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Kapitel 3
ОглавлениеWir riefen gefühlte Stunden über das Wasser des urzeitlichen Sees hinweg und hofften darauf, Nik so zurück zu uns lotsen zu können, aber er antwortete nicht und schien einfach verschwunden zu sein. Nacheinander gaben wir unsere sinnlose Suche auf – falls man es überhaupt als Suche bezeichnen darf, immer wieder jemandes Namen zu brüllen, während man in den Untiefen irgendeines gottverlassenen Untergrundbeckens planscht – und setzten uns danach auf den kalten Stein an der Landspitze. Niemand von uns sagte etwas. Ich fror, beschwerte mich aber nicht, weil es sowieso keine Möglichkeit zum Aufwärmen gab.
Jemand lässt sich schwerfällig neben mir nieder. Es ist Janos. Er sieht verstört aus. Ich schüttele den Kopf und lasse mich dazu hinreißen, ihm aufmunternd auf den Rücken zu klopfen. Wie er sich fühlt, kann ich mir denken, aber er trägt schließlich keine Schuld an alledem.
Bald setzt sich auch Fi zu uns, gefolgt von Brendan und zuletzt Marcus. Wir vermeiden es, einander anzusehen und zu sprechen, obwohl ich weiß, dass uns allen das Gleiche durch den Kopf geht: Was, in drei Teufels Namen, ist passiert?
Brendan bricht schließlich als Erster unser Schweigen.
»Was war das?«
»Was war was?«, erwidere ich müde.
»Was … was hat das getan?«
»Das weiß ich nicht. Du bist doch der Höhlenökologe, sag du es mir!«
Als er nicht antwortet, springt Fi in die Bresche.
»Was ist passiert?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Ich beiße die Zähne zusammen. Was, was, was, was … Leckt mich doch alle, als wüsste ich über alles Bescheid.
»Etwas ist unter uns aus dem Wasser hochgestiegen, etwas Großes.«
»Etwas Lebendiges?«
Janos gibt zu verstehen, dass er es nicht sagen kann, und sucht meinen Blick. Bringt dir nichts, Sportsfreund, denn ich habe auch keine Ahnung, was es gewesen sein könnte.
»Wir müssen also die ziemlich sichere Möglichkeit in Betracht ziehen, dass da unten etwas Großes und sehr wahrscheinlich auch Raubtierartiges lebt«, fasst Marcus nach einer langen Pause zusammen. »Na toll.«
»Ich weiß nicht«, wäge ich ab. Aus irgendeinem Grund macht mich Marcus' Einstellung wütend. »Eigentlich hat doch niemand irgendetwas gesehen. Soviel wir wissen, hätten es genauso gut … Turbulenzen oder eine ungesehene Felszunge gleich unter der Oberfläche gewesen sein können.« Die dann allerdings in der Lage gewesen ist, aus dem Wasser zu springen und das Boot zu zerbeißen.
»Ach ja? Aber wo steckt dann bitteschön Nik? Und wo wir gerade dabei sind: Wo ist das verdammte Boot?« Marcus steht auf, wobei er sich die Hände auf den Kopf legt. Dann dreht er sich einmal im Kreis. »Wir sitzen hier drei Meilen unter der Erde, ohne Rüstzeug oder Mittel, um die Leute oben wissen zu lassen, dass hier unten gerade alles in die Binsen gegangen ist.«
»Komm wieder runter, Marcus«, beschwichtigt ihn Fi.
»Ich werde bestimmt nicht runterkommen!«, schnauzt er sie an.
Er nimmt die Hände wieder von seinem Kopf und fängt an, herumzufuchteln wie ein Verrückter, der versucht, einen imaginären Verkehr zu regeln. »Falls du noch nicht darüber nachgedacht hast: Könnte nicht das gleiche auch Team Alpha zugestoßen sein? Sie wollten ebenfalls diesen beschissenen See überqueren, doch dann hat … es sie geschnappt.«
»Es?«
»Was auch immer in der Brühe lebt!«
»Wir wissen noch nicht, ob wirklich ein Es existiert.«
»Doch«, hält Janos dagegen. Nachdem er langsam über das Wasser geschaut hat, ruht sein Blick nun auf Fi. »Megan hat es zuerst gesehen. Nik hielt es für Spiegelungen auf dem Wasser, die unseren Augen einen Streich spielen, doch dann wurde das Boot erschüttert. Es wusste, dass wir kommen und was es zu tun hatte.«
»Das wird ja immer verrückter hier!«, empört sich Marcus.
