Читать книгу Das Eisen im Feuer - Clara Viebig - Страница 4

Erstes Kapitel

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Um die Stadtmauer wehte der Frühling, und die Torwächter, die morgens die Tore aufschlossen: das Neue, das Oranienburger, das Hamburger, das Rosenthaler, Schönhauser, Prenzlauer, Königs- und Landsberger Tor, das Frankfurter, Stralauer, Schlesische, Köpenicker, Kottbusser, Wasser-Tor, das Hallische und Anhaltische, das Potsdamer und das Brandenburger Tor, wunderten sich, wie hübsch grün es schon draussen wurde. In der Stadt merkte man noch nichts vom Frühling. Die Rinnsteine freilich fingen an zu duften; aber das taten sie auch im Winter, wenn es gelinde Witterung war, unter den Rinnsteinbrücken das Eis schmolz und alles, was sich in Frosttagen da aufgestaut hatte an Abwässern und Unrat, überfloss auf den gepflasterten Bürgersteig.

Der Nachtwächter hatte die Nacht ausgepfiffen und war nach Hause gestolpert; die ersten Waschfrauen mit ihren Laternchen waren zur frühen Arbeit geeilt. Heute war Wochenmarkt. Die Torwächter mussten sich beeilen, dass sie die Bauern und Händler einliessen, die lange schon mit ihren Karren draussen gestanden hatten.

«Na, wird et nu bald?!» Die Harrenden, die gewohnt waren, geduldig zu warten, bis es den Torwächtern beliebte, fingen an zu murren.

Was, noch ungebärdig werden wollte so ein Kerl, so ein Mistfink? Was war denn seit einiger Zeit mit denen los?! Der Schlacht- und Mahlsteuerbeamte Piefke im grünen, blaukragigen Rock, dessen Amt am Halleschen darin bestand, wütend mit seinem Spiess auf geheimnisvolle Säcke loszustechen, zog verwundert die Brauen hoch. Nun ging’s gerade nicht eilig; er hätte ihnen am liebsten das Tor wieder vor der Nase zuschliessen lassen. Die Marienfelder, die Teltower, die Britzer, die fetten Tempelhofer besonders, die waren doch allemal die Unverschämtesten! Oder ob es an allen Toren so war? Weil sie jetzt solche Preise machen konnten, wurden sie frech. Sechs gute Groschen die Metze Kartoffeln, war so etwas schon dagewesen seit Menschengedenken? Denen schwoll der Kamm, und der arme Bürger musste zusehen, wie er sich und die Seinen sattkriegte!

In einer langen Reihe holperten die Karren durch die Tore ein. Die Hufe der kleinen Pferde klapperten, die Peitschen knallten; gesprochen wurde nicht viel. Durchs noch halb nächtlich-verschlafene Berlin zogen stumm-verdrossen die, die mit dem Morgengrauen hatten aufstehen müssen. Die Städter, die Berliner, die hatten’s gut, in den Federn lagen sie noch am hellichten Tag!

Die Läden der Fenster waren meist noch vorgelegt, die Haustüren geschlossen; kaum dass ein Bäckerjunge sich sehen liess, der, auf Lederpantinen faul schlorrend, die ersten Schrippen und Salzkuchen austrug und mit seinen schrillen Pfiffen unharmonisch die Morgenstille belebte. An dem hohen, graugestrichenen Holzkasten der Pumpe stand die Milchfrau; drei Blechkannen hatte sie auf dem niederen Ziehwägelchen, vor das zwei ruppige Hunde gespannt waren. Molly und Caro kannten das schon: hier machten sie immer Halt. Ihre Herrin nahm die zinnernen Deckel von den Kannen und liess aus der Pumpe Wasser hineinplätschern, bis so viel Milch in den Kannen war, wie sie für ihre Kunden brauchte.

