Читать книгу Für immer Rosa - Claudia A. Wieland - Страница 6
14. Kapitel
ОглавлениеDer alte Mann auf der Bühne hatte graues, schütteres Haar und ein aschfahles Gesicht. Die blauen Augen schauten mit einem leicht überraschten, aber außergewöhnlich wachen Ausdruck durch die Gläser einer dunklen Hornbrille. Die ausgebeulte Hose sowie die graue Strickweste über dem Hemd mit speckigem Kragen waren altmännermäßig derangiert. An den Füßen trug er karierte Filzpantoffel.
Der Alte verbeugte sich ungewöhnlich tief, während das Publikum tobte. Der Applaus wollte heute einfach kein Ende nehmen.
Als ob es ihm peinlich wäre, den ganzen Erfolg für sich einzuheimsen, winkte er seine Kollegen, einen nach dem anderen, zu sich auf die Bühne und dankte jedem einzelnen mit einem angedeuteten Händeklatschen.
Die Schauspieler fassten sich an den Händen, traten an den Bühnenrand und verbeugten sich wieder und wieder. Dann ließen sie ihn, dem der Löwenanteil der Publikumsgunst gehörte, wieder allein, damit er seinen Triumpf auskosten konnte.
Jetzt begann das Publikum seinen Namen zu skandieren.
Er legte beide Hände auf sein Herz, um seine Zuneigung und tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Er breitete die Arme aus, als wolle er alle Zuschauer in diesem Theater umarmen. Er hatte den Mund leicht geöffnet und den Unterkiefer ein wenig zur Seite geschoben. Und dann trat ein verlegenes Lächeln auf sein Gesicht, das ganz deutlich zeigte, das ihm seine Macht über die Menschen überhaupt nicht bewußt war. Aber sein Charisma, das nicht von dieser Welt zu sein schien, hatte die Kraft, den ganzen, großen Saal bis in den entferntesten Winkel zum Erstrahlen zu bringen.
Als der Applaus schließlich abebbte und sich der Vorhang schloss, eilte Tom in seine Garderobe. Er war sehr erschöpft nach einer Vorstellung, die ihm allabendlich einiges abverlangte, denn er spielte viele verschiedenartige Szenen aus dem Leben des Helden, beginnend mit einem verführerischen Enddreißiger und endend mit einem gezähmten, ein bisschen müden Endsechziger.
Tom tauschte die Bühnenkleidung gegen seine verwaschenen Jeans, die Sneaker und seine alte Lederjacke aus. Dann verließ er das Theater durch den Hinterausgang. Perücke und Maske hatte er nicht abgelegt. Er wußte nicht so recht, warum. Vielleicht, um seine Wirkung außerhalb der Mauern des Theaters zu testen? Oder vielleicht doch eher, weil er sich hinter der Maske verstecken und andere unbemerkt beobachten wollte? Möglicherweise die junge Frau, falls sie wieder auftauchte?
Tom betrat sein Restaurant und verzog sich sogleich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Dining Rooms. Er legte das Drehbuch, in dem er jeden Abend las, vor sich auf den Tisch, schlug es auf und warf einen Blick hinein.
»Was soll diese lächerliche MASCARADE, Monsieur SAVAAAAAGE? Wollen Sie vielleicht Ihre Zeche von gestern prellen? Inkognito speisen?«
Tom erschrak, schaute auf und sah in das beleidigte Gesicht von Armand. Wie immer sprach der Oberkellner Toms Nachnamen nicht britisch nüchtern, mit kurzen Silben aus, sondern französich elegant, aber mit einem hochnäsig langgezogenen VAAAAAGE.
»Das können Sie vergessen, Monsieur Savaaaaage. Mit dieser komischen, alten Lederjacke à la James Dean. Ihrem sogenannten Markenzeichen.« Er schniefte verächtlich. »Da erkennt Sie doch sofort jeder. Sogar ein blinder Maulwurf.«
Maulwürfe sind nicht blind, wollte Tom erwidern, aber da warf Armand die Speisekarte mit einer wegwerfenden Handbewegung, die in einen äußerst eleganten Schwung mündete, vor ihn auf den Tisch und stapfte hocherhobenen Hauptes davon. Man hatte ihn unterschätzt. Das war eine Todsünde.
