Читать книгу Das Eisen im Feuer - Clara Viebig - Страница 5

Zweites Kapitel

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Vater Schulze hatte heute auf seinem Plan, den er gleich vorm Tor, hinter der Mauer des Jerusalemer Kirchhofs, dicht am Upstall, wo die Tempelhofer Bauern ihr Vieh weiden, besass, den letzten Weisskohl geschnitten. Nun führte er den auf seiner Handkarre heim durchs Hallesche Tor, übers runde Loch des Belleallianceplatzes, an all den Kavallerieställen vorbei, die lange Friedrichstrasse hinunter.

Er hatte eine gute Ernte gehabt, schon vier alte Weinfässer voll Sauerkraut hatte seine Lene eingelegt; dies hier gab ein fünftes. Ja, sie verstand das ausgezeichnet, Schulzes Sauerkohl war beliebt und berühmt. Der Mann verzog schmunzelnd sein bäuerliches Gesicht. Auch die Schweinchen, die er hinten im Hof fettmachte, waren rund und versprachen so gute Schinken und Pökelfleisch, dass einem das Herz im Leibe lachen konnte. Aber er wurde doch gleich wieder ernst. Und wenn auch die Kartoffeln gut gelohnt hatten, und er sich besseren Erlös von Kraut und Kartoffeln versprechen durfte als Nachbar Schilling von seinem grösseren Stück, das er weit draussen bei Kriegersfelde mit Korn bebaute, es war doch keine erfreuliche Zeit, in der man jetzt lebte.

Seit der Krakeelerei im Frühjahr, seit dem Kartoffelkrieg, war’s nicht mehr so gemütlich in Berlin. Es wollte sich etwas vorbereiten, das fühlte selbst der einfache Bürgersmann, der sonst an nichts weiter gedacht hatte, als wie er seine Kinder grossziehen und in Ehren sein Stück Brot verdienen sollte. Aber was bereitete sich vor?!

Christian Schulze hielt einen Augenblick an; die Ladung war schwer, und der Gurt, den er, um besser mit seinem Karren das Gleichgewicht halten zu können, sich über den Nacken gelegt hatte, drückte ihn schmerzhaft. Er schlüpfte einen Augenblick aus dem Joch heraus, richtete den gebeugten Rücken gerade, pustete und nahm eine Prise.

Ja, ja, es war eine Zeit, ähnlich der von Anno dreizehn! Da hatte man auch so unter einem Druck hingelebt; aber das war doch ein anderer Druck gewesen, nicht so dumpf, man hatte gewusst, worunter man seufzte. Aber worunter seufzte man jetzt? Das war schwer zu sagen. Unter allerlei.

Christian Schulze hatte in seiner Wirtsstube einiges aufgeschnappt. Da war jetzt viel Zuspruch. Der grosse Schlosser, der Henze, der der Minne nachstieg, und August Lehmann, Mieken ihrer, die hatten Freunde, eine ganze Masse. Man musste es zugeben, feine waren darunter, es konnte einen wunder nehmen, dass einfache Handwerker solche Freunde hatten. Herren. Der eine von ihnen war ein Student mit langen Haaren. Und sie machten grossen Krach und räsonierten; man musste immer acht haben, dass die Tür vorn nach dem Laden geschlossen blieb, und die Ladentür nach der Strasse auch. Wenn einer da gerade vorbeigegangen wäre und hätte das gehört!

Schulze duckte sich und kroch wieder unter seinen Gurt. Langsam karrte er die schwere Last weiter. Ach, es war ihm gar nicht recht, dass der grosse Schlosser so oft kam! Der war ein Brausekopf, gleich mit der Faust aus der Tasche und mit dem Maul vorneweg. Das war kein Mann für die Minne. Überhaupt, wenn die auch was mitkriegte, so viel war es doch nicht, dass der Geselle sich hätte als Meister setzen können. Keine Versorgung! Verdriesslich runzelte Schulze die Stirn. Noch dazu jetzt bei solch unsicheren Zeiten! Und die Minne war überhaupt noch viel zu jung, und die dachte ja auch noch gar nicht an heiraten!