An den meisten Strassenecken stand solch ein Brunnen, und er hatte immer Zuspruch: morgens die Milchfrauen, mittags die Lehrjungen, die ihrem Meister die Weisse tauften, abends die Mägde, die, anstatt Wasser in die Küchen zu tragen, sich hier mit ihren Liebsten verschwatzten. Und Hunderte und Hunderte von Sperlingen schwirrten stets mit lautem Geschilp um diese grauen Kästen, denn die Fuhrleute hielten hier an, um ihre Pferdeeimer zu füllen, und die Rosse liessen den ewig hungrigen Spatzen in ihren Äpfeln manches Körnlein zurück.

Und hungernd wie die Spatzen waren auch die Kinder der Strasse, denn es war eine Teuerung in der Stadt. Warum alles so teuer war, die Kartoffeln, das Brot, die allernötigsten Lebensmittel, das wusste eigentlich keiner zu sagen; die Ernte war doch ganz leidlich gewesen, wenigstens nicht viel schlechter als andere Jahre auch. Aber immer kleiner wurden die Brote, immer leichter von Gewicht; die Fünfgroschenschrippe wog längst ihre drei Pfund nicht mehr. Den ganzen Winter hatte man sich das so gefallen lassen, Mutter hatte den Kindern die Stullen eben kleiner geschnitten, Vater sich die tägliche Weisse abgewöhnt; man hatte gehofft, immer gehofft, mit dem Frühling musste es ja besser werden, dann würde es wieder mehr Arbeit geben.

Nun war es April. Auf dem Markt am Oranienburger Tor ging es lebhaft zu. Da standen die Kartoffelsäcke der Händler, gross und voll; und sie selber breit dahinter und zankten sich mit den feilschenden Weibern herum.

«Sechs Silber, keenen Sechser weniger!»

Was, noch immer sechs gute Groschen?! Man sah es den bleichen Gesichtern der Frauen an, dass ihnen daheim kein Huhn im Topfe kochte.

Die Weiber aus der Rosenthaler Vorstadt, dem ‚Voigtland‘, wo es schon zu fetteren Zeiten nicht üppig zuging, kauften hier. Von einem Stand zum andern irrten sie: war denn keiner billiger? Eine Metze Kartoffeln, das war ja so gut wie gar nichts. All die Mäuler! Der Mann, sechs Kinder, die grosse Tochter mit ihrem Balg auch noch, Grossvater, der nicht sterben konnte, aber noch essen wollte. Wenn das so weiterging, musste man sich hinlegen und verrecken, bezahlen konnte man die Kartoffeln nicht mehr!

In der Frühlingshelle des Marktplatzes schlich etwas umher, das sich sonst nur zeigt bei dunklen Nächten, in frostiger Kammer, wenn der Winterwind durch die Gassen faucht und die Wetterfahne des Kirchturms, rostig quietschend, angstvolle Musik macht.

Kartoffeln, Kartoffeln, man brauchte Kartoffeln! Der Mann prügelte, wenn er nicht satt wurde, die Kinder weinten. Die mageren Gesichter, die Arbeit und Entbehrung faltig gemacht hatten, legten sich in noch tiefere Falten. «Jotte doch, wie soll det noch werden!»

Eine legte sich aufs Bitten; sie hatte lange stumm dagestanden und ihr Geld gezählt: fünf Groschen mussten bleiben fürs Brot — aber dann hatte sie ja nur noch fünf für Kartoffeln! «Lasst Se mich doch für fünfe,» sagte sie leise, und es zuckte dabei wie Weinen um ihren Mund.

«Sechs Silber, keen Sechser jeht ab!» Der Händler blieb unerbittlich. «Unsereener will ooch leben!» Er war kurz angebunden. Und als sie noch immer stehen blieb, mit hungrigen Augen in den aufgebundenen Sack stierte, in dem die Kartoffeln, rund und rötlich, hochgetürmt lagen, und ganz obenauf ein paar schon gekochte, um zu zeigen, wie mehlig sie waren und schön aus der Schale geplatzt, da wurde er unruhig. «Jeht wo anders hin, da schenken se’t Euch!» Er lachte geärgert: was stand sie denn noch immer und versperrte anderen den Weg? «Macht Platz for die Herrschaften! Ankucken kost ooch ’n Sechser!» Er streckte die Hand aus, um sie beiseite zu schieben.

