Читать книгу Das Vermächtnis der Ahnen an die Krieger des Lichtes - Claudia González Peláez - Страница 9

3 Die Heimkehr »Bin ich wirklich?«

Оглавление

Am nächsten Morgen schaffte ich es gerade so auf den letzten Drücker den Flieger zu erreichen. Laut ausatmend bemerkte ich, wie ich zur Ruhe kam. Ich hatte einen Fensterplatz ergattert und lehnte mich entspannt in den Sessel und schaute durch die kleine Scheibe hinaus. Eine Frau mit ihrem kleinen Sohn betrat das Flugzeug. Sie kamen in meine Richtung. Bitte nicht! Nicht zu mir, flehte ich innerlich. Das wird bestimmt laut. Zu meiner Enttäuschung hatten sie ihren Platz neben mir schon gesichtet: Nr. 19b. Ich lächelte sie kurz an und schloss die Augen, in der Hoffnung trotz Kinderlärm zur Ruhe kommen zu können. Wie erwartet, wurde es laut. Ich versuchte zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Eine kleine Hand zog an meinen Arm. Ich schaute auf und sah, wie der Jungen mich angrinste. Wie alt mochte er wohl sein, sechs vielleicht?

„Er ist Sieben und heißt Joshua!“ entgegnete die junge Frau meinem fragenden Blick. Ich schaute zu ihr herüber. Sie war eine hübsche schlanke Frau mit rotblondem Haar und sanften Gesichtszügen. Sie trug einen schlichten, gelben Pullover und einen grauen Rock. Ich fragte mich, was wohl junge Frauen dazu bewegte, so früh Kinder zu bekommen. Ich schätze sie auf 25.

Es war sicherlich nicht leicht für Mütter. Ich hatte gesehen, wie sich viele Frauen in meinem Bekanntenkreis nach der Geburt veränderten und wie sie teilweise ihr altes Leben aufgeben mussten. Sie ließen sich gehen und vergaßen ihre Träume. Sie waren jetzt Mütter, die zu Hause blieben, und sich von nun an um Kind, Heim und Mann kümmerten. Das war ihre neue Lebensaufgabe. Dieses Leben passte nicht in meine Vorstellung vom Leben. Plötzlich errötete ich als mich der durchdringende Blick des Jungen traf. Seine blauen Kulleraugen schienen mich zu fixieren und zu wissen, was ich gerade dachte.

„Hast du Kinder?“, fragte er mich. Die junge Mutter rügte ihn gleich. „Du sollst doch fremde Personen nicht duzen, das habe ich dir schon hundert Mal gesagt. Und ausfragen sollst du sie auch nicht!“

„Mama, aber das machst du doch auch!“ Jetzt errötete die junge Frau. Ich winkte schlichtend ab. „Das macht doch nichts, du kannst mich ruhig duzen, ich bin Ronja und habe keine Kinder.“

„Schade, sagte der Junge Du siehst so aus, als ob du eine gute Mama wärst!“ Seine Bemerkung verwunderte mich und ich reagierte mit einem sichtbar fassungslosen Gesichtsausdruck. Seine Mutter wandte sich entschuldigend an mich und sagte: „Das macht er in letzter Zeit oft, ich weiß auch nicht so recht, von wem er das hat. Er sagt mir Dinge, von denen er eigentlich in seinem Alter nichts verstehen dürfte, wie beispielsweise, welcher Mann zu mir passe und das ich mir doch keine Sorgen machen solle, er hätte sich schon bei seinem Freund einen passenden Vater gewünscht. Seit einiger Zeit hat er einen Freund, der unsichtbar ist. Mit dem unterhält er sich den ganzen Tag.“

Der kleine Junge zog eine Grimasse und zeigte mit seinem kleinen Finger auf einen Punkt hinter meiner Schulter. „Ja und mein Freund steht gerade neben dir. Er war es, der mir verraten hat, dass er sich dich gut als Mutter vorstellen kann.“

„Ach so!“, antwortete ich amüsiert, „dann sag deinem guten Freund bitte, dass er sich dieses Mal sicherlich seiner Aussage irrt. Irren ist ja menschlich.“

Joshua lachte und erwiderte überzeugt: „Mein Freund ist kein Mensch. Aus diesem Grund kann er sich ja auch nicht irren!“

Die Kinder von heute sind echt seltsam, dachte ich. Und als ich gerade kontern wollte, ruckelte das gesamte Flugzeug, und das Anschnallzeichen leuchtete auf. Die Kabine verdunkelte sich, und wir gerieten in eine Schlechtwetterfront. Es wurde still an Bord. Plötzlich sah ich, wie sich der Innenraum durch einen in die Atmosphäre fallenden Blitz erhellte. Ich erschrak. Ich fühlte, wie ich kreidebleich wurde. Der kleine Junge hielt sich an seiner Mutter fest, die ihn beruhigte, obwohl ihr Gesichtsausdruck auch ihre Besorgung verriet. Eine Ansage des Kapitäns drang durch die Lautsprecher des Flugzeuges: „Wir durchqueren gerade eine Gewitterfront über dem Atlantik. Es kann ein wenig ungemütlich werden, aber es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Bleiben Sie bitte angeschnallt!“

Mein Blick glitt durch die Kabine und fiel auf eine betende Frau auf der anderen Sitzreihe. Sie hielt dabei einen Rosenkranz in den Händen. Das kleine, daran hängende Kreuz pendelte im Takt des Sturms hin und her. Meine Augen ließen sich hypnotisiert von dem silbrigen Jesusanhänger mittreiben.


