Читать книгу Das rote Meer - Clara Viebig - Страница 5
III
ОглавлениеSie hatten Rudolf heimbekommen. Seine junge Frau ging nun in Schwarz; ihr Witwenschleier wehte lang, auf dem vollen Haar sass der Schnebbenhut mit dem weissen Vorstoss. Annemaries rundes Gesicht war schmaler geworden; erst hatte sie kaum essen mögen, überhaupt nichts sehen noch hören wollen. So jung noch und schon Witwe! Sie hatte ganz vergessen, was sie und Rudolf in ihrer ersten Verliebtheit sich anscheinend völlig klar gemacht hatten, was sie ihrer Mutter auf deren banges: ‚Wenn er nun fällt?‘ geantwortet hatte: „Wenn ich ihn nur habe, nur ein einziges Jahr!“ So schwer hatte sie sich das Witwesein doch nicht gedacht. Das Leben schien auf einmal aus.
Aber nun waren die ersten schwersten Wochen überstanden. Noch führte ihr täglicher Spaziergang zum Kirchhof. Es trieben schon vereinzelte gelbe Blätter über den Hügel, den man, bevor ein Grabstein gesetzt werden konnte, mit einem Kreuz aus Holz goziert, mit Tannenreisig gedeckt und mit immer neuen frischen Blumen umstellt hatte. Sie fand ein gewisses Genügen daran, da zu ordnen und zu schmücken. „Da liegt dein armer Papa,“ sagte sie zu dem kleinen Jungen, der sie nicht verstand und ungeduldig an ihrer Hand zappelte.
„Warst du auch so lange unglücklich?“ fragte Annemarie ihre Freundin Lili.
Lili errötete und dann erblasste sie. War sie wirklich lange unglücklich gewesen? Lange genug? Das quälte sie. Auf Stunden, in denen sie voll liebender Sehnsucht an Heinz dachte, in denen ihr Herz in einer seligen Glückshoffnung klopfte, folgten andere Stunden. War sie nicht auch selig gewesen an dem Tage, der sie mit jenem anderen — ihrem ersten Mann — vereinigte? Sie hatte geglaubt, ihn für immer zu lieben — und nun? Nein, Heinz sollte noch nicht fragen, er durfte noch nicht fragen! Noch nicht. Wenn er fragte, was sollte sie antworten? Es war etwas in ihr wie heisses Begehren und zugleich wie verzweifelte Abwehr. Noch immer war es zu früh, es durfte noch immer nicht sein.
Zur Beisetzung seines Bruders war Heinz Bertholdi gekommen, aber nur für den einen Tag. Es war fast so, als hätten sie sich nicht gesehen. Sie standen sich am Sarge gegenüber, tief erschüttert. Wäre es nicht Roheit gewesen, an eigenes Glück zu denken? Er blickte mit einem steinernen Gesicht vor sich hin, die Augen immer starr auf die Erde gerichtet, vor ihm schluchzte die junge Witwe am Arm des Schwiegervaters, auf seinen Arm stützte sich die arme Mutter. Lili hatte gar nicht gewagt, zu ihm hinzusehen, beharrlich blieben ihre Lider gesenkt. Nur als sie herantrat, um in die offene Gruft ihre drei Handvoll Erde zu streuen, noch immer mit gesenkten Lidern, fühlte sie es plötzlich: sie stand hinter ihm. Er wandte sich, trat zur Seite, liess sie heran. Und da sahen sie sich an. Rasch, wie verstohlen. In seinem Blick war bei allem Leid das Aufleuchten des Glücks, sie zu sehen, und eine innige Bitte. Er hatte sich dann über ihre Hand gebeugt, sie geküsst. Ob sie etwas gemurmelt hatte von Beileid, von innigstem Mitgefühl, das wusste sie nicht. Gesprochen hatte sie ihn nicht mehr; am Morgen war er gekommen, am Abend war er schon wieder fort. Sie war zurückgeblieben mit dem peinigenden Gefühl: was hast du versäumt! Und doch mit der Gewissheit: du konntest nicht anders.
Der Tod Rudolf Bertholdis hatte Lili tief erschüttert. Alles, was sie überwunden gewähnt, lebte wieder auf. Von dem kalten Entsetzen, das sie gelähmt, als die Trauerbotschaft eingetroffen, mitten im lustigen Spiel, blieb ihr ein Rest. Es kamen Stunden, die alle Gedanken an Glück wegfegten. Tot, tot — wer sagte ihr, dass nicht auch Heinz bald dem Bruder folgte? Jetzt war nicht die Zeit des Hoffens, jetzt war die Zeit des Entsagens. Aus seinem Grab am Monte Piano, in dem er ruhig geschlafen hatte, von Alpengrün bedeckt, stieg der tote Leutnant Rossi und suchte seine Witwe heim. Nachts trat er an ihr Bett, sprach Worte der Liebe und — Worte der Drohung. Sie warf sich rastlos hin und her, wand sich wie in körperlichen Qualen, und schlief sie endlich ein, träumte sie so lebhaft von ihm, dass sie, vom eigenen Schrei erschreckt, wieder erwachte. — —
Unten schalt Lilis Hauswirtin, die Witwe Krüger: was gab die Frau Leutnant da oben denn an? Die weckte ihr noch den Jungen auf.
Des kleinen Gustav Bett stand neben dem Bett der Grossmutter. Der tat es so gut, seinen Atemzügen lauschen zu können. Wie ruhig das Kind schlief! Sie selber schlief nur wenig. Es ging ihr wie unendlich vielen anderen. Ruhig schlafen? Wer konnte das jetzt?! Die, die einen draussen hatten, bangten um den, und den anderen war es auch bang genug.