»Brendan?«, meint Fi.
»Was?«
»Meg sagte, du bist der Fachmann. Was glaubst du?«
Brendan schaut wieder über das Wasser, während er an der Seite seines Daumens kaut. »Ich weiß es nicht …«
»Na, großartig«, hebt Marcus an. »Wenn du es nicht weißt, warum hast du dir überhaupt die Mühe gegeben, mit uns zu kommen?«
»Ich weiß es nicht, weil dieses ganze Szenario etwas vollkommen Neues ist«, lenkt Brendan ein. »Nicht nur für mich, sondern ganz allgemein. Auf Untergrundgewässer stößt man meistens bei Bohrungen. Man stolpert nicht einfach so über sie, wie wir es getan haben, also nein: Ich habe keine Ahnung, was es gewesen sein könnte und würde auch ungern darüber mutmaßen, um ehrlich zu sein.«
»Statt uns den Kopf darüber zu zerbrechen, ob wir die Bewohner des Sees identifizieren können, sollen wir vielleicht lieber mal darüber nachdenken, wie wir zum Gegenufer zurückkommen«, schlägt Janos vor.
»Genau«, erwidert Marcus. »Wir gehen einfach hin, fällen ein paar Palmen und binden die Stämme mit Schlingpflanzen zu einem netten Floß zusammen … aber nein, wartet mal einen Moment, das wird ja gar nicht klappen, weil es hier unten keine verdammten Bäume gibt, geschweige denn überhaupt irgendetwas, das schwimmt!«
»Marcus«, sage ich. »Beruhige dich.« Allmählich bekomme ich von seinem theatralischen Gehabe Migräne, und das ist das Letzte, was ich gebrauchen kann, besonders weil meine Medikamente jetzt am Grund dieses elenden Sees liegen. Er will mich anpflaumen, aber ich setze meine beste Frau-Lehrerin-sagt-Klappe-halten-Miene auf, und er schreckt ein Stück zurück. Ich gebrauche sie selten, aber sie bringt arrogante Studenten stets zum Schweigen, warum also nicht auch ihn?
»Am klügsten ist es«, beginnt Fi und versucht dabei, sowohl zuversichtlich als auch bestimmt zu klingen, »wenn wir uns erst einmal weiter hier umsehen. Wenn wir herausgefunden haben, wo wir sind, vergewissern wir uns, welche Rücklagen wir haben, und bemühen uns dann um so etwas wie eine Strategie. Vergesst außerdem nicht, dass sie, sobald ihnen klar wird, dass auch der Kontakt zu uns abgebrochen ist, begreifen werden, dass wir in Schwierigkeiten stecken und Hilfe brauchen.«
»Oder sie sehen ein, dass dieses ganze Unterfangen lächerliche Zeitverschwendung war, und lassen uns daraufhin im Stich«, mault Marcus leise.
Dieses Mal werfen sowohl Janos als auch ich ihm einen bösen Blick zu. Fi fährt fort: »Sie haben dem Alpha-Team Hilfe geschickt, also werden sie auch nach uns suchen. Niemand bleibt auf der Strecke!«
Niemand bleibt auf der Strecke, ha. Mich wundert, dass Marcus nicht darauf anspringt. Es ist militärische Phrasendrescherei, die Fi während ihrer Dienstzeit bei den US-Marines aufgeschnappt hat. Sie ist eine gute Frau mit Herz – ich kann sie im Grunde genommen nicht Mädchen nennen, weil ich ahne, dass sie mir dafür vermutlich den Allerwertesten bis ins Genick aufreißen würde – neigt aber aufgrund ihrer soldatischen Ausbildung oft dazu, die Dinge zu einfach zu betrachten. Was sie sehr oft vergisst, ist der Umstand, dass es sich hierbei nicht um einen Militäreinsatz handelt. Ich weiß, und die anderen auch, wie ich anhand der Blicke zu erkennen glaube, die sie untereinander wechseln, dass man uns, sollte sich eine Rettungsmission in den Augen der Leute oben als zu riskant, oder Gott bewahre, zu teuer herausstellen, hier unten verkümmern lassen wird, bis wir schwarz werden.