Ich erinnerte mich, wie ich als kleines Mädchen jede Nacht zu Gott betete. Dabei kniete ich neben meinem Bett und sprach zu ihm. Ich fragte ihn viel und bat ihn um viele Dinge. Einmal wünschte ich mir eine Puppe aus Porzellan. Kurz darauf schenkte mir meine Tante genau die Puppe, die ich mir gewünscht hatte. Ich fand das wunderbar. Als ich älter wurde, gab es ein Ereignis, dass diese Verbindung zu Gott zerstörte: An besagtem Tag kam ich aus der Schule, und das Haus erschien stiller als sonst. Im Treppenhaus herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Die Szenen, die sich daraufhin abspielten, liefen vor meinen Augen ab wie ein schlechter Film. Als ich in die Küche kam, erblickte ich unseren Pastor, der versuchte, meine Mutter zu beruhigen, die wie eine Furie an seinem Bein hing und den lieben Gott beschimpfte. Als sie bemerkte, dass ich in die Küche gekommen war und mir das Schauspiel ansah, verstummte sie. Es war dieser erstarrte, ohnmächtige Blick, der mich verstehen ließ, was passiert war. Diese Situation war einschneidend für mich und ich werde sie niemals vergessen. Ich erfuhr vom plötzlichen Tod meines Vaters. An diesem Tag hielt meine Mutter eine Rosenquarz-Kette in den Händen, die sonst eine beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Als ich die schlechte Nachricht erfuhr, lief ich auf sie zu, riss ihr die Kette aus den Händen und trampelte darauf herum, bis sie zerbrach. In meinen Ohren schallten noch die Worte, die ich jähzornig zu Gott schickte: „Oh Vater, oh Vater, du bist fort, wo bist du bloß?“


Ein starkes Rumsen riss mich aus meinen Gedanken. Mein Atem stand still. Ich zitterte vor Wut. Der Flug wurde ruhiger, und ich atmete tief ein und aus. Das Anschnallzeichen erlosch und ich schlief ein.

Die Stewardess weckte mich. Wir standen kurz vor der Landung. Sie verzögerte sich noch ein wenig wegen der Wetterlage, aber wir sollten die Sitze schon einmal in die aufrechte Haltung bringen. Ich sah nach links und beobachte, wie Mutter und Sohn zusammen eingeschlafen waren. Der Junge war an seine Mutter geschmiegt. Was für ein schönes Bild, dachte ich. Wenn ich da an das Verhältnis zu meiner Mutter dachte.



Zu meiner Mutter hatte ich nie ein gutes Verhältnis gehabt. Stattdessen herrschte eine gewisse Distanz zwischen uns. Nach dem Tod meines Vaters hatte sie sich zwar verändert, da sie öfters Trost bei mir suchte, doch ertrug ich ihren unterdrückten Gram nicht. Es tat mir zwar leid, sie wegzustoßen, da ich spürte, wie ich sie damit verletzte, doch ich hatte keine Kraft, sie aufzufangen.

Es folgte die Zeit, wo alles ans Licht kam. Die Zeit, als ich in dieser Zelle lag und nichts verstand. Ich erinnere mich an die Szene, wie Angela mich mit ihrer Umarmung tröstete und mir dabei gleichzeitig übers Gesicht strich, dabei hatte ich keinen blassen Schimmer, was in den letzten Wochen passiert war. Dann betrat ein Mann in einem weißen Kittel mein Zimmer und wandte sich an meine Mutter, die im Raum stand: „Es ist ein seltsamer Fall von Hysterie! Ihr Nervensystem hat sich jetzt beruhigt. Sie kann jetzt nach Hause gehen.

Die Falten meiner Mutter vertieften sich und ich konnte beobachten, dass ihr etwas auf der Seele lag. Von Angela erfuhr ich später, dass ich einen Monat lang in der Klinik behandelt worden war. Ich stand unter strengster Beobachtung und wurde mit starken Medikamenten behandelt. Ich konnte das alles nicht verstehen, da ich mich an nichts erinnern konnte. Keiner wollte mir etwas Genaueres erzählen. Für eine 17-jährige junge Frau war das eine Qual. Ich war zuvor Klassenbeste in der Oberstufe gewesen und gut angesehen. Wie sollte ich diesen Vorfall meinen Freunden und Lehrern erklären? Zwar erinnerte ich mich, dass weder meine Mutter noch die Krankenschwestern mir in dieser Zeit einen Spiegel bringen wollten. Sie hielten mich davon ab, mich in diesem Zustand zu sehen, bis ich meine Freundin Angela überreden konnte, mir zu helfen. Sie brachte mir einen kleinen Spiegel ins Krankenzimmer. Ich erschrak, als ich mein nur noch schattenhaftes Gesicht erkannte.

Dann war endlich der Tag gekommen, an dem sie mich entließen. Ich zog mir meine dunkelblaue Jeans an, die fast an mir herunterrutschte, weil ich durch den Krankenhausaufhalt stark abgenommen hatte. Ich bedankte mich bei den Ärzten, obwohl ich nicht einmal wusste wofür. Der Arzt wandte sich kurz an meine Mutter und schaute sie eindringlich an: „Sie müssen mit ihr reden.“ Dann kam er zu mir, schüttelte mir zuversichtlich die Hand und verabschiedete sich.