Tom bestellte bei der unscheinbaren Aushilfskellnerin einen Salat und ein Glas Rotwein, aß hastig den kleinen Imbiss und dachte wehmütig an das höfliche Personal in Paimpol. Trotzdem musste er amüsiert vor sich hinlächeln. Armand war immer so erfrischend direkt. Das schätzte er an dem Franzosen.
Armand hatte ja ganz Recht. Das war gründlich daneben gegangen. Was hatte er sich nur bei diesem blöden Versteckspiel gedacht? Immer dann, wenn ihn eine Frau mehr als interessierte, dachte er sich so eine idiotische Maskerade aus. Früher verglich man ihn wenigstens mit dem obercoolen Giganten Dean. Aber heute… heute hatte er sich mal wieder zum Affen gemacht. Hoffentlich tauchte das Mädchen jetzt nicht wirklich auf. Vor Scham würde er im Boden versinken.
Schnell beglich er die Rechnung und verließ den Ort seines Debakels. Als er sich schon ein ganzes Stück auf der Straße entfernt hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie die junge Frau die Tür zum Restaurant öffnete, um hineinzugehen. Jetzt bedauerte er aufrichtig, ihr an diesem Abend nicht als Tom Savage entgegengetreten zu sein.
XXX
Am folgenden Abend ging Tom nach der Vorstellung wieder in sein Stammlokal. Dieses Mal ohne Maske. Als er das Restaurant betrat, schweifte sein Blick über die anwesenden Gäste und sofort fand er den Blick des fremden Mädchens. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund. Schnell wandte er sich ab und steuerte auf seinen angestammten Tisch zu.
Dieses Mal aß er in aller Ruhe. Er lag auf der Lauer, wartete ab, was diese seltsame, junge Frau machen würde.
Aber sie machte nichts, schaute ihn nur an. Mit diesem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Reiseführer von London. Sie war wahrscheinlich eine Touristin, dem Aussehen nach eine Französin. Er würde es herausfinden.
Nachdem Tom bezahlt hatte, steuerte er scheinbar zielstrebig auf die Tür zu. Er ging an ihrem Tisch vorbei, spürte ihren Blick. Was wollte sie? Warum tat sie nichts, sagte nichts? Hielt ihn nicht auf? Kurz vor der Tür machte Tom unvermittelt eine Kehrtwendung und ging direkt zu ihrem Tisch.
»Hallo! Mein Name ist Tom Savage«, sagte er betont locker. Als wüsste sie nicht, wer er war, dachte er spöttisch. So, wie sie ihn die ganze Zeit angeschaut hatte. Aber er war bereit, das Spiel mitzuspielen. Er wollte wissen, warum sie eine solche Wirkung auf ihn ausübte, dass er eine halbe Nacht in der Stadt herumlief. Und ihre Augen faszinierten ihn. Zugegebenermaßen. »Ich spiele hier in der Nähe Theater. Habe den Reiseführer da vor Ihnen auf dem Tisch gesehen. Sind wohl zu Besuch hier?! Kenne ich Sie von irgendwoher?«
»Hallo! Mein Name ist Marie. Einfach Marie. Und nein, Sie kennen mich ganz bestimmt nicht. Ich komme aus Köln.«
»Köln am Rhein?«, fragte er stirnrunzelnd. Also nicht Frankreich. Die Erinnerung an einen Gesprächsfetzen spukte in seinem Kopf herum. Irgendwie haben die Kölner überall ihre Finger drin. Das hatte ER einmal gesagt.
