Читать книгу Für immer Rosa - Claudia A. Wieland - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеSie standen am Strand eines kleinen bretonischen Küstenorts mit dem überaus merkwürdigen Namen HEILIGER-YANN-VOM-ZEIGEFINGER.
»Ich möchte Ihnen unbedingt unseren Hauptdarsteller vorstellen.« Hank Stevenson rief in Richtung einer kleinen Gruppe, etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt: »Tom! … Tom! … Tooooooom! Kannst du bitte mal herkommen?!«
Aus der Gruppe löste sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt und kam lässig auf sie zugeschlendert.
Rosa beobachtete den jungen Schauspieler sehr genau. Sein Gang war leicht federnd, schlaksig und aufreizend langsam, so als folge er nur äußerst unwillig der Aufforderung des Regisseurs. Er trug eine olivgrüne Cargohose und Sneaker, hatte die Hände in den Kängurutaschen einer dunklen Sweatjacke vergraben und die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt. Wahrscheinlich Ray Ban, dachte Rosa amüsiert. Männer mit seinem Image trugen neuerdings immer Ray Ban. Auf seinem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen, dessen Grund sich ihr im Moment nicht erschloss.
Rosa wusste kaum mehr über Tom Savage, als das, was sie gegoogelt hatte. Obwohl der Engländer mit Wohnsitz in Los Angeles einer der gefragtesten Schauspieler in den USA war, hatte Rosa ihn noch nie auf der Leinwand gesehen. Sie rechnete sich definit nicht zu der Zielgruppe seiner Filme, die ihres Wissens vorwiegend von weiblichen Teenagern und jungen Frauen mit einer Neigung zu unkontrollierbaren Ausbrüchen angeschaut wurden.
Tom wäre auch nicht ihre erste Wahl für die Besetzung der Rolle des Victor, ihres Romanhelden, gewesen. Sie hatte eher an einen Typ wie Matt Damon in GOOD WILL HUNTING gedacht: rebellisch, trotzig, ein bisschen verloren. Aber Matt Damon war natürlich schon viel zu alt für die Rolle eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Jahren. Im Übrigen hatte sie gar kein Mitspracherecht gehabt, weder beim Schreiben des Drehbuchs, noch beim Casting der Darsteller. Und so wurde ihr eines Tages von der Produktionsfirma der Name von Thomas Patrick Savage mitgeteilt. In den Medien wurde er als absoluter Adonis beschrieben, war ein heißbegehrter Junggeselle und, wie Rosa vermutete, ein Womanizer, wie er im Buche stand. Das war nur gut für die Vermarktung des Films. Aber war er überhaupt der Rolle eines ernsthaften jungen Erwachsenen auf der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis gewachsen? Und war er mit seinen sechsundzwanzig Jahren nicht schon eine Idee zu alt für diese Rolle?
Tom kam näher und blieb dann vor Rosa und Hank stehen. Augenblicklich zog er die Kapuze herunter, nahm die Sonnenbrille ab und schaute Rosa mit einem fragenden Ausdruck an. Das unverschämte Grinsen war einem scheuen Lächeln gewichen.
Der Regisseur deutete mit dem Finger auf Tom: »Darf ich vorstellen: Das ist Thomas Savage. Und das ist Rosa Mansier, die Autorin von VICTOR UND CLAIRE. Ich habe Frau Mansier gebeten, unseren Dreharbeiten beizuwohnen.«
Tom sah sie aufmerksam an. Mit einer Spur von Neugier in seinem Blick. Rosa schaute in tiefblaue, ein wenig verträumte, aber kristallklare Augen, die von dichten, kräftigen Augenbrauen überschattet wurden. Die fein geschnittene, fast zart anmutende Wangenpartie stand in starkem Gegensatz zu seinem markanten Kinn und dem Drei-Tage-Bart, den er sich vermutlich wegen der heute zu drehenden Szene hatte stehen lassen. Das dichte, haselnussbraune Haar war vom Wind wild zerzaust.
Das, was Rosa sah, war in der Tat schön anzusehen. Toms Jungenhaftigkeit gefiel ihr sogar ausnehmend gut. Doch was sie wirklich berührte war seine kraftvolle Ausstrahlung, die sich ihr buchstäblich entgegendrängte.
Tom streckte ihr die Hand hin und sein Lächeln wurde noch ein wenig freundlicher, sein Blick noch ein wenig interessierter. Und wenn sie sich nicht irrte, sah sie in seinen Augen … Überraschung aufblitzen? Sie nahm seine Hand, spürte einen angenehm festen Händedruck und dann … dann geschah etwas Seltsames.
Ein unsichtbares und sehr lebendiges ETWAS kam von ihm zu ihr hinübergesprungen. Es umkreiste sie spielerisch, immer wieder und wieder, stupste sie mit Dutzenden von luftigen, vorwitzigen Zeigefingern hierhin und dorthin, zuerst zaghaft und vorsichtig, dann immer übermütiger, in die Wangen, in den Hals, in die Schultern, in die Arme, kribbelte über ihren Rücken, ihren Bauch, ihre Hüften, ihre Beine, streichelte sie dann behutsam über das Haar und hüllte sie schließlich in einer innigen Umarmung ganz fest ein. Es fühlte sich warm und weich an. Es war angenehm. Nein, es war viel mehr! Es war … wohltuend, fürsorglich, tröstlich. Eine unbändige Freude stieg in ihr auf.
»Guten Tag, Rosa! Ich darf Sie doch Rosa nennen?« Tom machte eine kleine Pause, schien aber keine Antwort zu erwarten. »Ich bin Tom. Wir sind hier am Filmset wie eine große Familie.«
Rosa bewegte sich leicht, um den Bann, in den er sie hineingezogen hatte, abzuschütteln. Dann räusperte sie sich. »Guten Tag, Tom! Sicher dürfen Sie mich Rosa nennen! Ich bin doch irgendwie so etwas wie die Mutter der … ich meine … die Mutter von Vic … ähm … also …« Mein Gott, was redete sie nur für einen Blödsinn daher. »Ich meine, Victor und Claire sind meine Erfindungen und deshalb…« Rosa zuckte hilflos mit den Schultern. Jetzt hatte sie sich vollends verhaspelt.