Als wir erschöpft zu Hause ankamen, sagte mir meine Mutter mit ernster Miene: „Geh rauf in dein Zimmer und ruh dich aus, ich komme gleich nach. Ich muss dir etwas Wichtiges erklären. Vorher mache ich uns einen Tee.“

Der Duft nach Melisse drang bis in mein Zimmer und verbreitete sein Aroma. Ich fragte mich, was es so Wichtiges zu bereden gab, denn bisher setzte sie Teewasser nur dann auf, wenn etwas Schlimmes geschehen war. Das letzte Mal hatte sie Tee gekocht, als Vater gestorben war. Das Knirschen der Treppe riss mich aus meinen Gedanken. Meine Mutter kam die Treppen herauf und betrat vorsichtig mein Zimmer. Sie stellte den Tee und die Tassen auf die Kommode und setzte sich neben meinem Bett auf einen Stuhl. Wir schwiegen uns eine lange Zeit an, dann stand sie auf und schüttete den Tee in unsere Tassen. Sie drehte sich mit der Tasse Tee zu mir und überreichte sie mir. Ich beobachtete meine Mutter dabei. Sie sah alt aus. Es schien, als ob sie in den letzten Wochen stark gealtert wäre. Ihr früher einmal blondes Haar hatte sich jetzt komplett tiefgrau verfärbt. Ihre blauen Augen schauten mich traurig und geheimnisvoll an. Ich setzte mich aufrecht in meinem Bett auf und schaute sie erneut fragend an. Daraufhin ergriff meine Mutter das Wort und sprach lang Verschwiegenes aus: „Ronja, du ahnst, ich muss dir etwas erzählen, was dein Leben verändern wird.“ Sie stand auf und ging ins Bad, in dem mein geliebter Spiegel hing. Sie nahm den Spiegel ab und brachte ihn zu mir ins Zimmer, dabei streichelte sie den Rahmen ganz vorsichtig, als ob es sich um etwas Zerbrechliches handelte. Ich schaute sie verwundert an und erwartete jetzt eine Erklärung von ihr.

„Er ist von ihr, sie mochte den Spiegel sehr“, erwiderte sie meinem fragenden und fordernden Blick.

„Von ihr?“ fragte ich sie. „Was meinst du damit?“

„Mein geliebtes Kind, wir wollten es dir eines Tages gemeinsam erzählen, dein Vater und ich. Aber dann kam alles anders. Du weißt ja, er musste viel zu früh gehen. Tränen schossen ihr dabei in die Augen, und sie unterbrach ihre Erzählung. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen ab und fuhr fort: Ich hatte alleine keine Kraft, dir die Wahrheit zu sagen und so redete ich mir ein, dass du die Wahrheit nicht unbedingt erfahren müsstest. Aber dann wurdest du krank. Die ganze Situation, so wie du dich benahmst, erinnerte mich so an sie. Damit meine ich diese seltsamen Anfälle, die du immer wieder hattest und zuletzt musstest du sogar deswegen ins Krankenhaus. Als es dir so schlecht ging, habe ich einmal von dieser Frau geträumt. Es war ein einziger Albtraum, denn sie fuhr mich wie eine Furie im Traum an. Sie krallte ihre spitzen Fingernägel in meine Brust, so dass ich nach Luft ringen musste. Ihre scharfen grünen Augen sprachen zu mir und forderten mich auf, dich über deine Herkunft aufzuklären. Als ich am darauffolgenden Morgen aufwachte, fasste ich den Entschluss, dir alles zu erzählen. Seltsam war, dass es dir daraufhin augenblicklich besser ging.

Ich viel meiner Mutter stammelnd ins Wort: Aber, Mama, ich bitte dich, was erzählst du da für seltsame Geschichten?

Insgeheim hatte ich zwar längst begriffen, dass das, was sie mir zu sagen hatte, mein Leben auf den Kopf stellen würde, doch ich war mir nicht so sicher, ob ich es wirklich hören wollte. Meine Mutter fuhr jedoch unbeirrt fort: „Damals als es dich noch nicht gab, hatten dein Vater und ich einen starken Kinderwunsch. Doch es funktionierte nicht. Nach langer Zeit des vergeblichen Versuchens bekamen wir von den Ärzten die Diagnose, dass ich unfruchtbar war.“

Schützend umarmte ich meine Knie. Es war so, als ob ihre Worte mir den Boden unter den Füßen entzogen. Mein Körper bebte vor Aufbegehren. „Mama, das kann doch nicht sein! Wie konntest du mich denn dann trotzdem bekommen?

„Doch, mein Kind, so war es. Dein Vater und ich haben alles versucht, jahrelang. Ich wurde immer älter und irgendwann war es zu spät. Die Ärzte mussten mir aufgrund eines Infekts meine Gebärmutter herausnehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch Hoffnung gehabt. Aber danach fiel ich in ein riesiges tiefes Loch. Es war zu spät für Kinder dachte ich. Mein Traum war zerplatzt.“

„Aber, Mama, wie konnte ich dann zu euch kommen?“, wiederholte ich meine Frage.

