Читать книгу Wo der rote Mohn blüht - Claudia Romes - Страница 7
Kapitel eins
ОглавлениеWestflandern, Jonkershof – Mai 2018
Es war Frühling. Über der Allee zum alten Gutshof wölbte sich ein Dach aus jungen Blättern. Die sechzehn Walnussbäume, acht zu jeder Seite, waren so alt wie das Haus, das am Ende des Schotterweges lag. Seit fast dreihundert Jahren war das Gebäude aus rotem Backstein im Familienbesitz. Seitdem hatte es sich kaum verändert.
Kathleen Dullaert stieg aus dem Taxi. Sie drückte dem Fahrer das Geld für die Fahrt in die Hand und er rauschte davon. Kathleen ließ den Blick über das Anwesen schweifen, dabei wurde sie von einem ungeahnten Glück geflutet. Viel zu lange war sie nicht mehr hier gewesen, dabei hatte sie das Gutshaus immer so geliebt. Ihr letzter Besuch bei ihrer Großmutter Erika lag schändliche vier Jahre zurück. Kein Wunder, dass diese nicht besonders erpicht darauf gewesen war, sie ausgerechnet jetzt willkommen zu heißen. Als Kathleen ihr ihren Besuch am Telefon ankündigte, hatte sie nicht sehr begeistert geklungen. Im Gegenteil. Kathleen hatte den Eindruck, als hätte sie dafür gerade keinen Kopf und Besseres zu tun. Tatsächlich hat sich ihre Großmutter ziemlich beschäftigt angehört. Was Kathleens Mutter Adeline darin bestätigt hatte, dass sie mit dem einsamen Leben auf Jonkershof überfordert war.
„Siehst du“, hatte sie zu ihrer Tochter gesagt. „Höchste Zeit, dass jemand nach ihr sieht.“ Und mit jemand hatte sie ihre Tochter gemeint. Sie selbst war in London mit ihrer Immobilienfirma indisponiert. Deshalb hatte sie Kathleen mit der unangenehmen Aufgabe betraut, nach Flandern zu reisen, wo sie sich ein Bild vom Geisteszustand ihrer Großmutter machen sollte.
„Cousinchen“, rief plötzlich jemand und Kathleen schreckte unmerklich zusammen. Im nächsten Moment kam Matthew über den Hof auf sie zu. „Ich hatte dich gar nicht so früh erwartet“, sagte er und begrüßte sie mit einem Kuss auf jede Wange.
„Ich habe einen früheren Flug genommen.“ Kathleen zwang sich zu lächeln.
„Das war gut“, meinte er überschwänglich. „Denn ich mache mir ernsthafte Sorgen um unsere Großmama.“ Er kam näher und sprach in gedämpfter Lautstärke. „Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist nicht mehr ganz klar im Kopf.“
Kathleen hob die Brauen und machte schmale Lippen. Sie vertraute seiner Meinung nicht. Das hatte sie noch nie getan. Matthew war schon als Kind stets nur auf seinen Vorteil aus gewesen. Ein Grund, weshalb sie sich nie sonderlich verstanden hatten. Dass er jetzt ihre Unterstützung suchte, wunderte Kathleen. Er hatte ihre Mutter aufgrund horrender Ausgaben alarmiert, die Erika in den vergangenen drei Monaten getätigt hatte.
„Wie kommst du darauf?“ Kathleen war sicher, dass er in Wahrheit fürchtete, sie könnte seinen Erbanteil verschleudern. „Na ja, sie konnte sich kürzlich nicht daran erinnern, wo sie ihren Hausschlüssel hingelegt hatte.“
Kathleen lachte schief. „Wenn’s danach ginge …“ Sie griff nach ihrem Trolley und zog ihn über den Kiesweg in Richtung Eingangstreppe. „Meiner lag letztens im Kühlschrank.“
Matthew folgte ihr unbeeindruckt. „Das kannst du doch nicht vergleichen.“
„Doch. Ich denke schon.“ Sie stellte ihren Koffer neben sich.
Matthew kam nah an sie heran und senkte die Stimme. „Es sind Unmengen an Geld von ihrem Konto verschwunden. Perry Schellen hat es mir erzählt. Er arbeitet in der Bank und ist Omas Berater. Jeden Donnerstag gehe ich mit ihm kegeln, wie du weißt.“
Kathleen rümpfte die Nase. „Woher sollte ich das wissen? Ist Oma im Haus?“
Bevor sie klopfen konnte, öffnete jemand die Tür. Es war Erikas älteste Freundin Dorcas.
„Hallo, Kathleen“, begrüßte Dorcas sie kühl.
„Lange nicht gesehen.“
„In der Tat.“ Dorcas strich sich das schulterlange graue Haar hinters Ohr und nahm Kathleen den Koffer ab.
„Wie geht’s Oma?“
„Ihr geht es gut. Sie ist hinterm Haus auf den Feldern.“
„Auf den Feldern?“, wiederholte Kathleen anerkennend und bedachte Matthew mit einem vielsagenden Blick.
Dieser rollte mit den Augen. „Ich sag ihr ständig, sie soll sich nicht überanstrengen, aber …“
„Aber dazu gibt es keinen Grund“, beendete Dorcas seinen Satz.
„Sie ist neunundneunzig Jahre alt!“
„Dessen ist sie sich bewusst.“
„Es ist zu viel für sie.“ Matthew sah zu Kathleen, als verlangte er von ihr, dass sie ihm beipflichtete, doch sie schwieg.