Da stiess sie seine Hand zurück. In ihrem eben noch so gedrückten Gesicht flammte etwas auf, sie hob den Fuss und trat mit aller Gewalt gegen den aufgebundenen Sack, dass er umstürzte, die Kartoffeln herauskollerten und sich wie ein Strom aufs Pflaster ergossen.

Der überraschte Händler bückte sich, er wusste nicht, sollte er mit beiden Armen seine stürzenden Kartoffeln auffangen oder die Freche packen. Er hatte nicht lange Zeit zum Überlegen. Seine Kartoffeln, seine teueren Kartoffeln!

Mit Gier hatten sich die Weiber darüber gestürzt; sie stiessen sich, sie pufften sich, sie sammelten auf. Was half ihm sein Schimpfen: «Bande verfluchte!», sein Schreien: «Pollezei! he, Pollezei!» — sie lachten ihn aus. Ein Johlen, ein Lärmen war plötzlich um ihn her, er fühlte sich von hinten gepackt, die Arme wurden ihm festgehalten, er kam von den Füssen, er wurde hingeworfen zu seinen Kartoffeln. Und ob er auch kämpfte, trat, spie, fluchte, brüllte, sich wieder aufraffte mit zerrissenem Kittel, mit blutender Nase, ein Dutzend Weiber hing an ihm. Mehr als ein Dutzend, weit mehr. ― ―

Wo waren sie nur alle so geschwind hergekommen? Es waren ihrer Hundert, viele Hunderte. Aus allen Strassenmündungen quoll es heraus, es überschwemmte den Platz. Weiber, Weiber, Weiber. Mit wehenden Haaren, mit verrutschten Hauben, mit klappernden Pantinen, mit flatternden Schürzen kam es geflogen wie Sturmwind, mit einem höllischen Lärm. Wer sich der brausenden Welle entgegenstemmte, wurde umgespült. Körbe voll Gemüse stürzten um, Kraut und Rüben lagen verstreut, mit Kartoffeln wurde geschleudert. Und Prügel gab’s. Dass Weiber so prügeln konnten!

«Kartoffeln, sechs Silber die Metze — siehste woll, jetzt kosten se jar nischt!» Mit Jauchzen und Lachen sammelten die Weiber ein. Keiner dachte mehr daran, sich zur Wehr zu setzen, man liess Säcke und Körbe im Stich, man rannte davon, um die Marktpolizei zu suchen.

Die Marktpolizei war nirgends zu sehen. Was sollte sie sich in so etwas mischen? So etwas war ungemütlich, und — wie sollte man sich denn dabei benehmen? Das beste war, man drückte ein Auge zu. Die Weiber würden sich schon wieder zufrieden geben; nur kein Aufhebens von so einer Sache gemacht, morgen duckten die Hauptschreierinnen wieder ruhig im Joch.

Es schlossen sich eine Menge Neugierige dem Weibertross an. Er hatte immer frischen Zuzug: Junge und Alte, Blonde und Weisshaarige, Frauen und Mädchen. Es waren auch manche ganz hübsche darunter, Mädchen mit schwenkenden Röcken und leichtem Gang, deren Augen noch Glanz hatten und Heiterkeit, die es nicht nötig gehabt hätten, nach Kartoffeln zu schreien: aber sie taten mit zum Spass. Die Sonne schien hell, die Luft war lind, es war angenehm, durch die Strassen zu streichen. —

Am Abend gaben die Weiber Ruhe. Die Polizei triumphierte: aha, jetzt waren sie’s müde! Es fiel zudem ein pladdernder Regen. Aber als am anderen Morgen die Sonne wieder lachte, ihre scharfen Strahlen den Matsch der Strassen aufleckten, da waren die Weiber auch wieder da. Und es waren ihrer noch viel mehr als am Tage zuvor.