„Es war die Idee unseres Bekannten, Wilfried. Er ist viel gereist und wusste, dass es in anderen Ländern auch anders ging. Für eine Adoption waren wir inzwischen zu alt geworden und es wurde hierzulande ausgeschlossen. Aber der gute Wilfried hatte immer eine Lösung parat. Er ist ein wundervoller Mensch. Seine letzte Reise hatte ihn damals nach Südamerika geführt und er hat sich dort in Carmen verliebt, die du auch kennst. Von ihr bekamen wir den Tipp. Es war unsere letzte Chance. Sie gab uns die Adresse von einem uralten Dorf. Dieses Dorf stand unter strengster Geheimhaltung, denn es galt als ein heiliger Ort. Nur wenige durften von ihm erfahren. Dort lebte eine Heilerin, die sich zwar ein wenig suspekt verhielt, doch schon einigen Menschen, die sie aufgesucht hatten, hatte helfen können. Wir griffen damals nach jedem Strohhalm und so reisten wir in Begleitung von Carmen in dieses Dorf. Als wir ankamen, brachte man uns zu ihr. Sie saß mit dem Rücken zu uns auf dem verdorrten Boden. Ihr Gesicht hatte sie dem Himmel zugewandt. Wir hörten, wie sie mit ihrem eigenen Speichel gurgelte. Dabei kamen klackenden Geräusche aus ihrem Mund. Dann wandte sie sich uns plötzlich abrupt zu und spuckte kleinen Knochen vor unsere Füße. Sie verteilten sich auf den Boden zu einem Muster. Dabei sang sie seltsame Töne, die mich verwirrten. Sie sprach zunächst zu sich selbst in einer geheimnisvollen Sprache und dann wandte sie sich an uns.

Wir wurden von einem Einheimischen begleitet, der uns das Wahnsinnige übersetzte: „Ihr dürft euch geehrt fühlen, dass sie euch empfängt, es ist der richtige Tag, den ihr gewählt habt. Die Geister der Ahnen haben Euch schon angekündigt und ihr von euch erzählt. Sie sah eure Bilder und jetzt seid ihr hier. Sie weiß, was ihr wollt und sie gibt es euch.“

Die Heilerin richtete sich vor mir auf und unsere Augen trafen sich. Ihr Blick ließ mich erschauern. Ich hatte einen unheimlichen Respekt vor dieser Frau, denn sie blickte so tief in mich hinein, als ob sie mich durchleuchten könnte. Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Becken und kniete vor ihr nieder.

Ich sah wie diese Frau ihre Augen verdrehte und Grimassen zog. Dann sprach sie weiter und schaute mich fragend an. Sie flüsterte mir etwas ins Ohr, was ich zunächst nicht verstand, sondern nur erahnen konnte, denn sie schien über meine Seele zu kommunizieren. Der Übersetzer bestätigte meine Ahnung: „Sie wird dein und mein werden!“ übersetzte er. „Bist du bereit, mir dafür ein Opfer zu geben?“ fragte sie. Ich war geschockt, weil ich nicht wusste, was sie von mir wollte. Gleichzeitig war ich bereit, ihr alles zu geben, was ich hatte. Ich wollte doch so sehr ein Kind, das ich großziehen konnte. Dann wandte sie sich an meinen Mann und schaute ihn verführerisch an. Jetzt wusste ich, was sie mir abverlangen wollte und ich stimmte ihrer Forderung zu.

Sie und dein Vater verschwanden drei Tage und drei Nächte im Wald. Danach war alles anders zwischen deinem Vater und mir. Wir schwiegen uns öfters an, wir lebten nebeneinander her, jeder für sich. Wir haben nie ein Wort darüber verloren, was damals geschah. Nach neun Monaten holte dich dein Vater bei ihr ab und brachte dich zu mir. Wir waren so versöhnt, als wir dich in den Armen halten durften. Du hast unser Leben neu erfüllt.“ Meine Mutter kam auf mich zu. Sie wollte mich umarmen aber ich schob sie von mir weg und schrie sie an: „Mama, lass mich allein, ich kann nicht mehr“ Sie streichelte mir verständnisvoll übers Gesicht und verlies mein Zimmer.

Fräulein, Fräulein?“ Eine Stewardess riss mich aus meinen Gedanken. Jetzt erst bemerkte ich, dass wir schon gelandet waren, und ich die letzte war, die noch auf ihrem Platz im Flieger saß. Ich nahm meine Tasche aus dem Handgepäckfach und verließ die Maschine.


„Ronja, Ronja !!!“

„Lucia….“

Als wir uns erblickten, ging alles sehr schnell. Wir stürmten aufeinander zu und ließen uns nicht mehr los. Für mich war Lucia wie eine Schwester, die ich nie gehabt hatte. Sie war so weich und vertraut.

„Siehst du, Schatz, du bist doch wieder die Letzte“, neckte sie mich.

„Ja, ich weiß, ich musste an damals denken und habe alles um mich herum vergessen. Du kennst mich doch“, sagte ich augenzwinkernd zu ihr.

„Das kann ich sogar verstehen, es war eine schwierige Zeit…“ antwortete Luci.

Nach dieser Episode mit meiner Mutter war in meinem Leben nichts mehr wie vorher gewesen. Ich empfand nur noch Hass und Zerrissenheit. Mein ganzes Leben fiel auseinander. Meiner Mutter konnte ich nicht mehr in die Augen blicken. Zwar zeigte sie Verständnis, indem sie mir Zeit ließ, um die Dinge zu verarbeiten, doch insgeheim spürte ich, dass sie litt.

Mein Leben stellte sich als eine Lüge dar. Mein damaliger Freund, den ich abgöttisch liebte, verließ mich kurz danach. Er wollte zu der Zeit keine Probleme haben und lieber die Zeit auf Partys genießen. Ich ging zu meinen Spiegel und verstand erst jetzt seine Bedeutung. Sie hatte ihn damals meinen Eltern mitgegeben. Ein sogenanntes Erbstück. Dass ich nicht lache. Am liebsten hätte ich ihn zerbrochen, aber eine mysteriöse Kraft hielt mich davon ab. Ich kam nicht an ihn heran und sogar meine Spucke prallte von ihm ab.

