konnte ihre Begeisterung nicht teilen.

„Ich weiß, was ich mal werden will“, sagte sie.

„So?“

„Ja. Ich möchte überall hinfahren“, rief sie entschlossen.

„Aber das ist doch kein Beruf.“

„Dann mache ich einen Beruf daraus“, sagte sie mit der kindlichen Gewissheit, dass das Leben so einfach war. „Ich werde durch die Welt reisen und viel erleben, weißt du?“

„Und mich allein lassen?“, maulte ich frech.

„Für dich schreibe ich alles hier rein“, sagte sie und legte ihr Tagebuch auf den Tisch. „Dann kannst du meine Abenteuer nachlesen.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Sie schlug den wuchtigen Einband auf, zog einen Bleistift aus der Lasche im Buchrücken und blätterte zu einer leeren Seite. Die Buchseiten waren viel zu groß für ihre winzigen Finger. Dann fing sie an, zu schreiben. Ich fand es immer wieder aufs Neue charmant, wie ihre Nasenspitze beinahe das Papier berührte. Und ich hatte gesehen, wie klein ihre Buchstaben waren. An manchen Tagen schrieb sie nur ein paar Zeilen. „Damit es reicht“, hatte sie mir einmal erklärt, als wolle sie wahrhaftig ihr ganzes Leben in diesem Buch unterbringen.

Es war schön zuzusehen, wenn sie sich lange auf eine Sache konzentrierte. Und ich fand es toll, dass sie sich so viel Mühe gab, das Privatkonzert der Canadian Sunsets in ihr Buch einzutragen.

Oben drehte Jeffrey das Radio an. Es spielte Paint It Black von den Rolling Stones.

„Du-hu, Woogie?“

„Ja?“

„Wie schreibt man Blumengrab?“

Erschrocken sah ich zu ihr hin. Mein Atem stockte. Unbekümmert zappelte der Stift in ihrer Hand. Ich trat einen Schritt heran.

Sie drehte den Kopf und sah mich an. Ihr Haar fiel zur Seite und die großen braunen Augen blickten mich an, wie die eines unschuldigen Rehs.

„Sag“, forderte sie.

„Was …?“, zögerte ich, „Was schreibst du?“

„Was wir heute gemacht haben“, erklärte sie mit kindlicher Selbstverständlichkeit.

Ich warf einen Blick über ihre Schulter und erhaschte einen Satz aus dem Buch.

Wir sind an einem Hügel vorbeigefahren, wo jemand gestorben ist. An einem Blumen …

Kein Wort von ihrem Bruder und der Band. Nein.

Sie schrieb, dass wir ein Blumendenkmal am Straßenrand gesehen hatten. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie tiefgreifend dieses für mich so unbedeutende Erlebnis für Lisa gewesen sein musste.

„Hey. Nicht gucken!“

„Mach ich nicht.“

Ich lebe ewig. Und wenn ich einmal starb, dann erholte ich mich wieder. Dafür brauchte es nur Zeit, wie ich mehrfach am eigenen Leib erfahren hatte. Als ich vor rund 5000 Jahren in Nineveh zum ersten Mal eine Ehefrau und vor allem eigene Kinder hatte, rätselte ich voller Hoffnung, ob ich meine Unsterblichkeit an meine Abkömmlinge vererbt haben könnte. Und es tat weh, zu erfahren, dass dem nicht so war. Für gewöhnliche Menschen wie Lisa, Jeffrey und Cynthia war es eine wichtige Sache, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Für sie war der Tod endgültig, unumstößlich und abschließend. Ein Gedanke, den ich beinahe vergessen hatte.

Mir kam in den Sinn, wie ich Jahrtausende damit verbracht hatte, meine Unsterblichkeit zu ergründen. Ich wollte der Ursache meines außergewöhnlichen Lebens auf die Spur kommen. Dabei zog es mich wie magisch zu den Orten hin, an denen eigentümliche Dinge vorgingen, die ein normaler Mensch nicht erklären kann. Und ich war auf der Suche gewesen, nach anderen meiner Art – nach meiner Familie.

Das alles hatte ich in den letzten Jahren so gut wie vergessen. Es war toll, eine waschechte Familie zu haben. Dazuzugehören. Ich wurde gebraucht und ich hatte eine Aufgabe – ich war Familienvater. Umso stärker schmerzte der Gedanke, dass auch dieses Glück vergänglich war. Lisa, Jeff – ein Stich fuhr in mein Herz. Cynthia. Sie würden unter meinen Händen wegsterben, schneller als es mir lieb war.

Noch immer sah mich Lisa mit großen Augen an. Und für einen grausamen Augenblick gehörte ich nicht länger dazu. Dieses unschuldige Mädchen war eine Fremde, die ein Dach mit mir teilte.

Ich fand es nicht fair, dass sich so ein junges Geschöpf mit dem Tod auseinandersetzen musste. Und auf einmal überkam mich eine tiefgreifende Wut. Ich verengte die Augen, meine Stirn schlug Falten und meine Kieferknochen mahlten unruhig aufeinander. Zorn – auf die Wirklichkeit und auf die Tatsache, dass alles, was ich tat – meine Familie, meine Kinder – mit einem Mal sinnlos geworden war.

„Was ist los?“ Lisas Stimme klang erschreckt und verstört zugleich. Als hätte sie jemanden in mir gesehen, der ihr fremd war und der ihr Angst machte.

„Nichts, Rubberducky“, sagte ich und schnaufte durch. Ich musste zu mir zurückfinden. Zu meinem wirklichen Ich. Dem sorgsamen Familienvater. Es fiel nicht leicht.

Da schwor ich mir: Wenn es eine Möglichkeit geben sollte, das Leben meiner Familie zu verlängern, dann würde ich sie finden.

Ein verhängnisvoller Fehler …

Die Ewigen. Stimmen aus der Zukunft

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