Am Oranienburger Tor auf dem Markt gab’s keinen Sack, keinen Korb mehr, nicht Runk und nicht Strunk, da war reingefegt. Aber es gab ja noch andere Märkte, Berlin war gross. Und es wälzte sich schnell ein Haufe dahin, der andere dorthin. Rotten verteilten sich in die verschiedenen Stadtgegenden: Kartoffeln! Brot — ja, Brot, Brot!

Vor den Bäckerläden wurde Halt gemacht: Bäcker — Halunken! Ihre Brote schrumpften immer mehr ein, sie selber aber gingen immer mehr auf. «Wat, det soll ’ne Fünfjroschenschrippe sind? ’ne Zweejroschenschrippe höchstens. Legt ihr man uf de Wage, fix!»

«Dieb! Jierschlung! Bedrüjer!» Sie heulten laut auf, sie spuckten dem Bäcker ins erschrockene Gesicht, sie schnoben durch seinen Laden, sie langten sich die Brote von den Regalen und stopften sich die Taschen mit Semmeln voll.

Einen Widerstand hatte der Mann nicht gewagt, die Weiber waren ja nicht mehr allein, sie hatten sich Männer mitgebracht, Ehemänner, Liebste. Ein ganzer Schwanz zerlumpter Kerle hing an den Weiberröcken. Und mit Pfeifen lief muntere Strassenjugend vorauf, die mit Steinen Ladenfenster bombardierte und ein Vergnügen dran fand, wenn es recht klirrte.

Weh dem, dessen Brot zu leicht befunden ward! «Auf ihm!» «Haut ihm!» Und die Mehlkiste wurde aufgerissen, Sand und Asche hineingestreut, der Kot der Strasse hindurchgemengt. Der Bäcker musste noch Gott danken und stille sein, wenn sie ihm seine Ladeneinrichtung nicht zerschlugen, ihn nur sitzen liessen, ausgeräumt, ausgekratzt, so leer wie ausverkauft.

Aber wessen Brot richtig wog, vielleicht sogar noch ein halbes Lot mehr, der bekam ein Hurra. «Hoch, hoch, hoch!» Mit Kreide schrieb man’s an seine Tür: der hier war ein Ehrenmann. Und kein Haufe kam nach, der nicht diese Kreidebescheinigung respektiert hätte.

Es ging eigentlich ganz gemütlich zu. Wenn ein Polizist sich sehen liess, wurde er verulkt. Wenn er sagte: «Geht nach Hause, keinen Radau, oder ich schreibe euch auf,» dann lachte ihm ein keckes Weibsbild ins Gesicht: «Blauer, hab dir man nich!» Und wenn er nach ihr greifen wollte, husch, war sie weg. Die ganze Schar war auseinandergestoben. Nur irgend ein Knirps, dem noch der Hemdzipfel aus der Hose hing, blieb wohl zurück, stellte sich mitten auf die Strasse hin, legte die gespreizten fünf Finger an die schmierige Nase und zog das Maul breit in vergnügtem Grinsen.

Und doch fühlten die Bürger sich ungemütlich. Nicht nur Bäcker und Schlächter, nicht nur die ‚Materialisten‘ schlossen zu, legten vor ihre Ladenfenster die eiserne Querstange und verbarrikadierten von innen ihre Tür mit herangewälzten Fässern und aufgestapelten Kisten, auch der kleine Pfennigrentier, der weder auf Wucher lieh noch jemandem etwas schuldig war, der nichts zu verkaufen hatte als seine eigene Haut, fühlte geheimes Grausen. Er stöhnte und ächzte so im Schlaf, dass die besorgte Gattin ihn anstiess: «Krause, drückt dich die Leberwurst?»