„Vielleicht nimmst du jetzt dein Mittagessen zu dir, Matthew. Bevor die Fritten kalt werden. Es steht im Esszimmer bereit.“ Dorcas wies hinter sich. Matthew kam ihrem Vorschlag schnaufend nach. Kathleen erinnerte er dabei an ein trotziges Kleinkind. Kopfschüttelnd schaute sie ihm nach, wie er über den Flur marschierte. Nicht zu fassen, dass er immer noch der gleiche Holzkopf war wie früher und sich bemuttern ließ.
„Hast du auch Hunger? Es ist genug da“, holte Dorcas sie aus ihren Gedanken.
„Oh, ich … nein. Ich hatte ein Sandwich am Flughafen. Ich würde lieber gleich mit Oma sprechen, wenn das geht.“
„Geh nur. Sie freut sich schon, dich zu sehen.“
Kathleen kam nah an Dorcas heran. „Benimmt er sich?“ Sie wies aufs Esszimmer, wo Matthew in sein Mittagessen vertieft war.
Dorcas verdrehte die Augen. „Nicht anders als sonst.“
„Sag mir Bescheid, wenn er dir gegenüber wieder unverschämt wird, dann darf er sich was anhören.“
„Ist doch halb so wild.“
„Ist es nicht.“ Kathleen erinnerte sich, wie er sie früher öfter von oben herab behandelt hatte. Sie hatte ihn deswegen zur Rede gestellt, aber sie war sich unsicher, ob er daraus gelernt hatte. „Er hat dir gar nichts zu sagen, Dorcas. Du bist wegen Erika hier und nicht für ihn.“
Dorcas lächelte kaum merklich. Es war ihr unangenehm, wenn jemand ansprach, dass sie von ihrer Freundin Geld nahm. Nachdem ihr Mann ihr einen riesigen Schuldenberg hinterlassen hatte, konnte sie jedoch jeden Cent gebrauchen.
„Ich stell dir den Koffer in dein altes Zimmer“, sagte sie.
„Danke.“ Kathleen nickte lächelnd und wandte sich um.
Neben dem Tor, das in den gepflasterten Hof führte, blühte der Flieder in einem kräftigen Lila. Kathleen ging näher heran und sog den wohligen Duft der Schmetterling umschwirrten Blüten tief ein. Hundegebell ließ sie aufblicken.
Ein schwarzer Mischling kam auf sie zugelaufen. Kurz hielt er vor ihr inne, dann sprang er schwanzwedelnd an ihren Beinen hoch.
„Na, mein Junge. Wer bist denn du?“ Kathleen ging vor ihm in die Hocke, was der Hund als Einladung nahm, ihr übers Gesicht zu schlecken. Sie strich ihm über den Kopf mit den halb aufgestellten Schlappohren und über das weiche, strubbelige Fell an seinem Rücken. „Wem bist du denn entwischt?“ Langsam richtete sie sich wieder auf und ließ ihren Blick suchend nach einem Herrchen oder Frauchen zum Weg wandern, der durch die Felder führte, auf denen das Gras hoch gewachsen war.
Nichts schien sich verändert zu haben. Es war, als wäre sie gerade erst nach London gezogen. Dabei hatte sie dem Gutshof vor nicht weniger als fünfzehn Jahren den Rücken gekehrt, um im Immobilienunternehmen ihres Stiefvaters in der englischen Hauptstadt zu arbeiten. Eine Zeit lang hatte sie in Erwägung gezogen, bei ihrer Großmutter zu bleiben und mit ihr zusammen das Land zu bewirtschaften, das seit drei Generationen in der Familie war. Doch sich so früh für die Zukunft festzulegen hatte ihr Magenschmerzen bereitet. Sie hatte nicht im beschaulichen Flandern bleiben können, während ihre Eltern in London mit einem Jetset-Leben auf sie gewartet hatten. Heute wusste sie, dass es egoistisch gewesen war, ihre Großmutter allein zu lassen, mit Matthew als einzigem Verwandten in der Nähe. Kathleen ging über den Hof, besah sich alles ganz genau. Jedes Detail weckte in ihr die schönsten Kindheitserinnerungen. Der alte Ziegelbrunnen, der längst kein Wasser mehr hatte, die Mauer des Gemüsegartens. Wie gern sie hier mit ihren Großeltern Verstecken gespielt hatte. Der Hund folgte ihr mit heraushängender Zunge auf Schritt und Tritt, als würde er sie schon lange kennen. Obwohl Kathleen sich noch immer fragte, zu wem er gehörte, genoss sie seine Gesellschaft. „Weißt du“, sagte sie zu ihm, während sie gemeinsam den völlig verwilderten Gemüsegarten inspizierten, „als ich klein war, hatte Oma auch einen Hund wie dich.“
Er bellte zweimal, als würde er ihr antworten. Kathleen lachte.
Sie schickte ihren Blick nochmals über die Felder. Von ihrer Großmutter war keine Spur zu sehen. Gedankenverloren lehnte sie sich daraufhin über die Mauer und seufzte. Sie dachte daran, wie wunderschön es hier war und wie selbstverständlich sie Jonkershof früher genommen hatte. Damals hatte sie die Welt sehen, sich ausprobieren wollen. Nun, da sie an den Ort zurückgekehrt war, der ihr stets eine Zuflucht geboten hatte, sah sie ihn mit anderen Augen. Plötzlich erschien er ihr weder zu eng noch zu trivial. Es war, als wäre er während ihrer Abwesenheit still und heimlich gewachsen. Sie hatte ihn nicht so groß und einladend in Erinnerung.