Hank, der zweifache Oscargewinner, lachte lauthals los, als habe er gerade eine urkomische Szene erschaffen. Die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, eines seiner Markenzeichen, wurde sichtbar. »Nun lassen Sie es mal gut sein! Wir alle sehen das hier nicht so eng.«
Rosa war auf einmal wieder hellwach. Die Situation war ihr richtig peinlich.
Tom aber blieb ganz ernst. »Ich weiß ganz genau, was Sie meinen, Rosa, und es ist mir eine Ehre, die Autorin von VICTOR UND CLAIRE kennenzulernen.«
»Ich freue mich sehr, SIE kennenzulernen, Tom.« Rosa schaute ihn mit einem strahlenden Lächeln an. Soeben war ihr der Grund für ihre überwältigende Freude klar geworden. Sie war in seiner Welt herzlich willkommen!
Erst jetzt ließ Tom ihre Hand los und sagte: »Ich hoffe, wir werden schon bald die Gelegenheit haben, intensiver miteinander zu sprechen.« Er nickte ihr freundlich zu und wandte sich dann an den Regisseur. »Geht's wieder los?«
Hank bejahte: »Okay, lasst uns weitermachen, solange die Sonne scheint!« Tom und Hank entfernten sich, während Rosa die Szenerie beobachtete.
Es herrschte lärmende Geschäftigkeit. Hank hatte alle Schauspieler und Komparsen gebeten, an diesem ersten Drehtag dabei zu sein, um die Atmosphäre des Ortes in sich aufzunehmen und die Arbeit der Hauptdarsteller zu beobachten. Viele der Anwesenden standen in Grüppchen herum und diskutierten eifrig. Andere liefen hin und her, um die Technik ein letztes Mal zu kontrollieren. Verteilt über den Strand konnte Rosa Kameras, Scheinwerfer, Reflektoren, einen Kamerakran und einen Schienendolly erkennen.
Die Proben waren bereits beendet und die Markierungen für die Ausgangs- und Endpositionen der einzelnen Einstellungen gesetzt. Die eigentlichen Aufnahmen konnten beginnen. Jetzt sollte die Szene gedreht werden, die das Ende ihres Romans darstellte. Rosa las im Drehbuch, das ihr Hank überlassen hatte.
Victor und Claire sehen sich am Strand von Saint-Jean-du-Doigt wieder, nachdem Victor seinen Tod vorgetäuscht hatte und monatelang herumgeirrt war.
Tom ging dort, wo ein Weg von der Straße auf den Strand hinunterführte, in Position. Als die Kameras auf ihn gerichtet waren, riefen verschiedene Personen nacheinander: »Ton ab!« »Speed.« »Kamera ab!« »Rolling.« »Klappe!« Dann gab der Regisseur sein Kommando. »Und Action!«
Die Hände in den Taschen seiner Sweatjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, diesmal ohne Sonnenbrille, ging Tom langsam, mit diesem jugendlich federnden Gang über den Strand in Richtung Meer. Er zögerte, schaute suchend in die Kameras und plötzlich schien er jemanden erkannt zu haben. Große Freude spiegelte sich auf seinem Gesicht.
»Schnitt!«, rief der Regisseur.
Tom blieb stehen und im nächsten Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Mit höchster Konzentration schaute er gespannt auf Hank und schien auf eine Anweisung zu warten. Hank strich sich nachdenklich durch seinen rötlichen, mit grauen Haaren durchsetzten Bart und nickte. Er war schon mit dem ersten Versuch zufrieden. Die Aufnahme musste nicht wiederholt werden. Nun ja, das ist ja auch nicht so schwer gewesen, dachte Rosa.
An dieser Stelle stieg Charlotte Bernard, die weibliche Hauptdarstellerin, in die Strandszene ein. Sie hatte sich bisher in ihrem Trailer aufgehalten, war aber jetzt in Position gegangen und wartete auf ihren Auftritt.
Rosa hatte die zwanzigjährige Claire in ihrem Roman genau beschrieben: dunkle Haare, zarter porzellanfarbiger Teint, rosige Lippen, dunkle Rehaugen, zierliche Figur. Ihre Idealvorstellung von einer schönen, jungen Frau. Unendlich zerbrechlich in ihrem Erscheinungsbild, aber trotzig und stark in ihrem Charakter. Charlotte entsprach, zumindest äußerlich, dieser Vorstellung. Sie sah aus wie die junge Audrey Tautou in VÉNUS BEAUTÉ.
Nachdem Hank das Signal gegeben hatte, stapfte Charlotte entschlossen durch den Sand. Sie schaute mit gebeugtem Kopf vor sich hin, so, als denke sie intensiv über etwas nach. Dann sah sie wie zufällig auf, schaute hierhin und dorthin, und plötzlich fokussierte sich ihr Blick auf etwas in der Ferne. Sie erkannte IHN, begann zu strahlen, atmete tief durch, setzte zum Spurt an und…
»Schnitt!« Hank war offensichtlich mit Charlottes Darbietung zufrieden. Auch diese Aufnahme musste nicht wiederholt werden. Mais oui, sie war nicht schlecht!
Jetzt kam der Kamerabully ins Spiel. Charlotte lief über den Strand, der Bully immer vor ihr her, die Kamera auf ihre Gestalt gerichtet. Das schnelle Laufen auf dem von der Flut noch nassen Sand fiel ihr sichtlich schwer. Ihre Füße sanken zu tief in den klebrigen Untergrund ein und blieben stecken. Ihr Gesicht verzog sich zu einer schiefen Grimasse und ihr Mund bewegte sich leicht, als schimpfe sie lautlos vor sich hin. Die Aufnahme wurde abgebrochen und alles musste wieder auf Anfang gesetzt werden. Künstlerpech, dachte Rosa.