»Wartet … was ist das?«, fragt Brendan und unterbricht damit meine abgründigen Gedanken. Ich hebe den Kopf und folge seinem Blick.
Im Wasser vor dem Ufer wird gerade etwas Helles angeschwemmt.
Wir alle stehen langsam auf. Es geht in der schwachen Strömung auf und nieder, eine unförmige Masse. Mir wird übel; ich laufe nicht hinüber und bin, wie es aussieht, nicht die Einzige mit Vorbehalten. Denn mir ist bewusst, was es sein könnte, und ich weiß nicht, ob ich gerade jetzt bereit bin, die Konsequenzen dessen zu tragen. Wir saßen da und stritten uns seit wann – einer halben, einer ganzen Stunde? Keine Chance, dass er so lange unter Wasser überlebt hat.
»Um Himmels willen, dann gehe ich eben alleine«, stöhnt Fi. In einem Anflug von Übermut stapft sie ins seichte Wasser, wobei sie mit jedem Schritt gleichmäßige Wirbel aufwühlt. Mein Herz klopft wieder bis zum Hals. Aus irgendeinem Grund, auf tiefer, instinktiver Ebene weiß ich, dass es eine schlechte Idee ist.
Fi nähert sich dem Körper und beugt sich nach vorne, um ihn zu untersuchen. Ich schlage unwillkürlich eine Hand vor den Mund, als ich gegen den Drang ankämpfe, nach ihr zu rufen, um sie dazu anzuhalten, schnellstmöglich wieder aus dem Wasser zu kommen. Ich schaffe es, halte die Luft an und wage es nicht, mich zu bewegen.
»Verdammte Scheiße …« Sie hievt das blasse Etwas aus dem Wasser. »Würdet ihr mal bitte herkommen und euch das ansehen?«
Nach stummem Übereinkommen durch Blicke und unterschwelliges Zucken geht Janos zu ihr. Sie reden kurz miteinander, wovon ich aber nicht viel mitbekomme, dann legt er Hand an einen Teil von dem, was Fi herausgezogen hat, und gemeinsam schleifen sie es an den Strand.
Ich weiß nicht, ob ich froh oder enttäuscht darüber bin, dass es nicht Nik ist. Wäre er ertrunken, hätten wir uns weiter einreden können, was geschehen war, sei nur auf Turbulenzen zurückzuführen gewesen und ein tragischer Unfall.
Was Fi und Janos allerdings herbringen, ist viel entsetzlicher.
Es sind die Reste des Schlauchbootes und sind völlig zerfetzt; zerfledderte Gummilappen treiben wie Eingeweide in der leichten Strömung. Fi hebt einen Teil davon an und betrachtet ihn eingehend.
»Sieht so aus, als sei es von irgendetwas zerrissen worden.«
Weil in das Boot bequem vier Leute hineinpassten, braucht niemand auszusprechen, was wir alle denken, kurze Blicke genügen. Was auch immer dieses irgendetwas war, muss ziemlich groß gewesen sein, um einen derart verheerenden Schaden anrichten zu können.
»Also gut …«, sagt Marcus zu Brendan. »Komm schon, du Experte. Wonach sieht das für dich aus?«
Brendan schaut über das nunmehr ruhige Wasser und kneift dabei die Lider zusammen, als versuche er, dort einen Übeltäter auszumachen. »Wie ich schon sagte, ich weiß es nicht.«
»Tja, egal was es war: Es hat etwas zurückgelassen«, erklärt Fi. Wir alle drehen uns zu ihr um. Sie holt gerade mühsam einen Gegenstand aus dem Gummi. Er steckt in einer der Ruderpinnen aus Plastik fest, und mit der Spitze ihres Messers schafft sie es schließlich, ihn auszuhebeln.
»Oh Gott …«, stöhnt sie, während sie ihn in der Hand wiegt. »Seht euch an, wie lang er ist!«
Es ist ein Zahn, aber kein gewöhnlicher. Er misst etwa fünf Zoll, ist konisch geformt und der Länge nach geriffelt. Er sieht spitz und gefährlich aus. Am oberen Ende glänzt noch nasses, rosa Zahnfleisch.
»Von welchem Tier stammt das, Mann?«, fragt Marcus. »Einem Hai?«
Ich schüttele den Kopf. Ich habe im Laufe der Zeit genügend Haizähne gefunden, um zu wissen, wie sie aussehen.