Nur bei Angela fühlte ich mich damals geborgen. Sie war es, die mir riet, der Sache auf den Grund zu gehen. So ging ich zu meiner Mutter und bat sie um eine Auszeit. Daraufhin entschloss ich mich, an einem Auslandsaustausch teilzunehmen, in dem Land, wo ich zur Welt gekommen war. Das war jetzt genau 13 Jahre her.

Lucia erriet meine Gedanken und nahm mich ganz fest in den Arm. Tröstend sagte sie mir: „Ach, Schatz! Die Sache hatte doch was Gutes, so konnten wir uns kennenlernen.“

Das stimmte, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, das hat man bei Freundschaften sonst nicht so oft. Ich kam in eine Austauschfamilie und es war vom ersten Moment an toll. Alles war so aufregend. Lucia und ich waren beide damals 18 Jahre alt und wollten Dinge erfahren. Sie nahm mich mit auf die Fiestas und ich lernte den Tanz, die vielen Chicos und das Land kennen. Ich vergaß lange Zeit meine Mission. Ich habe so viel gelernt und jeder Tag war ein einziges Abenteuer, das Leichtigkeit in mein Leben brachte. Lucia und ich wir machten uns aus allem einen Spaß. Bald nannte man uns beide gallinas gemelas (Zwillingshühner). Es war die leichteste Zeit in meinem Leben und das, obwohl sich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte, nachdem meine Mutter mir die Wahrheit über meine Herkunft erklärt hat. Klar, Lucia und ich hatten immer wieder versucht, etwas über die Heilerin herauszufinden, aber wir kamen nicht weiter und ließen uns von alltäglichen Dingen ablenken.

Trotzdem hatte ich, seitdem ich die Wahrheit erfahren hatte, das Gefühl, dass sie immer präsent war. Als das Austauschjahr vorbei war, kam der Tag, an dem ich Abschied von Lucia und ihrer Familie nehmen musste. Es war Zeit zurückzukehren. Am letzten Tag verriet ich Lucia ein weiteres Geheimnis, das ich bisher noch niemandem verraten hatte. Es ging um die Existenz meiner Freundin Angela. Ich hatte als Kind niemals viele Freunde gehabt. Ich träumte immer von einer besten Freundin, der ich alles anvertrauen konnte. Stattdessen wurde ich als Kind gemieden und gehänselt, weil ich anders war. Ich fing an, mir eine Freundin in Gedanken zu konstruieren, so dass sie irgendwann für mich real wurde. Sie war zwar ein Phantasiekonstrukt, doch für mich existierte sie wirklich. Ich nannte sie Angela. Als ich im Krankenhaus lag, wurde es von den Ärzten festgestellt. Der amtierende Arzt hatte mir in der Klinik gesagt, dass ich Halluzinationen habe, aber ich wusste, Angela war für mich, wie ein Mensch, der mir immer beistand. In dieser Nacht, bevor ich nun wieder abreiste, war mir Angela ein letztes Mal erschienen. Sie hatte mir gesagt, dass ich sie jetzt nicht mehr brauche, da Lucia in mein Leben getreten sei. Jetzt könne sie zu anderen einsamen Kindern gehen. Tief berührt von dieser Geschichte, nahm mich Lucia in den Arm und wir schwuren uns ewige Freundschaft. So kam es, dass sie ein Jahr zu mir kam und wir uns dann im Wechsel fast jedes Jahr besuchten. Lucia war ein Geschenk des Himmels, das mich mit meinem Leben ein Stück versöhnte und diesmal war es an mir, sie nach langer Zeit wieder zu besuchen.

„Wie geht’s deiner Familia, Lucia?“ fragte ich sie interessiert.

„Gut geht es ihr. Sie freuen sich schon, dich zu sehen!“, antwortete sie mir. „Aber ich muss dir vorher noch was gestehen“, sagte sie plötzlich.

„Was ist passiert?“, wollte ich wissen.

„Ich wollte dir das nicht am Telefon erzählen, weil ich es dir persönlich sagen wollte. Ronja, ich bin jetzt verlobt.“

Strahlend zeigte sie mir ihren Ringfinger. Ein silberner Ring blinkte daran. Ich spürte einen kleinen Stich in der Herzgegend. War es Neid? Nein, eher Angst, Angst vor Verlust. Aber es war nur ein kurzer Augenblick. Ich umarmte sie und gratulierte ihr.

„Was hast du bloß angestellt, dass er dich zur Frau nimmt?“ neckte ich sie.

„Ich war bei einer Bruja (Hexe), die mir die Karten las. Sie sagte mir, ich werde bald heiraten, und so braute sie mir einen Zaubertrank. Ich sollte meinem Liebsten diesen Trank geben. Es war ein ekliges Gebräu. Aber Guillermo machte den Spaß mit. Seltsamerweise brachte er mir tagelang 40 frische Rosen. Ganz förmlich, in seinem edelsten Anzug, klopfte er am 40. Tag an unsere Tür und hielt bei meinem Vater um meine Hand an.“

Wir stiegen in das Familienauto. Es war ein alter klappriger Pick-up. Die gesamte Fahrt über ruckelte es, während ich in mich gekehrt die Landschaft um mich herum betrachtete. Ich schaute aus dem Fenster und sah das dürre Land. Ich konnte die Berge in der Ferne sehen. Normalerweise bevorzugte ich den Strand, aber heute hatte ich Sehnsucht, auf den höchsten Gipfel zu steigen und mich auszuruhen. Ich spürte plötzlich eine Schwere. Die letzte Zeit hatte ich wenig Gelegenheit gehabt, mir Gedanken zu machen. Jetzt sah ich dieses Naturspektakel und alles kam in mir hoch. Lucia wandte sich an mich und sagte: „Ronja, du weißt, du bist eine besondere Schwester für mich. Ich möchte dich an meiner Seite stehen haben, wenn ich vor den Altar trete!“

Ihre Worte berührte mich noch mehr. Ich schaute sie kurz an und mir schossen Tränen in die Augen.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du so verdammt romantisch bist, Lucia“, neckte ich sie, um meine Gefühle zu verbergen. Aber das konnte ich wohl nicht so gut.