«Nee, die nich!» Vor Angst schwitzend, zog sich Herr Krause die Nachtmütze tief über die Ohren. Horch, fiel da nicht ein Schuss?! Wenn die Canaille nun hier das Haus stürmte, ihn aus seinem guten Bette riss, sich selber hineinlegte neben Madame Krause?! Dann wurde er die Bande nur los, wenn er alles bot, was er an Bargeld im Hause hatte, und die zwei silbernen Kandelaber noch dazu, auf die er so lange gespart hatte, und die Alabasterschale unterm Trumeau, und die dicke Smaragdbrosche mit den passenden Ohrgehängen, die er Madame Krause zur silbernen Hochzeit verehrt hatte, und seinen Siegelring und ihren Longschal aus Persien!

Herr Krause verbrachte eine Nacht voller Schrecken, obgleich es auf der Strasse so still blieb, wie es alle Nächte in Berlin zu sein pflegte. —

Das war ja furchtbar, dagegen war das in Paris ja ein Kinderspiel gewesen! Herr Krause und Herr Schleefke, Herr Müller und Herr Pieseke, der Herr Geheime Kanzleisekretär Rosentreter und der Herr Kammergerichtsaktuarius Leisegang konnten gar nicht genug erzählen, was alles Entsetzliches geschehen war, als sie es gewagt hatten, am nächsten Tag in der Dämmerung mit ihren langen Pfeifen wieder am Stammtisch bei Pickenbach oder Clausing zur gewohnten Weissen zusammenzukommen.

Der ‚Beobachter an der Spree‘ brachte längst nicht alles, was sich zugetragen hatte in diesen Tagen; das ging ja auch gar nicht an, der Zensor hätte es nie passieren lassen. Und es war auch gut, dass man vertuschte, der Pöbel lernte sonst nur noch zu.

Eine Revolution, eine wirkliche Revolution! Die Pfeifen gingen ihnen darüber aus.

Der Herr Geheimsekretär wusste es ganz genau, man hatte einen Augenblick sogar daran gedacht, Kanonen auffahren zu lassen. Welches Glück, dass es den Kavallerie-Patrouillen, die endlich am vierten Tag der Polizei zu Hilfe kamen, gelungen war, die Empörer mit der flachen Klinge auseinander zu treiben. Aber an hundert Arrestanten sassen in der Hausvogtei, darunter siebzehn Frauenzimmer und ein Schlosserlehrling, ein Bengel, kaum sechzehn Jahre alt, der sich nicht entblödet hatte, das Militär Seiner Majestät, des Königs Militär mit Pflastersteinen zu werfen! Und — zu pfeifen!

Unter denen, die keine Angst gehabt hatten, die ruhig ihr Lädchen offen hielten und die kleine Schenkstube, die hinter dem Lädchen lag, war Christian Schulze. Es waren wohl johlende Burschen mit Weibern Arm in Arm durch die Schützenstrasse gekommen, aber im allgemeinen war das keine Laufgegend.

Fast wie Dorfhäuschen lagen die niedrigen Häuser hinter den beiden Reihen der Bäume, die jetzt eben anfingen, ihre Blattknospen zu schwellen, und um deren Stämme die Hühner, die aus den offenstehenden Türen der Höfe heraus auf die Strasse liefen, kratzten und scharrten. Stille Gegend. Freilich nur hundert Schritt, man brauchte nur um die Ecke zu biegen, und man war in der Friedrichstrasse, mitten drin im Leben der Stadt. Während in der Schützenstrasse nachmittags die Frauen einen Schemel herausholten, sich vor der Tür niederliessen mit ihrem Strickzeug oder für ihre Buben die Hosen flickten, eilte da die feine Welt von Berlin hin zu den Linden, her von den Linden. Feine Herren, in verschnürten Röcken, denen die Zeitungsverkäufer nachrannten und die zudringliche Schar der Blumenjungen: ‚Herr Baron, koofen Se mir doch ’n Bokett ab!‘ — ‚Herr Iraf, nee mir!‘ — Damen in Kiepenhüten, buntseidne Bindebänder unterm Kinn, am Arme des Gatten die Auslagen der Läden musternd — und am Abend jene, die sich selber mustern liessen.

