Читать книгу Für immer Rosa - Claudia A. Wieland - Страница 4

Eine Schulklasse in Deutschland

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Es ist gerade Pause. Ein zierliches Mädchen mit lockigen, dunklen Haaren und grünen Augen, vielleicht zwölf Jahre alt, sitzt auf seinem Platz in der dritten Reihe. Vor ihm liegt ein Blatt Papier, die Kopie einer Zeitschriftenseite.

»Was liest du denn da?« Eine Mitschülerin, groß und mit groben Knochen, offenbar diejenige mit der größten Klappe, steht hinter dem Mädchen und reißt das Blatt an sich. »He, das ist ja ein heißer Typ. Wer ist denn das?« Sie versucht, den Artikel zu lesen. »Scheiße, der ist ja auf Englisch!« Sie liest mühsam die Schlagzeile: BRITISH SUPERSTAR COMMITS CAREER SUICIDE. »Hä? Da hat sich irgend so ein Superstar umgebracht«, grölt sie durch die Gegend.

Drei Jahre Englischunterricht haben wohl nicht viel gebracht, seufzt das zierliche Mädchen in Gedanken. Die Mitschülerin spart sich die Lektüre des Artikels und versucht stattdessen, das Datum zu entziffern. »Aber das Geschreibsel ist ja von Anno Tobak«, ruft sie entgeistert aus. Sie rechnet die Jahre zusammen. »Der Typ muss doch heute ein alter Knacker sein!«

Das zarte Mädchen zuckt zusammen. Dann atmet es tief durch. In seinen Augen glüht es. Es nimmt ein Lineal vom Tisch, steht auf, senkt den Kopf, ballt die freie Hand zur Faust und geht auf die grobschlächtige Mitschülerin zu. »Gib das her! Gib das SOFORT her!«, sagt es mit leiser, aber eindringlicher Stimme. Die Mitschülerin macht keine Anstalten, dem Wunsch zu entsprechen. Daraufhin sagt das Mädchen nur: »Du hast es nicht anders gewollt.« Als es zum Schlag ausholt, lodert das Feuer in seinen Augen. Es trifft seine Gegnerin mitten auf die Nase. Dann entreißt es ihr das Blatt, dreht sich um, kehrt zu seinem Platz zurück, setzt sich schweigend hin und liest weiter, als sei nichts gewesen

XXX

Die wehrhafte Kleine ist wieder zuhause. Sie sitzt mit verschränkten Armen auf ihrem Bett, die Stöpsel ihres MP3-Players in den Ohren. Neben ihr liegt die Kopie der Zeitschriftenseite. Sie denkt daran, wie es begann.

Vor ein paar Wochen hatte sie auf dem Dachboden einen großen Karton, voll mit alten Zeitungsausschnitten, gefunden. Da man in ihrem Elternhaus keine Geheimnisse voreinander hat, war es unwahrscheinlich, dass jemand diesen Karton zwischen dem alten Plunder hatte verstecken wollen. Wahrscheinlich hatte dieser Jemand, den Artikeln nach zu urteilen ihre Mutter, den Krimskram einfach aus den Füßen schaffen wollen.

Sie trug den Karton in ihr Zimmer und schaute sich die Artikel an. Sie stammten allesamt aus einer Zeit, als sie noch nicht geboren worden war. Es waren Ausschnitte aus deutschen Boulevardzeitschriften, aber auch Ausdrucke aus dem Internet. Da waren Fakten, Klatsch und Tratsch zu lesen: über Michael Jackson, den heute noch berühmten King of Pop, der vor mehr als 15 Jahren an einer Überdosis eines Betäubungsmittels gestorben war; über die Schauspielerin Romy Schneider, die damals schon, als ihre Mutter begonnen hatte, diese Artikel zu sammeln, nicht mehr lebte; über den Schauspieler Johnny Depp, damals wie heute ein Superstar, obwohl jetzt doch schon ziemlich in die Jahre gekommen. Da waren ein paar wenige Artikel über einen relativ unbekannten Rockmusiker, in dem die Kleine grinsend ihren Papa erkannte. Und da waren viele Seiten über einen gewissen Tom Savage, einen britischen Schauspieler, der offenbar in Los Angeles gelebt hatte. Sie hatte nie von ihm gehört. Sie blätterte durch die Artikel, die ihn betrafen, schaute die Fotos an und spürte eine merkwürdige Beklemmung, die langsam aus dem Bauch nach oben kroch und sich wie ein schwerer Klotz auf ihr Herz setzte. Er war sehr gutaussehend gewesen, keine Frage. ATTRACTIVE, SEXY, STEAMY waren die Attribute, mit denen man ihn in der englischsprachigen Presse bedacht hatte. Aber auf manchen Fotos hatte er dicke Tränensäcke und dunkle Schatten unter verschleierten Augen. Er sah unendlich traurig aus. Sie las alle Artikel, einen nach dem anderen, bis sie auf einen englischen Artikel mit der Überschrift BRITISCHER SUPERSTAR BEGEHT KARRIERESELBSTMORD stieß. Hier war von einem Tom Savage zu lesen, der sich sinnlos betrank und im Rausch Reporter verprügelte. Sie schüttelte den Kopf. Instinktiv wusste sie, dass an dieser hässlichen Geschichte irgendetwas nicht stimmen konnte. Sie deponierte den Karton unter ihrem Bett, nahm den englischen Artikel aber an sich, um ihn dann und wann hervorzuziehen und sich jedes einzelne Wort wieder und wieder durchzulesen.