Charlotte kehrte mit hochgerecktem Kinn zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Technik wurde neu ausgerichtet. Dann lief Charlotte wieder los. Dieses Mal stolperte sie und fiel hin. Ihre Assistentin, eine bleichwangige, junge Frau mit schwarzer Kleidung und Piercing in der Unterlippe, machte eine schnelle Bewegung auf Charlotte zu, aber die war schon wieder aufgesprungen und klopfte den Sand aus ihren Kleidern. Sie drehte sich um und stapfte gleichmütig zum Anfangspunkt zurück. Die Technik wurde erneut ausgerichtet. Das alles dauerte natürlich seine Zeit. Rosa trat von einem Bein auf das andere. Mon dieu!
Die Aufnahme musste noch etliche Male wiederholt werden. Sobald die Kameras ausgeschaltet waren, zeigte sich keine Gefühlsregung auf Charlottes Gesicht. Wenn der Regisseur eine Anweisung gab, kamen aus ihrem Mund nur kurze Bestätigungen wie »Okay!« oder »Hab’ verstanden!«. Rosa fragte sich, ob Charlotte arrogant oder einfach nur gelangweilt war.
Es folgte die nächste Einstellung.
Tom und Charlotte fielen sich in die Arme.
»Schnitt!« Der Regisseur schüttelte den Kopf. »Nochmal!«
Tom und Charlotte fielen sich wieder in die Arme.
»Schnitt!« Immer noch war es Hank nicht überzeugend genug. »Mensch, bringt mal ein bisschen mehr Gefühl da rein! Ihr habt euch ewig nicht gesehen.«
Tom und Charlotte umarmten sich abermals. Voller Inbrunst, wie Rosa feststellen musste.
»Schnitt!« Als Hank endlich zustimmend nickte, fingen Tom und Charlotte unisono an zu lachen. Dann legte Tom den Arm um Charlottes Schulter und zog sie grinsend an sich. Das stand aber nicht im Drehbuch, dachte Rosa irritiert.
Sie hatte die Aufnahmen bisher aus einiger Entfernung beobachtet. Nun trat sie auf Einladung des Regisseurs hinter den Kontrollmonitor und war jetzt hautnah dabei. Die Kamera war direkt auf Toms Gesicht gerichtet. Rosa schaute gespannt auf die Großaufnahme. Der Regisseur rief wieder: »Und Action!«
Victor erzählt von den unerträglichen seelischen Qualen, die er während seiner Trennung von Claire durchlebt hat. Von seinen Gewissensbissen, weil er sie getäuscht hat. Von seinem Ringen um eine Entscheidung.
In Toms Gesicht spiegelte sich ein unglaublicher Schmerz wieder. Seine Stirn war plötzlich zerfurcht, seine Augen, jetzt dunkel überschattet von seinen zusammengezogenen Augenbrauen, waren von Leid verschleiert. Um seine Mundwinkel zuckte es. Er sprach stockend und mit leiser Stimme, so als versage sie gleich ihren Dienst.
Rosa musste mit den Tränen kämpfen und schluckte heftig. Es war furchtbar quälend, ihm zuzuschauen und zu leiden, ja, MIT IHM zu leiden.
Dann bittet Victor Claire um Verzeihung.
Mit unendlich weicher, bittender Stimme setzte Tom an: »Ich habe dich nur getäuscht, weil ich dachte, dich schützen zu müssen. Es tut mir schrecklich leid, dass ich dir diesen Schmerz zugefügt habe. Bitte verzeih mir, dass ich dir das angetan habe! Ich weiß jetzt, dass ich meine Gefühle nicht länger verleugnen kann. Wir gehören zusammen und wir bleiben zusammen. Ich werde dafür sorgen, dass dir kein Leid geschieht.«
Rosa war beeindruckt. Der Monolog wurde von Toms ausdrucksstarker Mimik und dem Ton seiner melodischen Stimme getragen. Das war genau die Melodramatik, die sie hatte ausdrücken wollen. In ihren Büchern konnte sie das nur mit Worten tun. Hier aber waren Worte kaum nötig. Dank Tom Savage und seiner unglaublichen Intensität. Mit nur einer einzigen Aufnahme war die Einstellung wieder im Kasten. Er war wirklich gut!
Es folgte Charlottes großer Augenblick.
Claire klärt Victor darüber auf, dass sie keine Adoptivgeschwister sind. Sie hat inzwischen entdeckt, dass es keine Papiere über ihre, Claires, angebliche Adoption gibt. Dass sie als Baby einer sehr entfernten Verwandten des Vaters kurz nach deren Tod einfach in der Familie aufgenommen worden war, ohne die Behörden zu informieren.
Charlotte schien die Szene richtig auszukosten. Sie machte eine lange, bedeutungsvolle Pause, bevor sie schließlich triumphierend erklärte, dass ihre Gefühle füreinander nichts Anrüchiges oder gar Verbotenes an sich hätten. Sie dürften sich nicht nur mit aller Leidenschaft und Hingabe lieben, sie dürften unter den gegebenen Umständen sogar heiraten und eines Tages eine Familie gründen.
Rosa war überrascht. Charlotte war wirklich sehr überzeugend. Wie sie die Worte LEIDENSCHAFT und HINGABE ausgesprochen hatte! Man hätte meinen können, sie wüsste in ihren jungen Jahren schon, worüber sie da sprach.
Es fehlte noch die Schlusseinstellung mit dem unverzichtbaren Versöhnungskuss. Eine Kamera war jetzt auf die Körper beider Schauspieler gerichtet, eine zweite nur auf die Köpfe, eine dritte hing am Kamerakran und sollte die beiden aus der Vogelperspektive erfassen und dann langsam aufwärts gefahren werden. So entstand für den Zuschauer am Ende des Films der Eindruck, er erhebe sich über die Köpfe der beiden Protagonisten, sage ihnen ein letztes Lebewohl und entferne sich dann Richtung Himmel, um das Paar ihrem Schicksal zu überlassen. Voilà, das war Mut zum Kitsch!