Ein Pfeifen ertönte und der Hund hastete los. Er verschwand im hohen Gras, zwischen den roten Mohnblumen, deren Blüten im Wind schaukelten. Kathleen war froh, wiedergekehrt zu sein, doch sie spürte auch das schlechte Gewissen wie einen Stich in ihrem Nacken. Was würde Oma sagen, wenn sie erfuhr, warum sie sie besuchte? Ein Schaben, das aus dem Stall kam, holte sie aus ihren Überlegungen.
„Großmutter?“ Sie ging auf das Geräusch zu und betrat den Stall mit seinem hohen Spitzdach. Sofort stieg ihr der Geruch von frischem Heu in die Nase. Schwalben zogen flatternd über sie hinweg. Noch immer nisteten sie zwischen den Dachbalken. Kathleen lächelte beseelt. Sie war so eingenommen von den Sinneseindrücken, dass sie nicht bemerkte, wie jemand auf den Gang trat.
„Guten Tag.“
Kathleen stand ein breitschultriger Mann mit Schubkarre gegenüber. Das Gesicht war in den Schatten gehüllt, den seine Mütze spendete.
„Ähm … ja“, stammelte sie. „Guten Tag auch.“
„Wie geht’s dir, Kat?“ Ihr stockte der Atem. So hatte sie seit Jahren niemand mehr genannt. „Ist lange her“, sagte er und nahm die Mütze ab. Als Kathleen erkannte, wen sie vor sich hatte, konnte sie es nicht fassen.
„Robin?“
Er nickte mit einem strahlenden Lächeln.
„Was … tust … du … hier?“, brachte sie mühsam und mit erstickter Stimme hervor.
Er nahm das T-Shirt, das über einer der Boxentüren hing, und wischte sich damit den Schweiß aus dem Gesicht.
„Ach, ich helfe nur aus.“ Er musterte sie eingehend. Unwillkürlich tat Kathleen es ihm nach und sah an sich hinunter. Dass er sie nach all der Zeit in ihrem Fliegeroutfit, bestehend aus Leggins und Oversize-Pulli, sah, war nicht das, was sie sich für ein Wiedersehen mit ihm gewünscht hätte. Robin hingegen machte den perfekten Eindruck. Im Gegensatz zu ihr hatte er seine sportliche Figur behalten. Kathleen wollte am liebsten im Erdboden versinken.
„Wann bist du angekommen?“ Robin lehnte die Schubkarre gegen die Wand, wobei Kathleen ihn nicht aus den Augen ließ. Er war kein Riese – so wie die meisten Flamen – aber das hatte sie nie gestört. Mit ihren eins dreiundsechzig erfüllte sie schließlich gerade mal die Mindestanforderungen für eine Achterbahnfahrt.
„Gerade eben erst“, antwortete sie endlich und fuhr sich nervös durchs Haar. Er lächelte, was seine stahlblauen Augen mit den langen dunklen Wimpern noch mehr zur Geltung brachte. Schnell wandte sie den Blick von ihm ab, suchend nach irgendetwas, das ihren Herzschlag wieder normalisieren würde. Der alte Schweinetrog schräg hinter ihm schien dafür wie geschaffen.
„Ist etwas?“, erkundigte er sich amüsiert. „Du wirkst ein wenig gestresst.“
„Nein. Alles gut“, beteuerte sie. „Es ist nur … ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen.“
„Nun“, er räusperte sich betreten, und seine Miene wurde ernst. „Wahrscheinlich genauso wenig wie ich dich.“ Sein vorwurfsvoller Unterton veranlasste sie, ihn anzuschauen.
Er ging an ihr vorbei auf den Hof. Offensichtlich trug er es ihr immer noch nach, dass sie ihn damals verlassen hatte. Sie ging ihm hinterher.
„Meine Mutter schickt mich“, sagte sie schnaufend.
Er sah sie kurz an, dann drehte er den Wasserhahn an der Hauswand auf und wusch sich die Hände.
„Ich bin mehr oder weniger in ihrem Auftrag hier“, fügte Kathleen hinzu.
Robin füllte seine Handinnenflächen mit Wasser und trank durstig. „Und was soll das für ein Auftrag sein?“
Kathleen biss sich auf die Unterlippe. Sie zögerte mit ihrer Antwort, weil sie wusste, sie würde ihm nicht gefallen. Schließlich beschloss sie, die Wahrheit ein wenig zu verändern.
„Sie meinte, es wäre Zeit, dass mal wieder jemand von uns nach ihr sieht. Das ist alles.“
„Hm“, machte er nur, drehte den Wasserhahn zu und wischte sich den Mund trocken.
„Und warum ist sie dann nicht selbst hier?“, fragte er, ging zur Gartenpforte und schaute auf die Felder hinaus.
„Sie hat zu tun“, antwortete Kathleen. „Ihr Job spannt sie ziemlich ein.“
Er stemmte die Hände in die Hüfte und senkte die Brauen. „Und dich nicht so sehr?“
Sie zuckte die Schultern. „Ich habe momentan etwas Luft.“
„Hm“, machte er wieder nur, dann führte er Daumen und Zeigefinger zusammen an seinen Mund und pfiff so laut, dass Kathleen sich die Ohren zuhalten musste.
Kurz darauf sah sie flapsige Hundeohren und den dazugehörigen aufgestellten Schweif im hohen Gras auf sich zukommen.
Robin ging in die Hocke. Der Hund schoss aus dem Feld heraus und direkt in seine offenen Arme.
„Ist ja gut.“ Er rubbelte ihm über das von Blütenpollen gescheckte dunkle Rückenfell.
„Das ist dein Hund?“ Kathleen zupfte ein Blütenblatt aus seinem Pelz.