»Nein, Haie haben ausnahmslos dreieckige Zähne mit gezackten Kanten.« Ich schaue Fi flehentlich an, um ihr wortlos zu verstehen zu geben, dass ich ihren Fund gern anfassen würde. Sie reicht ihn mir und wischt sich dann gründlich die Hände an den Oberschenkeln ab, als könne dies jeglichen Kontakt mit dem ungeschehen machen, was Nik zum Verhängnis geworden ist.
»Er ist schwer. Dieses Tier ist es gewohnt, kräftig zu beißen … in andere, die sich dagegen sträuben.«
So wie ich.
Ich sträube mich gegen den Gedanken, dass ich einen solchen Zahn schon einmal gesehen habe, und zwar vor drei Jahren an der Oxford-Clay-Formation bei Peterborough in England, wo er in einem Kieferfragment steckte. Er war nicht so groß wie dieser, aber morphologisch fast identisch.
»Pliosaurus«, sagt Janos leise.
Ich schaue überrascht auf. Liest er etwa meine Gedanken? Seine dunklen Augen sind weit geöffnet und schweifen keine Sekunde lang von dem Zahn in meiner Hand ab.
Ich nicke. »Das war auch mein Gedanke.«
»Plio-was?«, fragt Marcus.
»Pliosaurus«, wiederhole ich. Mir kommt es seltsamerweise so vor, als stünde ich neben mir, und zwar sogar mehrere Fuß weit, während ich mir selbst beim Sprechen zusehe. »Ein Meeresräuber aus der Jura-Zeit. Neun verschiedene Gattungen, wenn ich mich nicht irre, wobei der Größte auf Spitzbergen gefunden wurde, auch wenn Experten behaupten, jener, den man in Dorset ausgegraben hat, sei noch länger.« Ich schlucke. »Den aus Spitzbergen nennt man ›Predator X‹, und es heißt, das Vieh habe bis zu fünfzig Fuß lang werden können.«
Marcus grunzt abwertend, wohingegen Janos alles abnickt, was ich sage.
»Ein Lauerjäger«, ergänzt er. »Er ist bekannt für seine einzigartige Fortbewegungsart – nur der verwandte Plesiosaurus schwamm auf ähnliche Weise – und er hat einen riesigen Schädel mit sehr vielen Zähnen.«
Ich werfe Janos einen fragenden Blick zu.
»Sie haben recht, aber woher wissen Sie all das?«
Er tut arglos. »Machen nicht alle kleinen Jungen irgendwann eine Phase durch, in der sie einen Narren an Dinosauriern gefressen haben?« Er schenkt mir so kurz ein Lächeln, dass es mir entgangen wäre, hätte ich nur geblinzelt, bevor er mich wieder ernst anschaut. »Sie sind jedoch alle gegen Ende der Kreidezeit ausgestorben. Umwelt im Wandel, Rivalitäten, veränderter Salzgehalt der Meere … Sie verschwanden schon vor dem Massensterben an der KT-Grenze. Das hier ist unmöglich.«
Ich wiege den Zahn in meiner Hand und denke ebenfalls nach. Janos hat recht, natürlich kann es überhaupt nicht sein. Allein die Vorstellung scheint absolut unsinnig zu sein, aber hier ist der Zahn, hier in meiner Hand. Exakt der gleiche wie jener des Liopleurodon, den man in der Oxford-Clay-Formation bei Peterborough ausgegraben hat, bloß anderthalb Zoll länger.
»Du redest also von einem abgefuckt riesigen Monster, das längst ausgestorben sein sollte, und das seit wann? Siebzig Millionen Jahren? Trotzdem schwimmt es anscheinend dort herum und hat möglicherweise gerade Nik gefressen?« Marcus' direkte Worte lassen mich zusammenzucken. Gerade Nik gefressen … kein Versuch, es zu beschönigen, sondern nur die knallharte Wirklichkeit – oder Surrealismus beziehungsweise was auch immer hier unten als Wirklichkeit durchgeht. Ich weiß es nicht mehr.