Rosa beobachtete wieder den Monitor, auf dem jetzt die Großaufnahme der Köpfe zu sehen war. Assistenten und Regisseur gaben ihre Kommandos. Tom und Charlotte näherten sich einander langsam, zaghaft, vorsichtig, als ob das, was sie jetzt im Begriff waren zu tun, einen Sturm der Empörung auslösen könnte. Dann beugte sich Tom entschlossen über Charlotte und küsste sie, zuerst behutsam, dann leidenschaftlich, genauso, wie Rosa es in ihrem Roman beschrieben hatte. Die Gefühle sahen sehr echt aus!
Rosa spürte einen kleinen, spitzen Stich in der Brust. Bestimmt hätten Toms weibliche Fans jetzt einen wonnigen Kreischanfall bekommen. Sie liebten es sehr, ihn in ihrer Phantasie in eine romantische Geschichte mit seiner jeweiligen Filmpartnerin zu verstricken. Auch wenn es ihnen eigentlich von Herzen wehtat, ihren Schwarm zu verkuppeln: Mit jedem Film wurde ein neues Traumpaar geboren. Rosa wusste nicht, wie sie das finden sollte… Claire hätte vielleicht ÄTZEND gesagt? Hoffentlich musste diese Einstellung nicht auch noch wiederholt werden.
Doch das Unvermeidliche geschah und der Kuss musste nicht nur einmal, sondern mehrfach wiederholt werden, mit verschiedenen Neigungen der Köpfe und Winkeln der Kameraeinstellungen, bis der Regisseur endlich zufrieden war. Obwohl die Situation keine echte Intimität zuließ, da die kalte Technik und die nüchternen Regieanweisungen eine solche sofort im Keime erstickt hätten, konnte es Rosa fast nicht mehr mit ansehen.
Aber endlich, nach unfassbar vielen Wiederholungen - die genaue Anzahl stand wie eine freche Provokation deutlich lesbar auf der Aufnahmeklappe - war auch diese Einstellung im Kasten und somit die komplette Strandszene abgedreht.
Rosa war ärgerlich über ihre alberne Reaktion, drehte sich schnell um und ging Richtung Parkplatz, wo zwischen den großen amerikanischen Wohnmobilen, Bussen und Leihwagen für das Team auch ihr eigenes Auto stand. Sie wollte sich erst einmal in aller Ruhe fangen.
Doch schon kam Hank mit weiten Schritten auf sie zu. Als er sie erreicht hatte, zog er sein Baseballcap ab und strich sich durch das schüttere, rötliche Haar.
»Na, wie war Ihr erster Drehtag? Hat es Ihnen gefallen? War es authentisch?« Hank schaute sie mit seinen wässrig blauen Augen treuherzig an. Er zeigte ehrliches Interesse an ihrer Meinung. Aber warum auch nicht? Immerhin galt sie in den USA schon fast als die französische Nora Roberts!
»Das hier ist ein großes Abenteuer für mich. Ganz ehrlich! Zu sehen, wie meine Geschichte Stück für Stück Wirklichkeit wird. Alles ist genau so, wie ich es beim Schreiben in meiner Phantasie gesehen habe.«
»Wie schön! Darf ich Sie denn zu unserem Teamessen ins Hotel einladen?«
Rosa beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Tom die kleine, zierliche Charlotte mit dem Arm um die Taille fasste und sie über den Strand Richtung Parkplatz führte. Wahrscheinlich, damit sie nicht schon wieder durch den Sand stolperte, dachte Rosa ein wenig spöttisch, wischte den Gedanken aber schnell wieder weg. Gehässigkeit widerstrebte ihr zutiefst.
Zum Regisseur gewandt antwortete sie mit einem herzlichen Lächeln: »Sehr gerne, Hank!«
»Wir sehen uns dann im Restaurant«, winkte Hank ihr zu.
»Okay, wir sehen uns.« Hank gab ihr das Gefühl, schon zum Team zu gehören. Aber ob sie weiterhin Tom und Charlotte bei ihren gemeinsamen Szenen zuschauen wollte, das wusste sie noch nicht.
Als sie noch einmal verstohlen in Toms Richtung schaute, kam er auf sie zu. Allein. Sie bemerkte überrascht, dass er sich ganz anders bewegte, als noch vor ein paar Stunden, bei ihrem ersten Zusammentreffen. Sein Gang war nicht jungenhaft schlaksig und lässig, sondern energisch und zielsicher. War sein Gesicht eben noch von Trauer, Schmerz und Verzweiflung gezeichnet, spiegelte es jetzt ungezwungene Fröhlichkeit wider.
»Hey Rosa! Wie geht es Ihnen? War es nicht zu anstrengend, die ganze Zeit da im Sand zu stehen?«
»Ich bin in Ordnung«, beeilte sie sich zu versichern.
»Dann werde ich mich mal umziehen. Kommen Sie mit zum Abendessen?«
»Ja, Hank hat mich eingeladen.«
»Kluger Mann«, sagte Tom trocken. »Ich bin gleich wieder da.« Er wandte sich einem der Trailer zu und verschwand im Inneren.
Rosa verstand die letzte Bemerkung als Aufforderung, auf Tom zu warten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Fahrertür ihres eisblauen Peugeot-Cabriolets und beobachtete das fröhlich lachende und schwatzende Filmteam, zu dem sich jetzt ein paar Sicherheitsleute gesellt hatten.
Um einen Massenauflauf von Toms Fans zu verhindern, sollte so lange wie möglich geheim gehalten werden, dass die Dreharbeiten zu seinem neuen Film bereits begonnen hatten. Offiziell war er gerade im Urlaub auf den Malediven, wo er erst kürzlich von Paparazzi aus der Ferne gesichtet und fotografiert worden war. Wen Toms Management als Doppelgänger auserkoren hatte, entzog sich allerdings Rosas Kenntnis.