Robin nickte mit einem breiten Lächeln. „Das ist Cheddar.“
Kathleens Brauen schnellten in die Höhe. „Cheddar?“
„Jep.“
„Du hast deinen Hund nach einem Käse benannt?“
„Hab ich.“ Er richtete sich auf. „Er war noch ein Welpe, als ich ihn aus dem Tierheim geholt habe. Irgendwie hat er es eines Nachts geschafft, die Kühlschranktür zu öffnen. Als ich dann am nächsten Morgen runterkam, war die Küche das reinste Schlachtfeld. Dieser Teufelskerl hat sämtliche Verpackungen zerfleddert, um an den Inhalt ranzukommen.“
„Lass mich raten. Er hat auch den ganzen Cheddar gefressen.“
Robin grinste kopfschüttelnd. „Eben nicht. Der Käse war das Einzige, das er nicht angerührt hatte.“
„Okay.“ Kathleen kicherte. „Das erklärt den Namen.“
Er nickte. „Hat deine Mutter vor, nachzukommen?“
Kathleen druckste herum. „Eher nicht“, verriet sie zögerlich. Robin betrachtete sie mit ernster Miene.
„Es geht mich ja nichts an, aber ich finde, deine Mutter sollte sich endlich mit Erika aussöhnen. Irgendwann könnte es zu spät sein.“
Kathleen schluckte. Sie wusste, er hatte recht, und doch spürte sie den Drang, ihn zurechtzustutzen. Sie biss sich auf die Unterlippe, bevor sie ihm etwas entgegnete.
„Ich hoffe wirklich, Adeline hat noch vor, auf Erika zuzugehen“, fuhr er unbeirrt fort, während er mit Cheddar an seiner Seite aus der Gartenpforte ging. Kathleen folgte ihm erzürnt.
„Was interessiert dich das so?“, rutschte es ihr heraus.
„Ich schätze deine Großmutter. Sie ist ein guter Mensch“, sagte er, ohne sich nach ihr umzudrehen.
„Ich glaube nicht, dass es sie so belastet, kaum Kontakt zu ihr zu haben.“
„Da täuschst du dich vielleicht, Kathleen.“
„Ich versuche nur, sie zu beschützen.“
„Wovor?“
„Vor der Wahrheit.“
Er ließ ein abfälliges Lachen hören.
Kathleen hielt an und stemmte schnaufend die Hände in die Hüfte. „Ist sie mittlerweile im Haus?“
„Das denke ich nicht“, antwortete er.
„Wo ist sie dann?“ Kathleen schaute sich suchend um. An manchen Stellen war das Gras so hoch, dass sie kaum etwas sehen konnte.
„Kommst du, oder was?“ Robin drehte sich im Stand zu ihr um, und Kathleen setzte sich wieder in Bewegung.
„Und dir geht’s gut, ja?“, fragte sie und hatte Mühe, ihm durch das Gras zu folgen. „Was machst du sonst so?“ Cheddar lief voran und war nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen.
„Ich baue Weizen an. Erika hat mir einen Teil der Felder dafür verpachtet.“
„Dann bist du tatsächlich Landwirt geworden?“ Sie wollte den Beruf nicht kleinreden. Trotzdem war ihr Tonfall unabsichtlich zweideutig gewesen.
„Das nennt man wohl so.“ Robin sah sich nach ihr um, dann nickte er mit einem Grinsen. „Ich hatte eine Weile darüber nachgedacht, auch ins Ausland zu gehen, aber dann bin ich meinem Gefühl gefolgt. Bis jetzt habe ich es nicht bereut.“
Kathleen presste nachdenklich die Lippen aufeinander, weil es genau das war, was ihre Großmutter allen riet, die vor einer Entscheidung standen. Folge einfach deinem Gefühl. Wie oft hatte sie diesen Satz von ihr gehört. Im Gegensatz zu Robin hatte sie ihn aber nie befolgt.
„Und wie geht es dir, Kat?“
„Och, sehr gut“, erwiderte sie, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er ließ sie aufholen, sodass sie nebeneinanderher gingen, dabei sah er sie stirnrunzelnd von der Seite an. Für einen Moment verlor sich Kathleen in dem stählernen Blau seiner Iris. Die unverwechselbaren goldenen Ringe um seine Pupillen hatten sie schon früher fasziniert.
„Wie schön“, sagte er kühl, und Kathleen spürte einen festsitzenden Kloß in ihrem Hals. Ihre Beziehung lag mehr als ein Jahrzehnt zurück. Mit neunzehn hatte Kathleen keine Zukunft für sie beide gesehen. Sie hatte einen Partner haben wollen, der große Ziele im Leben besaß. Der etwas erreichen wollte und sich nicht so schnell mit allem zufriedengab wie Robin. Jedenfalls waren das die Gründe, die sie sich immerzu eingeredet hatte. Manchmal fragte sie sich aber, ob sie nicht eigentlich von ihrer Mutter gekommen waren. Nachdenklich betrachtete Kathleen Robin von der Seite. War sie wirklich so beeinflussbar gewesen? Im Grunde war er stets in ihren Gedanken gewesen. Er war immer noch ihr Robin. Sie beide verband eine gemeinsame Jugend, die allerschönsten Sommer und die erste große Liebe.
„Ich habe gehört, du hast geheiratet?“, riss er sie aus ihren tiefen Gedanken.
„Wie bitte?“ Seine Frage kam einem Eimer eiskaltem Wasser gleich.