Das beruhigte den Vater von sieben Töchtern, seine Stirn glättete sich. Nun war er wieder der alte zufriedene Christian Schulze, der ein so behagliches Lachen hatte, ein Lachen, das ihn auch nicht verlassen hatte, als ihm die Witten ein kleines Mädchen nach dem andern hinhielt: «Ieses, Schulze, ick bin unschuldig dran, schonst wieder ’n Mädel!»

«Warum denn nich?! Bin ick janz zufrieden mit!» Und zu seiner Frau war er hineingegangen, die ein wenig ängstlich im Bette lag, und hatte ihren unsicher-fragenden Blick mit einem ganz strahlenden erwidert und hatte ihr die Wange geklopft: «Haste brav jemacht, Lene!»

War es denn nicht besser in diesen Zeiten, man hatte Mädels als Jungens? Wer weiss, was einem mit denen noch alles bevorstand?! Die Jugend von heute war ja ganz verrückt, die wollte sich nicht begnügen, wie es nun einmal war, die hatte lauter Sachen im Kopf, auf die ein ruhiger Bürgersmann von selber gar nicht gekommen wäre. Was sie nicht alles haben wollten! Der Student hielt immer Reden. Und sie regten sich auf dabei und kriegten rote Köpfe.

Schulze blieb auf einmal stehen, pustete und schlüpfte wieder vor unter dem drückenden Gurt. Recht hatten sie darin: der Bürger müsste auch einmal was sagen dürfen! Das Volk, das Steuern zahlt, sollte auch das Recht einer Stimme haben. Oho, der Untertanenverstand war lange nicht so beschränkt, wie die da oben meinten! Der ging nicht auf den Leim, wenn der König auch noch so schön redete und redete und immer was verhiess. Der Untertanenverstand wusste ganz genau: wer so viel redet, der gibt nicht. «Gnaden wollen wir nicht,» sagte der Student, «wir wollen Rechte!»

Mit einem Brummen schob Schulze seinen Karren wieder voran; aber unter den Gurt kroch er nicht mehr.

Es war noch recht drückend für diese Jahreszeit. Sich den Schweiss mit dem roten Sacktuch wischend, hielt Schulze endlich vor seinem Hoftor. Er wollte gerade abladen und nach einer seiner Töchter rufen, dass sie kam und half, da segelte die Witten querüber auf ihn zu.

Sie hatte es eilig wie immer, wie immer flogen ihre Haubenbänder, und wie immer trug sie am Arm die grosse schwarze Glanzledertasche, die etwas Geheimnisvolles an sich hatte mit ihrem weiten Bauch. Aber so eilig hatte sie es doch nicht, dass sie nicht bei dem Nachbar stehen geblieben wäre. «Schöne Kohlköppe. Seid froh bei die teure Zeit!»

«Bin ick ooch!» Er schmunzelte; aber dann machte er ein ernstes, etwas verlegenes Gesicht. Die Witten kam ihm gerade recht. Er hatte es sich schon immer vorgenommen und auch mit seiner Lene davon gesprochen, dass er ihr sagen wollte, sie sollte ihre Luise nicht so viel hinüberschicken. Nun wurde es ihm schwer. Die Luise war am Ende doch ein ganz fleissiges Mädel, eigentlich liess sich nichts gegen sie sagen, und sie hatte Minne auch so gern, aber, aber — sie war eben zu viel auf der Strasse, und sie kam mit Dingen in Berührung, von denen die Minne noch gar nichts zu wissen brauchte. Aber als er der Witte jetzt in das abgehetzte müde Gesicht sah, das er sich nie erinnerte, anders gesehen zu haben als abgehetzt und müde — die arme Frau kriegte zu wenig Schlaf, sie sass oft ganze Nächte auf dem Stuhl mit einer Tasse Kaffee, damit sie gleich bei der Hand war, wenn’s losging — fand er nicht den Mut, ihr das mit der Luise zu sagen. Es würde ihr wehtun. Und so fragte er denn nur nach den beiden Jungen — das waren rechte Tunichtgute — mussten die sich nicht bald stellen zum Militär?

Die Frau schnippte mit den Fingern, als wenn sie einen Faden durchschnitte, der sich schon zu lang gesponnen hatte.