»RICHTIG! Köln am Rhein IN DEUTSCHLAND«, präzisierte Marie in einem Ton, als wolle sie seine Geographiekenntnisse verbessern. »Aber wollen Sie sich nicht einen Augenblick zu mir setzen? Wo wir uns jetzt schon richtig gut kennen.«
Tom grinste in sich hinein. Diese Marie war nicht gerade auf den Mund gefallen. Offenbar war sie ziemlich selbstbewusst. Warum sollte er sich nicht zu ihr setzen? Für einen Moment.
Während er sich auf dem nächsten freien Stuhl niederließ, fragte er: »Warum sind Sie hier in London? Tourismus?«
»Nein. Habe gerade mein Studium beendet. Innenarchitektur!«
Tom war amüsiert. Marie imitierte seinen knappen Gesprächsstil, dessen er sich immer dann bediente, wenn er möglichst locker wirken wollte. Auch dieses Gebaren ließ er also lieber gleich bleiben.
»Mache hier Feld-, Wald- und Wiesenforschung. Habe ein paar Einrichtungshäuser und Auktionen besucht. Übermorgen geht es weiter in die USA. Kalifornien!« Sie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, wie Tom bemerkte. Im Übrigen war ihr Englisch ausgezeichnet. Sie sprach fast ohne Akzent.
Tom reagierte nicht sofort auf Maries Andeutungen und so fuhr sie fort: »Da, also in KA-LI-FOR-NIEN, werde ich voraussichtlich ein paar Monate bei Freunden verbringen und Kontakte knüpfen. Vielleicht kann ich sogar für den ein oder anderen Bekannten meiner Freunde arbeiten. Und möglicherweise ergibt sich ja sogar ein Auftrag für die Zukunft.«
»Sie reisen also übermorgen schon ab?« Tom verspürte ein leises Bedauern.
»Ja, ich hätte gerne Ihre Vorstellung besucht, aber es waren absolut keine Karten mehr zu bekommen. Wissen Sie, ich bin ehrlich gesagt ein Fan von Ihnen.« Marie sagte das ohne eine Spur von Verlegenheit, mit einer umwerfenden Direktheit und Selbstverständlichkeit. Tom empfand es als wohltuend, dass sie nicht das übliche Getue seiner weiblichen Fans zur Schau stellte.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«, fragte Tom.
»Danke, ein Glas Haut-Médoc wäre nicht schlecht«, antwortete Marie. Tom runzelte die Stirn. Unmöglich, dass sie vorhin erkannt hatte, welchen Rotwein er trank! Er hatte nur ein Glas bestellt, keine Flasche mit Vignette. Von Rosas Lieblingswein. Jetzt war es der einzige Wein, den er überhaupt noch trank.
Tom bestellte bei Armand zwei Gläser Haut-Médoc. Minuten später brachte der Oberkellner den Wein und servierte ihn formvollendet, mit einer Serviette über dem angewinkelten, linken Arm. Er ließ es sich nicht nehmen, Tom, dem berühmten Hollywoodstar, vertraulich zuzuzwinkern.
»Waren Sie schon einmal in Deutschland?«, fragte Marie neugierig, nachdem sich der Kellner hoheitsvoll vom Tisch entfernt hatte.
»Ich kenne Deutschland so gut wie gar nicht«, erwiderte Tom. »Ein bisschen von Berlin und München, aber das war es dann auch schon. Nicht einmal in England kenne ich mich besonders gut aus, weil ich praktisch schon als Teenager fortgegangen bin. Und der Rest Europas ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Mit Ausnahme der Hotels in den Hauptstädten, in denen ich mich immer zu den Premieren meiner Filme aufgehalten habe.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und dann kenne ich noch einen Teil der Bretagne. Das liegt in Frankreich. Waren Sie schon einmal dort?«
»Nein, ich war leider noch nie in der Bretagne, obwohl ich NATÜRLICH weiß, dass sie in Frankreich liegt. Soll ja ziemlich schön dort sein.«
Tom überhörte ihre altkluge Bemerkung. »Ja, es ist ausgesprochen schön dort. Ich war einmal in der Gegend um Paimpol, in der Nordbretagne, zu Dreharbeiten.« Tom fragte sich, warum er das diesem wildfremden Mädchen erzählte. Natürlich war sie kein Mädchen mehr, verbesserte er sich selber in Gedanken. Sie war eine junge Frau, vielleicht in dem Alter, in dem er gewesen war, als er damals Rosa kennengelernt hatte. Und sie war dem Tom von damals in punkto Vorwitzigkeit offenbar um Welten voraus. Kein bisschen schüchtern.
