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Kapitel 1

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Donnerstag, 16. September – St. Raphael im Krakautal/Steiermark

»Und? Was meint der Gerichtsmediziner?« Chefinspektor Sascha Bergmann starrte in seine Kaffeetasse, als würde er die Antwort auf seine Frage darin lesen können.

Warum sieht er mir nie in die Augen?, fragte sich Abteilungsinspektorin Sandra Mohr nicht zum ersten Mal. Seit der ranghöhere Wiener Kollege vor drei Wochen überraschend bei der Mordgruppe des Landeskriminalamts Steiermark in Graz aufgetaucht war, wich er ihren Blicken aus. Langsam hatte sie die ständigen Umstrukturierungen im Zuge der jüngsten Polizeireform satt. Kaum hatte sie sich an etwas oder jemanden gewöhnt, war alles schon wieder anders. Und selten war es besser als zuvor. Jetzt musste sie sich also mit Sascha Bergmann zusammenraufen. Kein leichtes Unterfangen, wie es schien. Irgendwie waren sie nicht kompatibel. Was bestimmt nicht an ihr lag, sondern vielmehr an seiner Borniertheit, die ihr einen normalen Umgang mit ihm unmöglich machte. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er sie beobachtete. Unauffällig, wie er wohl meinte. Umso auffälliger war es dann, wenn er sich blitzartig von ihr abwandte. Was – hatte sie sich schon des Öfteren gefragt – was fürchtete er, das sie in seinen Augen entdecken könnte? Was hatte er vor ihr zu verbergen?

Sandra Mohr fuhr mit ihrem Bürostuhl einen halben Meter zur Seite, um die Papiere, die der Drucker eben ausgeworfen hatte, zu entnehmen. Dann rollte sie in ihre Ausgangsposition zurück und streckte sich nach vorn, um Bergmann seinen Ausdruck über beide Schreibtische zu reichen. Es war nicht nötig, sich eigens dafür vom Stuhl zu erheben. In dem gerade mal zwölf Quadratmeter großen Personal-Aufenthaltsraum der örtlichen Polizeiinspektion, der kurzerhand zum Büro des Ermittlerduos aus der Landeshauptstadt umfunktioniert worden war, gab es keine andere Möglichkeit, als die zwei alten, wuchtigen Holztische direkt neben dem einzigen Fenster Tischfront an Tischfront aufzustellen. Wenigstens würde sie so von ihrem provisorischen Arbeitsplatz aus nicht mitbekommen, wenn Bergmann wieder einmal diese einschlägige Kontaktbörse im Internet besuchte. Wie neulich im Grazer Büro, als ihr Blick zufällig auf seinen Bildschirm gefallen war. Dass er auf der Suche nach einer ernsthaften Beziehung war, schloss Sandra aus. Allem Anschein nach zählte dieses Portal zu jenen, die in erster Linie sexuelle Kontakte vermittelten, und Bergmann war schließlich verheiratet. Arme Frau. Ob sie wusste, was ihr Mann so trieb? In Sandras Augen war ihr neuer Kollege ein ziemlicher Kotzbrocken. Darüber konnte auch sein passables Äußeres nicht hinwegtäuschen. Jedenfalls nicht sie.

»Von der Gerichtsmedizin wissen wir, dass Eva Kovacs wesentlich massivere Verletzungen erlitten hat, als wir es am Tatort und auf den Fotos erkennen konnten«, kommentierte sie das Protokoll in ihren Händen. »Die linke Niere war gequetscht, die Milz ruptiert. Hämatome waren praktisch überall, und sie hatte mehrere Frakturen: Nasenbeinbruch, drei gebrochene Rippen und der zertrümmerte Schädel – die Todesursache, wie wir schon vor Ort angenommen haben.«

»Wir?«, fragte Bergmann, während er die Spitze seines Bleistiftes prüfte. Sandras Wangen nahmen Farbe an. »Na, der Max«, sie räusperte sich, »der örtliche Inspektionskommandant Max Leitgeb, die Notärztin, Frau Doktor Sortsch, und ich«, klärte sie den Kollegen auf.

Bergmann drehte seinen Bleistift einige Male im Spitzer herum. Als ihm die Mine spitz genug zu sein schien, sah er über Sandra hinweg auf die weiße Magnettafel hinter ihrem Rücken, die wie alles hier – außer ihren Laptops und dem Drucker – aus dem letzten Jahrtausend stammte.

Aus dieser Distanz konnte er auf den Fotos nicht viel erkennen, wusste Sandra, höchstens, dass die nackte Frau, die darauf abgelichtet war, mausetot war. Sie wusste aber auch, dass er die Digitalbilder schon zuvor in Graz studiert hatte. Sie selbst hatte sie ihm gestern, an ihrem ersten Arbeitstag in St. Raphael, gemailt – nur ein paar Stunden, nachdem die tote Eva Kovacs aus Wien im Wald gleich hinter dem Gasthof ›Zur Goldenen Gans‹ entdeckt worden war. Sandra war umgehend nach dem Leichenfund in aller Herrgottsfrüh hierher aufgebrochen, während Bergmann in Graz auf die Tote und auf den einzigen Hinterbliebenen, Paul Kovacs, wartete, der seine verstorbene Ehefrau in der Gerichtsmedizin identifizieren sollte.

Dass sie diesmal ausgerechnet in ihrem Heimatdorf ermitteln musste, nervte Sandra. Von allen Einsatzorten auf der Welt, war der hier mit Abstand der unangenehmste für sie. Was hatte das Opfer bloß hierher verschlagen? Was suchte eine offenbar wohlhabende Frau in den besten Jahren in diesem gottverlassenen Kaff? Und wieso hatte sich die Kovacs nicht in einem dieser angesagten Wellness- und Beautytempel in der oststeirischen Thermenregion einquartiert?