Dann kam jener Tag, als sie Tom Savage zum ersten Mal in einem seiner Filme sah. Sie hatte sich über das Internet die Originalfassung von VICTOR UND CLAIRE besorgt und an einem regnerischen Nachmittag, als sie sich allein und unbeobachtet wusste, angeschaut. Tom Savage hatte sie total beeindruckt. Er war ein supertoller Schauspieler. Wie er der Claire die Gedichte in dieser schaurigen Abtei vorlas und wie er ihr zum Schluss erklärte, warum er weggegangen war und sich entschuldigte. Das war so grandios! Aber am meisten hatte sie die Szene berührt, in der er Claire dieses Liebeslied IF THE STARS WERE MINE vorsang und dazu auf der Gitarre spielte. Das hatte sie komplett geflasht. Ihr waren die Tränen in die Augen geschossen und nur so die Wangen heruntergelaufen. Sie hatte sich gar nicht mehr beruhigen können, obwohl das Lied doch gar nicht traurig war. Aber seine Stimme hatte so etwas … etwas Sehnsüchtiges. Sie war ganz anders als seine weiche, melodische Sprechstimme. Sie war so eindringlich, fordernd, ging einem durch Mark und Bein, und an manchen Stellen war sie schluchzend und verzweifelt.

Sie sah nicht mehr hin, als im Abspann des Films berichtet wurde, dass die Szene mit diesem Lied, das von der amerikanischen Jazz-Sängerin Melody Gardot geschrieben worden war, kurz vor der Premiere in einem Nachdreh entstanden und von Tom Savage persönlich der verstorbenen Autorin Rosa Mansier gewidmet worden war.

Dann hatte sie den Tom Savage von heute in einem Interview im Fernsehen gesehen. Klar war er jetzt etwas älter. So Ende Dreißig musste er sein. Aber er war viel, viel jünger als ihr Vater. Und er sah immer noch richtig jungenhaft aus, trotz der Falten auf seiner Stirn und den vereinzelten grauen Haaren in seinem ansonsten haselnussbraunen Haar. Dagegen sah ihr Papa, der alte Rock 'n' Roller, richtig verlebt aus mit seinen eisgrauen Haaren und dem faltigen Gesicht, das an altes Leder erinnerte. Sie lächelte beim Gedanken an ihren Vater, der jetzt irgendwo auf einer Baustelle mit Kunden unterwegs war, die langen Haare züchtig zu einem Zopf gebunden und die löchrigen Jeans gegen eine dezente Stoffhose eingetauscht.

In dem Fernsehinterview ging es um Toms Comeback, das offensichtlich ziemlich erfolgreich lief. Sein lebhaftes Minenspiel kam ihr seltsam vertraut vor. Mal riss er die Augen auf und seine Stirn legte sich in Falten, dann wieder kniff er die Augen zusammen und seine dichten Brauen überschatteten seine nachdenklichen Augen. Mal lächelte er verlegen, mal grinste er frech.