Jetzt, in diesen grauen Wintertagen, auf toter, kalter Erde, schien die Welt ganz freudenarm, die Zeit trostlos. Sollte auch das Jahr 1918 herankommen und noch immer kein Friede sein? Es ballte sich heimlich manche Faust — ‚Herrlichen Zeiten führe ich euch entgegen‘ — ei, schöne, herrliche Zeiten! Den ganzen vergangenen Winter hatte man Kohlrüben fressen müssen, immer Kohlrüben; Kartoffeln gab’s nicht. Mittags Kohlrüben, abends Kohlrüben, morgens Kohlrüben wieder aufgewärmt; Kohlrübensuppe, Kohlrübengemüse, Kohlrübenmarmelade, Kohlrüben im Brot. Man wurde den Kohlrübengeschmack überhaupt nicht mehr los. Diesen Winter würde es Kartoffeln geben, dafür aber gar kein Gemüse. Der heisse Sommer hatte alles verbrannt. Keinen Kopf Kohl, kein Pfund Spinat, kein Bündchen Zwiebeln. Kartoffeln, nur Kartoffeln; ohne Fleisch und Fett würgen sie in der Kehle. Fett! Wer hatte wohl Fett gesehen?! So wenig Fett man selber am Leibe hatte, so wenig schien auch das Vieh zu haben. Das Viertelpfund Fleisch, das man pro Kopf zweimal die Woche bekam, war zäh wie Sohlenleder. Es gab nichts Fettes mehr auf der Welt. Ha, nur einmal wieder eine Schnitte Brot essen können mit Butter bestrichen oder mit Schmalz! Und womit sollte man kochen? Das Kleckschen Butter, das jeder auf seine Karte bekam, war so gut wie gar nichts, und das bisschen Margarine stank. Nach Fischtran, nach Petroleum, nach alten Knochen. — — —
„Geh man einholen,“ sagte Frau Müller, bei der die Dombrowskischen Kinder in Pflege waren, zu der kleinen Minna. „Ich kann heut nich selber gehn. Brot-, Fett-, Kartoffel- und da de Lebensmittelkarte. Auf die haste Heringe zu kriegen; wir sind unsre drei, also ein und einen halben. Pass auf, dass du de Karten nich verlierst. Verlierste se, kriegste Dresche. Un du weisst, denn haben wer bis nächste Woche kein Brot, keine Kartoffeln, jar nischt. Denn musste verhungern.“
Mit dem Gefühl ungeheurer Wichtigkeit verliess Minna die Stube. Sie wohnten zu ebener Erde hinten heraus, nun tänzelte sie über den Hof. Das war doch zu schön, dass sie einmal einholen durfte, und so alleine! Der Erich würde staunen, wenn er aus der Schule kam. Zierlich ihr kurzes Röckchen hinten noch kürzer raffend, wie sie’s bei den Damen gesehen hatte, trippelte sie über die Strasse.
Die Strasse war schmutzig, Herbstgüsse hatten den Boden erweicht. Sie wurde auch jetzt längst nicht mehr alle Tage gefegt; die Strassenreiniger waren im Krieg, nur die alten, durch ein langes Leben Ermüdeten und zu fördernder Arbeit nicht mehr Tauglichen, waren zurückgeblieben. Kot, Papier, Überreste, was lag, das lag. Durch die Regenlachen waren viele Füsse gepatscht und hatten Brei gerührt, ein paar Pferde waren durchgetrappelt; sie hatten ihre Äpfel fallen lassen.
Im offenen Körbchen, das Minna am Arme trug, lagen die gelbe, die grüne, die weisse und die rosa Karte. Sie warf ab und zu einen besorgten Blick darauf: alle noch da. Nun war sie bald am Konsumverein. Ach, vielleicht kriegte sie da einen Bonbon zu! Der Erich hatte neulich mal einen gekriegt. Ihre kleine Nase schnupperte, sie leckte sich über die Lippen. Da gab es Bonbons, die färbten die Zunge rot; welche waren auch so hart, dass man sie nicht durchbeissen konnte, und welche schmeckten nach Farbe, aber es gab auch welche, die schmeckten schön süss. Vor ihrer Phantasie gaukelten die Bonbons, die die Mutter ihr in den Mund gesteckt hatte, ehe der garstige Krieg war. Sie hatte lange nichts Süsses gegessen; den Zucker, den man für den Monat bekam, den brauchte die Müllern zum Kochen und tat ihn sich auch in den Kaffee.
Minna stand in Sehnsucht versunken, ihr Körbchen am Arm.
Ein Bollerwagen kam angerasselt, der Schmutz spritzte nach allen Seiten. Der Kutscher, ein halbwüchsiger Bengel, peitschte unvernünftig auf die Pferde, die Hufe schlugen das Pflaster, dass Funken sprühten, Fässer und Kisten hopsten und polterten, — da, ein Fass kollerte vom Wagen. Krach. Das Fass war morsch, es zerbrach, der Inhalt floss auf die Strasse.
Wo kamen nur so schnell auf einmal alle die Kinder her? Und auch die Erwachsenen? Das war ja Sirup, köstlicher Sirup! Wo Wasserlachen zwischen dem holprigen Pflaster gestanden hatten, standen jetzt Siruplachen. Was machte es, dass Füsse gegangen, Wagen gefahren und Pferdeäpfel gefallen waren! Ein Junge kniete nieder, ein anderer stiess ihn weg: „Lass mir ooch mal!“ Bald war ein Gebalge im Gange, die Kinder stritten sich. Und während die Kleinen noch zankten, waren die Grossen schon am Werk. Geschäftige Hausfrauen schöpften mit Löffeln in Töpfe und Krüge. Zum Backen war’s noch ganz schön, und auch wenn man’s den Kindern aufs Brot strich; die assen noch ganz was anderes. Ein Alter besann sich nicht lange, Löffel und Topf hatte er nicht, er schöpfte, sich stöhnend bückend, mit seiner Mütze, der alten Soldatenmütze, die der Enkelsohn auf den Grossvater vererbt.