„So, und nun kommt die nächste Überraschung, ich habe was gebucht für dich und für mich. Eine Art Abschied aus meinem Jungfrau-Dasein“, erzählte Lucia. An diesem Kommentar verschluckte ich mich so sehr, dass ich stark husten musste.

„Du elendiges kleines Biest, du hast ja wohl Guillermo nicht so was verklickert?“ Ich schaute sie an.

„Ronja, du weißt doch, wie katholisch dieses Land ist, ich will doch pompös in der Kirche heiraten!“

Ich hielt meinen Bauch vor Lachen. Ich konnte mich noch genau an die Zeit des Austauschjahres erinnern:

Sie war so verrückt nach Jungs gewesen und immer auf der Jagd. Sie wollte endlich wissen, wie das Schönste auf der Welt war. Und da kam dieser Gockel, wie hieß er noch mal? José! Er machte ihr schöne Augen, und sie verlor den Verstand. Wir waren wieder abends aus gewesen, und sie lies mich auf den Fest alleine stehen. Ich beobachtete wie José und Lucia in Richtung Auto gingen, eng umschlungen. Ich hatte mir so was gedacht, als ich das alte Auto wackeln sah. Als sie auf das Fest zurückkamen, blickte Lucia mich enttäuscht an. Ihre Frisur war ganz hin. Sie sagte nur, wir müssen jetzt gehen. Nachts im Bett hörte ich sie schluchzen und fragte, was geschehen sei. Sie erwiderte damals ernüchtert: „Wenn das die schönste Sache der Welt sein soll, dann verzichte ich lieber darauf und werde Nonne. Es tat höllisch weh!“

Ich traute mich nicht sie zu umarmen und sagte ihr nur: „Gute Nacht, es wird bestimmt alles besser werden.“

Wir schliefen ein.

Lucia holte mich aus meinen Erinnerungen zurück:

„Nein, jetzt im Ernst, Ronja, natürlich erzähle ich Guillermo alles. Sagen wir mal, fast alles“, korrigierte sie sich, „aber ich dachte mir, es wäre was Besonderes, wenn wir meinen Abschied nach den alten Traditionen unseres Landes feiern würden und dazu muss ich erst mal zur Frau werden.“

„So, so, und was hast du dir überlegt?“ fragte ich sie gespannt.

„Ich hatte Dir doch von meinem Cousin Machú erzählt, der in diesem speziellen Dorf lebt. Normalerweise bekommt man dorthin keinen leichten Zugang, aber Machú und ich sind blutsverwandt. Du musst wissen, als Kinder haben wir eine Blutsbrüderschaft geschlossen. Damals haben wir uns geschworen, uns gegenseitig zu besonderen Anlässen immer zu begleiten. Die letzten zehn Jahre ist Machú weg gewesen. Er hat mir nichts Genaueres erzählt, aber er kam verändert zurück. Jetzt ist er ein Mann und alle anderen haben Respekt vor ihm. Letzte Woche trafen wir uns. Er riet mir dazu, vor meiner Heirat ein Übergangsritual zu machen. Ich erzählte ihm von dir und er sagte du solltest mich begleiten, da für dich auch etwas Besonderes vorhergesehen wäre.“

Jetzt wurde es aber spannend, dieser Machú kannte mich doch gar nicht. Durch meinen ganzen Körper durchschoss eine eigenartige Erregung, dabei wollte ich weitere Auskünfte von Lucia haben, aber wir waren schon an unserem Ziel angekommen, und Maria, Lucias Mama, kam uns stürmisch entgegen.

„Liebe Ronja! Wie sehr habe ich Dich vermisst!“ Sie schloss mich in die Arme, in der ich ihren harten Schweiß riechen konnte. Sie betätschelte mein Gesicht und kniff mir fest in die Wange. „Mamma mia, wie hübsch du geworden bist!“

Sie war eine typische Mamacita: klein, rund und voller Lebensfreude.

„Ich habe schon gehört, aus dir ist etwas geworden, das freut mich sehr.“

Lucis kleiner Bruder hatte mich jetzt entdeckt und kam auf mich zu.

„Mensch, Juanito, du bist ja jetzt schon ein junger Mann.“

Stolz grinste er mich an und umarmte mich herzlich. Ich staunte nicht schlecht, wie er sich verändert hatte. Aus dem kleinen Pummelchen war ein richtiger Don Juan geworden.

„Wow! Wow! Da werden sich die Chicas bei euch aber freuen.“, begrüßte ich ihn neckend. Er nahm mir das Gepäck ab und trug mir die Koffer in mein Zimmer, das ich mir mit Lucia teilte.