Irgendwann konnte sie sich nicht mehr auf das konzentrieren, was er sagte oder was der Reporter fragte. Sie starrte nur noch auf seine Augen: blau, kristallklar, aber dennoch verträumt, mit einem unendlich wehmütigen Ausdruck. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie fühlte etwas, was sie nicht einordnen konnte. Eine schreckliche Trauer, so ähnlich wie damals, als ihre über alles geliebte Omi gestorben war. Aber es war doch noch anders, verzweifelter, bedrohlicher. Es krampfte ihre Kehle zusammen und würgte ihr die Luft ab. So einen Schmerz kannte sie nicht. Das war nicht IHR Schmerz. Es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Das Mädchen schreckt aus seinen Erinnerungen hoch, als seine Mutter das Zimmer betritt. Schnell zieht es die Stöpsel des MP3-Players aus den Ohren. »Du hast mich wahrscheinlich nicht klopfen hören, mein Schatz«, sagt die Mutter und kommt näher. Dann sieht sie den Artikel auf dem Bett neben ihrer Tochter. Sie nimmt ihn hoch und wirft einen Blick darauf. »Wo hast du DAS denn gefunden?«, fragt sie erstaunt. Vermutlich hat sie den alten Karton auf dem verstaubten Dachboden längst vergessen. »Das ist doch aus meiner alten STARKISTE. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt.«

Die Tochter gesteht den Fund auf dem Dachboden. Ihre Mutter lacht fröhlich. »Ich habe früher über die Leute, die ich besonders toll fand, alle Informationen gesammelt, die ich finden konnte.«

Sie setzt sich jetzt neben ihre Kleine, den Rücken ans Kopfende des Bettes gelehnt, sodass die beiden wie zwei Schwestern wirken. Mutter und Tochter legen die gefalteten Hände in den Schoß.

»Tom Savage war zu der Zeit, aus der dieser Artikel stammt, so etwa Mitte Zwanzig, ich weiß nicht mehr genau, jedenfalls ein bisschen jünger als ich. Er hatte einige supererfolgreiche Filme gemacht, die von allen Mädels zwischen zwölf und achtzig angeschaut wurden. Das war vielleicht ein Hype. Wo auch immer er auftauchte, versammelten sich seine Fans, vor allem die weiblichen, und kreischten, was das Zeug hielt. Und die Paparazzi belagerten ihn, verfolgten ihn, manche belästigten ihn sogar ziemlich heftig. Er aber blieb immer ganz ruhig, nett und freundlich. Manchmal lächelte er ganz verlegen, als verstehe er diesen Rummel um seine Person überhaupt nicht. Er war ein Supermegastar, allgegenwärtig, in der Presse, im Fernsehen, im Kino, überall. Aber er war ja auch wirklich ein toller Schauspieler. Er konnte mit seiner Mimik Gefühle zum Ausdruck bringen, dass es einen ganz fertigmachte, wenn man ihn nur ansah. Und in Interviews wirkte er immer älter, als er eigentlich war, irgendwie nachdenklicher und reifer als seine Altersgenossen. Auch deshalb fand ich ihn so toll, denn im Allgemeinen stand ich ja nicht auf jüngere Männer.« Sie schubst ihre Tochter kichernd in die Seite.

Die weiß natürlich, was ihre Mutter damit andeuten will. Ihr Vater ist ganze fünfzehn Jahre älter als ihre Mutter. Ihre Großeltern waren damals wohl ziemlich entsetzt gewesen, als sie sich in diesen Musiker verliebt hatte. Sie würde die schönsten Jahre ihres Lebens verschenken, hatten sie gewarnt. Und eines Tages würde er sie einfach sitzenlassen. Man kannte ja diese Leute. Dann hatte sie Papa einfach mit nach Hause gebracht und er hatte ihre Großeltern mit seinem Charme platt gemacht. Und dann hatten sie geheiratet und schienen bis heute ziemlich glücklich zu sein. Wie am ersten Tag, sagte Papa jedenfalls.

»Nur bezweifle ich, dass Toms schauspielerische Fähigkeiten seine weiblichen Fans wirklich ernsthaft interessierten«, fährt ihre Mutter fort. »Er sah nämlich auch noch verdammt gut aus und das trieb sie in den Wahnsinn.

Aber dann kam diese Geschichte mit der französischen Schriftstellerin. Es war bei Dreharbeiten in Frankreich. Sie hatte den Roman geschrieben, auf dem der Film VICTOR UND CLAIRE, den sie dort drehten, basierte. Die beiden, also Tom und Rosa Mansier, verbrachten wohl ziemlich viel Zeit miteinander. Zuviel Zeit, wie hauptsächlich die weiblichen Fans im Nachhinein fanden. Bis heute weiß niemand so richtig, was damals wirklich zwischen den beiden war. Tom Savage hielt sein Privatleben immer eisern unter Verschluss. Jedenfalls war sie um einiges älter als er. Die Gerüchte überschlugen sich. Die Boulevardpresse gab keine Ruhe und spekulierte, was das Zeug hielt.