Minna war zur Seite gestossen worden, die Jungen waren stärker; nun hatte sie aber doch ein Plätzchen erwischt. Sie leckte und schleckte: oh, so schön süss! Ihr Mund war rundum beschmiert und verbreitert bis an die Ohren, ihre Nasenspitze braun, ihre Schürze zeigte vorn eine Traufe. Die blonden Haare hingen ihr tief ins Gesicht, als sie, auf den Hacken kauernd, sich noch tiefer bückte. Sie war heiss und rot — oh, plötzlich war’s alle! Wie sie auch tunkte, nichts mehr, nichts als das nackte Pflaster.
Wie aus einem Traum erwachend, stand Minna auf. Ihr Kleid war schmutzig geworden, ganz nass war’s, bis durch auf die Knie. Sie bekam plötzlich Angst: die Müllern würde schimpfen. Und nun fasste sie nach ihrem Körbchen; es war ihr längst vom Arm geglitten. Das Körbchen war noch da, umgestürzt lag’s auf der Seite, aber die Karten, die grüne, die gelbe, die weisse, die rosa, die waren weg. ‚Wenn du se verlierst, denn musste verhungern —‘ „Mutter, Mutter!“ Minna erhob ein lautes Geschrei.
Warum weinte die Kleine denn so? Die Karten verloren? „Tröste dir man, Kleene,“ sagte eine Frau, deren hohlwangigem Gesicht der Jammer der Zeit seinen ganz besonderen Stempel aufgeprägt hatte: Verbissenheit, Trotz, Verzweiflung, stumpfe Ergebung. „Is ja janz ejal, ob du eene Woche früher verhungerst oder eene später. Krepieren duhn wer doch alle!“
Im Anzeiger wurde die Geschichte vom heruntergestürzten und aufgeschleckten Sirupfass humoristisch wiedergegeben — war das nicht sehr komisch? Aber Hermine von Voigt lachte nicht mit. So traurig waren die Ernährungsverhältnisse schon? Ein unheimliches Gefühl überkroch sie: was sollte werden, wenn der Krieg nun noch länger dauerte? Ihr Mann schrieb, ein Ende sei nicht abzusehen. Was auch die Zeitungen posaunten von hoffnungsvollen Aussichten, vom Frieden, den man sich so heiss ersehnte, auf den man hoffte wie auf eine Seligkeit, ach, und den man so nötig hatte, ja, bitter nötig — man brauchte nur die Augen offen zu haben — vom Frieden redeten sie nicht mehr. Über beispiellose Siege in Italien wurde freilich gejubelt, an eine zugespitzte kritische Lage zwischen Japan und Amerika allerlei günstige Kombinationen geknüpft, über die vergeblichen Anläufe der Engländer in Flandern und die unbesiegliche Abwehrkraft der Deutschen viele Worte gemacht. Der Waffenstillstand an der Ostfront hatte dem Zweifrontenkrieg ein Ende gemacht, alle ihre Kraft konnte die geniale Heeresleitung nun dem Westen zuwenden; die U-Boote fegten den Ozean rein, und doch noch kein Ende.
‚Zur Jahreswende 17!‘ Mit ernstem Blick sah Hermine von Voigt auf das Zeitungsblatt in ihrem Schoss. Wiederum eine Jahreswende! Ein kalter Schauer überlief sie. Und doch war es um sie warm und behaglich.
Es war etwas Altmodisches in diesen Räumen, etwas von Eltern und Grosseltern Überkommenes. Vielleicht waren sie gerade darum schön. Der freihängende Pendel der goldenen Pendule auf dem Kaminsims schwang sich so emsig, wie er vor hundert und mehr Jahren sich für die Familie geschwungen hatte; noch immer war die zarte Glasglocke, die sich über die kostbare Uhr stülpte, die gleiche, mit sorgsamer Hand hatte die jeweilige Besitzerin sie selber abgestäubt, nie hatten rauhe Dienstbotenfinger daran rühren dürfen. Ahnenbilder in breiten goldenen Rahmen sahen von den Wänden herab auf den runden Tisch, das Plüschsofa und die hochbeinigen Sessel. Der klug blickende Herr im hellblauen Frack, dem die weissen Haare lang auf den Kragen fielen, und die blonde Frau im tiefausgeschnittenen, hochgegürteten Seidenkleid, die den schmalen roten Schal anmutig um die weissen Schultern trug, hatten einst aus jenen zarten goldgeränderten Tassen getrunken, die die Generalin wie einen Schatz hinter dem Glas der Servante hütete. ‚Aus Freundschaft‘ — ‚Aus Liebe‘ — ‚Souvenir‘ — ach, sie waren glücklicher gewesen, der Urgrossvater, die Urgrossmutter! Siebenjähriger Krieg, Freiheitskriege, — zur freundlichen Sage waren sie geworden. Was waren vordem Kriege gewesen? Nichts gegen diesen.
Mit einem Seufzer sah die Generalin zu den Bildern hinüber. Dann las sie:
‚Die letzte Jahreswende im Krieg.‘
Schon stutzte sie: war es wirklich die letzte Jahreswende? Wer bürgte dafür? Der Kaiser? Die Heeresleitung? Der Reichskanzler? Die Minister? Immer neue Männer, neue Namen. Nie war so viel gewechselt worden in den höchsten Ämtern. Unruhig sahen die klugen Augen der Frau umher: fand sich denn nicht endlich der rechte Mann? Der Eine, der Einzige? Ihr Geist liess sie alle an sich vorüberziehen. Die anderen, die Feinde, hatten doch den Einen, den Einzigen, der ihr Schicksal lenkte — mochte sein zum Guten oder zum Bösen — es war eine Hand da, die am Steuer lag und das unentwegt festhielt. Haben wir denn keinen solchen Einen, Einzigen?
