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NACH HAUSE TELEFONIEREN

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Die ersten Reisen, an die ich mich erinnern kann, habe ich mit meinen Eltern und der Familie meines Onkels nach Italien unternommen. Strandurlaub in Jesolo, das Bilderbuchklischee der Neunzigerjahre. Das Viersternehotel hieß »Cambridge«, wie passend für Italien, das Frühstücksbuffet war riesig, zumindest für mich als Siebenjährige, die zuvor noch nie in einem Hotel gewesen ist. Ich ernährte mich trotzdem vorwiegend von der bereits in Würfel geschnittenen Wassermelone, die ich am ersten Tag am Buffet entdeckte. Jeden Tag wachte ich vor allen anderen auf und lief hinunter zum Pool, um eifrig Liegen für alle zu reservieren. Bis meine Eltern zum Frühstück erschienen, hatte ich bereits drei Schüsseln voller Wassermelone verdrückt. Dann blies ich mein Gummikrokodil auf und planschte damit im Pool herum. Nachmittags gingen wir an den Strand, wo meine älteren Cousinen mich bis zur Hüfte im Sand eingruben, während die Erwachsenen im Schatten lasen, schliefen und Zigaretten rauchten – schließlich waren sie im Urlaub. Ich erinnere mich, dass der Sand so heiß war, dass ich zur Strand-Eisdiele rennen musste, um mir nicht die Füße zu verbrennen. Abends vollzog sich immer dasselbe Ritual, das ich liebte: Alle zogen sich schick an, dann gingen wir ins Hotelrestaurant, wo uns ein dreigängiges Menü erwartete. Jeden Tag derselbe Tisch, derselbe Kellner, der mich »Signorina« nannte, wechselnde Pasta-Gerichte mit viel Parmesan und jeden Tag das gleiche Dessert-Buffet, auf das ich mich mit gleichbleibender Begeisterung stürzte. Danach bummelten wir durch die Stadt, mit großen Augen vorbei an den Touristen-Strandshops, vorbei an bunten Luftmatratzen, Flip-Flops und Bolero-Tüchern. In der Ferne sah ich den Luna-Park leuchten, den ich nie erreichen sollte. Ich konnte nur fasziniert die Glücksspielmaschinen und die unglücklichen Menschen, die den Hütchenspielern auf den Leim gingen, beobachten. Mein Vater klärte mich über ihre Tricks auf, während meine Mutter Souvenirs beäugte. Die Abende endeten stets im selben Lokal, wo die Erwachsenen Bier und Wein tranken, während meine Cousinen und ich in der Hollywoodschaukel sitzend selig riesige Schoko-Frappés schlürften. Es war wunderbar. Im folgenden Jahr wiederholte sich der Urlaub fast identisch, bis auf ein paar denkwürdige Ereignisse: Ich lernte im Hotelpool schwimmen, worauf ich mächtig stolz war, ich erlebte unwissentlich mein erstes Déjà-vu, was mich über zwei Jahre lang glauben ließ, dass ich übernatürliche Fähigkeiten hätte, und ich wurde bei einem Tretboot-Ausflug sehr schmerzhaft von einer Qualle erwischt.