Wenn sich schon Gäste nach St. Raphael verirrten, so waren es doch vor allem ältere, Ruhe suchende Leute, die hier ihre Sommerfrische genossen. Oder Wintersportler, die untertags die nahe gelegene Skiregion Kreischberg und – nach dem Après-Ski – die Straßen der Umgebung unsicher machten. Viele der Besucher waren schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten Stammgäste und kamen in privaten Zimmern und Ferienwohnungen in der Umgebung unter. Oder eben im einzigen Gasthof des Ortes, ›Zur Goldenen Gans‹, den Maria Oberhauser vulgo Mizzi gemeinsam mit ihrem Sohn, dem Michl, führte.

Eva Kovacs hatte vor zwei Tagen, am Nachmittag des 14. September, bei der Mizzi eingecheckt. Die blonde Dame – laut Auskunft der Wirtin ›a typische Weanerin‹, was in deren Augen nichts Gutes zu bedeuten hatte – war zum ersten Mal hier aufgetaucht. Allein. Und nur für eine Nacht. Dennoch hatte es ein Doppelzimmer sein müssen. In schmalen Einzelbetten könne sie kein Auge zu tun, hatte sie der Mizzi erklärt. Und dass sie auf der Durchreise sei. Wohin sie unterwegs war, hatte die Dame aus der fernen Bundeshauptstadt jedoch nicht erwähnt.

Oberflächlich betrachtet war die kleine Ortschaft, in der die Fremde gelandet war, ein beschauliches Plätzchen. Die wenigen Häuser, die ins satte Grün der hügeligen Landschaft mit den angrenzenden Nadelwäldern eingebettet waren, wirkten allesamt gepflegt. Die frisch gefärbten Fassaden strahlten in kräftigem Gelb, zartem Pistaziengrün oder hellem Altrosa um die Wette. Die Fenster waren spiegelblank geputzt, die Holzbalkone und Vorgärten mit üppig blühenden Blumen geschmückt. Und die saubere Luft wirkte wie Balsam für feinstaubgeplagte Städterlungen. Doch Sandra war nicht grundlos vor fast 13 Jahren aus dieser ländlichen Idylle geflüchtet.

Was also hatte jemand wie Eva Kovacs in St. Raphael gewollt? War sie wirklich nur auf der Durchreise gewesen? Beruflich oder privat? Ohne ihren Ehemann? Ganz offensichtlich hatte die Dame nicht zu jenen Tagesausflüglern gezählt, die um diese Jahreszeit durch die Wälder streiften, um nach Eierschwammerln oder Herrenpilzen zu suchen, mutmaßte Sandra. Weder im funkelnagelneuen BMW noch im Zimmer der Toten hatte sich geeignetes Schuhwerk für einen Spaziergang durch die steirischen Wälder befunden. Mizzis einziger Hausgast wäre mit ihrer ausschließlich hochhackigen Schuhkollektion nicht sehr weit gekommen, ohne sich zumindest den Knöchel zu verstauchen. Eine Sprunggelenksverletzung war jedoch eine der wenigen Blessuren, die an der Leiche des Opfers nicht diagnostiziert worden war. »Der Täter hat mehrmals auf sie eingetreten und sie anschließend mit einem Fichtenast erschlagen. Todeszeitpunkt zwischen zwei und drei Uhr 30 morgens. In der Kopfwunde haben sich Spuren von Fichtenrinde befunden. Die Tatwaffe selbst ist allerdings noch nicht aufgetaucht. Obwohl die Spurensicherung den Tatort im Umkreis von etwa zwei Kilometern abgesucht hat«, berichtete Sandra weiter.

»Heimtückisch, so ein Fichtenwald«, merkte Bergmann an, »viel zu viele Fichten.«

Sollte das etwa witzig sein? Idiot! Sandra atmete tief durch. An seinen seltsamen Humor würde sie sich niemals gewöhnen. Aber aus der Fassung konnte er sie damit auch nicht bringen. »Der Täter muss sehr kräftig sein. Oder er war ziemlich wütend«, fuhr sie fort.

»Oder beides.«

Sandra schickte Bergmann einen grimmigen Blick hinüber, den er noch nicht einmal bemerkte. Stattdessen starrte er auf den Bericht und schien darauf zu warten, dass sie weitersprach.

»Wie es aussieht, hat er sie vom Gasthof hinüber in den Wald gejagt. Sie war wohl schon zu diesem Zeitpunkt nackt. Es wurden keine Kleidungsstücke am oder rund um den Tatort gefunden.«

»Die könnte der Täter ja auch nach der Tat mitgenommen haben.«

»Wäre möglich. In jedem Fall aber war sie barfuß im Wald unterwegs. Ihre Fußsohlen sind ziemlich lädiert. Außerdem hat die Spurensicherung neben den Abdrücken des Schäferhundes und der Schuhe des Herrchens, die beim Morgenspaziergang quasi über die Leiche gestolpert sind, zwei weitere gefunden: die Fußabdrücke des Opfers und das Schuhprofil des mutmaßlichen Täters. Er trug Laufschuhe der Marke Nike. Vorjahresmodell, US-Größe 9,5 – das entspricht in etwa einer 43 – ein bisschen größer.«

»Die werden wohl einige Male über den Ladentisch gegangen sein.« Bergmann rollte mit dem klapprigen Bürostuhl zurück und hievte seine Füße, die in Nikes steckten, auf die Tischplatte. »Größe neuneinhalb, bitte sehr.«

»Und? Soll ich dich jetzt gleich festnehmen?«, meinte Sandra trocken.

Bergmann lachte. »Hey, du kannst ja richtig witzig sein.«

»Und du kannst deine Treter runternehmen«, sagte sie und widmete sich wieder dem Bericht. Bergmann machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen, was Sandra auch gar nicht erwartet hatte. »Er muss mehrmals Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt haben. Die Spermamenge, die sichergestellt wurde, spricht dafür«, fuhr sie fort.