Sie zwang sich, weiter zu lesen:
‚Der zahlenmässig stärkste unserer Feinde hat die Folgerungen der Kriegslage gezogen. Das Scheitern der englischen Angriffe in Flandern und der Zusammenbruch Italiens musste die Russen vollends überzeugen, dass sie nicht darauf rechnen konnten, die eigene Niederlage durch den Sieg ihrer Verbündeten auszugleichen. Noch sind wir nicht auf der Höhe, noch ist der Trotz der Engländer, der Hass der Franzosen, die Überhebung der Amerikaner ungebrochen, aber wir sehen schon den Gipfel im Sonnenglanz des Friedens strahlen. Die letzten hundert Meter sollen uns nicht schrecken. Das schwere Gepäck auf dem Rücken, den schmalen Proviant im Beutel, aber das Herz gesund, den Blick klar auf den Führer gerichtet, der den rechten Weg weiss, so überwinden wir auch sie noch.‘
Werden wir?! Wie in plötzlicher Erkenntnis schreckte die Lesende zusammen. War denn das Herz gesund, der Blick klar? Wusste der Führer denn auch den rechten Weg? Mit einem verstörten Blick starrte Hermine von Voigt vor sich hin. Was hatte sie nicht alles sprechen hören! Selbst in den Kreisen, die früher voller Patriotismus waren. Waren das noch die Väter, die im Jahr vierzehn ihre Söhne selber zu den Waffen getrieben, die Mütter, die klaglos sie zum Opfer gebracht hatten? Waren das noch die gleichen Männer, die, längst aus der Übung und nicht mehr jung, sich doch in Reih und Glied gestellt hatten? Nicht die Ermüdung durch die lange Dauer des Krieges allein war es, die sie heute so anders gemacht hatte.
Die Frau sprang auf, wie von Angst gejagt eilte sie durch die Zimmer. Vom Wohnzimmer ins Esszimmer, von dort ins Arbeitszimmer ihres Mannes; da stand sie an seinem Schreibtisch und stützte beide Hände schwer auf. Es war ihr, als ströme von dem Platz, an dem er so oft gesessen hatte, etwas auf sie über. Gott sei Dank, er war nie verdrossen, nie kleinmütig!
Vom Osten war General von Voigt fort, es war dort kaum mehr zu tun. Russland trug sich selber zu Grabe, es frass seine Länder, seine Städte, seine Völker auf. Die Revolution war da. Russe gegen Russe, Bruder gegen Bruder, der Untergebene gegen den Vorgesetzten. Aus den Gräben waren sie gelaufen gekommen, hatten die Hände erhoben, hinüber zum deutschen Graben gewinkt: ‚Komm, komm, gut Freund!‘ Hatten Brot mit dem deutschen Landstürmer getauscht, hatten aus einer Flasche Wodki mit ihm getrunken: ‚Gesundheit! Du sollst leben! Warum Feindschaft miteinander, ich bin Mensch, du bist Mensch, unsern Acker wollen wir bauen, Gottes Sonne sehen, nicht im dunklen Graben sitzen. Russland ist gross, Väterchen ist weit, wir wollen nicht länger schiessen mehr.‘ Und sie hatten ihre Tornister hingeschmissen, ihre Flinten — wie Kinder, die hinter die Schule laufen — und hatten den, der sie antreiben wollte so wie einst mit der Knute, gutmütig grinsend zu Boden geschlagen. Nein, Russland war nicht mehr zu fürchten, und doch — wenn das Feuer nun um sich frass? Über die Steppen, über die Brachen, über die flachen Grenzen fegte der Wind, Funken trieb er vor sich her. Die sind gefährlicher als lodernde Flammen, denn unbemerkt kommen sie. Sie fallen aufs Hüttendach, sie nisten sich ein im Stroh; ehe man ihrer recht gewahr wird, lodert die Flamme schon im Nachbarhaus.
Eine heisse Röte stieg der Frau ins Gesicht. Nur keine Angst! Ihre hohe Gestalt richtete sich energisch auf. Nicht verzagen — vom Verzagen ist nur ein Schritt zum Versagen. Verzagte denn ihr Mann? Er hatte es schwer im Westen. Nein, er blieb immer derselbe. Doch konnte man die gleiche Ruhe, die gleiche Unerschütterlichkeit, die gleiche Geduld von denen hier verlangen, die wie Lasttiere ihre Tage hinschleppten, neben der Sorge um das Leben des Mannes gepeinigt wurden von den tausend Nadelstichen der Angst: wovon satt werden? Das Leben war so entsetzlich teuer, wurde es mit jedem Tag mehr. Auch kein Schuh mehr zu bekommen, kein Strumpf, kein wollenes Kleid. Und hatte der, der sich um des Lebens Notdurft nicht in gleich schwerer Weise abängstigen musste, es nicht doch ebenso schwer, vielleicht noch schwerer? Ihm gehen nicht alle Gedanken unter in der Sorge ums tägliche Brot, ihm bleiben noch der Gedanken übrig — ach, zu viele! Die Hände der Frau schlangen sich ineinander.
Horch, die Glocken! Wie sonst an jedem Wochenende den Sonntag, so läuteten sie heute abend den morgenden Neujahrstag ein. Ein dünnes, erbärmliches Gebimmel. Die grosse, feierliche Glocke, die alles übertönende erzene Stimme, wo war sie?! Herminens Augen füllten sich mit Tränen, sie fühlte sich plötzlich hilflos und verlassen.
Das Mädchen kam herein. „Verzeihen Exzellenz! ’s ist ’n Mann draussen in der Küche, er muss Frau Generalin durchaus einmal selber sprechen.“ — —
In der Küche stand ein Mann. Er tat ganz vertraut, obgleich er noch nie in dieser Küche gestanden hatte. Er war in Feldgrau, er sah sehr respektabel und ordentlich aus. „Sie haben doch schon öfter Butter von mir gekauft,“ sagte er zwinkernd.
„Butter —? Dass ich nicht wüsste. Die habe ich lange nicht gegessen.“ Die Generalin sah ihn von oben herab an. Ihre Stimme klang abweisend.