«Meine Jungs ihre Zeit kommt ooch — aber nich, wie Sie vielleicht denken, Schulze!» Sie warf ihm einen forschenden Blick zu, und dann trat sie ihm näher und sagte leise, aber mit einer Stimme, in der es wie ungeduldige Erwartung bebte: «Wir jehn anderen Zeiten entjejen, Schulze, det sage ick Ihnen!»

Er sah sie ganz verdutzt an. Ihre Augen schwammen, ihr Gesicht war ganz rot geworden.

«Wir haben schonst viel zu lange in’n Käfig jesessen wie’n armselijer Piepmatz; nu fliejen wir aus. Passen Se uf, Sie fliejen ooch mit!»

«Nee, nee,» er schüttelte den Kopf, «dazu bin ich viel zu alt. Wenn et denn partu sein muss, lass die Jugend fliejen, man kann ihr leider nich dran hindern; aber ick habe Dreizehn un Vierzehn mitjemacht, ick habe det Meinige jedahn — ick flieje nich mit.»

«Aberst icke!» Die müden Augen der Frau bekamen lebendiges Feuer. Die kleine rundliche Gestalt der Witte reckte sich und wurde höher. «Ick habe mir jenug jequält in meinem Leben und abjeschuft’t, ick will nu, det et wenigstens meine Kinder besser jeht. Aus is’s mit dem Rejieren un dem Iottesjnadentum – nu wer’n wir mal von Iottes Inaden sind!»

«Witten, Sie sind verrückt!» Christian Schulze wurde grob: das Weibsbild war ja ganz und gar unvernünftig, was hatten denn ihre Wünsche, die Wünsche von so ein bisschen Armseligkeit, dabei zu tun?! «Sie haben ja keene Ahnung von Polletik!» Und damit drehte er ihr den Rücken und karrte seinen Kohl vollends durch den Torweg, schmiss ihn mit solchem Gepolter auf dem Hofe um, dass die Tauben, die dort Futter pickten, erschrocken sich in Sicherheit brachten auf ihren Schlag.

Die Witte aber schrie ihm nach — er hörte es wohl, aber er tat, als hätte er keine Ohren — «Sie olle Schlafmütze Sie! Aber warten Se man, wenn unsere Jungs erst die Jlocken läuten, denn wer’n Se wohl ooch ufwachen, Sie, Sie!»

Er schüttelte noch immer den Kopf, als sie schon längst mit ihrem schiebenden Gang, den sie sich angewöhnt hatte auf ihren eiligen Wegen, um die nächste Ecke verschwunden war. Konnte die rabiat sein — herrjeh, wenn die Weibsbilder erst anfingen! Gut, dass seine Lene nicht so war!

Es überkam ihn ein zärtliches Gefühl, als er nun, vom Hofe her, hinten in die Küche trat und seine Frau fand, wie sie mit aufgestreisten Ärmeln am Herde stand und Hammelfleisch mit Kümmel und Kartoffeln zum Abendbrot schmorte. Der kräftige Geruch umfing ihn wohltuend. «Mutter, jibt’s bald was?»

Sie nickte mit ihrem runden Gesicht freundlichbejahend, dann aber blinkte sie mit den Augen nach der Tür, die die Küche mit dem Wirtszimmer verband. «Er is schonst wieder da. Schonst über ’ne Stunde sitzt er drinne un trinkt eene Weisse nach der andern. Er hat auch schon jefragt, ob er zu’n Abend was zu essen kriejen könnte. Er lauert auf ihr. Aber ick habe zu ihr jesagt: ‚du unterstehst dich nich un jehst nach de Stube rin!‘ Nu sitzt se oben bei die Kinder und hört die ab. Rumzustricken hab ick ihr auch aufjejeben, fünfunddreissigmal rum, jrade mitten in de Wade; det is en janz Teil. Un Aujust hab ick mir auch jelangt; er is doch sein Freund. ‚Sag man deinen Freund,‘ hab ick jesagt, ‚det er sich keene Hoffnung machen soll auf Minnen, absolut keene. Jib du et ihm durch de Blume,‘ sagte ick, ‚aber deutlich. Denn wir können det nich so, wir sind die Wirte hier, un er is Iast!‘»