Bergmann räusperte sich und nahm nun doch die Füße vom Tisch. »Alles von einem Täter?«, fragte er sichtlich interessiert und rollte wieder nach vorn.

»Ja. Alles von einem einzigen Mann.«

»Nicht schlecht.«

»Wie bitte?«, fuhr Sandra ihn an.

»Nicht wichtig.«

Doch wichtig. Himmelherrgott! Was ging nur im kranken Gehirn ihres Partners vor, fragte sie sich ärgerlich.

Diesmal war es an ihm fortzufahren. »Mehrere Ejakulationen also …«

Sandra nickte mit schmalen Lippen. Bergmann war der Letzte, mit dem sie über multiple Orgasmen sprechen wollte.

»Bevor oder nachdem er ihr den Schädel eingeschlagen hat?«, murmelte er.

»Bitte?«

»Ich habe mich gerade gefragt, ob er sie in lebendigem und danach vielleicht noch einmal in totem Zustand gefickt hat«, wurde Bergmann deutlich. Für Sandras Geschmack viel zu deutlich.

»Penetriert hat, wollte ich sagen«, korrigierte er sich übertrieben artig. Sein verbaler Ausrutscher schien ihm keineswegs leidzutun, urteilte Sandra, während sie beobachtete, wie er einen Schluck von seinem Kaffee nahm, der längst kalt sein musste. Wollte er sie mit dieser geschmacklosen Formulierung provozieren? Sie dachte gar nicht daran, darauf einzusteigen. »Das werden wir wohl nur vom Täter selbst erfahren. Der Gerichtsmediziner hat lediglich festgestellt, dass sie noch gelebt haben muss, als sie Geschlechtsverkehr hatte«, beantwortete sie seine Frage, um einen ruhigen Tonfall bemüht.

»Irgendwelche Spuren im Zimmer des Opfers?«, fragte er weiter.

»Jede Menge Fingerabdrücke und Haare.«

»Nicht weiter überraschend in einem Hotelzimmer«, ätzte Bergmann. »Ich meinte Blut oder Sperma.«

»Blut- und Spermaspuren sind in einem Hotelzimmer aber auch nicht sonderlich überraschend«, konterte Sandra.

Bergmann verzog die Mundwinkel zu einem säuerlichen Grinsen und schwieg.

Sandra fuhr fort: »Die Bettwäsche war unbenutzt und sauber, bis auf ein blondes Haar am Kopfpolster. Möglicherweise von der Toten. Kein frisches Sperma weit und breit, auch kein frisches Blut. Jedenfalls nichts, was die Spurensicherung vor Ort ausmachen konnte. Nur da und dort vereinzelt alte Spuren auf der Matratze, wie sie eben in fast jedem Hotelzimmer zu finden sind. Aber vielleicht kann uns das DNA-Gutachten mehr verraten.«

»Bei so einem Spurenchaos würde ich mit keinem aussagekräftigen Ergebnis rechnen.«

Mit dieser Annahme lag Bergmann wahrscheinlich richtig, musste Sandra ihm insgeheim zustimmen. »Besonders ärgerlich ist die Tatsache, dass die Böden im Erdgeschoss des Gasthofs zwischen sechs und sechs Uhr dreißig am Tatmorgen aufgewaschen wurden, damit sie bis zum Frühstück trocknen konnten«, berichtete Sandra weiter. »Das war eine knappe Dreiviertelstunde vorm Eintreffen der Spurensicherung. Noch dazu wird in der ›Goldenen Gans‹ ein Spezialmittel zur Reinigung der Steinböden verwendet, wie man es auch in Krankenhäusern einsetzt. Die Wirtin hat zu Protokoll gegeben, sie habe ja nicht ahnen können, dass sie mit ihrer frühmorgendlichen Putzaktion die Spuren eines Kapitalverbrechens zuverlässig entfernt.«

»Na, sauber.« Bergmann wirkte ein wenig enttäuscht, dass Sandra auf sein Wortspiel nicht reagierte. Mit ernster Miene fuhr er fort: »Wir gehen also davon aus, dass der Täter sein Opfer durch den Wald gehetzt und dort vergewaltigt hat – möglicherweise noch mal post mortem«, fasste er zusammen.

»So sieht es aus. Aber warum ist das Opfer mitten in der Nacht nackt oder zumindest barfuß aus dem Haus gerannt?«

»Wenn sie keine Schlafwandlerin war, hat wohl ihr Mörder sie dazu veranlasst, nehme ich an. Kann ich mir ihre Sachen mal ansehen?«

Sandra blickte auf die Uhr. »Das kannst du gerne tun. Bis auf die sichergestellten Gegenstände wie Handy, Wertgegenstände und so weiter ist noch alles in ihrem Zimmer. Die Nummer zwei im Erdgeschoss. Beide Schlüssel befinden sich bei den Asservaten. Genau wie die Wertsachen der Toten. Frau Schreiner ist noch exakt eine halbe Stunde im Dienst.«

Bergmann kratzte sich am unrasierten Kinn und zeigte zur Tür. »Schreiner? Du meinst Blondie vis-à-vis?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

Sandra nickte. »Ihr Büro ist gegenüber. Und sie heißt Schreiner. Petra Schreiner. Nicht Blondie.«

Wieder lachte er über einen Witz, der keiner war, stellte Sandra irritiert fest.

»Wie sieht es mit ähnlichen Verbrechen aus?«, kehrte Bergmann noch immer lächelnd zum Fall zurück.