Der Mann lachte verständnisvoll. „Verzeihen die Dame, schön dumm! ‚Hinten herum, nee, is nich,‘ so sagen sie alle anfangs. Und nachher kaufen sie doch alle. Gnädige Dame, was sollen die Leute denn auch machen? Von dem, was es auf Karten gibt, kann doch kein Mensch existieren.“
„Ich kaufe nichts hinten herum. Andere leben auch davon.“
„Kann sein.“ Der Schieber zog die Achseln hoch. „Ich leiste aber keinen Eid drauf. Sie würden sich schön wundern, Gnädigste, wer alles bei mir kauft. Wenn die Leute selber alles befolgen sollten, was sie verfügen — na! Und nich nur die Herrschaften kaufen, nee, ganz einfache Leute, Sie sehen’s denen gar nicht an, was die draufgehen lassen.“
„Das ’s auch wahr,“ fiel die Köchin ein. Sie stand mit unzufriedener Miene: warum kaufte die Gnädige denn nun nicht? Es war wahrhaftig nicht üppig, was immer auf den Tisch kam. Und jetzt war’s dunkel, keiner sah’s. Wenn die Gnädige heute nichts kaufte, dann kündigte sie bestimmt morgen, sie hatte es nun satt.
„Bei unserm Flickschuster haben sie morgen Schweinebraten,“ sagte sie vorwurfsvoll, „und unten bei Portiers — na, gehn Exzellenz nur mal runter und riechen, die haben heut abend ’was Feines!“
„Wie ist es heut mit ’ner schönen Gans — genudelt — mindestens fünf Pfund Fett, ich garantiere. Und ’ne Leber — Stopfleber — allein ’n Mittagessen!“ Mit triumphierender Miene zog der Händler eine Gans aus dem Handkoffer, den er wie ein auf Reisen Gehender bei sich trug.
Die Augen der Köchin erglänzten: wahrhaftig, eine wunderbare Gans, speckfett, das reine Mastschweinchen. „Wie teuer?“ fragte sie und wog das schwere Gewicht auf beiden Händen.
Der Schieber lächelte geschmeichelt: „Das Fräulein versteht was.“ Und dann blinzelte er. „Zwölf Mark das Pfund — sechzehn wiegt se — das ’s nicht teuer für so ’ne Ware, was, Fräulein? Andere nehmen achtzehn dafür. Aber ich will Schluss machen heut abend, ’s is die letzte. Sechse hab ich heut nachmittag hier schon verkauft. Die gefällt, was, gnädige Dame?“
Die Generalin fuhr zusammen, sie hatte, ganz in Gedanken verloren, auf die Gans gestarrt. So etwas gab es also doch noch? Das, was man an Geflügel in den Läden der Stadt sah, war mager, wochenlang lag überhaupt nichts in den Schaufenstern. Solch eine Gans hatte sie nur einst daheim auf dem Gute gesehen. Merkwürdig, mit einem Male stand das Elternhaus vor ihr.
Wie die Mamsell in der Küche hantierte! Die Ärmel hatte sie aufgestreift über die vollen Arme, mit einer Geschicklichkeit wie ein Operateur zog sie auf dem weissgescheuerten Küchentisch einer Gans nach der andern die Fettwammen aus dem Leibe. Spickbrüste wurden gemacht, Gänseweisssauer, Leberpasteten — auf die legte der Vater besonderen Wert, die gab es zu seinen Jagddiners. Und wie würzig es hier roch! Nach Honig, nach Zimmet, Zitrone, Nelken, nach den leckeren Pfefferkuchen, die Mamsell Lieschen zu Weihnachten buk. Zu Silvester gab es immer Berliner Pfannkuchen mit Himbeer- oder Erdbeermarmelade gefüllt, in reinem Schweineschmalz ausgebacken; der Duft schwebte in einer leisen Wolke von der grossen Küche im Erdgeschoss die breite Treppe hinauf in die Herrschaftszimmer. Untrennbar war er von Festzeiten, von fröhlichen Gästen, von behaglichem Geniessen, von unbekümmerten Stunden, von der Zufriedenheit und dem vollen Genüge glücklicher Friedensjahre.
Die Frau empfand plötzlich ein Bedauern und ein jähes Verlangen. Es wurde ihr schwach — die Gans, die Gans! Sie musste sich setzen, sie hatte auf einmal ein Hungergefühl, eine innere Leere zum Ohnmächtigwerden. Was sprachen die noch? Es lag auf ihr wie eine Lähmung. Aber sie hörte den Schieber mit der Köchin verhandeln.
„Haben Sie auch Butter?“
„Jederzeit.“
„Wie teuer?“
„Vierundzwanzig Mark.“
„Und Eier?“
„Ganz frische. Stück: eine Mark funfzig. Butter, Eier, Wurst, Speck. Sie brauchen mir nur zu schreiben. Aber im geschlossenen Brief; die passen verflucht auf. Für viertausend Mark Waren haben se mir schon mal weggenommen. Nu aber nich mehr!“ Er lachte. „Es lernt sich jeder aus mit dem Hintenherum.“
„Ich nicht.“ Hermine von Voigt ermannte sich. Ihr Ton war schroff: „Packen Sie ein; ich nehme nichts.“
„Na, denn ’n andermal.“ Der Schieber nahm es nicht übel, gelassen bettete er seine Gans in den Handkoffer. „Gehn wir noch ’ne Tür weiter. Der Herr Rechnungsrat drüben hätte ihr liebend gern genommen für seine kranke Frau, beinah geweint hat er, aber er hat’s Geld nich dazu.“ Mit einem „Auf Wiedersehen die Damen!“ schob er sich leise zur Tür hinaus.
Was war das?! In einem Wirrwarr von Empfindungen blieb die Frau zurück. Der alte Geheimrat drüben hätte gern gekauft für seine kranke Frau, er hatte nicht das Geld für solche Preise — sie selber hielt es für Ehrenpflicht, nicht zu kaufen — ‚Schön dumm,‘ sagte der Schieber, sechs der kostbaren Gänse war er an einem Nachmittag hier losgeworden — beim Flickschuster im Keller gab es Schweinebraten — andere kratzten gierig das Strassenpflaster ab — welche Unterschiede! Der Beamte war ärmer als der Proletarier, Bildung und Unbildung, Vorteile und Vorurteile, Ansichten, Meinungen, Stände, alles verrückte dieser Krieg. Und auch die Überzeugung von Recht und Unrecht. Wie ein Chaos gähnte das neue Jahr sie an.