In der kleinen Hinterstube, die sehr einfach eingerichtet war, mit zwei weissgescheuerten Tischen, ein paar Rohrstühlen und einem glanzledernen grünen Kanapee, über dem in der Mitte der König hing — links und rechts von ihm Friedrich Wilhelm III. und die schöne Königin Luise mit Diadem und Schleier — sassen Schlosser Henze und Tischler Lehmann. Sie hatten sich angefreundet an jenem Sonntag im Mai, an dem der Erklärte Miekes seine Braut zu einem Gewerkfest mitnehmen durfte und die jüngere Schwester sie des Anstands wegen begleitete. Da war der hübsche grosse Mensch herangekommen, hatte seinen Namen genannt und gefragt, ob er einmal mit dem Fräulein tanzen dürfe. Das war alles so, wie es sich gehörte, und August hatte gar nichts dagegen gehabt. Jetzt war es ihm freilich nicht angenehm, dass er damals sozusagen den Vermittler gespielt hatte.

«Schlag se dir aus’n Koppe,» bat er den Freund, der, den mächtigen Kopf in die Hand gestützt, ihm gegenüber am Tische sass, mit einem ein wenig spöttischen Gesicht, und kaum zuzuhören schien, was der andere sagte. «Se is man zart — arg dünne — und du mit deine jroben Poten!»

«Meinste?» Hermann lachte laut auf. Es war ein kräftiges, volltönendes Lachen, das aus dieser breiten Brust kam, als seien alle Register gezogen. Er legte seine beiden grossen Hände vor sich auf den Tisch: «Da, kuck se dir an — die halten fest!»

Der viel schmächtigere Tischler betrachtete den Grossen mit einer gewissen Bewunderung. «Ja, ja, aber —» er wurde bedenklich — «wenn die Ollen doch nu mal nich wollen!»

«Mit Minnen bin ich einig.»

«Donnerschock, det is aber schnell jejangen! Aber haste denn ooch ’ne Pfarre zu die Knarre?»

Ein Schatten flog über Henzes lebensfrohes Gesicht, aber der verschwand schnell. «Sie is ja noch so jung. Wir müssen eben noch warten.»

«Von wejen det ‚so jung‘» — August kratzte sich den Kopf — «älter wird se schonst. Aber du, du —!» Er schüttelte den Kopf. «Wenn ick mir det so ausmale, du un die kleene Minne!» Er fuhr plötzlich auf, als fiele ihm jetzt erst so recht die Einschärfung der Schwiegermutter ein. «Mensch, dir piekt et wohl?!»

Aber der Grosse lachte und lachte. So ein recht übermütiges, siegreiches Lachen, ein Lachen, dass auch der Bedenkliche nicht widerstehen konnte und mitlachte; ein Lachen, bei dem selbst Vater Schulze nebenan in der Küche ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte: schade, dass das mit dem Schlosser nichts werden konnte, ein Prachtkerl war’s doch! — — —

Als Hermann Henze diesen Abend nach Hause ging, war er unbefriedigt; er hatte gehofft, es durch Ausdauer durchzusetzen und das Mädchen doch noch zu sehen. Aber sie hatte sich nicht gezeigt. Nun schlenderte er missmutig durch die Friedrichstrasse; zu seiner Schlafstelle unten in der Junkerstrasse hätte er anderen Weg gehabt, aber nach schlafen war ihm nicht. In ihm war ein fieberndes Verlangen. Er nahm die Mütze ab und strich sich durch den buschigen schwarzen Haarschopf, der ihm mit einer Locke in die Stirn hing. Tief atmete er. Es war ihm, als sei die Strasse, die in einer dürren schwärzlichen Linie ihre Häuserfirste rechts und links gegen den Himmel streckte, zu eng. Der Mond schien irgendwo, aber man konnte ihn nicht sehen, noch stand er nicht hoch, die Dächer und Schlöte verdeckten sein bleiches Gesicht.