»Die Serientätertheorie können wir getrost ad acta legen. Die Daten des Bundeskriminalamts wurden inzwischen abgeglichen. Es gibt keine auffälligen Parallelen zu irgendwelchen Tötungsdelikten in der Vergangenheit. Weder hier in der Steiermark noch irgendwo anders in Österreich.«

»Auch nicht im benachbarten Ausland?«

»Nichts, was in der Datenbank aufzufinden wäre.«

»Was ist mit ortsfremden Personen? Ist im fraglichen Zeitraum irgendjemand aufgefallen, der nicht hier ansässig ist?«

»Soweit wir wissen, nein. Niemand hat in den letzten Tagen einen Fremden zu Gesicht bekommen. Außer der Kovacs natürlich. Die wurde dafür gleich von ein paar Leuten gesehen.«

»Kein Wunder. Sie muss ein heißer Feger gewesen sein in ihrem knallroten Z4 M Roadster.«

»Sie war definitiv eine auffällig attraktive Erscheinung, und sie hielt sich anscheinend zum ersten Mal in St. Raphael auf. Niemand hat sie hier je zuvor gesehen. Zumindest keiner von denen, die der Leitgeb und ich bisher einvernommen haben. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was sie ausgerechnet an diesen Ort verschlagen hat.«

»Diese Frage werden wir am besten ihrem Mann stellen. Und noch ein paar andere dazu. Er hat sich für morgen angekündigt.«

»Der Kovacs kommt hierher?«, fragte Sandra überrascht.

»Ja. Gegen zehn Uhr vormittags. Er möchte sehen, wo es passiert ist. Und die Sachen seiner Frau abholen. Eigentlich hatte er das schon für heute vorgehabt. Er wollte gleich von Graz herfahren. Aber dann musste er doch noch mal nach Wien zu einem wichtigen Geschäftstermin.«

»Er musste zu einem Geschäftstermin?«, wiederholte Sandra ungläubig. »Nachdem seine Frau bestialisch ermordet wurde? Scheint mir ziemlich gefühlskalt zu sein, dieser Herr Kovacs. Was macht er denn beruflich?«

»Immobilienentwickler. Er ist Architekt, Diplomingenieur. Ihm gehört die Kovacs Projektentwicklung & Consulting GmbH. Die Firma operiert nicht nur in Österreich höchst erfolgreich, sondern auch in Osteuropa. Momentan baut er gerade ein riesiges Einkaufszentrum in der Slowakei. Soll noch um einiges größer werden als das in Vösendorf bei Wien.«

»Verstehe. Dann war er es wohl, der den feudalen Lebensstil seiner Ehefrau finanziert hat. Ihr Gehalt hätte dafür nämlich nicht ausgereicht. Sie war Journalistin beim Clinch-Magazin, hat im Monat an die 3.900 Euro brutto verdient, plus Spesen. Ihre Sachen zählen nicht gerade zu den billigsten. Der neue BMW M Z …« Sandra stockte.

»Z4 M Roadster«, sprang Bergmann prompt ein.

»Wie auch immer. Der Wagen war auf die Kovacs GmbH zugelassen. Ihre Rolex war mit Diamanten besetzt, und der Brillant auf ihrem Ring von beachtlicher Größe und Reinheit. Nicht zu vergessen: die Designer-Kleidung, die wir im Zimmer gefunden haben. Alles nur vom Feinsten.«

Bergmann nickte. »Herr Kovacs scheint ebenfalls zu wissen, was gut und teuer ist: feiner Anzug, teure Armbanduhr – Marke weiß ich nicht – ist wohl eher dein Spezialgebiet. Auch er fährt einen BMW, 7er Limousine, titansilber metallic.«

»Und wie ist er sonst so, der Herr Kovacs? Wie hat er sich denn bei der Leichenidentifizierung verhalten?«

»Er wirkte ziemlich gefasst. Ein wenig steif und etwas blass um die Nase. Insgesamt ein sehr beherrschter Typ, denke ich.«

»Da bin ich aber mal gespannt auf morgen.«

»Wir werden uns den feinen Herrn zur Brust nehmen. Sag mal, du kennst doch hier fast jeden. Gibt es unter den Einheimischen jemanden, dem du ein derart brutales Verbrechen zutraust?«

Sandra strich eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr und lehnte sich zurück. Selbstverständlich hatte sie sich diese Frage längst selbst gestellt. »Ich weiß nicht. Ich war 18, als ich von hier weggezogen bin. Und seither vielleicht fünfmal zu Besuch.«

»Trotzdem kennst du doch viele Leute von Kindesbeinen an.«

»Das schon.«

»Also?«

Sandra schwieg einen Moment lang, bevor sie antwortete. »Es gibt da vielleicht ein, zwei Typen, die wir uns vorknöpfen sollten.«

»Gut. Schreib sie für morgen auf die Liste.«

»Hab ich schon. Ich glaube allerdings nicht wirklich daran, dass ein Einheimischer unser Mann ist. Ich meine, wer von denen sollte ein Motiv gehabt haben? Wie gesagt, die Kovacs war völlig fremd hier. Außerdem hat es seit über 50 Jahren kein Gewaltverbrechen in diesem Ort oder in der näheren Umgebung gegeben. Kein Mord, kein Totschlag …«

»Kein Sexualdelikt?«, unterbrach Bergmann sie.

»Nichts Aktenkundiges.«

»Und abseits der Akten?«, hakte er nach.

Sandra fühlte die Hitze in ihre Wangen steigen. Nach all den Jahren konnte sie immer noch nicht begreifen, dass der Missbrauch an ihrer ehemaligen Klassenkameradin Franziska Edlinger durch deren Vater unter den Teppich gekehrt worden war. Zwar hatte damals der ganze Ort darüber getuschelt, aber dennoch weggesehen. Auch Sandra hatte geschwiegen. Unter Androhung harter Strafen. Das war eine jener Begebenheiten, die sie ihrer Mutter heute noch vorwarf. Was wohl aus Franziska geworden war? Und aus deren widerlichem Vater? Sie beschloss, Max nach dem Schicksal der Edlingers zu befragen.

»Gab es nun etwas oder nicht?«, unterbrach Bergmann ihre Gedanken.

»Nun ja, es gab da eine ziemlich unschöne Geschichte in den frühen 90ern. Ein Vater hat seine älteste Tochter über Jahre hinweg sexuell missbraucht«, erzählte sie.