Ich hatte übrigens ihren Roman gelesen und er hatte mich zutiefst berührt. Dein Vater hat sich immer über mich lustig gemacht. Ich wollte doch so sehr, dass er das mit mir teilt, aber er meinte, das sei MÄDCHENKRAM. Dein Papa! Harte Schale, weicher Kern.« Sie streichelte ihrem Mädchen sanft über den Arm. »Und danach sah ich dieses Interview mit Rosa im Fernsehen. Ich sage dir, sie war so sympathisch, offen und ehrlich, dazu humorvoll. Sie war so lebendig, sprach enthusiastisch über den Film, der bald gedreht werden und ihre Geschichte zum Leben erwecken sollte und dass sie das alles richtig glücklich mache.

Ich erinnere mich noch so gut an ihr Aussehen, ihre weichen, weiblichen Gesichtszüge, ihr rotblondes, elegant zurückgekämmtes Haar, vor allem aber ihre unergründlichen, grünen Augen. Sie waren genauso tief und wunderschön wie deine, mein Schatz! Und sie hatte ein bezauberndes Lächeln, das tiefe Grübchen in ihre Wangen zauberte. Sie strahlte eine unglaubliche Herzenswärme aus. Ich mochte sie sehr.

Und dann kam diese schreckliche Sache. Sie erkrankte ganz plötzlich und unerwartet an Krebs. Die Krankheit befand sich wohl schon im Endstadium, als die Presse darüber berichtete. Rosa starb noch vor der Premiere des Films, heimlich, still und leise. Nur Tom Savage, so hieß es damals jedenfalls, war in den letzten Stunden bei ihr. Aber ob das den Tatsachen entspricht, weiß ich nicht.«

Während die Mutter erzählt, sieht ihre kleine Tochter die ganze Zeit Tom vor sich. Sie fühlt eine Welle der Gefühle auf sich zukommen, erst nur vage, dann immer heftiger. Gefühle, die sie bisher nicht kannte. Sie kommen mit großer Deutlichkeit immer näher, bis sie sie überschwemmen. Da ist eine ganz unvorstellbar tiefe Liebe … dann eine große Sehnsucht … unbändige Freude … Angst, ganz viel Angst … und dann plötzlich … schreckliche, abgrundtiefe Verzweiflung, dröhnend und laut, wie wenn es bei einem Gewitter donnert oder wenn ihr Vater die Bässe aufdreht. Sie versteht sofort, dass es nicht ihre eigenen Gefühle sind. Nicht sein können. Und sie ist diesem Ansturm nicht gewachsen. Sie beginnt zu weinen und konzentriert sich auf die vertraute Stimme ihrer Mutter. Der Schwall der fremden Empfindungen reißt sofort ab, als habe jemand einen Hahn zugedreht.

»Aber was hast du denn, mein Schatz?«, fragt ihre Mutter erschreckt. »Warum weinst du denn? Na komm, das ist jetzt schon so viele Jahre her!« Sie legt tröstend den Arm um ihre Kleine. »Spatz, du bist so empfindsam, aber du kannst doch nicht immer den Schmerz der ganzen Welt mitfühlen!«

Das zierliche Mädchen schluchzt ein letztes Mal auf und atmet dann ganz tief durch. »Nein, Mama, ich fühle doch nicht den Schmerz der ganzen Welt«, versucht es seine Mutter zu beschwichtigen. »Die Geschichte ist nur so traurig. Aber erzähl’ doch zu Ende! Bitte Mama!«, ermutigt es seine Mutter.

»Also gut. Es gab dann einen Riesenskandal. Nach der Premiere in New York, auf der Tom schon ziemlich übernächtigt und angeschlagen aussah, gingen er und seine Co-Darstellerin, sie hieß Charlotte, auf Tour durch Europa, um dort in den Hauptstädten an den Premieren ihres Films teilzunehmen. Und da hat Tom dann, ich glaube, es war in Paris, einem Reporter einen Schlag ins Gesicht versetzt, der ihm zu sehr auf die Pelle gerückt war. Es geschah angeblich im Rausch, denn Tom kam mit dick geschwollenen Tränensäcken unter den Augen und, wie es zumindest die Presse darstellte, mit irrem Blick aus seinem Hotel. Das war vielleicht eine Hetze in den Medien! Der geliebte Kronprinz war gestrauchelt und gefallen.