Das Haus war schlicht eingerichtet. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich wieder auf diese einfachen Verhältnisse umzustellen. Das Haus war modrig und es roch nach Feuchtigkeit. Der Fußboden war kalt und dreckig. Sie kochten noch mit Feuer und ein Kessel klapperte auf der Kochstelle. Es herrschte eine urige Atmosphäre. Ich konnte sehen, dass die Holzbalken herunterhingen und brüchig waren. Ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, dass die Häuser hier lebendiger waren. Es konnte gut sein, dass dich abends ein Tierchen besuchen kam. Trotzdem fühlte ich mich wohl. Hier war ich gut aufgehoben und gut versorgt. Vor dem Haus gackerten die Hühner und sie waren froh, wenn sie etwas zu picken fanden. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Aber trotzdem war das Haus immer voll Menschen und mit ihnen auch voller Neuigkeiten.

„So ihr Süßen, jetzt wird gegessen!“ Fröhlich schüttete Maria uns den Bohneneintopf in die Suppenteller.

Nach dem Essen wurde ich müde. Ich versuchte, mich mit zwei starken einheimischen Kaffee wach zu halten, aber es half nichts. Ich entschuldigte mich und ging todmüde ins Bett. Als ich gerade eingeschlafen war, hörte ich, wie die Familie von einem Reiter Besuch bekam, denn das Pferd wieherte und ich hörte kurz darauf eine männliche Stimme, die ich noch nicht kannte, aus der Küche schallen. Ob das wohl Lucias Verlobter Guillermo war? Aus Pflichtgefühl versuchte ich aufzustehen, um mich ihm vorzustellen. Doch ich bemerkte, dass meine Beine es sich anders überlegt hatten. Ich raffte mich noch einmal auf, doch meine Beine ließen sich nicht überreden. Ich legte mich wieder zurück und fiel in einen tiefen Schlaf.


Am nächsten Morgen erwachten Lucia und ich zeitgleich.

„Ronja, bist du schon wach? Wir müssen unbedingt packen, es geht gleich los!“

„Was geht los?“ fragte ich entsetzt.

„Ich hatte dir doch gestern von meinem Cousin Machú erzählt. Er war gestern noch hier und teilte mir mit, dass wir heute abgeholt werden. Laut seinem Kalender ist heute ein guter Tag, um aufzubrechen.“

„Aber erzähl mir doch ein wenig mehr, Luci, was soll ich denn einpacken?“ bat ich sie mir zu verraten.

„Machú sagt, wir brauchen nur das Nötigste, da wir dort in der Siedlung nach alter Tradition leben werden“, antwortete Lucia.

Ich war immer noch verstört, obwohl ich Überraschungen von Luci gewöhnt war. Zum Nachdenken war keine Zeit. Ich packte meinen Rucksack so zusammen, dass ich für die nächsten Tage etwas zum Wechseln hatte. Ich zog mir eine gemütliche Jeanshose an und meine warme bordeauxfarben Stola über. Gott sei Dank hatte ich meine bequemen, braunen Lederstiefel eingepackt. Es blieb keine Zeit zum Frühstücken. Mamacita gab uns ein kleines Lunchpaket mit, für unterwegs, denn wir hörten schon die Pferde wiehern, die uns abholen kamen.

Ein älterer Mann saß auf einem Hengst und wartete mit zwei weiteren Pferden auf uns. Er wandte sich an Lucia: „Machú schickt mich, um euch abzuholen, steigt auf!“ Er hatte einen künstlich aussehenden Schnurbart und trug ein schwarzes Gewand. Er sah aus wie die Karikatur von Zorro.

„Ich bin noch nie auf einem Pferd geritten!“ wandte ich ein.

„Dann wird es ja Zeit“, antwortete Rodolfo gnadenlos.

Lucia half mir, meinen Hintern auf die schwarze Madonna zu hieven. Undankbar sagte ich zu ihr: „Du weißt, ich habe einiges gut bei dir!“

Sie grinste und stieß elegant und gekonnt ihre Unterschenkel in die Flanken ihrer weißen Lady und trabte voraus. Ich fragte mich, wie ich das nachmachen sollte. In Filmen sah ich immer, wie Reiter mit ihren Zungen schnalzten und die Pferde darauf mit einem Galopp reagierten. Also schnalzte ich, aber nichts geschah. Rodolfo lachte mich aus und holte mit seiner Hand aus. Er klatschte seine groben Hände auf Madonnas Hinterteil, was ihr gar nicht gefiel. Sie wieherte und zog ihre Vorderbeine hoch. Ich grub meine Hände in ihre weiche Mähne in der Hoffnung nicht zu stürzen. Die schwarze Madonna schnaubte, aber galoppierte brav hinter Lucis Lady her. Ich spürte mein Gesäß, wie es immer wieder auf den harten Sattel klatschte. Nach einer Stunde wurde es anstrengend. Dabei wurde es allmählich auch noch wärmer. Der Nebel löste sich auf, und wir konnten die Berge sehen. Wir passierten kleine Flüsse und jedes Mal geriet ich in Panik, wenn mich Madonna gekonnt über den steinigen Fluss trug. Mein Körper schien sich an den Rhythmus zu gewöhnen. Meine Oberschenkel spannten sich beim Hochkommen an und ich merkte, wie sich nach und nach meine Haltung gerade und selbstbewusst aufrichtete. Ich war stolz auf mich, dass ich mit den anderen, die viel geübter waren als ich, mithalten konnte. Ich drehte mich zu Rodolfo um, da ich fühlte, wie er mich beobachtete. Seine Augen klebten an mir. Er sah mich ungeniert an und schnalzte mit der Zunge. Wie eklig, dachte ich, und hielt daraufhin einen noch größeren Abstand zu ihm.