Von Touristen drohte am Drehort keine Gefahr, denn in diesen Teil Frankreichs verliefen sich im April nur einige wenige Bretagneliebhaber, deren Erscheinen in einer abgelegenen Bucht eher unwahrscheinlich war. Und die Einheimischen, durchweg sehr bodenständige, fleißige und sehr einfach lebende Menschen, hatten andere Sorgen, als das merkwürdige Treiben eines verrückten amerikanischen Filmteams an einem zugigen Strand zu beobachten. Trotzdem hatte man sicherheitshalber ein paar Security-Leute eingesetzt, um die Gegend zu beobachten. Rosa hatte deren Anwesenheit während des Drehens gar nicht bemerkt.
Als Tom wieder auftauchte, trug er statt der Sweatjacke eine schwarze Lederjacke, darunter ein kariertes Hemd über einem grauen T-Shirt. Die olivgrüne Hose hatte er gegen blaue Jeans eingetauscht. An den Füßen trug er immer noch Sneaker.
»Hätten Sie was dagegen, wenn ich bei Ihnen mitfahre?«, fragte er mit einem Grinsen.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Rosa eine Spur zu hastig, fügte dann aber hinzu, um den ersten Eindruck abzumildern: »Dann kann ich Ihnen ein bisschen über die Bretagne erzählen. Wenn Sie möchten.«
»Okay, dann lassen Sie uns fahren! Die anderen kommen nach.« Er rief Hank noch ein paar Worte zu. Dann stiegen sie ein und Rosa steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Verdeck öffne? Oder lieber nicht?«, fragte Rosa unsicher. Tom hatte sicher kein Interesse daran, gleich schon am ersten Drehtag zufällig erkannt zu werden.
»Ich bitte darum«, erwiderte er und ein leichtes Schmunzeln umspielte seinen Mund.
Sie war ja auch zu blöd, dachte sich Rosa. Wer erwartete denn schon, den Megastar Tom Savage in einem französischen Mittelklasse-Auto zu entdecken, das vollkommen unauffällig über eine Landstraße in der Nordbretagne kurvte. Sie drückte entschlossen auf einen Schalter. Während sich das Verdeck öffnete, zog sie ihr Flatcap tiefer in die Stirn. Dann setzte sie ihre Sonnenbrille auf und schaute auf Tom.
Er hatte sich lässig in den Beifahrersitz hineingelümmelt, den rechten Arm auf der Beifahrertür, die linke Hand auf ihrer Rückenlehne, die Ray Ban-Sonnenbrille auf der Nase. Er grinste ziemlich unverschämt.
»Hey, schickes Auto«, stellte er lakonisch fest.
»Danke! Freut mich, dass es Ihnen zusagt«, antwortete sie leicht amüsiert.
»Keine Automatik?«
»Nein, ich fahre nur mit Schaltung.« Sie hatte keine große Lust auf Erklärungen zu ihren Fahrkünsten.
»Cool!«, stieß er hervor.
Von wegen COOL! Sie konnte nicht einmal mit Automatik umgehen.
»Möchten SIE vielleicht fahren?«, fragte sie ermunternd.
»Nee, nee, bin der schlechteste Autofahrer auf der Welt.« Er machte ein abwehrendes, leicht genervtes Gesicht.
»Na, dann lieber nicht. Los geht’s!« Das konnte ja eine richtig unterhaltsame Fahrt werden! Rosa legte den Rückwärtsgang ein, wendete den Wagen und steuerte ihn dann vom Parkplatz auf die Landstraße. »Möchten Sie Musik hören?«
»Okay. Was haben Sie denn so da?« Ehe Rosa reagieren konnte, hatte er schon den Knopf des CD-Players gedrückt. Eine Frauenstimme ertönte. »Coole Musik!«, war sein knapper Kommentar.
Na klar, dachte Rosa. Coole Musik war für einen jungen Mann wie ihn sicher was ganz anderes. Techno. Hip-Hop. R&B meinetwegen.
Plötzlich richtete Tom sich auf, beugte sich ein wenig vor und lauschte aufmerksam dem Lied.
Wenn er jetzt noch einmal COOL sagte, dann schmiss sie ihn aus dem Auto, dachte Rosa grimmig. Er benahm sich auf einmal, als könne er nicht bis Drei zählen.
Stattdessen änderte sich Toms ganze Haltung. Wirkte er vorher träge und gelangweilt, war er plötzlich hellwach und überaus interessiert. »Das ist doch Melody Gardot. Das ist wirklich gut. Ich meine, es ist so old-fashioned. Es ist …«
Rosa hielt in Erwartung des C-Wortes für den Bruchteil einer Sekunde den Atem an.
»gefühlvoll und wunderschön«, vollendete er den Satz.
»Schön, dass es Ihnen gefällt. Ich liebe dieses Album. Das, was sie gerade singt, ist übrigens mein Lieblingslied.«
»Das ist wunderbar heiter! Wie der heutige Frühlingstag«, sagte Tom mit einem scheuen Lächeln. »Ich verstehe, dass Sie dieses Lied mögen.« Dann schwieg er und lauschte aufmerksam.
If the stars were mine
I’d tell you what I’d do
I’d put the stars right in a jar
And give ’em all to you.
Erst als auch der Nachhall des letzten Akkords verklungen war, begann Tom wieder zu sprechen. »Mögen Sie Jazzmusik im Allgemeinen?«
»Sehr!«, antwortete Rosa. »Für mich ist Jazz neben klassischer Klaviermusik von Bach, Chopin oder den Impressionisten die schönste Musik, die ich kenne. So ausdrucksvoll und vor allem sinnlich.«
»Gibt es da einen bestimmten Musiker, den Sie bevorzugen?« Tom wollte es ganz genau wissen.