Da war es einstmals doch anders gewesen — in seiner Jugend, wie anders! Der Schlosser schnappte hastig nach Luft, als drohte er zu ersticken. Da hatten sie abends um diese Zeit, wenn der Vollmond emporgeschwebt war hinterm Kiefernrand, über unbegrenzten Äckern und Wiesen stand mit silbernem Licht, die Pferde in die Schwemme geritten. Er und die anderen Jungen des märkischen Dorfes. Nackt hatten sie auf den Pferden gesessen, splinterfasernackt; es war eine Lust gewesen, die lindwarme Luft um die Glieder zu spüren. Selbst die müden Ackergäule hatten diese Lust verspürt, sie waren wiehernd hineingestapft in den blinkenden Spiegel des kleinen Sees, dass das Wasser hochspritzte und den schimmernden Körper des Reiters wie mit Diamanten und Perlen besprühte. Die Dorfmädchen hatten zugesehen; sie hielten sich hinter den Büschen versteckt, aber ihr Lachen verriet sie. Wart du! ’runter vom Gaul, sich eine erhascht und dann — und dann —! Der einsam Daherschlendernde schnaufte wie ein Ross.

Jugendstreiche — wie lagen die so weit! Mit fünfzehn Jahren hatte ihn die Mutter nach Berlin in die Lehre gebracht; nun war er schon über zwölf Jahre in der Grossstadt. Es gefiel ihm gut hier, aber in die Schwemme hätte er doch einmal wieder reiten mögen, so wie ihn Gott geschaffen, und aufjuchzen hätte er dabei mögen, aufjuchzen. Was die Mutter wohl machen mochte?! Lange, sehr lange hatte er nicht an sie gedacht. Wenn man so weit von der Heimat fort ist, verliert man die Fühlung mit ihr und mit denen, die noch dort wohnen; Berlin wird einem Heimat. Aber an die Alte schreiben musste er nun doch einmal, seit mehr als einem Jahre hatte er nichts von ihr gehört. Lebte sie noch? I, wo würde sie nicht! Wenn sie tot wäre oder es ihr schlecht ginge, hätte er schon von ihr zu hören gekriegt! Er schüttelte die Erinnerung ab: wozu sich erinnern? Das war zu nichts nütze. Lieber an der Zukunft bauen, die gehörte ihm.

Er fing an zu pfeifen. Hell schrillte das durch die Strasse. Gleich würde der Nachtwächter auf seiner Runde kommen, ihm’s Pfeifen verbieten — wurde einem denn nicht alles verboten? Nächtliche Ruhestörung, mit nach der Wache in der Lindenstrasse oder nach der Stadtvogtei. Der sollte sich unterstehen! In den Rinnstein flog er mitsamt seiner Laterne, seinem Spiess und seinem Horn — ein Überbleibsel aus alter Zeit. Jetzt wurde aufgeräumt mit den Überbleibseln, mit all den Zöpfen von Anno dazumal; Berlin mauserte sich, schon morgen wurde es Weltstadt! Herausfordernd klang das Pfeifen des jungen Mannes. Einen mächtigen Schatten warf seine breite Gestalt.

Hermann Henze war wieder besserer Laune geworden. Die Luft der Strasse, die am Tage matt gewesen war und verbraucht, durchdünstek von allerlei Menschengerüchen und Staub und Rauch, war jetzt frischer. Vom runden Loch des Platzes herunter kam ein freierer Luftzug, ein Odem der Felder jenseits der Stadtmauer. Die waren ja noch nicht allzu weit; schimmernd von Tau, schlangen sie einen Gürtel noch rund um die ganze Stadt: Äcker, Wiesen, Sandhügel, auf denen Windmühlen sich drehten, Kiefern-, Akazienwäldchen, Schafgraben, die Panke, und die den Ausgüssen der Stadt entronnene, ihre Arme wieder vereinigende, breitflutende Spree.

Mit geblähten Nüstern, wie ein Renner, der Freiheit wittert, stand der Schlosser. Wohin jetzt? Die meisten Kneipen waren schon geschlossen. Aber dahin stand ihm auch nicht die Lust — nach was denn?!

Seine Sinne stürmten. Er hatte das Mädchen nicht zu sehen bekommen, das er liebte, Minnes Hand nicht gefühlt, ihr den Kuss nicht geraubt, nach dem es ihn drängte. Den vollen Mund aufgeworfen in Trotz und Begier, stand er zögernd; ihn grauste vor dem einsamen Bett. Wohin jetzt, wohin?! Unschlüssig stand er noch — weiss Gott, er konnte jetzt noch nicht nach Hause gehen — so nicht — das Blut klopfte in ihm, schon wollte er einbiegen in die Krausenstrasse, dem finsteren Plätzchen der Böhmischen Kirche zu, da streifte ein Mädchen an ihm vorbei, sah ihm scharf ins Gesicht, blieb dann stehen und lachte sich eins.