»Und?«

»Nichts und. Es wurde keine Anzeige erstattet.«

»Aber dein Vater war doch Gendarm hier im Ort.«

»Mein Vater hatte damit nichts zu tun. Er hat sich schon Jahre zuvor nach Fürstenfeld versetzen lassen.«

»Und du?«

»Was ich?«

»Na, was hast du getan?«

»Ich war damals 14 Jahre alt. Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?«

»Deine Freundin darin bestärken, ihren Vater anzuzeigen, zum Beispiel.«

»Sie war nicht meine Freundin. Aber glaube mir, genau das habe ich mehrmals versucht«, antwortete Sandra in einem schärferen Ton als beabsichtigt.

»Offenbar warst du nicht sehr überzeugend.«

»Sag mal, klagst du mich etwa an? Ich muss mich doch nicht vor einem oberg’scheiten Wiener rechtfertigen, der überhaupt keine Ahnung vom Leben in einer kleinen Ortschaft hat«, fuhr sie ihn an.

»Hoppla, ein Gefühlsausbruch«, bemerkte Bergmann sichtlich amüsiert.

Da war es wieder: dieses selbstgefällige Grinsen!

Ganz ruhig, Sandra, komm wieder runter, versuchte sie sich zu beruhigen. »Entschuldige, Sascha. Aber du hast wirklich keine Ahnung, was am Land so alles läuft. Du kennst doch nur die geschönten Klischees auf den bunten Postkarten und in den Tourismusprospekten.«

»Dann erzähl mir halt, was hier so alles läuft.«

»Im Moment konzentriere ich mich darauf, einen Mordfall aufzuklären.«

»Und wenn das eine mit dem anderen unmittelbar zusammenhängt?«, blieb Bergmann stur.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich ein Kinderschänder für die Kovacs interessiert hätte?«

»Wohl kaum. Sie war Mitte 30. Nicht gerade im richtigen Alter für jemanden, der es mit Kindern treibt.«

»Eben. Außerdem muss der Edlinger inzwischen über 60 sein. Wahrscheinlich ist er gar nicht mehr kräftig genug für so eine Tat.«

»Wahrscheinlich auch nicht mehr potent genug. Denk an die Spermamenge. Wie oft hintereinander kann man eigentlich noch in diesem Alter?«

»Das kann ich dir leider nicht beantworten. Aber wenn du darauf bestehst, finde ich es für dich heraus.«

»Nicht nötig. Setz ihn auf die Liste. Dann fragen wir ihn morgen selbst.«

»Das kannst du gerne übernehmen.« Sandra fuhr ihren Laptop herunter, der an diesem Abend ausnahmsweise einmal im Büro bleiben würde. »Willst du Max Leitgeb bei den morgigen Einvernehmungen dabeihaben? Er kennt die Leute hier in- und auswendig.«

»Ich denke, wir kommen auch ohne deinen Dorfpolizisten klar. Er soll lieber ein Auge auf die Landjugend werfen, damit ihr nichts Böses widerfährt.«

Schon wieder dieses spöttische Grinsen! Das reichte für diesen Tag. Sandra stand auf, nahm ihre Handtasche und die Lederjacke und schubste den Stuhl mit dem Knie unter den Schreibtisch. »Ich denke, wir sind fertig für heute. Ich bin nämlich zum Abendessen eingeladen«, verabschiedete sie sich.

»Lass mich raten … Max, richtig?«

Sandra schlüpfte wortlos in ihre Jacke, ohne Bergmann eines Blickes zu würdigen. Dennoch konnte sie fühlen, dass er sie beobachtete. Woher zum Teufel wusste er das? Sie hätte doch genauso gut bei ihrer Familie essen können. War sie für Bergmann wirklich so leicht zu durchschauen?

»Muss ich denn wirklich ganz allein in der verqualmten Gaststube mein Abendessen einnehmen?«, fragte er gespielt vorwurfsvoll.

»Du rauchst doch selber. Außerdem brauchst du ja nicht hier zu übernachten. Fahr heim nach Graz und komm morgen wieder«, schlug sie ihm vor, während sie durch die Tür ging, ohne sich umzudrehen.

»Meinst du, es wird spät werden, Liebling?«, rief er ihr übermütig hinterher.

Sie hatte nicht vor, sich noch weiter von diesem arroganten Idioten provozieren zu lassen. Es ging ihn überhaupt nichts an, dass ihr Ex sie zum Essen eingeladen hatte. Die Tatsache, dass sie nach all den Jahren wieder ein Date mit ihrer Jugendliebe hatte, fühlte sich auch so schon schräg genug an. Da konnte sie auf Bergmanns beißende Kommentare getrost verzichten. Nicht dass sie Schmetterlinge im Bauch gehabt hätte, aber ein wenig nervös war sie nun doch. Schließlich war die unvermeidliche berufliche Begegnung am Tatort und in der Polizeiinspektion etwas völlig anderes gewesen als das bevorstehende private Treffen in Max’ Wohnung. Warum hatte sie seine Einladung überhaupt angenommen? Was, wenn er mehr von ihr wollte, als nur über längst vergangene Zeiten plaudern? Würde sie mit ihm schlafen, wenn er darauf aus war?

Der gute alte Max. Sie hatte ihn von heute auf morgen verlassen, kurz nachdem sie nach Graz gezogen war, um wie er – und wie schon ihr Vater davor – die Polizeischule zu absolvieren. Sie wollte ihr neues Leben in der Stadt ohne Einschränkungen genießen. Weit weg von allem, was sie an St. Raphael erinnerte, an ihre Mutter und ihren Halbbruder Mike. In Gedanken versunken trat Sandra hinaus in die Dämmerung und zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Herrlich, diese frische Luft! Das war wirklich eines der wenigen Dinge, die sie an St. Raphael schätzte. Obwohl es da auch noch ein paar andere Dinge gab, wie die intakte Natur und einige nette Menschen wie Max. Sie würde heute Abend nicht mit ihm schlafen. Auch wenn sie sich noch so sehr nach körperlicher Nähe sehnte. War es wirklich schon ein halbes Jahr her, dass sie Sex gehabt hatte, überlegte Sandra, während sie hinter dem Steuer des Dienstwagens Platz nahm.