»Völliger Quatsch«, fügt Marcus hinzu, »das ist doch alles total hirnrissig.«
»Dieses System ist seit der Jura-Zeit von der Oberfläche abgeschnitten«, wirft Brendan ein. Er sieht grüblerisch aus und nickt mir mit ausgestreckter Hand zu. Ich gebe ihm den Zahn, wobei ich darauf achte, nicht das Fleisch zu berühren, das noch daran haftet. Aus irgendeinem Grund ekle ich mich davor. Wäre es nur der Zahn, könnte ich so tun, als sei er nichts weiter als ein Fossil, ein Relikt aus grauer Vorzeit, aber das Fleisch … Das erzählt eine ganz andere Geschichte. Es ist frisch, es ist real, und es ist hier.
»Und weiter?«, drängt Marcus nun.
»Es könnte sich um einen Fall von Parallelevolution handeln«, führt Brendan weiter aus. »Etwas, das innerhalb einer bestimmten Umwelt in eine Nische passt und somit eine bekannte Form annimmt. Es gibt Tiere, die wir Spinnen nennen und die in Höhlen leben, die aber nichts mit der Klasse der Arachnoidea zu tun haben, sondern einfach nur ein solches Aussehen angenommen haben, weil sie so am besten in ihrem Lebensraum bestehen können.«
Ich komme nicht umhin, wieder zu nicken. »Richtig, so wie Ichthyosaurier und Delfine«, sage ich. »Sie sehen sich frappierend ähnlich und schöpfen vergleichbare Möglichkeiten ihres Umfelds aus, sind oder besser gesagt waren aber völlig gegensätzliche Spezies – ein Reptil und ein Säuger.«
»Ja und?«, fragt Fi. »Du meinst, was auch immer dort unten schwimmt, ist vielleicht gar kein Überbleibsel aus prähistorischer Zeit?«
»Nein«, erwidert Brendan und wirkt dabei verlegen. »Ich bin zwar kein Fachmann, aber das wäre zumindest eine plausible Erklärung. Die andere lautet: Dieser Lebensraum war irgendwie geschützt, und während andere Spezies ausstarben, überlebte diese eine und entwickelte sich hier unten weiter, abgeschieden vom Rest der natürlichen Welt. So etwas kommt vor, man denke nur an den Quastenflosser: Es hieß, er sei seit fünfundsechzig Millionen Jahren ausgestorben, bis 1938 einer auf einem Fischmarkt in Afrika auftauchte.«
»Schön und gut, aber das ist bloß ein Fisch.«
»Ein ziemlich dicker Fisch. Ich meine, immerhin hat er auf der ganzen Welt Aufsehen erregt.«
»Richtig, doch war es ein Ungeheuer von sage und schreibe fünfzig Fuß Länge? Nein!«, platzt Marcus heraus. »Hört euch doch einmal selbst reden. Ihr klingt alle, als hättet ihr komplett den Verstand verloren! Meeresräuber aus der Jura-Zeit, die bis in die Moderne fortbestehen … das hört sich an wie aus einem billigen Science-Fiction-Film, den sie um drei Uhr morgens zeigen, weil dann die meisten Zuschauer zu besoffen sind, um sich Gedanken über die Logik zu machen!«
»Also gut, dann sag du uns doch, was das Boot deiner Meinung nach angegriffen hat, Marcus«, kontert Brendan. »Und wie erklärst du dir das?« Er hält ihm den Zahn hin, als sei dieser das Schwert der Wahrheit.
»Ach scheiß drauf!« Bevor jemand von uns ihn aufhalten kann, stürzt Marcus vorwärts und reißt Brendan den Fund aus der Hand, holt mit dem Arm aus und wirft ihn weg. Der Zahn trudelt fort, bis er ins Wasser des uralten Sees klatscht.
»Was … Warum hast du das getan?« Ich spüre, wie Wut – unfassbare, rot glühende Wut – in mir aufwallt. Im Allgemeinen bin ich ein recht entspannter Mensch, wenn ich das so sagen darf, aber zu sehen, wie dieser ignorante Schnösel etwas so Bedeutsames, so … so etwas … Einzigartiges versenkt, nur weil er nicht bereit ist, sich der Tatsache unserer Situation zu stellen, bringt mein Blut förmlich zum Kochen. Ich balle eine Hand zur Faust und muss stark an mich halten, ihn nicht zu schlagen. »Das war der einzige eindeutige Beweis dafür, das dort draußen etwas lebt!«
»Oh, wie bedauerlich«, spottet Marcus.