„Du hast geheiratet“, wiederholte er ihren größten Fehler mit mehr Nachdruck. „Das weiß ich von Erika.“
„Oh … ja, ja. Inzwischen bin ich aber wieder geschieden.“
Er nickte bedauernd. „Auch das weiß ich von Erika. Tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat.“
„Och.“ Sie winkte ab. „Das ist Vergangenheit. Ich bin drüber weg. Das Kapitel habe ich längst zugeschlagen. Von jetzt an geht’s bergauf. Schnurstracks.“ Kathleen hoffte, er würde die Lüge nicht heraushören, denn in Wahrheit sah es in ihr ganz anders aus. Seit die Scheidung durch war, fühlte sie sich furchtbar. Als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie kam sich leer und verlassen vor, war antriebslos, als hätte sie mit ihrem Ehering gleichzeitig auch ihr Selbstwertgefühl verloren. Obwohl Tom sie mit einer anderen betrogen hatte, suchte sie die Schuld bei sich selbst. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um die Frage, was sie falsch gemacht hatte. Das ließ sie unkonzentriert werden. Seit Monaten hatte sie kein Haus mehr verkauft. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter auch deshalb darauf bestanden, dass sie ihre Großmutter besuchte. Für die Firma war sie gerade kein Gewinn.
Kathleen seufzte unwillentlich. Robin beobachtete sie dabei mit Argusaugen. Vermutlich versuchte er wie früher in ihr zu lesen. Nie hatte sie ihr wahres Befinden vor ihm geheim halten können.
Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Bis eine raue Stimme ihre Zweisamkeit störte.
„Schatz?“, tönte Erikas Stimme vom Weg aus, der neben den Feldern verlief. Kathleen ließ Robin stehen und folgte dem Klang. Als Erika ihre Enkelin sah, strahlte sie übers ganze Gesicht. „Wie schön, dass du da bist.“ Sie drückte sie an sich und küsste sie dreimal auf die Wangen. „Endlich!“ Erika betrachtete sie überglücklich, und Kathleens Bedenken waren wie weggewischt.
„Ich freue mich auch, Großmama.“
„Oh, meine Katje. Ich habe dir so viel zu erzählen.“ Erika hakte sich bei ihr ein. Gemeinsam gingen sie Richtung Haus. Kathleen schaute sich noch einmal nach Robin um, der gerade zu ihnen auf den Weg trat.
„Weißt du, ich lasse jetzt endlich auch die alten Felder umgraben.“ Erika deutete auf die weitläufige Landschaft, die den Gutshof umgab.
„Ja, ähm. Matthew hat es mir erzählt.“
„Du hast mit ihm telefoniert?“ Sie machte ein empörtes Gesicht.
„Er hat uns angerufen.“
Sie schüttelte abfällig mit dem Kopf.
„Er macht sich Sorgen um dich.“
„Ach, papperlapapp.“ Erika winkte ab. „Matthew soll sich um seinen eigenen Kram kümmern. Mir geht es blendend. Und wie du siehst“, sie blieben im Hof stehen und Erika deutete um sich, „ist hier alles in bester Ordnung.“
Kathleen warf einen Blick über das Feld, über das gerade ein Traktor rollte. Mit einem zischenden Geräusch hielt er an.
„Ist das so, Oma?“ Kathleen runzelte die Stirn, als ein Dutzend Männer vom Anhänger des Traktors sprangen.
Erika sah ihre Enkelin durch ihre dicken Brillengläser an und nickte überzeugt. „In der Tat.“
„Gut. Aber die Arbeiter kosten sicher einen Haufen Geld. Muss das denn sein? Ich meine, ist es wirklich nötig, jetzt noch alle Felder umpflügen zu lassen? Du bist doch nicht auf die Ernte angewiesen.“
In dem Moment ging Robin an ihnen vorbei. Kathleen verfolgte ihn mit den Augen, bis er im Haus verschwunden war. Cheddar schien Matthew herausgetrieben zu haben. Mit einem spitzen Aufschrei hechtete er zu seinem in der Auffahrt geparkten Citroën. Cheddar blieb ihm bellend auf den Fersen. Es war unschwer zu erkennen, dass der Hund ihn nicht leiden konnte. Kathleen konnte es ihm nicht verdenken.
„Ich komme morgen wieder, Großmama.“ Matthew winkte stürmisch, in dem Versuch, den Hund von sich wegzuscheuchen.
„Ist gut, Junge.“ Erika ließ ein leises Stöhnen hören. Matthews Versuch, von Cheddar loszukommen, ließ ihn hysterisch wirken. Die beiden Frauen sahen zu, wie er hastig die Autotür zuschlug und mit durchdrehenden Reifen davonfuhr.
„Es heißt ja, Tiere hätten ein Gespür für Menschen“, murmelte Erika, während sie auf die nun leere Auffahrt starrte. „Damit meine ich nicht, dass Matthew kein guter Junge ist. Aber …“
Kathleen zog die Nase kraus. „Ich weiß, was du meinst.“ Sie folgte Erika ins Haus. „Diese Männer“, kehrte sie zum eigentlichen Thema zurück, „die arbeiten aber doch nicht alle umsonst.“ Auf der Türschwelle stieß sie fast mit Robin zusammen, der mit einer Kiste Bier herauskam. Kathleen räusperte sich betreten und machte Platz. Sie sah ihm nach, wie er damit über den Hof und zum Feld ging. Cheddar folgte treu seinem Herrchen.
Erika entging ihr irritierter Blick nicht.
„Also, er hat noch nie auch nur einen Cent von mir angenommen. Robin hilft mir freiwillig. Nun, nachdem du fortgegangen bist, war ich ja plötzlich ganz allein.“
Kathleen sog scharf Luft ein. Sie hatte bereits damit gerechnet, dass sie ihr deswegen Vorwürfe machen würde. Allerdings hatte sie gehofft, dass es nicht gleich zu Anfang wäre. Sie beließ es dabei.