Max öffnete ihr die Tür des alten Bauernhauses. »Wie schön, dass du schon hier bist! Komm doch rein in die gute Stube«, begrüßte er sie im Vorzimmer. Sandra ließ sich aus der Jacke helfen und zog aus alter Gewohnheit ihre Straßenschuhe aus. Max bückte sich nach den Gästepantoffeln und stellte sie kommentarlos direkt vor ihre Füße.

»Das sieht ja toll hier aus«, meinte sie ehrlich begeistert und schlüpfte in die Filzlatschen.

»Nicht wahr? Unglaublich, was der Architekt aus den alten Gebäuden gemacht hat«, stimmte er ihr zu.

Bei Sandras letztem Heimatbesuch vor drei Jahren hatten sich die meisten der verlassenen Wirtschaftsgebäude noch in einem erbärmlichen Zustand befunden. Inzwischen waren daraus stilgetreu renovierte Wohnhäuser geworden, die, in der sanften Hochtalsenke gelegen, in neuem Glanz erstrahlten. So viel hatte sie schon am Vortag im Vorbeifahren erkennen können. Nun staunte sie, wie gemütlich die große Stube wirkte, in der seinerzeit geschlafen, gegessen, gewohnt und gefeiert worden war. Max diente das geräumige Zimmer als Wohn-, Ess- und Arbeitsraum. Die ursprünglichen Deckenbögen und der uralte Schiffboden waren liebevoll restauriert worden, genauso wie die Rauchkuchl mit dem antiken Herd im Nebenraum, die ansonsten zur modernen Küche umfunktioniert worden war. Max schob die Auflaufform mit dem Sterz ins Backrohr und öffnete eine Flasche Schilcher von der weststeirischen Weinstraße. Während er einschenkte, erzählte er, dass der Bauherr beinahe an der Renovierung der völlig verrußten alten Wände verzweifelt wäre. Schlussendlich hatte er dann doch noch den Tipp eines alten steirischen Maurers angenommen, der ihm zu Kuhmistmörtel geraten hatte, um den Originalzustand der Wände wiederherzustellen. Und siehe da, es hatte tatsächlich funktioniert.

Nachdem sie angestoßen und den fruchtig-reschen Schilcher gekostet hatten, führte er Sandra auf die Terrasse, hinter der ein romantischer Garten mit Schwimmbiotop angelegt worden war. Leider war es zu kalt, um draußen zu sitzen und das idyllische Ambiente zu genießen. Sandra musste Max versprechen, im nächsten Sommer wiederzukommen, um hier mit ihm und den Kumpels von früher seinen Geburtstag zu feiern.

Wenn es etwas gab, worauf Sandra noch weniger Lust hatte, als hier in der Kälte herumzustehen und in Max’ schmachtende Augen zu blicken, dann war es, mit seinen immerzu durstigen Freunden abzufeiern. Dennoch willigte sie ein, zu kommen, bevor sie ihm fröstelnd in die Wohnung folgte. Bis zu seinem Geburtstag im Juli blieb ihr noch genügend Zeit, um eine passende Ausrede zu finden, warum sie es doch nicht zur Feier schaffen würde.

»Wer wohnt denn sonst noch hier?«, fragte sie.

»Niemand. Nur ich.«

»Ich meinte, dort drüben, im anderen Teil des Gehöfts. Dort hat doch vorhin Licht gebrannt.«

»Ach so. Da wohnt der Matthias mit seiner Frau und der Kleinen.«

»Dein Bruder hat Familie? Das wusste ich gar nicht.«

»Du weißt einiges nicht, was hier in der Zwischenzeit passiert ist. Wie denn auch? Du bist ja nie da.«

Das klang beinahe wie ein Vorwurf ihrer Mutter. Sandra ließ sich seufzend neben Max auf das bequeme Ecksofa fallen. »Was soll ich denn hier? Es reicht doch, wenn ich alle paar Jahre mit meiner Mutter und ihrem missratenen Sohn in die Haare gerate. Wenn ich nur an Mike denke, wird mir schlecht … Meinst du, dass er …? Ach, lassen wir das heute Abend lieber. Der Matthias ist also verheiratet?«

»Ja, mit einer Kärntnerin aus Wolfsberg. Anita heißt sie. Hübsche Frau, Volksschullehrerin. Er hat sie bei irgend so einem Pädagogen-Seminar kennengelernt.«

»Na, das passt doch perfekt.«

»Kann man so sagen. Sie unterrichtet an der hiesigen Volksschule. Matthias ist dort mittlerweile Direktor.«

»Und Bürgermeister, ich weiß. Das hab ich sogar in Graz mitbekommen. Die beiden haben eine Tochter?«

»Ja, die Leni. Ein süßes Dirndl. Sie feiert nächste Woche ihren zweiten Geburtstag.«

»Klingt nach Bilderbuchfamilie.«

»Ist es auch. Der Matthias ist wirklich zu beneiden.« Max seufzte und hatte plötzlich diesen wehmütigen Zug um die Mundwinkel, den Sandra noch von früher kannte. Er hatte sich schon mit 19 Jahren eine Familie gewünscht, als sie gerade mal 16 gewesen war. Der Gedanke an eigene Kinder hatte ihr damals Angst gemacht. Und auch heute war er für sie – trotz ihrer 31 Jahre – immer noch unvorstellbar. Irgendwie fühlte sie sich einfach nicht reif genug für eine Familie. Außerdem bot das Leben einer Kriminalpolizistin viel zu wenig Raum für eigene Kinder. Wieder ein Mann, mit dem sie nicht kompatibel war, dachte Sandra. Hatte sie sich nicht dasselbe erst vor ein paar Stunden gedacht, wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang? Wie kam sie bloß darauf, ausgerechnet jetzt an Bergmann zu denken, ärgerte sie sich. Ihr chauvinistischer Partner würde es glatt noch schaffen, aus ihr, der das Thema Gender-Mainstreaming gehörig auf die Nerven ging, eine Feministin zu machen.