Das war die Luise — Minnes Freundin! Erfreut fasste er nach ihrem Arm: die liess er jetzt nicht.

Sie war atemlos; sie hatte der Mutter etwas nachbringen müssen, das die vergessen hatte, als sie eilends geholt wurde zu einer Frau.

«Komm ’n bisschen!» Er hielt ihren Arm fest.

«Jerne. Mutter is nich da — die andern kümmern sich nich um mich.»

Er wollte, er musste von Minne sprechen, dieses Mädchen kannte sie genau.

Und Luise hing sich willig an seinen Arm. Ihr vom Laufen erhitztes Gesicht wurde ganz blass, ein Glück schoss ihr zum Herzen: er, er führte sie! Und mitunter drückte er ihren Arm wie mit Zärtlichkeit fester an sich. Luise wusste ganz genau, ihr galt das nicht — aber warum es nicht auskosten, das Glück der Stunde?! Sie presste die Augen zu: ‚jetzt wenigstens gilt es mir‘. Schmiegsam passte sie ihren Schritt seinem grossen an. Immer von Minne reden, immer von Minne; dass er’s nur nicht müde wurde, dies Spazierengehen!

Sie erzählte ihm von der Freundin, als die noch klein gewesen war. Niedlich und immer lieb! Sie hatten zusammen auf der Strasse Triesel geschlagen, und Minneken hatte geweint, wenn er in den Rinnstein gesprungen war, Luise hatte ihn ihr mit den Fingern herausgelangt. Sie hatten auch Brückmänneken gespielt auf den Rinnsteinbrücken, und Schleichhexe und Räuber und Prinzessin mit anderen Kindern, aber Minne war immer ein bisschen bange gewesen. Und sie hatte sich so gefürchtet vor dem Neunaugenmann, der abends, wenn es schummerte, die Strasse hinunterschrie: ‚Neunoogen! Neun-oo-ogen!‘ Es klang schaurig, dumpf und hohl. Da hatte Minne sich immer verkrochen; man brauchte nur zu sagen: ‚der Mann mit den neun Oogen kommt‘, und husch war sie weg.

Luise lachte leise, sie hatte sich hineingezwungen in diese Erzählung, nun ward sie doch selbst davon übermannt. Ihre Stimme klang weich. Erinnerung nach Erinnerung tauchte ihr auf; es war ja auch alles noch nicht so lange her, sie hatte es nur vergessen gehabt beim Kinderwickeln und Windelnwaschen und bei all dem, was ihr Leben so hässlich machte. Fast mit Tränen der Rührung sprach sie von Minnes Güte. Die hatte so manchesmal ihre Stullen mit ihr geteilt, den letzten Happen, die war überhaupt so gut, so gut und so sanft, ein Engel war die!

Luise berauschte sich an den eigenen Worten; es klang so schön, was sie sprach. Wenn’s sich auch nicht alles ganz so verhielt, wie sie sagte, jetzt schien es ihr doch so. Und jetzt fühlte sie es nicht, dass sie sich selber einen Dornenkranz aufsetzte mit ihren Lobpreisungen.

Der Mann lauschte entzückt. Er hätte das Mädchen an seinem Arm schier zerdrücken mögen vor lauter Wonne. Das entzückte ihn am meisten, dass die kleine Minne sich so gefürchtet hatte vorm Neunaugenmann — die würde sich überhaupt vorm Manne fürchten, die Zarte, die Schwache! Ihn, den Starken, bezauberte das.

Sie gingen immer kreuz und quer, bogen bald in die Strasse ein, bald in jene. Lauter dunkle Strassen, in denen es jetzt so einsam war, wie im dichtesten Wald. Luise hielt die Augen geschlossen, willenlos liess sie sich führen, sie wollte nichts sehen. Sie redete nur; ihr Mund sprach wie von selber, es floss ihr von den Lippen, es war ein Glück, so sprechen zu können. Ach, immer so weiter, immer so weiter wie im Traum — wenn der doch nie zu Ende sein möchte! Sie litt es, dass des Mannes Arm sich um ihre Taille stahl.