Wenn Wilhelmine, Christian Schulzes Dritte, abends mit ihrer Freundin Luise Witte noch einen kleinen Spaziergang machte, guckte sie hier um die Ecke, und es schwindelte ihr fast: so viele Laternen! In der Schützenstrasse war es ganz dunkel; aber sie fühlte sich dort behaglicher. Die geputzten Damen erschreckten sie fast, und doch regte sich der Mädchenwunsch in ihr: wer sich doch auch einmal so fein machen könnte!

«Wenn du die Kledaschen anhättst, sähste noch tausendmal hübscher aus,» tröstete Luise. Luise war ganz verliebt in ihre Minne. Die schwarzbraunen Haare der Minne waren so viel glatter und glänzender, als ihre eigenen flachsblonden, und die sanften dunklen Augen so viel grösser als ihre eigenen hellgrauen. Von jeher hatte Luise Witte Wilhelmine Schulze bewundert. Sie waren zusammen in die Schule gegangen, zusammen eingesegnet worden. Nun hatte Minne noch Nähstunden und half der Mutter in der Wirtschaft, Luise aber ging morgens Kinder wickeln und nachmittags Windeln waschen. Sie war nicht sehr entzückt von dieser Beschäftigung, aber sie musste; ihre Mutter, die Witten, war eine gesuchte Persönlichkeit im Bezirk, sie hätte es nicht allein geschafft, den Neugeborenen, denen sie zum Licht verholfen hatte, auch noch weiter ihre Fürsorge angedeihen zu lassen.

Heute weinte Luise fast. «Ick jraule mir! Schonst wieder hat eine nach Muttern jeschickt. Die Frau von’n Tapezierer Hanke in de Kanonier. Ach, nu muss ich da morjen jewiss wieder wickeln jehn! Minne, ick sage dir, et is schauderhaft. Heirate du man ja nich! Denn verlierste deine schönen dicken Haare — se wer’n janz dünne — un die Zähne fallen dir aus. Nee, nur nich heiraten! Es laufen auch schonst viel zu viele Kinder in der Welt rum.» Sie seufzte. «Wenn’t ihrer weniger wären, würden die, die da sind, es besser haben!»

Minne wollte dagegen sprechen: warum nicht heiraten und Kinder kriegen? Ihre Mutter hatte sieben Töchter und hatte doch eine ganze Masse Haare unter der Haube, und hatte auch noch fast alle ihre Zähne. Aber als sie die Freundin seufzen hörte, schwieg sie und drückte nur teilnehmend deren Arm. Sie wusste es ja, gegenüber, bei Wittes, war das Glück nicht zu Haus: der Vater, der immer nur auf Gelegenheit zur Arbeit wartete, vertrank das meiste, was die Mutter verdiente, und wenn sie’s nicht hergab, drohte er mit Schlägen. Die Kinder hatten oft hungrig zur Schule gehen müssen. Und wenn die Luise sich mal verheiraten würde, wen sollte die da gross kriegen? Aber sie selber, Christian Schulzes Dritte?! Ihre älteste Schwester, die Male, hatte schon geheiratet mit siebzehn, den Kürschnermeister Siebert; die hatte nun einen dicken, strampelnden Jungen. Mieke, die dann an der Reihe war, war auch schon verlobt; ihr Bräutigam, August Lehmann, hatte eine Tischlerwerkstatt, sie würden bald heiraten. Und dann kam sie dran! Ein sanftes Rot zog über das hübsche Mädchengesicht. Was wohl Luise dazu sagen würde? Fast scheu sah Minne von der Seite die Freundin an: die war soviel klüger, soviel erfahrener, die kommandierte immer — aber, nein, in diesem Fall —!