»Möchtest du noch Wein zum Essen? Ich glaube, der Sterz ist jetzt fertig. Zumindest riecht er so«, unterbrach Max ihre Gedanken an Bergmann.

»Ja, gern. Ein Achtel vertrage ich schon noch.«

»Nicht, dass du mir nachher betrunken Auto fährst. Ich bin zwar nicht im Dienst, aber im Falle des Falles wäre es meine Pflicht, dich bis morgen früh hier festzuhalten«, scherzte er und verschwand in der Küche.

»Das hättest du wohl gern«, murmelte Sandra vor sich hin und nippte am Schilcher.

Nach dem Essen machte es Max ihr nicht gerade leicht, standhaft zu bleiben. Seine Lippen waren so weich wie früher, sein Duft immer noch vertraut. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich danach, seine harte Männlichkeit in sich aufzunehmen. Doch Sandras Wille, sich der Lust nicht einfach hinzugeben, war stärker. Als ihr Verlangen beinahe unerträglich wurde, stand sie auf und ließ Max enttäuscht und wütend auf dem Sofa zurück.

Wohin hätte Sex mit dem Ex auch führen sollen?, fragte sich Sandra auf der Heimfahrt immer wieder. Außer zu einer kurzfristigen körperlichen Befriedigung und zur neuerlichen Erkenntnis, dass es für sie keinen Weg zurück gab. Auch wenn Max sich das vielleicht noch so sehr wünschte. Warum hatte sie ihn überhaupt so nahe an sich herangelassen, ärgerte sie sich über die eigene Schwäche. Dies war jedenfalls der letzte Abend gewesen, den sie mit Max privat verbracht hatte, schwor sie sich, als sie die ›Goldene Gans‹ erreichte.

Viertel vor zwölf brannte noch Licht in der Gaststube. Sandra beschloss, den Wagen am Parkplatz hinter dem Gasthof abzustellen und das Haus über den Hintereingang zu betreten, um möglichst unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen. Sie hatte keine Lust, angetrunkenen Gästen zu begegnen. Oder ihrem Partner, der mit Sicherheit einen zynischen Kommentar für sie übrig hatte. Oder – was das Schlimmste überhaupt gewesen wäre – ihrem Halbbruder Mike, der sich gerne mal am Stammtisch volllaufen ließ.

Wenn es bloß nicht so stockdunkel hier wäre, dachte sie und begann sich langsam, Schritt für Schritt, entlang der gartenseitigen Hausmauer vorwärtszutasten. Bis sie das wütende Bellen vor Schreck erstarren ließ. »Mephisto? Ganz ruhig. Ich bin’s doch nur!«, rief sie in den finsteren Garten. Gott sei Dank! Die Zwingertür war geschlossen, sonst wäre der Schäferhund längst an ihrem Bein gehangen. Sandra setzte sich wieder in Bewegung, während Mephistos Bellen in ein noch viel furchteinflößenderes Knurren überging.

»Nach dem Schäferstündchen ein Schäferhündchen«, hörte sie eine Männerstimme sagen. Mephisto schlug erneut an, und Sandra sah zum Balkon hinauf. Dort oben stand Bergmann und zog an einer Zigarette. Die Glut leuchtete zwar nicht hell genug, um sein Gesicht erkennen zu können, aber so ein dämlicher Spruch fiel nur ihm ein. Außerdem lag sein Balkon direkt neben ihrem.

»Witzig, Bergmann! Mach wenigstens das Licht an, damit ich die verdammte Türe endlich finde!«, rief sie ihm zu. Im selben Moment ging die Hintertür auf, und Michl trat aus dem Haus ins Freie. Rasch ging Sandra auf ihn zu. »Ich bin’s, Michl: Sandra! Ich hab den Lichtschalter nicht gefunden.«

»Sandra! Warum schleichst du dich denn über die Hintertür rein? Vorn ist doch eh noch offen. Kusch, Mephisto! Jetzt halt’s schon zamm!«, rief er dem Hund zu und ließ seinen Hausgast eintreten.

»Zum Glück ist der im Zwinger«, meinte Sandra erleichtert und blieb im Vorraum, der einerseits zum Korridor im Erdgeschoss, andererseits zum Treppenhaus führte, stehen. Michl sperrte die Tür hinter sich zu. Sandra mochte Hunde, aber vor Schäferhunden hatte sie gehörigen Respekt. Immerhin gingen die meisten Bissverletzungen auf das Konto dieser Rasse. Die gefährlichsten Exemplare waren jene aus der Polizeizucht, die schon als Junghunde ausgesiebt wurden, weil sie sich charakterlich nicht für den Dienst eigneten und deshalb an Privatpersonen abgegeben wurden. In den falschen Händen waren diese Tiere wie ungesicherte Waffen, die jederzeit losgehen konnten. Im besten Fall fielen sie irgendwann andere Hunde oder das eigene Herrchen an, im schlimmsten kleine Kinder. Sandra war als junge Polizistin mit einigen tragischen Fällen konfrontiert worden, die sie von Mal zu Mal vorsichtiger werden hatten lassen.