„Was ist mit den anderen?“
„Auch wenn du es nicht glauben willst.“ Erika führte sie in die Küche und setzte den Teekessel auf. „Keiner von ihnen wird von mir bezahlt. Jedenfalls nicht mit Geld.“ Sie kramte eine Dose mit Buttergebäck aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch und nahm ächzend auf der Eckbank Platz.
„Okay.“ Kathleen wartete, bis das Wasser kochte, dann goss sie es in die Teekanne und setzte sich ihr gegenüber. „Jetzt bin ich neugierig. Womit entlohnst du sie dann?“
„Mit guter, alter Hausmannskost“, erklärte ihr Erika stolz. Kathleen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Das ist alles?“, hakte sie skeptisch nach.
„Du weißt sehr wohl, dass ich eine gute Köchin bin“, murrte sie übelnehmend.
Kathleens Lächeln wurde mild. „Das hatte ich damit nicht sagen wollen. Mir fällt es nur schwer zu glauben, dass sie den ganzen Aufwand für einen Möhreneintopf machen – selbst wenn es der beste der Welt ist.“
Erika tätschelte ihre Hand und seufzte. „Ach, mein liebes Kind.“
„Das ist nicht der einzige Grund. Hab ich recht?“
Sie schüttelte zittrig den Kopf. Erst jetzt nahm Kathleen wahr, wie alt und gebrechlich ihre Großmutter inzwischen wirkte. Ihre Wangen waren eingefallen. Sie war blass, und ihr ganzer Körper bebte bei jeder noch so kleinen Bewegung, als würde sie alles anstrengen. „Matthew glaubt, ich wäre ein dementes, altes Weib“, begann Erika erbost. „Aber das ist nicht wahr.“
„Dann lässt du die Felder bestellen, um …“
„Ich bin auf der Suche, Katje“, unterbrach Erika sie. „Mein ganzes Leben schon suche ich nach der Wahrheit.“
„Der … Wahrheit.“ Kathleen konnte ihr nicht folgen.
„Darüber, wer ich bin. Wer du bist. Und ich glaube, sie ist irgendwo da draußen, auf unseren Feldern.“ Erika deutete mit einem geheimnisvollen Lächeln aus dem Fenster.
„Ich verstehe nicht, was du meinst“, gab Kathleen bedauernd zu. Das, was Erika redete, hörte sich tatsächlich ein wenig seltsam an. Wirr und zusammenhanglos. Hatte Matthew vielleicht doch recht? War es an der Zeit, ihre Großmutter in die Obhut einer Pflegeeinrichtung zu übergeben? Kathleen hatte es nicht wahrhaben wollen, aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob Erika dort nicht besser untergebracht wäre. Der Gedanke, ihrer Großmutter die Geschäftsfähigkeit abzuerkennen, schmerzte Kathleen. Tröstend legte sie die Hand über ihre und betrachtete sie aufmerksam. Erika entzog sich ihr. Ihr Blick war auf die Spitzentischdecke gerichtet, auf der die Gebäckdose stand.
„Diese Männer da draußen“, fuhr Erika gedankenversunken fort. „Ich kenne jeden von ihnen, seit sie kleine Jungen waren. Auch ihre Eltern und Großeltern.“
„Ja“, hauchte Kathleen, die ihr noch immer nicht richtig folgen konnte.
„Alle von ihnen verbindet etwas mit diesem Ort. Jonkershof hat so viel zu erzählen.“
„Ich weiß, Großmama. Du hängst am Gutshof. Das verstehe ich.“
„Tust du das?“ Sie beäugte sie kritisch.
Kathleen hielt ihrem Blick kurz nachdenklich stand, dann nickte sie beherzt. „Ja. Natürlich.“
Die alte Dame wirkte erleichtert. „Da bin ich ja froh. Es hätte mich auch gewundert, wenn es nicht so wäre. Du bist früher immer so gern hier gewesen.“ Sie seufzte schwer. Kathleen schaute verwundert auf. Sie hatte den Moment verpasst, in dem das Gespräch auf sie umgeschwenkt war.
„Was ist nur geschehen, Liebes?“ Erika sah sie aus wässrigen Augen an.
Kathleen wusste darauf keine Antwort. Aber dass ihre Großmutter der Meinung war, dass das Landgut ihr nichts bedeutete, tat ihr leid. Sie irrte sich. Jonkershof war immer noch ein besonderer Ort für sie. Ein Ort der Heimkehr, der Zuflucht. Daran hatte sich nie etwas geändert.
„Ich bin wohl erwachsen geworden, Oma“, sagte Kathleen schließlich.
Erika presste die Lippen aufeinander und nickte seufzend.
„Aber ich hätte dich trotzdem öfter besuchen müssen. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme.“
„Ist schon gut, Katje. Ich bin dir nicht böse.“ Sie tätschelte ihre Hand.
„Mama bedauert, dass sie nicht mitkommen konnte.“
„Sie hat sicher viel zu tun.“
„Ja.“ Kathleen schluckte. „Ich soll dir liebe Grüße bestellen.“
Erika lachte abfällig.