Irgendwann, von meinem inzwischen in die Pubertät geratenen Selbst kaum registriert, endeten diese Familienurlaube einfach unkommentiert. Ab diesem Zeitpunkt entwickelten sich die Reisegewohnheiten meiner Eltern in zwei völlig konträre Richtungen. Während meine Mutter endgültig entschied, dass sie nicht gerne wegfuhr, hing mein Vater immer öfter großen Reiseträumen nach. Bereits in seinen Zwanzigern hatten er und seine Kumpels mit ihren Motorrädern die ganze Südhälfte Europas befahren, Griechenland, Türkei, Spanien, alles mit Zelt und wahrscheinlich viel zu viel Alkohol. Später, nach zahlreichen Jahren des Buckelns und Schuftens für die Familie, in denen er sich aus seiner Sicht sonst nichts gegönnt hatte, plante er seine ersten so lange ersehnten Rucksackreisen auf fremde Kontinente: Sein erstes Abenteuer führte ihn für drei Wochen nach Brasilien, zu indigenen Völkern an den Amazonas, die ganz anders waren als alles, was er davor gekannt hat, und die ihn unglaublich faszinierten. Er brachte viele Geschenke mit nach Hause, viel Schmuck, manches sogar mit Anhängern aus Affenzähnen, Taschen und Tücher. Das alles trug ich, inzwischen sechzehn Jahre alt, wie Trophäen in der Schule zur Schau. Alle Nachbarn und Verwandten waren beeindruckt von der Abenteuerlust meines Papas, ich am allermeisten. In unserer öden Kleinstadtwelt war dies eine interessante Neuigkeit für viele, darum zeigte er wochenlang jeden Abend seine Fotos dem ständig wechselnden Besuch. Ich wohnte seinen sich immer ähnlicher werdenden Vorträgen stets bei und wusste schon bald, welche Fotos und Geschichten aufeinanderfolgten. Ab diesem Zeitpunkt war ich angefixt von der Idee der großen, weiten Welt. Als ich siebzehn war und mein Vater mit dreiundvierzig eindeutig in der Midlife-Crisis angekommen schien, machte er entgegen allen Erwartungen in der Familie ernst, meldete bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatical an und packte seinen Rucksack für ganze sechs Monate: von Alaska nach Feuerland lautete sein Plan. Was ich heute für ein fürchterliches Klischee halte, war damals revolutionär, zumindest in meiner kleinen Welt. Das Smartphone war erst kürzlich erfunden worden, Papa reiste noch mit Digitalkamera und benutzte unterwegs Internetcafés. Fotos per E-Mail zu versenden war aufwendig und dementsprechend selten. Auf Google Maps und mit Routenplaner verfolgte ich seine Reise, nachdem er wieder eine E-Mail aus einer neuen Stadt geschrieben hatte. Sein Vorbild war das Buch eines typischen Business-Aussteigers gewesen, auch das las ich. Als er zurückkam, ging der Rummel um seine vielen Geschichten und Fotos von vorne los. Sogar mir, seinem treuen Fan, wurden die sorgfältig inszenierten Erzählabende irgendwann langweilig. In den folgenden Jahren, ich war bereits nach Wien gezogen, um zu studieren, zog es meinen Vater immer wieder für längere Zeit in die Ferne – Südostasien, Marokko, Nicaragua, Costa Rica, Kuba … Immer bereitete er sich akribisch mit einem Lonely Planet auf die Reisen vor. Immer zog er dann mit dem Rucksack los. Und immer kehrte er zurück und verkündete lautstark: »Das war das letzte Mal! Ich bin zu alt für das Backpacking!« Doch im nächsten Jahr zog er wieder los. Meine Mutter ließ ihn gelassen ziehen und wiederkehren, ohne dies allzu viel zu kommentieren. Wann immer Freunde oder Bekannte sie fragten, warum sie denn nicht einmal mitfahre, winkte sie nur schulterzuckend ab. Die extreme Reise-Unlust meiner Mutter wurde in unserer Familie über die Jahre zu einem Garanten für Witzeleien. Flugzeugen misstraut sie, Bus- oder Autofahrten sind ihr zu anstrengend. Zugfahren ist zwar in Ordnung, aber dann ist da noch das In-fremden-Betten-Schlafen, das Kofferpacken, das Sachen-Daheim-Lassen, und und und … Kurz: Sie ist gern daheim und hat kein Bedürfnis, die Welt zu erkunden. Trotzdem hat sie auch mich nie zurückgehalten, wenn mich das Fernweh packte, sondern immer nur lächelnd festgestellt: »Das hat sie eindeutig von ihrem Vater.«

Eine Lieblingsphrase meines Vaters am Telefon lautet »Lass uns mal wieder skypen«. Ich glaube, die Beherrschung dieser digitalen Kulturtechnik gibt ihm ein starkes Gefühl von Jugendlichkeit und Weltgewandtheit. Also vereinbare ich bald einen Termin für ein Skype-Telefonat mit meinen Eltern und sehe dann die ersten drei Minuten zu, wie Papa mit konzentriertem Blick das iPad so installiert, dass ich ihn und Mama richtig sehen kann. Dann beginnt er mich auszufragen, was ich in Peru bisher erlebt habe, welche Sehenswürdigkeiten im Land ich schon besucht habe, welche Orte in Lima ich schon kenne, welche typischen Speisen ich schon probiert habe. Er wirft mit Begriffen und Namen nur so um sich. Manches bejahe und kommentiere ich – dort ist es schön, das fand ich langweilig, dieses Gericht schmeckt wirklich toll –, andere Begriffe sagen mir nichts. Papa wirkt zufrieden. Ich erzähle von anderen Erlebnissen, Begegnungen mit Einheimischen und schönen, weniger bekannten Flecken des Landes, die uns empfohlen wurden. »Davon habe ich noch nie gehört«, kommentiert er daraufhin, er wirkt irritiert. Schnell bemüht er sich, das Thema zu wechseln, wieder über etwas zu sprechen, bei dem er mitreden kann. Meine Mutter hört aufmerksam zu, ihre Augen scheinen ständig über den Bildschirm zu huschen. Dann fragt sie mich mit neugierigem Blick, ob sie da im Hintergrund tatsächlich ein Regal aus Gemüsekisten in unserer Wohnung sieht. »Kracht das gar nicht zusammen?« Meine Eltern, verschieden wie Himmel und Erde. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn ich nach Hause komme und verkünde, dass ich in Zukunft nicht mehr so weit reisen will? Sie würden es mir wohl schlichtweg nicht glauben.

Das nächste Mal bleib ich daheim

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