»Untertags ist der Mephisto ganz ein Lieber. Nur im Finstern kann er nicht zwischen Gästen und Einbrechern unterscheiden. Deshalb sperren wir ihn in den Zwinger, bevor’s dunkel wird.«

»Er schlägt also immer an, wenn sich nachts wer hinterm Haus aufhält?«

»Ja. Manchmal sogar bei mir und der Mutter. Kommt ganz auf den Wind drauf an. Ich glaub, er sieht schlecht im Dunkeln. Er erkennt uns wohl erst am Geruch oder an der Stimme.«

»Dann müsstet ihr ihn doch auch in der Mordnacht bellen gehört haben. Die Spuren deuten zweifelsfrei darauf hin, dass Eva Kovacs und ihr Mörder am Zwinger vorbeikamen, bevor sie durch euren Garten in den Wald liefen.«

»Also ich hab nichts gehört. Ich hab tief und fest geschlafen.«

»Wo liegt denn dein Zimmer?«

»Ganz oben. In der Mansarde. Auf der Straßenseite.«

»Verstehe. Und in der Früh bist du dann mit dem Hund in den Wald spazieren gegangen«, wiederholte Sandra seine Aussage, die er unmittelbar nach dem Leichenfund zu Protokoll gegeben hatte.

»Eigentlich wollte ich dort gar nicht hin. Aber als ich den Zwinger aufgesperrt hab, ist der Mephisto hinausgerannt wie ein Irrer und gleich abgezischt in den Wald. Ich hab befürchtet, dass er Wild gewittert hat und bin so schnell ich nur konnte hinter ihm her. Gott sei Dank hab ich die Taschenlampe dabeigehabt. Es war ja noch stockfinster.«

»Der Hund hat leider ganz was anderes gewittert. Schlaues Kerlchen …«

»Magst du noch was trinken? Wir haben gleich Sperrstund.«

»Nein danke, Michl. Ich bin müde und muss morgen früh raus. Wir werden noch einige Leute befragen. Mit dir und der Mizzi tät ich gern beim Frühstück anfangen. Passt euch viertel nach sieben?«

»Wir haben dir und dem Max doch gestern schon alles erzählt, was wir wissen.«

»Mein Kollege Bergmann hat aber auch noch ein paar Fragen an euch. Das ist doch okay, oder?«

»Ja, klar. Brauchts ihr die Branka und den Vilko auch noch einmal?«

Sandra verneinte. Weder hatte sie an das Hausmädchen noch an den schwulen slowenischen Koch weitere Fragen. Als Täter schieden für sie beide aus. Branka hatte ein Alibi – ihr Mann hatte bezeugt, dass sie die ganze Nacht neben ihm geschlafen hatte. Und Vilko kam mit seiner sexuellen Gesinnung, dem zarten Körperbau und Schuhgröße 41 für die Tat ebenso wenig infrage. Sandra glaubte ihm, dass er die Mordnacht schlafend in seinem Bett verbracht hatte, auch wenn es dafür keinen Zeugen gab.

»Trinkst du Tee oder Kaffee zum Frühstück?«, erkundigte sich Michl.

»Tee mit Zitrone. Ach ja, noch was: Wird Franziska morgen wieder da sein? Sie arbeitet doch bei euch, oder nicht?« Das hatte ihr Max erzählt und noch einiges mehr über die Familie Edlinger. Oder das, was von ihr noch übrig war.

»Ja, wieso?« Michl wirkte überrascht.

»Ich frage ja nur, weil ich sie noch nicht gesehen habe, seit ich hier angekommen bin.«

»Ach so. Die Franzi konnte nicht arbeiten mit ihrem verstauchten Knöchel. Der war richtig dick angeschwollen. Aber jetzt geht’s ihr schon wieder besser.«

»Wobei hat sie sich denn verletzt?«

»Beim Radlfahrn. Sie ist blöd umgeknickt beim Absteigen.«

»Oje. Na dann, bis morgen.«

»Gute Nacht, Sandra.« Michl ging vorbei an den beiden Türen, die zu den Gästetoiletten führten, in Richtung Gaststube.

Sandra nahm die Treppe in den ersten Stock. Auf halbem Weg stand Bergmann plötzlich vor ihr. »Mein Gott, Sascha! Musst du mich so erschrecken? Mir hat der Hund schon gereicht. Was machst du denn hier im Treppenhaus?«

»Ich wollte nach dir sehen. Nachdem ich das Balkonlicht eingeschaltet und noch mal hinuntergeschaut habe, warst du plötzlich verschwunden.«

»Michl Oberhauser hat mich hereingelassen. Er hat wohl den Hund gehört.«

»Das hab ich doch längst mitbekommen.«

»Hast du etwa gelauscht?«

»Was dachtest du denn? Ich bin Polizist … Komm, gehen wir auf mein Zimmer. Wer weiß, wer uns hier alles zuhört«, flüsterte er.

»Es war ein langer Tag, Sascha. Ich wollte gerade liegen gehen«, protestierte sie.

»Was wolltest du? ›Liegen‹ gehen?«, fragte er grinsend.

»Schlafen gehen, meinte ich. ›Liegen‹ ist der steirische Ausdruck dafür.« Kaum war sie hier, fiel sie automatisch in das ländliche Kauderwelsch ihrer Kindheit zurück.

»Liegen gehen«, wiederholte Bergmann kopfschüttelnd, und Sandra wunderte sich, dass ihm diesmal kein blöder Kommentar über die Lippen kam.

»Was soll ich überhaupt bei dir im Zimmer?«, fragte sie, während sie ihm über die letzten Stufen in die erste Etage folgte.

»Mir bei einem Glas Zweigelt gestehen, dass ich morgen spätestens um sieben Uhr 15 beim Frühstück erscheinen soll, um die Wirtin, ihren Sohn und eine gewisse Franziska, die einen verstauchten Knöchel hat, einzuvernehmen.« Bergmann sperrte die Tür auf und betrat sein Zimmer.

»Das weißt du also schon alles von deinem Lauschangriff«, antwortete sie lächelnd und drehte sich auf dem Absatz um. »Gute Nacht, Sascha«, verabschiedete sie sich und ging eine Tür weiter, um kurz danach in ihrem Zimmer zu verschwinden.

Steirerblut

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