»Bill Evans! Er war ein Magier am Klavier und machte einfach überirdisch schöne Musik. Ich liebe seine Alben. Und wen mögen Sie, Tom?«
»Auch ich mag Jazzmusik, und zwar in allen Varianten. Dann mag ich vor allem meinen besten Freund Bob Marden. Er steht erst am Anfang seiner Karriere, aber er macht Musik wie kein anderer. Und dazu ist er auch noch ein Dichter. Die Songtexte, die er schreibt, sind sehr poetisch. Ansonsten hüte ich mich davor, meine musikalischen Vorlieben kundzutun. Das steht dann am nächsten Tag wieder in allen Boulevardzeitungen. Mir wurde schon oft aufs Butterbrot geschmiert, dass ich den einen oder anderen Musiker nicht wohlwollend erwähnt hätte. Also halte ich mich zurück. Ihnen kann ich jedoch verraten, dass ich jede Musik mag, die gut ist.«
»Sehr aussagekräftig! Danke für Ihr Vertrauen, Tom!« Sie lachte. »Spielen Sie selber auch ein Musikinstrument?«
»Ein bisschen Gitarre und Klavier. Wie viele meiner Schauspielkollegen. Nichts Besonderes. Und Sie?«
»Ich hätte als Kind so gerne Klavierstunden genommen, aber ich hatte weder die Möglichkeit noch die Erlaubnis. Ich habe das immer so sehr bedauert und bewundere jeden, der spielen kann.«
Tom schwieg einen Moment. Dann bat er Rosa: »Bitte, erzählen Sie mir etwas über diesen Teil Frankreichs! Es interessiert mich sehr. Ich kenne nur Paris und ein Stück der Côte d’Azur. Sie wissen schon. Die Filmfestspiele in Cannes.«
Rosa stellte den CD-Player leiser und begann zu berichten. »BRETAGNE bedeutet soviel wie BRITANNIEN und der Name stammt aus der Zeit, als britannische Kelten, so etwa seit dem vierten Jahrhundert, von der Insel hierher nach ARMORICA, in das LAND AM MEER, auswanderten. Sie ersetzten den alten Namen einfach durch den Namen ihrer Heimat. Es ist also eigentlich das kleine Britannien, gewissermaßen ein Ableger des großen Britanniens, wo Sie, Tom, ja bekanntlich herkommen.«
Er lachte. »Gut gegoogelt! Ich muss Ihnen übrigens ein Kompliment machen. Ihr Englisch ist ausgezeichnet und ihr französischer Akzent sehr charmant.«
Rosa fuhr unbeirrt fort, obwohl ihr das Blut in die Wangen schießen wollte. Das war ihr das letzte Mal passiert, als… Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern.
»Die Bretagne ist genau genommen eine Halbinsel. Und heute haben Sie im FINISTÈRE gedreht. So heißt das Departement, wo SAINT-JEAN-DU-DOIGT liegt. Es ist der westlichste Teil des kontinentalen Frankreichs. Ihr Hotel hingegen liegt im Departement CÔTES D’ARMOR, für mich der schönste Teil der Bretagne. Sie finden dort Steilküsten, Sandstrände, Kiesstrände, rosafarbene Granitfelsen, Pinienwälder, kleine romantische Hafenstädte, mondäne Seebäder und noch viel mehr Sehenswertes.«
»Und SIE!«, stieß Tom hervor und fügte hastig und im Brustton der Überzeugung hinzu: »Ich meine natürlich, Sie wohnen wahrscheinlich auch dort.«
»Ja, das tue ich«, bestätigte sie schmunzelnd. »Das ist meine Heimat.«
»Und warum spielen die Strandszenen in einem anderen Departement als ihrer Heimat? Hat das einen tieferen Sinn?«, fragte Tom forschend.
»Ich habe einen abgelegenen Strand als Schauplatz der geheimen Treffen unserer Liebenden gesucht und die Gegend hier kenne ich ziemlich gut, weil ich auf das katholische Mädcheninternat in SAINT-POL-DE-LÉON gegangen bin.«
»Sie sind auf ein katholisches Mädcheninternat gegangen?«, fragte Tom mit einem Grinsen. »War das purer Masochismus oder wurden sie von ihren Eltern gezwungen? Entschuldigen Sie, falls ich zu indiskret bin, aber ich bin selber katholisch und kann mir vorstellen, was es bedeutet, interniert zu werden!«
»Nein, das ist in Ordnung«, erwiderte Rosa, obwohl ihr beim Gedanken an jene Zeit unwohl wurde. »Meine Mutter ist gestorben, als ich neun Jahre alt war. Sie war eine stille, sehr gebildete und feine Frau. Mit meiner Stiefmutter, einer exaltierten, etwas … schlichten Dame, habe ich mich nie sonderlich gut verstanden. Wir hatten uns nicht viel zu sagen und deshalb habe ich das kleinere Übel vorgezogen, als ich die Wahl zwischen dem Haus meines Vaters und dem Internat hatte. Zumindest habe ich dort, im Internat, etwas gelernt, was mir heute bei meiner Arbeit sehr zugute kommt, nämlich eiserne Disziplin.« Rosa verstummte. Mehr war zu diesem Thema eigentlich nicht zu sagen.
»Und was war mit Ihrem Vater?«, fragte Tom vorsichtig.
»Mein Vater hat seine neue Frau sklavisch angebetet. Er war ihr sozusagen hörig. Da gab es keinen Platz mehr für einen lästigen Quälgeist, der zu viele Fragen über die Welt stellte, seinen eigenen Willen hatte und manchmal sehr impulsiv reagierte.«
Rosa wollte nicht mehr über dieses Thema sprechen. Es erweckte längst vergrabene Gefühle von Ungeliebtsein und quälender Sehnsucht nach Geborgenheit. Sie überlegte, womit sie das Thema in eine andere Richtung lenken konnte. Dann fiel ihr ein Kuriosum ein, das den wissbegierigen Tom vielleicht interessierte und die Stimmung etwas auflockerte.
»Die Schutzpatronin meines Internats war die Heilige Ursula, angeblich eine bretonische Prinzessin, die später in Köln am Rhein einen gewaltsamen Tod fand, weil sie den Anführer der Hunnen nicht heiraten wollte.«
»Köln am Rhein in Deutschland?«, fragte Tom und riss die Augen auf, sichtlich stolz auf seine Geographiekenntnisse.