„Sie macht sich Sorgen. Das tut sie wirklich.“
„Sorgen? Worüber?“
Kathleen nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie mit der Sprache rausrückte. „Denkst du nicht auch, dass du jemanden haben solltest, der dich unterstützt? Und das eigentlich rund um die Uhr?“
„Seid ihr auf Matthews Seite?“
„Nein. Das habe ich nicht gesagt.“
Ihre Tasse traf klirrend auf die Untertasse. „Hast du mir denn nicht zugehört? Ich bin nicht allein, Katje. Dorcas kümmert sich um alles. Sie kocht, macht die Wäsche, den gesamten Haushalt. Ich bin vom Leben umgeben.“
„Aber das Leben, von dem du sprichst, findet nur am Tag statt. So lange, bis alle nach Hause gehen, die dich hier unterstützen. In der Nacht bist du vollkommen allein auf dem großen Hof. Was, wenn dir etwas passiert?“
„Ich weiß, was du sagen willst. Du willst mir dieses Seniorenheim aufschwatzen – genau wie dein Cousin. Aber meine Antwort lautet nein. Ich kann hier jetzt nicht weg. Noch nicht.“
„Wieso nicht? Was hält dich denn noch hier?“
„Erinnerungen natürlich.“
„Die binden einen nicht an einen bestimmten Ort. Man nimmt sie mit, wohin man auch geht.“
„Wenn ich gehe, ist unsere Wahrheit verloren, Katje. Verstehst du das denn nicht?“
„Nein. Das verstehe ich nicht. Erklär es mir bitte.“
Bevor Erika ansetzen konnte, weiterzusprechen, klopfte es an der Tür. Wenig später steckte Robin seinen Kopf hindurch. „Verzeihung, wenn ich störe.“
„Aber das macht doch nichts“, sagte Erika mit einem ruhigen Lächeln. „Was gibt es denn?“
Er nahm seine Mütze vom Kopf und knetete sie zwischen den Fingern. „Wir haben da etwas gefunden.“
Augenblicklich stützte Erika die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich hoch. „Wo?“
„Auf dem hinteren Feld, gegenüber der Allee.“
„Ich komme sofort.“ In Erikas Augen glänzte eine ungewohnte Leidenschaft. Sie schnappte sich ihren Gehstock, der an die Wand gelehnt war, und spurtete aus dem Haus. Kathleen hatte Mühe, Schritt zu halten. „So mach doch langsam, Großmama. Was immer sie entdeckt haben, es hat Zeit.“
„Zeit?“, schrie sie beinah, während sie sich von Robin in den Pick-up helfen ließ, der vor dem Haus geparkt war. „Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren, Katje.“
Kathleen biss die Zähne aufeinander und kletterte schweigend auf den Rücksitz. Robin fuhr los. Der Weg zu dem hinteren Feld war nicht weit, dafür holprig und uneben und damit für eine Neunundneunzigjährige mit einem Hüftleiden zu beschwerlich.
Die kurze Fahrt hatte etwas Routiniertes an sich, als wäre es nicht das erste Mal, dass Robin ihre Großmutter zu einem Fund brachte, den er und seine Freunde auf den Feldern gemacht hatten. Robin parkte weniger als zwanzig Meter von den Männern entfernt, die sie bereits erwarteten. Kathleen nahm ihre Großmutter am Arm und half ihr über den schmalen Weg, der ins Feld führte.
„Ist es das, wonach wir gesucht haben?“, fragte Erika, sobald sie in Hörweite war.
Ein junger Mann mit schulterlangem blondem Haar kam auf sie zu. „Wir denken, ja.“
„Danke, Bart.“ Erika klopfte ihm im Vorbeigehen lobend auf die Schulter, dann ging sie mit Kathleen nah an die aufgewühlte Erde heran. Kathleen nickte den anderen jungen Männern zu, die sie neugierig musterten. Sie nahm die Bierkästen zur Kenntnis, die im Schatten unter dem Traktor standen, der nur wenige Meter von ihnen entfernt abgestellt worden war.
„Wie außergewöhnlich.“ Die aufgeregt klingende Stimme ihrer Großmutter ließ sie ins Erdloch schauen, vor dem diese verharrte.
„Oh, mein Gott!“ Kathleen sog scharf Luft ein. „Ist das etwa das, was ich denke?“ Ihr stockte der Atem beim Anblick der Knochen, die die Männer freigelegt hatten. Es waren sogar noch Stoffreste zu erkennen. Rasch wandte sie den Blick ab.
„Kommt drauf an, was du denkst“, antwortete Robin ihr mit einem schelmischen Grinsen.
„Ich finde das nicht witzig“, stellte sie klar. „Das ist furchtbar. Seit wann liegt der da?“
„Ich würde sagen, seit dem Großen Krieg“, sagte Bart mit einem Schulterzucken. Er war zu dem Toten in die Mulde geklettert und trug mit einer kleinen Schaufel vorsichtig weiter Erde ab.
„Seit dem Zweiten Weltkrieg?“ Kathleen blickte sich verwirrt unter den Umherstehenden um.
„Er meint den Ersten.“ Robin hob eine Schaufel vom Boden auf und stützte seine Hände darauf ab.
„Ruft im Nationalmuseum an“, sagte Erika, ohne den Blick von der Erde zu lösen. „Der Professor wird wissen, was zu tun ist.“
Robin nickte, zog sein Handy aus der Tasche und entfernte sich einige Schritte, um in Ruhe zu telefonieren.
„Geht es dir gut, Großmama?“ Kathleen schob sich vor sie, nahm sie bei den Schultern. „Das hier muss ein Schock für dich sein.“
„Ein Schock? Nein. Ich sagte doch, ich suche nach unserer Wahrheit.“
„Und das hier …“ Kathleen deutete auf den schauerlichen Fund. „Du denkst, das ist … diese Wahrheit?“
„Möglicherweise.“ Sie umrundete den Fundplatz. „Allerdings sind hier in der Gegend viele Soldaten umgekommen. Niemand weiß, wie viele noch unentdeckt unter der Erde liegen. Manche von ihnen werden vielleicht nie gefunden.“
Kathleen verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du suchst nach einem bestimmten von ihnen.“
Erika bedachte sie mit einem vielsagenden Blick.