Der Film wurde trotzdem ein Riesenerfolg. Aber als Tom dann auch noch bei einer Preisverleihung, die von seinen bis dahin treuen Fans eifrig unterstützt und mit Ungeduld erwartet worden war, durch Abwesenheit glänzte, war das Maß einfach voll. Zwar bedankte er sich auf einer großen Videoleinwand bei seinem Publikum für dessen Treue, wobei er übrigens wieder ziemlich angeschlagen wirkte, seine Fans aber empfanden diese Dankesrede wohl eher als Schlag ins Gesicht. Sie warfen ihm vor, der Erfolg sei ihm zu Kopf gestiegen, er habe den unglaublichen Ruhm nicht verkraftet, er halte sich für etwas Besseres, habe es nicht nötig, denen, die ihm zu Geld und Ansehen verholfen hätten, persönlich zu danken, blablabla. Er tat mir richtig leid, denn ich fand immer, dass er einen sehr lieben Charakter hatte. Diese Reaktion hatte er nicht verdient. Vor allem nicht nach all dem, was er wohl durchgemacht hatte.

Jedenfalls hat er dann eine Zeit lang tatsächlich mehr Furore gemacht mit Gerüchten über wilde Partys und Alkoholexzesse, als mit guten Filmen. Und dann wurde es ziemlich ruhig um ihn. Ich habe lange Zeit nichts mehr von ihm gehört. Aber ich war ja auch mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel mit diesem kleinen Schreihals hier.« Sie kneift ihre Tochter in die Seite, springt dann schnell aus dem Bett, wirft ihr über die Schulter noch eine Kusshand zu und schlüpft aus dem Zimmer.

Die Kleine träumt eine Weile vor sich hin. Ihr Vater hat ihr einmal auf seiner alten Gibson Paula gezeigt, wie eine Saite, ohne dass er sie berührt, mit einer anderen Saite, die er anschlägt, mitschwingt. Resonanz hat er das genannt. So ähnlich muss das mit diesen seltsamen Schmerzen sein. Nein, sie fühlt nicht den Schmerz der ganzen Welt, wie ihre Mutter gesagt hat. Sie fühlt nur Toms Schmerz. Etwas in ihr gerät wie eine Saite in Schwingung, wenn sie sich auf Tom und die Ereignisse um Rosas Tod konzentriert. Dann spürt sie SEINE Gefühle. Fast so, als wäre … als wäre ein Teil von ihm in ihr drin.

Und sie empfindet noch etwas anderes. Da ist ein kleines, beharrliches Feuer in ihrer Brust, ungefähr da, wo das Herz sitzt. Es macht, dass sie Tom … dass sie ihn liebhat und dass sie eine ganz komische, eine dolle Vertrautheit mit ihm spürt, als würde sie ihn schon seit einer Ewigkeit kennen. Ob das Feuer schon immer da in ihr drin war, ganz still flackernd im Verborgenen? Wie ein ewiges Lichtlein, das nie ausgeht?

Die Kleine ist wild entschlossen, auf dieses Feuer aufzupassen und es zu beschützen, bis sie es eines Tages mit dem Menschen teilen kann, für den es brennt.

Und die Zwölfjährige trifft eine Entscheidung. Sie wird Tom suchen. Alles weitere wird sich schon von selbst ergeben, wenn sie ihn erst gefunden hat. Und sie weiß auch schon, wie sie es anfängt. Zuerst den Schulabschluss machen. Klare Sache! Dann einen vernünftigen Beruf erlernen. Das muss sie schon deshalb, um das notwendige Geld für eine Reise nach Amerika zusammenzubekommen. Sie kann ja wohl schlecht ihre Eltern um das Geld bitten. Und am Ende muss sie nur noch herausfinden, wo genau Tom lebt und zu ihm Kontakt aufnehmen. Aber das ist dann nur noch eine Kleinigkeit. Etwas in ihrem Inneren wird ihr schon sagen, was zu tun ist, welchen Weg sie gehen muss. Darauf vertraut sie aus tiefster Seele.

Für immer Rosa

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