»Genau richtig! Köln am Rhein in Deutschland. Und stellen Sie sich vor, die Kölner begannen nach der Entdeckung des angeblichen Grabes der tugendhaften Jungfrau einen regen Handel mit ihren Überbleibseln. Zeitweise waren etwa 12000 Reliquien im Umlauf.«
»Ein bisschen zuviel Knochenmaterial für eine zarte Prinzessin, oder?« Tom lachte.
»Anscheinend ziemlich geschäftstüchtige Leute, diese Kölner!«, bemerkte Rosa anerkennend. »Und dann haben sie die Heilige Ursula zur Stadtpatronin gemacht. Wahrscheinlich aus lauter Dankbarkeit für den Geldsegen!«
Tom lächelte. Dann schien er einen Moment lang zu überlegen. »Der Name des Ortes, wo wir heute gedreht haben, ist kompliziert, aber es geht auch um einen Heiligen, nicht wahr?« Er versuchte, den Namen auszusprechen. »SAINT..JEAN..DU..DOIGT.«
Rosa war angenehm überrascht, dass er zugehört und sich den Namen gemerkt hatte. »Yann, oder Jean auf Französisch, ist ein bretonischer Heiliger und sein angeblicher Zeigefinger wird in der örtlichen Kirche aufbewahrt.«
»Aha, noch eine Reliquie!«, erwiderte Tom stirnrunzelnd und setzte gleich nach: »Nur einer? Ich meine, nur ein einziger Zeigefinger? Damit kann man keine großen Geschäfte machen. ARME Bretonen!« Er verzog sein Gesicht zu einer so komischen Grimasse, dass Rosa ihn unwillkürlich anschauen musste und beinahe das Auto, das vor ihnen aus einer Nebenstraße geschossen kam und ihr die Vorfahrt nahm, nicht gesehen hätte. Im letzten Moment stieg sie mit voller Kraft auf die Bremse, während sie instinktiv den rechten Arm schützend vor Tom hielt und rief: »Attention!«
Tom hielt sich sofort am Türgriff fest. Rosa umklammerte das Lenkrad wieder mit beiden Händen und steuerte das Auto auf den Seitenstreifen. Der Verursacher des Fastunfalls fuhr ungerührt weiter, als habe er nichts bemerkt.
Als der Peugeot zum Stehen kam, schrie Rosa außer sich vor Wut dem anderen Fahrer lautstark hinterher: »Crétin! Imbécile!« Tom zuckte leicht zusammen. Sie schlug mit den Händen auf das Lenkrad, atmete tief durch und schickte noch einen Fluch hinterher: »Putain de merde!« Sie war wütend über den rücksichtlosen Fahrer. Aber noch wütender war sie über ihre eigene Unachtsamkeit. Tom hätte verletzt werden können! Durch ihre Schuld! Sie wandte sich ihm zu und fragte in ängstlichem Ton: »Sind Sie in Ordnung, Tom?«
»Ja, ja, mit mir ist alles okay. Wow! Das war eine superschnelle Reaktion. Was haben Sie da bloß geschrieen? Ich habe nur Achtung und Kretin verstanden.«
»Nichts, gar nichts. Das war vulgär. Entschuldigen Sie bitte!«
Tom grinste sichtlich amüsiert über Rosas Temperamentsausbruch. Der Vorfall hatte ihn offenbar nicht weiter erschreckt. Vielleicht war alles zu schnell gegangen? Vielleicht hatte er gar nicht bemerkt, in welcher Gefahr er sich befunden hatte? Rosa jedenfalls zitterte, weil sie ihn in eine bedrohliche Situation gebracht hatte. Sie musste einen Augenblick warten, bis sie sich beruhigt hatte und weiterfahren konnte.
Tom setzte unbeirrt seine Nachforschungen fort, als sei nichts geschehen. »Wohnen Sie in der Nähe unseres Hotels?«
»Nicht direkt. Ich muss noch ein Stück entlang der Küste Richtung Osten fahren, ganz grob gesagt Richtung Paimpol, einer kleinen Hafenstadt, wo sich auch die Abtei von Beauport befindet.«
»Ach ja, ich erinnere mich aus dem Roman, dass die Abtei direkt an der Küste liegt. Dort spielen einige Schlüsselszenen.«
Rosa freute sich insgeheim, dass er ihren Roman gelesen hatte. Das war nicht selbstverständlich. Viele seiner Kollegen hätten sich mit der Lektüre des Drehbuchs, das alles verkürzt und vereinfacht darstellte, zufrieden gegeben.
»Ich bin sehr neugierig auf diese Abtei«, fuhr Tom fort. »Scheint ein sehr mystischer Ort zu sein.«
»Ja, das ist sie. Wenn Sie möchten, mache ich Ihnen eine ganz persönliche Führung durch Beauport!« Toms Art, an allem ein intensives Interesse zu zeigen, gefiel ihr sehr.
»Sehr gerne! Ich werde bei Gelegenheit auf Ihr Angebot zurückkommen.«
Rosa war Richtung Lannion gefahren, nahm jetzt aber nicht den direkten Weg durch das Inland nach Perros-Guirec, wo sich Toms Hotel befand. Sie wählte lieber die längere Strecke entlang der Felsenküste, die durch ihre spektakulären rosafarbenen Granitfelsen berühmt war. Angeregt unterhielten sie sich über das Leben in der Bretagne und erreichten trotz des Umwegs schneller, als Rosa lieb war, den Badeort, wo der Großteil des Filmteams seine Zelte im HOTEL THALASSO MIRAMAR aufgeschlagen hatte. Nur ein paar französische Filmleute, Techniker und Komparsen nächtigten außerhalb.
Es gab hier weit und breit keine amerikanischen Luxushotels, wie man sie bei Hollywoodproduktionen gerne in Anspruch nahm, zumindest für seine Hauptdarsteller. Aber das MIRAMAR, das direkt an der Strandpromenade lag, bot nicht nur herrliche Aussichten auf das ständig durch das Wetter und die Gezeiten in Veränderung befindliche Meer, sondern offerierte auch die berühmte Thalassotherapie. Das Hotel war von der Produktionsfirma für die Zeit der Dreharbeiten komplett gemietet worden, einschließlich Wellness-Behandlungen für die ganze Filmcrew. Zudem hatte sich das Management des MIRAMAR vertraglich verpflichtet, auch die Verpflegung am jeweiligen Drehort zu übernehmen, zusätzliche Sicherheitsleute einzustellen und gegenüber der Außenwelt absolute Verschwiegenheit über die anwesenden Gäste zu bewahren.