»Wo werden Sie in den Staaten wohnen?«, fragte Tom, um das Thema von Frankreich abzulenken.
»Meine Freunde wohnen in Alameda, in der Bucht von San Francisco, gleich neben Oakland. Kennen Sie die Ecke?«
»Ich kenne San Francisco und Berkley ziemlich gut, wohne aber selber in Los Angeles.«
»Bestimmt wohnen Sie in einer wunderschönen Villa in den Hollywood Hills«, stellte Marie im Brustton der Überzeugung fest.
»Da muss ich Sie leider enttäuschen«, erwiderte Tom. »Ich habe ein Appartement in der Innenstadt. Aber ich besitze tatsächlich ein Haus. In Pacific Palisades, falls Ihnen das was sagt. Ich nenne es mein Strandhaus, obwohl es genau genommen nicht direkt am Strand liegt. Aber man kann den Ozean vom Haus aus sehen. Vor einer Ewigkeit habe ich es gekauft, allerdings niemals darin gewohnt. Es steht leer. Keine Ahnung, in was für einem Zustand es sich befindet. Wäre vielleicht etwas für Sie! Ich meine, es sich mal anzuschauen und Vorschläge für eine Renovierung zu machen!«
In dem Moment, als Tom es ausgesprochen hatte, tat es ihm schon leid. Das Haus, das er für Rosa gekauft hatte, war unantastbar. War Tabu. Niemand hatte es in all den Jahren betreten dürfen. Und es jetzt für diese flüchtige Bekanntschaft zu öffnen, wäre ein Frevel.
»Also, wenn Sie es ernst meinen, dann komme ich tatsächlich und schaue mir das Haus an«, erwiderte Marie sofort.
Jetzt saß er in der Falle. Aber vielleicht vergaß diese Marie sein Angebot ja wieder ganz schnell, wenn sie erstmal in Kalifornien war und durch ihre Freunde Dutzende von Bekanntschaften gemacht hatte. Und wenn nicht, dann würde ihm schon etwas einfallen. Irgendjemand, den er kannte, hatte immer ein Haus, das renoviert oder ausgestattet werden musste. Man liebte dort den europäischen Geschmack. Sollte sie ruhig nach L.A. kommen. Er mochte dieses Mädchen. Irgendwie amüsierte sie ihn. Ihre Gegenwart munterte ihn auf. Der Gedanke an Rosa schmerzte merkwürdigerweise nicht so sehr, wenn Marie in seiner Nähe war. Aber kam der Gedanke an Rosa nicht erst durch sie auf? Es war irgendwie rätselhaft.
Sie plauderten noch eine Weile, bis sie ausgetrunken hatten. Dann reichte Tom Marie seine Karte, auf der seine Adresse und Handynummer standen. »Bitte nicht weitergeben, verkaufen oder veröffentlichen!«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
»Das würde mir nicht im Traume einfallen«, erwiderte Marie mit einem strahlenden Lächeln, das zwei tiefe Grübchen auf ihre Wangen zeichnete. Schnell steckte sie die Karte in ihren Rucksack und machte dabei ein so entschlossenes Gesicht, als wolle sie Toms persönliche Daten mit ihrem Leben verteidigen.
Nachdem Tom schmunzelnd bezahlt hatte, verließen sie das Lokal und gaben sich vor der Tür die Hand. Tom stellte fest, dass der Händedruck dieser zierlichen, jungen Dame fest und entschlossen war. Sie wusste, was sie wollte. Davon war er überzeugt. Sie verabschiedeten sich und dann ging jeder seines Weges.