Im bleiernen Schlaf dieser Nacht, in schweren Träumen wurde Hermine von Voigt verfolgt von sechs Gänsen. Die spazierten, schon ohne ihr weisses Federkleid, lustig schnatternd, feist und wohlgemut über die Strasse. Die Leute rissen die Türen auf, winkten ihnen und hiessen sie freundlichst willkommen. Und auf der gleichen Strasse, vor denselben Türen lagen Menschen im Kot und verschlangen, was sie da fanden.
Wollte es wirklich wieder Frühling werden? Man hatte im langen Winter ganz vergessen, daran zu glauben. Ewig eintönig waren die Tage gewesen; eines beschwingten Hoffens war man kaum mehr fähig. An der Front immer dasselbe: einmal ein Grabenstück verloren, das andere Mal wieder eins genommen, dann das genommene aufgegeben, um an anderer Stelle wieder eins zu nehmen. Ewig hin und her. Immer dieselben Berichte. Sie stumpften ab. Langsam schlichen die Tage, und doch rasten sie.
War es möglich, zeigten sich da am Busch die ersten kleinen, nur dem scharfen Blick sichtbaren Triebe? Und der Strahl der Februarsonne schien mild und laulich. —
Hedwig Bertholdi kam vom Kirchhof, dahin ging sie immer allein. Weinen wollte sie, unaufhaltsam weinen, es sollte keiner sprechen: „Weine nicht, tröste dich.“ Wenn ihre Tränen auf den Hügel rannen, fühlte sie sich dem Sohne näher. Der tauende Schnee sog das heisse Nass ein, es drang hinunter zu ihm, es tropfte warm auf seine Brust. Er lag da unten ja so kalt, dieser junge Mensch, dieses umhegte Leben. Dieser kleine Knabe, der in der Dämmerstunde auf ihrem Schoss sass, sein Köpfchen an sie lehnte und sich erzählen liess von Hänsel und Gretel und vom Rotkäppchen. Er schluchzte, wenn der böse Wolf das liebe Rotkäppchen frass, er lachte und klatschte in die Händchen, wenn der grüne Jäger kam und dem schlafenden Wolfe den Bauch aufschlitzte. Wie war das Kind so lieblich! Es bereitete ihr Seligkeiten. Alle Tage ging sie mit ihm spazieren, es pflückte Blumen: ‚Mutter, alle für dich!‘ Seine Augen strahlten sie an. Seine kleinen Arme umschlangen sie, zärtlich zog es ihren Kopf zu sich herunter und wollte sie gar nicht lassen, wenn sie sich über sein Bettchen beugte zum Gutenachtkuss.
Hedwig sah den Sohn als das Kind, als den kleinen Knaben, der ihr so grosse Freuden bereitet. Da gehörte er ihr ganz, einzig nur ihr; alles, was später kam, die ganzen letzten Jahre waren vergessen.
Heute trug die Mutter die ersten Schneeglocken zum Grabe; nun war es umgekehrt, sonst hatte das Kind ihr die ersten gebracht. Sie streute die Glöckchen über seinen Hügel: Frühling würde wieder erwachen, alles erwachen, er erwachte nicht mehr.
Langsam schlich sie dann zurück durch die Anlagen, die den Kirchhof vom Ort trennten. Besonnt lag der Weg vor ihr, ein viel zu früh herausgelocktes Insekt kroch langsam, noch halb im Winterschlaf, vor ihren Füssen. Sie fühlte sich müde, erschöpft; die matte Luft machte sie noch matter. Mochte nun geschehen, was da wollte, ihr war es gleichgültig; ein grösserer Schmerz konnte ihr nicht mehr kommen. Gab es denn überhaupt noch einen grösseren Schmerz?!
Da war eine Bank. Sie musste sich setzen. Sie schloss die Augen Als sie sie wieder öffnete, erschrak sie; es sass jemand neben ihr. Eine Dame, in Trauer wie sie auch. Das war jetzt nichts Besonderes, in Trauer gingen so viele, aber die Augen, die sie jetzt flüchtig streiften, hatten etwas, was ihr auffiel. Eine Leidensgefährtin, dachte Hedwig. Sie sah wieder weg. Hatte die auch ihren Sohn im Krieg verloren? Es lag etwas namenlos Trauriges in diesen dunklen Augen.
„Ist Ihr Sohn auch gefallen?“ Leise fragte sie es.
„Mein Mann ist gestorben.“
Hedwig dachte plötzlich an ihren Mann: wenn sie den Guten nicht mehr hätte!
Im Kriege war der Mann der Dame wohl nicht gefallen, er musste über die Jahre hinausgewesen sein. Ein bedauerndes ‚Oh‘. Sie sagte dann nichts mehr, die andere auch nichts; jede sah vor sich nieder und bohrte mit der Schirmspitze Löcher in den Sand.
Ob die denn nicht Kinder hatte, keinen Sohn draussen? Hedwig sah verstohlen wieder zu der Fremden hin. Ganz schüchtern fragte sie, sie schämte sich ihres Ausfragens und konnte es doch nicht lassen: „Haben Sie keinen Sohn im Krieg?“
„Doch.“ Die Dame stand auf, neigte leicht den Kopf zum Gruss und ging. —
Eine seltsame Frau! Warum lag in ihren Augen diese namenlose Trauer? Hedwig hatte in keines Menschen Auge je eine ähnliche gesehen. Aber wenn ihr Sohn doch noch lebte?! An diesem Tag beschäftigten sich Hedwigs Gedanken mit der Fremden.
Ganz erstaunt sah Bertholdi beim Mittagessen von seinem Teller auf: wie, seine Frau dachte einmal an etwas anderes als an den eigenen Schmerz?