„Wen hoffst du zu finden, Großmama?“
Erika seufzte schwer. In ihrem faltendurchsetzten Gesicht zeigte sich plötzlich eine tiefe Wehmut. Der Himmel hatte sich verdunkelt und ein feiner, wispernder Regen fiel. Erika richtete ihren Blick hinauf. Auf einmal schien sie ganz in Gedanken zu sein. „Wir machen für heute Schluss“, sagte sie zu den jungen Männern. „Komm mit, Liebes“, raunte sie in Kathleens Richtung. „Wir gehen ins Haus.“ Sie stützte sich auf ihren Stock und ging voran.
„Robin?“ Kathleen drehte sich zu ihm um. Er hatte das Handy wieder verstaut und hielt Erikas Arm. Bart und die anderen deckten die Fundstelle mit einer Plane ab und beschwerten sie mit Steinen. Alles schien, als wären sie auf diesen Moment vorbereitet gewesen. Als hätten sie fest damit gerechnet, etwas Derartiges zu finden. Der Regen wurde zu einem prasselnden Strom. Gerade noch rechtzeitig erreichten sie den Wagen.
Nachdem sie wenig später gemeinsam im Salon saßen, wollte Kathleen endlich Gewissheit. „Großmama, was geht hier vor?“
„Robin, bitte bleib doch“, bat Erika ihn, der bereits wieder an der Tür war.
Er strich sich das nasse, dunkle Haar zurück und nahm verlegen neben Kathleen Platz.
„Es ist lange her. Eine Ewigkeit.“ Erika streckte vor sich die Hand aus. Seufzend betrachtete sie die von Arthrose gezeichneten Finger, die runzlige Haut und die hervorgetretenen Adern. „Was hat die Zeit doch aus mir gemacht. Ich war mal eine Schönheit, wisst ihr?“
„Das warst du.“ Kathleen nahm ihre Hand und drückte sie aufmunternd. „Das bist du immer noch.“
Erikas Blick glitt zu ihrer Enkelin. Sie verzog das Gesicht. „Du sollst doch eine alte Frau nicht anlügen. Ich weiß, was aus mir geworden ist. Mein Körper ist verfallen.“
„Was redest du da, Oma?“
„Es wurde allerhöchste Zeit, dass wir ihn finden. Ich hatte es schon nicht mehr für möglich gehalten.“
Kathleen warf Robin einen verwirrten Blick zu. Dieser senkte das Gesicht.
„Heißt das, Matthew irrt sich? Du lässt die Felder gar nicht bestellen, sondern lässt nach Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg suchen?“ Kathleen blinzelte mehrmals hintereinander. Zu verrückt hörte sich das an, was sie gerade gesagt hatte.
Erika nickte schmunzelnd.
„Ah.“ Kathleen tat es ihr mit hochgezogenen Brauen nach. „Und … warum genau tust du das?“, presste sie durch die Zähne hindurch. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Großmutter ihre Kraft und die der jungen Männer auf so ein - in ihren Augen - unsinniges Vorhaben verwendete.
„Sie hat ihre Gründe“, mischte sich Dorcas bestimmend ein, die gerade den Raum betrat. Kathleen schickte ihr einen abfälligen Blick über die Schulter.
„Ich habe es eben von Bart gehört.“ Dorcas stellte eine Karaffe mit Wasser und drei Gläser auf den Tisch. „Ein außergewöhnlicher Fund.“ Sie legte eine Hand bestärkend auf Erikas Schulter.
„Gott, ich hoffe so sehr, dass er es ist“, raunte diese, dabei schien sie mit den Gedanken ganz weit weg zu sein.
„Wen meinst du, Oma?“ Kathleen machte sich nun ernsthafte Sorgen. Hatte Matthew vielleicht doch nicht übertrieben? Für den Moment wusste sie nicht, was sie von ihr halten sollte.
Erikas zittrige Hand umfasste das Wasserglas, das Dorcas ihr zugeschoben hatte. Sie nahm einen hastigen Schluck und kleckerte sich die Bluse voll. Sofort war Dorcas mit einem Küchenhandtuch zur Stelle.
„Du bist erschöpft.“ Kathleen nahm ihrer Großmutter das Glas aus der Hand. „Leg dich hin.“ Sie führte sie zum Sofa. Erika tat, wie ihr geheißen, legte sich zurück und bettete den Kopf auf ein Kissen. Kathleen zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. „Wir lassen dich allein, damit du etwas schlafen kannst.“ Sie wandte sich um, doch Erika hielt sie an der Hand zurück.
„Bleib, Katje“, hauchte sie. „Es ist an der Zeit, dass ich die Wahrheit an dich weitergebe.“
Kathleen setzte sich zu ihr und seufzte.
„Es ist die Geschichte meiner Mutter, deiner Urgroßmutter.“
„Aber, die kenne ich doch, Oma.“ Kathleen lächelte sanft. „Du hast mir schon oft von ihr erzählt. Weißt du nicht mehr?“
Erika schüttelte matt den Kopf. „Du kennst nur einen Teil ihrer Geschichte. Du musst erfahren, wie sie zu dem Menschen geworden ist, von dem ich dir erzählt habe.“
„In Ordnung“, sagte Kathleen leise und schob den Sessel näher an sie heran.
„Es ist wie ein Traum aus einer anderen Zeit. Eine Zeit, in der nichts war wie heute …“ Erika schlug die Augen nieder und wurde von einer Erschöpfung übermannt, gegen die sie machtlos war. Ihr Körper schlief, aber ihre Seele versetzte sie in die Vergangenheit. In das Leben vor rund einhundert Jahren.