So, das reicht. Ich habe genug von ihm. Dieser arrogante Wichser legt es ständig auf Streit an und verschleiert seine Frauenfeindlichkeit als scherzhaftes Geplänkel. Ich mache einen Schritt vorwärts, spürte aber, bevor ich auch nur eine Hand heben kann, einen sanften Druck auf meiner Schulter. Darauf gefasst, jeden anzufahren, der sich erdreistet, mich davon abhalten zu wollen, diesen übermütigen, kleinen Pisser in seine Schranken zu verweisen, schnelle ich herum und schaue Janos ins Gesicht, zwischen dessen Augen sich eine leichte Sorgenfalte abzeichnet, während er den Kopf schüttelt.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagt er. »Sparen Sie sich Ihre Energie. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wichtig ist.«
»Aber er …«
»Ja, schon klar, aber darum geht es nicht … zumindest jetzt nicht. Wir müssen nun überlegen, wie wir weiter vorgehen … darum geht es.«
Seine Stimme und ihr fast russisch anmutender Tonfall wirken ziemlich hypnotisch auf mich.
Ich atme tief ein, um das Feuer in mir zu bändigen. Er hat ja recht. Was bedeutet schon ein Beweisstück, wenn niemand es zu sehen bekommt?
Marcus grinst ihn höhnisch an, ist aber so vernünftig, nichts mehr zu sagen. Janos mag unser sanfter Riese sein, doch auch sein Geduldsfaden kann einmal reißen, und an diesem Ort ist es ohne Weiteres möglich, dass sich jeder von uns bis an seine Grenzen getrieben sieht.
»Also … was jetzt?«, fragt Brendan schließlich zaghaft.
»Ich schätze, wir müssen uns wohl weiter umschauen«, entgegnet Fi. »Wir verschaffen uns erst einmal einen Überblick darüber, was uns hier zur Verfügung steht, und bauen dann so etwas wie ein Lager auf. Vielleicht gibt es ja doch noch einen Weg zurück auf die andere Seite.«
Wenngleich ich mit allem konform gehe, was sie sagt, komme ich nicht umhin, mich ablenken zu lassen, denn ein seltsames Sirren am Rande meiner Wahrnehmung stört mich. Es gerät stoßweise ins Stottern wie eine Fliege, die gegen eine Fensterscheibe fliegt.
»Falls es einen Weg gibt, wäre es wohl vernünftig, ihn … Verzeihung, Megan, langweile ich dich irgendwie?« Fi klingt gereizt, also zwinge ich mich, ihr wieder zuzuhören.
»Nein, tut mir leid, überhaupt nicht, aber … Hörst du das?«
Auch die anderen werden vorübergehend still, und dann ist es wieder da: Ein sonderbares Summen wie … ein statisches Rauschen?
»Verdammt, das ist das Funkgerät!«, erkennt Brendan aufgeregt. Er stürzt nach vorne zum Wasser und ruft: »Hey!« HEY! WIR SIND HIER! Wir kommen nicht mehr raus! HILFE!«
Das Wasser vor ihm schäumt, als habe sich gerade etwas unter der Oberfläche herumgewälzt. Er tritt zurück und nimmt so Abstand vom seichten Rand des Sees.
»Niemand kann dich hören«, meint Marcus. »Trottel!«
»Nenn ihn nicht Trottel«, ermahne ich ihn. Marcus geht mir wirklich gegen den Strich. Ich habe überhaupt kein Problem damit, ihm eine zu verpassen, wenn er nicht ganz schnell sein Maul hält.
»Er hat aber nicht ganz unrecht«, gibt Fi zu bedenken. »Um einen Funkspruch zu beantworten, muss man die Sprechtaste drücken.«
So nahe dran und doch so weit weg. Das Gegenufer liegt vielleicht – na, sagen wir fünfzig, vielleicht auch fünfundsiebzig Fuß weit entfernt. Stünden wir vor einem Schwimmbecken, würde keiner von uns zögern, aber leider ist dies kein Schwimmbecken, sondern ein schwarzer See, unergründlich tief und voll mit eiskaltem Wasser und etwas … Lebendigem darin.
Etwas Großem.
Etwas, das nicht weggeschwommen ist, um anderswo Beute zu suchen, nachdem wir an Land gelangt sind.
»Scheiße«, flucht Brendan leise, und ich kann nicht anders, als ihm zuzustimmen: Richtig scheiße!