Das gemeinsame Abendessen fand im großen Speisesaal statt, einem gewaltigen, fast das gesamte Erdgeschoß einnehmenden Raum mit einer großen Panorama-Fensterfront an der Meerseite. Als Rosa und Tom den Raum betraten, waren die anderen Mitglieder des Teams bereits eingetroffen. Sie hatten den kürzeren Weg durchs Inland genommen. Der Regisseur erblickte Rosa und winkte sie zu dem freien Stuhl an seiner Seite, wo sie notgedrungen und mit einem leisen Gefühl des Bedauerns Platz nehmen musste. Tom setzte sich auf die andere Seite des langgezogenen Tisches, schräg gegenüber, neben Charlotte, seine Gefährtin im Film.
Rosa beobachtete während des Essens, wie vertraut Tom mit Charlotte umging. Er neckte sie ständig, kniff sie in die Seite, lachte mit ihr. Ja, sie aß sogar einmal von seinem Teller. Dabei schaute sie Tom mit einem derart unschuldigen Augenaufschlag an, dass Rosa unbewusst den Kopf schüttelte. Diese Charlotte hatte es faustdick hinter den Ohren! Ihre Unschuld war doch nur gespielt! Da, jetzt kokettierte sie ganz heftig mit Tom!
Überhaupt benahmen sich die beiden wie verliebte Teenager. Und sie sahen so unglaublich jung und unbeschwert aus. Rosa fühlte eine leise Niedergeschlagenheit in sich aufsteigen. Nein, sie gehörte nicht mehr dazu. Sie war nicht mehr jung und unbeschwert. Und dann war da auch wieder dieser bittere Anflug von Eifersucht, über die sie sich maßlos ärgerte. Vielleicht stimmten ja diese ewigen Gerüchte, dass Tom Savage immer wieder etwas mit seinen Filmpartnerinnen anfing? Jedenfalls verhielten sich bloße Arbeitskollegen nicht so! Nicht auf diese fast intime Art und Weise! Aber es ging sie schließlich nichts an.
Rosa musste sich zwingen, mit Hank ein einigermaßen normales Gespräch zu führen.
»Hoffentlich können Sie uns oft am Set besuchen. Ich möchte mich sehr präzise an das Original halten und Sie bei der ein oder anderen Szene konsultieren.«
»Es ist eine große Ehre für mich, als französische Autorin so eng in eine Hollywoodproduktion eingebunden zu werden.«
»Ach was! In Hollywood kocht man Suppe auch nur mit Leitungswasser und nicht mit bling h2O, wie die meisten Leute glauben. Alles nur schöner Schein.«
Dann erzählte Hank, dass die Filmpremiere, die für das Frühjahr des nächsten Jahres geplant war, in einem Theater in New York stattfinden werde und dass sie, als Autorin des Romans, selbstverständlich auch eingeladen sei, ja dass sie unbedingt kommen und ein paar Worte auf der Pressekonferenz sagen müsse.
Rosa nickte nur zaghaft lächelnd und konzentrierte sich auf ihren doppelten Espresso, den Blick angestrengt von den Turteltauben schräg gegenüber abgewandt.
»Rosa, wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Hat Ihnen das Essen nicht geschmeckt? Langweilt Sie Hank mit seiner Fachsimpelei?«, fragte Tom quer über den Tisch. Offenbar hatte er ihre Anwesenheit trotz seiner anregenden Beschäftigung mit Charlotte doch noch bemerkt! Gegen Ende des Abendessens, sozusagen im letzten Augenblick!
»Oh nein, ich überlege gerade nur, ob ich es in den nächsten Tagen überhaupt einrichten kann, zu den Dreharbeiten zu kommen. Hank hat mich gerade danach gefragt«, erwiderte sie mit einem gequälten Lächeln. Dabei hatte sie schon längst alle hinderlichen Termine abgesagt oder verschoben.
Tom schaute sie mit ernsten Augen an, sagte aber nichts. Er wandte sich wieder seinem Dessert zu, schien plötzlich ganz versunken in das Vermischen der Sahne mit der Mousse au Chocolat. Vorbei war die Alberei mit Charlotte, wie weggeblasen der fröhliche, jungenhafte Ausdruck in seinem Gesicht. Rosa schluckte betreten. Ihr Trotz hatte sich sofort wieder verflüchtigt. Wenn sie die Ursache für Toms Stimmungswandel war, dann tat es ihr von Herzen leid.
Es war spät geworden und man beendete das Essen. Rosa, die noch einen längeren Weg auf der dunklen Küstenstraße vor sich hatte, stand als erste auf und verabschiedete sich mit ein paar allgemeinen Worten in die Runde. Dann schüttelte sie Hank, der sich ebenfalls erhoben hatte, die Hand und wandte sich zum Gehen. Sie durchquerte schnellen Schrittes den Saal und ging zum Eingangsportal.
Plötzlich war Tom neben ihr. Er musste über den Tisch gesprungen und durch den Saal geflogen sein. Mit ernstem Gesichtsausdruck reichte er ihr die Hand. »Es war eine sehr schöne Fahrt hierher. Ich hoffe, dass Sie morgen wiederkommen. Ich möchte noch so viel von Ihnen erfahren. Gute Nacht, Rosa!«
Nicht nur seine Worte, sondern auch die Festigkeit seines Händedrucks gaben ihr Zuversicht. »Gute Nacht, Tom!« Sie lächelte ihn noch einmal an. Dann drehte sie sich um und verließ das Hotel.
Rosa war verwirrt. Jetzt musste sie erst einmal ihre Gefühlswelt sortieren.