Sie sagte: „Ich habe heut eine Dame getroffen, als ich vom Kirchhof kam, an die muss ich immerfort denken. Sie hat ihren Mann verloren“ — leise legte sie dabei ihre Hand auf die seine — „aber, weisst du, das allein kann es nicht sein. Ihr Sohn ist ja nicht tot.“
Zu anderen Zeiten hätte es Bertholdi vielleicht verletzt, dass seine Frau den Verlust des Mannes scheinbar weniger einschätzte als den des Sohnes; jetzt verstand er richtig: man leidet unter einer begrabenen Hoffnung — und was ist ein Sohn anderes als eine Hoffnung? — schwerer als unter dem Verlust gewesenen Glücks.
Als sie am Abend in ihren Betten lagen und er sich über sie beugte, um ihr den gewohnten Gutenachtkuss zu geben, sagte sie wie aus tiefem Nachdenken heraus: „Ich möchte wohl wissen, wer diese Frau ist.“
In dieser Nacht träumte Hedwig Bertholdi von ihrer Begegnung. Sonst hatte sie, wenn sie überhaupt schlief, nur wirre Träume — Blut, Grauen, Stöhnen, chaotischen Jammer, aus dem sie nichts herausschälen konnte, was irgendwie Sinn hatte und am Morgen noch als Erinnerung verblieb — heute nacht neigte sich die Fremde über sie. Die dunklen Augen blickten tief in die ihren: „Warum weinst du?“ — ‚Mariechen, warum weinest du, weinest du?‘ so hatten die Kinder gesungen an dem Nachmittag, an dem die Depesche von Rudolfs Tod kam.
„Warum weinst du?“
„Weil ich meinen Sohn, meinen Liebling verloren habe.“
„Du hast ihn nicht verloren, er ist noch dein. Er schläft nur. Hundert glückliche Erinnerungen verbinden dich mit ihm. Da ist nichts, was dich von ihm trennt. Deine noch lebendige Seele gleitet seiner abgeschiedenen zu, sie umschlingen sich. Glückliche Mutter, eine glückliche Mutter bist du!“
Die Fremde hob in beneidender Sehnsucht die Hände, es liefen Tränen aus den Augen, in die es sich hineinsah wie in eine unergründliche Nacht.
Glücklich, glücklich, — es gab also andere, die noch unglücklicher waren als sie? Verwundert sah Hedwig um sich, als sie am Morgen erwachte. Der Traum war ihr ganz lebendig. „Ich habe von der Frau geträumt,“ sagte sie zu ihrem Mann. „Merkwürdig. Und so eindringlich!“
Bertholdi sah seine Frau liebevoll an: Gott sei Dank, dass sie doch wieder an irgend etwas Anteil nahm!
„Du hast gut geschlafen.“
„Ja, und ich glaubte, ich würde gar nicht schlafen können. Ob ich sie wohl einmal wiedersehe? Wie gut, dass wir nicht in Berlin wohnen, da würde ich ihr wohl kaum wieder begegnen.“ —
Sie begegneten sich schon an einem der folgenden Tage, sie hatten ja beide das gemeinsame Ziel — den Kirchhof. Und dann gingen sie hintereinander her, durch die lange Reihe neuentstandener Gräber. Viele Gräber; es starben jetzt nicht bloss die Starken draussen, die Schwachen fielen auch hier. Wie auf geheime Verabredung trafen sie sich an der Kirchhofspforte. Ihre schwarzen Gestalten grüssten sich stumm. Am nächsten Tage schon gingen sie miteinander die Strecke durch die Anlagen, bis ihre Wege sich trennten. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen und nichts von Belang. Aber als Hedwig der schlanken Gestalt nachsah, und diese sich dann noch einmal wandte und stumm nach ihr zurückgrüsste, hatte sie das Gefühl einer wachsenden Sympathie.
Auf dem Grabstein des vor einem halben Jahre verstorbenen Justizrats Kettler stand: Geboren 1860, gestorben 1917. Noch kein alter Mann. Vor kurzer Zeit erst war er aus seinem Amt in Berlin geschieden. Ruhe, Ruhe, danach sehnte er sich, sehnten sie sich beide; so waren sie hier herausgezogen. Und hier hatte ihn die Frau nach wenigen Monaten begraben.
„An was starb Ihr armer Mann?“ wagte Hedwig eines Tages die Witwe zu fragen.
„Armer Mann! Ja, da haben Sie recht: armer Mann!“ Es klang unsäglich bitter. „Er starb an einem Herzleiden.“
Hedwig mochte nicht weiter fragen, es legte sich ein Zug von Leid um den Mund der anderen, der sie erschreckte. Der Sohn, der Sohn, warum sprach die Mutter nicht von ihrem Sohn?! War der verwundet? Gefangen? Er lebte, das wusste sie. Und doch sprach die Mutter nie ein Wort von ihm. — —
Hedwig war auf dem Weg zu der neuen Bekannten. Sie hatte am Vormittag einen Brief von Frau Kettler bekommen, worin diese sie um ihren Besuch bat. Als Hedwig vor der Tür der hübschen Villa stand, drängte es sich ihr plötzlich auf, dass das Haus tot sei, unwirtlich, öde, trotz der peinlichen Sauberkeit des geharkten Grasplatzes, trotz der frischgrünen Tannenbäumchen an den Fenstern und auf dem Balkon. Wie anders sah dagegen ihr eigenes Haus aus! Allem Schmerz, der in ihm wohnte, zum Trotz blinkten die Fenster hell, lag eine einladende Traulichkeit schon draussen vor der Tür.
Das Mädchen, das auf leisen Sohlen ging, wies Hedwig in ein grosses, ein wenig verdunkeltes Zimmer.