Der Ausritt führte über Täler und kleine Schluchten. Es wurde immer steiniger. Ich wünschte mir, dass wir bald ankamen. Plötzlich sah ich in der Ferne Rauchzeichen emporsteigen. Rodolfo zeigte in die Richtung und sagte, es sei das Dorf Mata Miedos (Ängste-Töter). Wir sollten dem Pfad folgen, auf dem Machú uns entgegen kommen würde. Er winkte ab und verließ uns.

Wir folgten seiner Anweisung. Nach einer Weile richtete ich mich ungeduldig nach vorne und spähte suchend nach einem Menschen, der uns entgegenkam. Nach einer endlosen Zeit erkannte ich eine Gestalt in der Ferne. Ob es wohl Machú war? Er war noch so weit weg. Wir näherten uns der Person. Ich erkannte einen großen Mann auf einem mächtigen, weißen Pferd. Es war Machú, der uns empfing. Ich merkte, dass meine Kräfte am Ende waren, aber ich gab mir einen Ruck. Ich wollte zeigen, dass eine Frau aus der Stadt Durchhaltevermögen besaß. Ich konzentrierte mich auf mein Ziel.

Machú, was für ein seltsamer Name, schoss mir durch den Kopf. Von hier aus sah er aus wie eine Fata Morgana. Die untergehende Sonne blendete mir ins Gesicht, denn der Sonnenuntergang breitete sich aus. Lange hatte ich dieses Farbspiel nicht mehr gesehen. Es war so unbeschreiblich schön. Es schien so, als ob die Wolken zum Greifen nah wären. Hinter Machús Gestalt leuchtete der Himmel in Orange und Rosa.

Luci hatte Machú schon erreicht. Jetzt standen beide in der Ferne und warteten auf mich. Ich sah, wie sie sich angeregt unterhielten. Ich versuchte, meine Madonna zu animieren, einen Schritt schneller zu gehen und versprach ihr ein Zuckerstückchen, wenn sie gehorchte. Sie schien leider nicht käuflich zu sein, im Gegenteil, sie verlangsamte ihren Galopp.

Schließlich kam auch ich bei den beiden an. Luci grinste mich an. „Endlich kann ich dich meiner deutschen Schwester vorstellen, Machú“, ergriff Luci das Wort und zeigte auf mich.

Wir saßen alle noch auf unseren Pferden. Der Ritt hatte mir alle Kräfte abverlangt. Ich drehte mich wackelig und schnaufend zu ihm. Machú und ich sahen uns ins Gesicht. Ich weiß nicht, wie lange wir uns anstarrten. Es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Diese dunkle Haut, dieses Gesicht. Am liebsten wäre ich abgestiegen, um ihn zu berühren und um herauszufinden, wie sein Körper sich anfühlte, so sehr war ich von seiner Gestalt fasziniert. Sein hartes, breites Kinn verriet starke Männlichkeit. Sein Ausdruck war aber gleichzeitig sehr weich. Sein Oberkörper war nackt und er trug eine braune Fransenlederhose. Sein schwarzes, langes Haar flatterte im Wind. Er trug ein tiefrotes Stirnlederband, an das eine große Feder befestigt war. Ich schaute mir diese Feder an, sie kam mir so vertraut vor.

Ich bemerkte, dass Machú mich auch intensiv beobachtete. Es war so, als ob er mich mit seinem Blick durchleuchtete. Ich spürte genau, wohin seine Augen wanderten. Ich nahm ein Kribbeln im Beckenbereich wahr. Unerwartet wieherte meine schwarze Madonna, und der Bann schien gebrochen zu sein. Machú begrüßte mich: „Herzlich willkommen in meinem Land!“ Daraufhin gab er uns die Anweisung ihm zu folgen.

Lucia und ich folgten ihm wortlos. Nach einem hügeligen Pfad ging es bergab. Ich sah am Ende des Weges eine tiefe Steinschlucht. Vorsichtig trabte ich hinterher, als Machú kurz vor der Schlucht nach rechts in einem geheimen kleinen Weg einbog. Hier hielt er unsere Pferde an und trat an mich heran und sagte:

„Ich muss dir ab hier deine Augen verbinden. Das Dorf möchte seine Lage geheim halten. Seine Lage darf nicht öffentlich werden.“

„Das ist doch gar nicht nötig, ich würde niemals den Weg bis hier hin finden“, erwiderte ich.

„Es tut mir leid, aber ich muss mich an unsere Dorfregeln halten.“

Ich gab nach und duldete, dass Machú mir meine Augen mit einem schwarzen Schal verband. Dann hörte ich, wie er sich nun zu Lucia drehte und auch ihr die Augen verband.

„Bitte haltet euch gut an eurem Sattel fest, denn es wird ein wenig ungemütlich werden. Bleibt bitte ganz ruhig, die Pferde dürfen sich nicht erschrecken, da wir auf einem ganz schmalen Weg reiten werden, der nicht gesichert ist. Aber keine Angst, es wird nichts passieren, wenn ihr auf mich hört“, sagte er.

Mir wurde mulmig zumute, denn ich ahnte, unser Weg führte in Richtung Schlucht. Ich riss mich zusammen und vertraute diesem Menschen, der uns jetzt an den Leinen unserer Pferde führte. Es dauerte eine gefühlte Stunde, bis wir nach einem anstrengenden Trab an unserem Ziel ankamen. Ich hörte, wie Machú von seinem Pferd abstieg und uns von dem Augenverband befreite. Ich brauchte einen Augenblick, um mich wieder ans Licht zu gewöhnen.


Das Vermächtnis der Ahnen an die Krieger des Lichtes

Подняться наверх