Es war eine milde Nacht, eine Nacht, wie im Frühjahr, nein, wie im Sommer. Es war noch Hitze darin. Sie fühlten beide eine Glut.

Der Mond war untergegangen, sie tappten über einen dunklen Platz. Da waren Büsche, sie traten auf Rasen — da stand eine Bank, und sie setzten sich.

In dunklen Umrissen ragte das Palais des Prinzen am Wilhelmsplatz vor ihnen, die Schildwache ging auf und ab, man hörte nichts als deren gleichmässigen Tritt.

Duftete nicht Flieder, blühten nicht die hohen Büsche übervoll. süss, ganz berauschend?! Luise schmiegte sich enger an ihren Begleiter, er suchte ihren Mund. Er atmete hastig: warum denn nicht, war sie denn nicht ein Mädel? Ein ganz nettes Mädchen, ein ganz molliges Mädchen? Er drückte ihr einen Kuss nach dem andern auf.

Luise sprach nicht mehr, seine Küsse brannten sie; sie konnte auf einmal nichts mehr von Minne reden, sie wusste auf einmal nichts mehr von der, nicht ein einziges Wort. In ihrer Brust hob sich etwas, das beengte sie: ein Gefühl übergrosser Sehnsucht, ein Gefühl zärtlichen Verlangens, mit Mühe nur hielt sie an sich. Sie zitterte, sie schwieg.

Da sagte er: «Du erzählst ja gar nischt mehr? Nu weiter!»

«Ich weiss nischt mehr.»

Er stand plötzlich auf: «Na, denn gehn wir nach Haus!» Er liess den Arm, mit dem er sie fest umschlungen hatte, von ihr. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen, wie erstarrt; dann stand auch sie auf.

Nun gingen sie die Wilhelmstrasse zurück, sie machten keine schlendernden Umwege mehr. An der Ecke der Zimmer- und Charlottenstrasse blieb er stehen. Er hatte es näher, wenn er weiter durchging bis zur Markgrafenstrasse; sie tat am besten, hier zu gehen. Auf einmal war er müde, er gähnte herzhaft. Und sie konnte ja auch gut die paar Schritte allein gehen.

Ja, das konnte sie. Sie hob die Augen zu ihm auf, in denen eine bittende Hingabe brannte, eine verlangende Sehnsucht. Ihre Lippen zuckten.

«’n Nacht,» sagte sie und hielt ihm die Hand hin.

Er schüttelte sie ihr freundschaftlich: «Na, schlaf wohl!»

«Danke!» Sie presste seine Hand: «Ich danke — danke!»

Wofür bedankte sie sich denn so?

Sie gab keine Antwort. Hastig sprang sie von ihm weg um die Ecke, ins Dunkel der Strasse hinein, und er eilte nun auch, dass er die Zimmerstrasse hinunterkam.

Aber nur wenige Schritte lief Luise, dann hielt sie an. Im tiefen Schatten stand sie und lehnte sich an eine Hauswand. In ein bitteres Schluchzen brach sie aus, hob ihre Hände und schlug sie immer wieder gegen die fühllose Mauer. In ihrer Seele war eine Empörung, ein wildes Sichauflehnen. Warum war sie so ein armes, geplagtes Tier, das kein Glück kannte und keine Freude? Warum hatte ihre Mutter ein Gewerbe, das ihr so wenig gefiel? Warum war trotz all deren Geschäftigkeit zu Hause kein Wohlstand? Warum war ihr Vater ein Trunkenbold, warum waren die Brüder Faulpelze? Warum hatte er sie nicht bis zu ihrer Tür begleitet, warum sie allein laufen lassen? Warum hatte er nicht gesagt, nicht ein einziges Mal gesagt: ‚Luise, erzähl auch was von dir‘ —?!

Sie weinte heftig.

Von der Kirchuhr schlug’s Mitternacht. Mochte es schlagen: zwölf Uhr, ein Uhr und noch viel mehr — nein, sie ging nicht nach Haus, sie mochte gar nicht mehr leben — so nicht mehr leben! Was war so ein Leben denn wert?!

Und doch entsprang sie eilends in grossen Sätzen und flüchtete ihrem Hause zu, als jetzt ein einsam Torkelnder sich nahte und auf sie zukam.

Das Eisen im Feuer

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