Als ob Luise diese Gedanken erriete, sagte sie jetzt: «Die Männer taugen alle nischt. Du bist viel zu schade for die. Komm, ich wer dir was zeigen!» Und sie zog die Kleinere mit sich fort.

Arm in Arm huschten die Sechzehnjährigen an den Häusern entlang. Sie passierten ein Stückchen die hellerleuchtete Friedrichstrasse, aber geschwind bog die führende Luise dann in die Krausenstrasse ein; die war wieder dunkel und still. Und sie gingen sie links hinauf zum winkligen Plätzchen der Böhmischen Kirche.

«Nanu, was willste denn bei den Böhmackern?!» Minne zögerte: hier gingen sie doch sonst nie her, wenn sie spazierten. Es war hier besonders finster und still, fast unheimlich so am Abend.

Luise lachte leise in sich hinein, und dann zog sie die Freundin dicht an die Kirchwand heran und flüsterte, die Hand ausstreckend: «Siehste da? Stell dir man auf die Zehen, denn kannste ihr gut sehen!»

Im Schatten der Kirche, versteckt im Winkel, lag ein altes Haus. Es hatte ein niedriges Parterre. Und in einem der niedrigen Parterrefenster, das unverhängt war, sass ein Frauenzimmer. Alle anderen Fenster des Hauses waren nicht erleuchtet, dies eine war hell; es warf einen breiten Schein hinaus in die Nacht der Strasse. Auf dem Tischchen am Fenster stand eine Lampe, in ihrem vollen Licht sass eine Schöne und lächelte, und hinter ihr, an der verdämmernden Rückwand des tiefen Zimmers, zeigte sich deutlich ein rotgedecktes Bett.

«Det is der ‚Blechkopp,‘» flüsterte Luise.

Minne riss die Augen gross auf: wer? O, wie sah die aus!

Das metallisch schimmernde gelbe Haar trug die Person mit Schnüren von Wachsperlen durchwunden, lange gedrehte Locken und Troddeln von Perlen fielen ihr links und rechts auf den nackten Hals. Was sie für ein Kleid anhatte, sah man nicht; vielleicht sass sie im Unterrock da, man sah nur einen safrangelben alten Seidenschal, der die üppige Brust kaum zur Hälfte bedeckte.

«Siehste se?» wisperte Luise.

Minne nickte zitternd, eine Angst kam sie an, sie wusste nicht, vor was. «Was — was macht se denn da?» stotterte sie.

«Na,» erklärte Luise seelenruhig, «det siehste ja. Die sitzt da un wart’, bis die Männer zu ihr kommen.»

«Ob denn welche reinjehn zu ihr?» Der Kleinen stockte fast der Atem.

Die Freundin lachte auf. «Alle Dage, det kannste jlauben. Neulich hat ihr Mutter anjekriegt. ‚Na, Fräulein,‘ sagt se, hat se zu se jesagt, ‚Sie kriegen ja so ville Herrenbesuch, wat wollen die denn alle bei Sie?‘ Da hat se jesagt, janz dreiste: ‚Ick habe doch Joldfische zu verkaufen, det wissen Se noch nich?‘ Un hat jelacht, jelacht! Ja, so frech is die! Aber so sind die Männer!» Luise stiess einen wissenden Seufzer aus.

Minne seufzte nach. Sie wusste nicht, warum sie auf einmal traurig wurde, so traurig; es belastete etwas ihr sonst so leichtes Herz. Wie entsetzt starrte sie hin zu der, die da im Fenster sass und anlockte, und dann schlug sie die Augen nieder und senkte den Kopf tief.

«Komm nu,» sagte Luise und stiess die Versonnene an. «Nu wolln wir jehn. Was denkste denn?»