Helene Kettler stand vom Ruhebett auf, sie hatte da gelegen, den Kopf zur Wand gekehrt. Nun glitt ein Schimmer von Lächeln über ihr vergrämtes Gesicht, sie streckte Hedwig beide Hände entgegen, und wie erlöst von der Qual der Einsamkeit, seufzte sie auf: „Gott sei Dank, dass Sie kommen!“ Und hastig fuhr sie fort, als peitsche es sie innerlich, zu sprechen: „Verzeihen Sie, dass ich Sie rief, ich hoffe, Sie versäumen nichts Wichtiges, ich bin so allein, ich bin so grausam allein, dieser nahende Frühling mit seiner scharfen Sonne macht mich krank, ich sitze lieber im Dunkeln, ich —“ sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die dunklen Augen irrten umher, als erwartete sie aus jedem Winkel Schrecknisse auftauchen zu sehen.
„Was ist Ihnen?“ Von einem grossen Mitgefühl fortgerissen, legte Hedwig ihren Arm um die Erblasste. „Kann ich Ihnen helfen? Ich möchte so gern. Sprechen Sie doch!“
Da liess die einsame Frau den Kopf auf die Schulter der anderen sinken und weinte.
Wem es gegeben ist, sein Leid auszusprechen, der ist schon ein Halbbefreiter; Helene Kettler hatte es nie gekonnt, heute, hier hatte sie das Gefühl: das ist eine Mutter wie du. Sie fühlte das Band, das sich von einer Mutter zur anderen schlingt. Sie schluchzte: „Ich habe meinen Sohn verloren. Meinen einzigen Sohn.“
Wie, jetzt plötzlich? Fast atemlos fragte Hedwig: „Wann? Wo? Tot?!“ Sie zitterte, von Mitleid erfasst.
Die Weinende schüttelte den Kopf: „Tot ist er nicht. Und doch tot. Sehen Sie!“ Hastig zog sie Hedwig zum Schreibtisch, hastig schloss sie das Schubfach auf, hastig nahm sie ein Bild heraus. Mehrere Bilder: als kleines Kind, als Knabe, als Erwachsener.
Hedwig sah gute, weiche Kinderwangen, ein lustiges Knabengesicht und dann einen hübschen, eleganten jungen Mann — aber gut sah der nicht mehr aus.
„Fünfundzwanzig Jahre — fünfundzwanzig Jahre ist er nun — ein Tag wie heute, als er geboren wurde, wir freuten uns. Oh, hätten wir uns nie so gefreut! Wir glaubten ihm immer, wir haben ihn zu sehr geliebt, er war so frisch, so aufgeweckt, wir haben ihn zu sehr verwöhnt. Weiber, Schulden — mein Mann hat immer wieder gutgemacht.“ Die Mutter rang die Hände, es war eine unterdrückte Leidenschaft in ihrer Stimme, in jeder ihrer Bewegungen. „Glauben Sie, dass es möglich ist, dass man einen Sohn, zu dem man kein Vertrauen mehr haben kann, der mehr Kummer gemacht hat als hundert andere Söhne zusammen, auf den man nicht mehr hoffen kann, dass man so einen Sohn doch noch lieben kann? Es ist so über mich gekommen — heute fünfundzwanzig Jahre — verzeihen Sie, ich konnte so allein nicht sein — frohe Menschen verstehen ja nicht, aber Sie, Sie! Glauben Sie, dass man solch einen Sohn doch noch lieben kann?“
„Ja,“ sagte Hedwig. Weiter nichts, aber sie sagte es fest. Sie dachte an ihre Söhne: hatte Rudolf ihr nicht auch Kummer gemacht? Ach, nur einen kleinen; der grosse Kummer, den er ihr bereitet, — sein Tod — war unverschuldet. Und Heinz? Nein, diese Frau hier hatte anderen Kummer. „Eine Mutter hört nie auf zu lieben, und sei der Kummer, den ihr der Sohn bereitet, auch noch so gross.“ Sie sagte es laut. „Sie darf auch nicht aufhören, den Sohn zu lieben. Wenn wir, die Mütter, das tun, was soll dann aus den Söhnen werden?!“
Auf Hedwigs zartem Gesicht lag die Überzeugung dessen, was sie sprach.
Die andere sah es, und in einem Drange des Vertrauens stiess sie heraus: „Er hat meinem Mann das Herz gebrochen. Er — er — er hat — o du, du!“ Sie schlug plötzlich mit der Hand auf das Bild des eleganten jungen Mannes, dass es von der Schreibtischplatte herunterflog. „Hassen sollt’ ich ihn, verachten, nicht mehr kennen, nicht mehr an ihn denken, und doch“ — sie brach förmlich zusammen — „heut ist sein Geburtstag!“ Sie weinte.
Hedwig stand neben ihr, die auf einem Sessel zusammengesunken war, sie konnte nichts sprechen, es würgte sie in der Kehle. Was war ihr Schmerz gegen diesen? Sie wusste nichts, aber sie ahnte. Arme Mutter, unglückliche Mutter! Weich strich ihre sanfte Hand über das tiefgebeugte Haupt. Sollte sie tröstende Worte sprechen? Die Worte blieben nur Worte. Und wenn der Krieg nun aus war, wenn dieser Sohn wiederkehrte? Würde der Krieg ihn anders gemacht haben, besser? Ein Bangen kam sie an. „Helfen kann ich nicht,“ sagte sie leise. „Ich kann nur mit Ihnen weinen.“ —
Sie sassen noch lange zusammen. Beiden Frauen war es, als kennten sie sich seit Jahren schon. Was lange Reihen von Freudenjahren nicht vermögen, das macht die kurze Stunde gemeinsam empfundenen Leides.
Als Hedwig vorm Spiegel ihren Hut aufsetzte, blickte die andere mit hinein. Die beiden Gesichter lächelten sich wehmütig an. Beides einst schöne Frauen, noch war es nicht allzulange her — und heute? Augen, deren Glanz Tränen verlöscht; Wangen, über die sie hinabgeströmt, Rinnen gewaschen hatten mit heisser Flut. Linien waren gezogen, Runen, die kein Lächeln mehr wegbringt. Das Leid hatte die Schönheit gezeichnet, unerbittlich vernichtend.
„Mütter,“ sagte Hedwig und nickte dem Spiegelbild zu.