Aber Minne gab keine Antwort. Sie liess sich führen, die Augen schlug sie nicht auf.

Luise kicherte plötzlich, sie waren im Dunkel der Böhmischen Kirche mit jemandem zusammengerannt.

«Na!» sagte ungeduldig der grosse breitschulterige Mensch. Aber als er zwei junge Mädchengesichter erkannte, deren eines ihn ganz erschrocken ansah, bückte er sich ein wenig, um diese Gesichter genauer zu begutachten: die eine schien sommersprossig und hatte eine Himmelfahrtsnase, aber die andere —! «Pardon, die Mamsells,» sagte er plötzlich sehr höflich. «Verfluchte Finsternis! Beinah hätt’ ich Sie totgetreten. Entschuldigen Se!»

«Det wäre aber schade jewesen!» Luise war gleich bei der Hand. «Besonders um die Minne. Ich hätte schonst noch beizeiten jequietscht. Aber jut bei Fuss müssen Sie sein — alle Achtung — das ’s en Füsschen?»

Minne kniff die Ungezogene: wenn die doch still sein wollte! Aber der Mann lachte belustigt: «Sie haben ’n Mundwerk, Fräulein, potztausend!»

«Berliner Kind — mit’m Maul wie der Wind!»

Jetzt musste selbst Minne mitlachen, die Luise war doch zu komisch. Es machte sich wie von selber, dass der junge Mann neben ihnen herging.

Es war nicht schwer, miteinander bekannt zu werden, wenn Luise dabei war. Die führte das Wort. Und neugierig war sie, sie hatte es bald heraus, was das für einer war. Als sie zu der Laterne kamen, die an der Ecke der nächsten Strasse dunkelgelbliches Gaslicht spendete, sah sie, er trug einen blauen Leinenkittel, ein wenig angerusst und angefettet, und er selber war schwärzlich und baumstark und hatte Hände wie Schraubstöcke. Sie blinzelte ihn von der Seite an.

Er entschuldigte sich: sonst ging er nicht so am Feierabend, nicht so im Arbeitskittel, das brauchten die Mamsells nicht zu denken; aber er war heute erst spät in der Schlosserei fertig geworden, es hatte nicht mehr gelohnt, sich umzuziehen, er hatte nur mal eben noch einen kleinen Gang machen wollen, und für den — es kam eine leichte Verlegenheit in seine Stimme, aber mit einem lauten Auflachen schüttelte er diese Verlegenheit ab — für den Gang war der Kittel noch gut genug!

Eigentlich hatte er etwas Freches. Minne fand das: was lachte er denn so nichtsnutzig? Sie glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, in der Zimmerstrasse, wie er da bei Schlosser Rummel in der Tür gestanden hatte, die Hände in den Hosentaschen. Er war so gross und stark! Verstohlen guckte sie zu ihm auf: er war aber doch ein gutmütiger Mensch! Er gefiel ihr besser als Males Kürschnermeister, auch besser als Miekes Tischler. Ein Schlosser also, ein Schlosser —?! Aber sie sprach kein Wort mit ihm, sie liess nur Luise mit ihm sprechen. Die schwatzte in einem fort.

Als sie mehrmals bis hin zur Schützenstrassenecke geschlendert waren und wieder zurück und die Mädchen dann endlich nach Hause mussten, weil von der Jerusalemer Kirche die Uhr dröhnte und des Nachtwächters dumpfe Stimme von ferne mahnte: «Zehn is die Glock!», wusste Wilhelmine Schulze, dass der grosse Schlosser Hermann hiess. Hermann Henze.

Und dass sie Schulzes Minne war, und dass man bei Christian Schulze hinterm Laden in der kleinen Stube ausser Weissbier auch Essen bekommen konnte, wenn man bescheidene Ansprüche machte, das wusste er nun auch.

Das Eisen im Feuer

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